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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

II. Die moralische Ächtung des deutschen Volkes
als Mittel zur Unterhöhlung der Rechtsgrundlage
  (Teil 4)

c) Die Anklage gegen Deutschlands Kriegführung

Dr. Berthold Widmann

Die in ihrem zweitausendjährigen Verlauf an unheilvollen Geschehnissen wahrhaft nicht arme Geschichte Europas hat ihren Katastrophenhöhepunkt im Weltkrieg. Als dieser sein Ende fand, war es den Menschen beziehungsweise einer leider nur sehr kleinen Gruppe von Menschen überantwortet, zu entscheiden, ob die Katastrophe zur Heilskrise werden sollte. In der kleinen Gruppe wiederum fehlte eine alles überwindende, ethisch vollwertige Persönlichkeit. Konnte da Großes, Förderndes, Heilsames geschaffen werden? - Im Spiegelsaal von Versailles herrschte Fäulnisluft. Zur Zerfetzung und sichtbaren Verstümmelung mehrerer Millionen menschlicher Körper durch den Krieg wurde durch den Friedensvertrag die unsichtbare Vergiftung von noch weit mehr Millionen menschlicher Seelen gefügt. Die Toxinierten leben in allen Ländern und zum größten Teil wissen sie nicht einmal um ihr Leiden. Ein grauenhafter Gedanke, aber er ist Wahrheit. Und wenn wir uns auch dieser traurigen Tatsache nicht jeden Augenblick lebendig bewußt sind, so manifestiert sie sich um so schärfer periodisch immer wieder in der Wirklichkeit. Denn der den Krieg formell abschließende Vertrag hat die Überwindung des Krieges verhindert; es gibt in unserer gegenwärtigen europäischen Politik wohl kaum eine einzige gefahrvolle Erscheinung, mag sie außenpolitischen oder innerpolitischen Charakters sein, bei deren Analyse man nicht auf die eine oder andere Bestimmung des Versailler Vertrags als Ausgangspunkt oder beeinflussendes Moment stößt. Man überlege dies einmal genau. - Indessen Aufbäumen hilft nicht, Stoßgebete helfen nicht. Die Erkenntnis allein kann Besserung schaffen. So haben einsichtige Politiker in den vergangenen Jahren versucht, aus eigener freier Schöpfung oder auch mit Hilfe der wenigen vernünftigen Bestimmungen, die der Vertrag enthält, die Krankheitsatmosphäre zu vertilgen, die über Europa lagert. Man kann nicht mit befreitem Aufatmen behaupten, daß ihren Bemühungen Erfolg beschieden gewesen sei. Weitere Kraftanstrengungen, weitere Überzeugungsleistungen müssen erfolgen. Wir haben "Zehn Jahre Versailles" hinter uns. Die drei Worte bedeuten einen vielsinnigen Aufruf zur Vernunft im Namen der Gerechtigkeit und des Friedens.

Wenn im Rahmen einer Veröffentlichung, die den Inhalt dieses Auf- [82] rufs im einzelnen substanziieren will, unter anderem auch über die in dem Vertrag gegen Deutschlands Kriegführung erhobenen Beschuldigungen gesprochen werden muß, so heißt dies, ein Fragengebiet behandeln, das in gewisser Hinsicht so wenig Selbständigkeit besitzt wie etwa die bloße eine Zangenhälfte einer Beißzange. Man weiß es genau, ein solches Instrument besteht wesenseigentümlich aus zwei zusammenhängenden, zusammenwirkenden Teilen. Man weiß weniger genau, daß die gegen Deutschlands Kriegführung erhobenen Beschuldigungen die ihnen wesenseigentümliche Ergänzung erst dann haben, wenn ihnen ein anderer sehr geläufiger Begriff als zweite Hälfte zugesellt wird, nämlich die sogenannte Kriegsschuldfrage.

Es gibt ein recht gutes Schlagwort, das die beiden Begriffshälften im Sinne dieser ihrer Wesensverbundenheit charakterisiert. Dieses Wort spricht von ihnen als von der "Schuld am Krieg" und der "Schuld im Krieg". Die Aufgabe der vorliegenden Darstellung soll es sein, die Tatsache der Zusammengehörigkeit von Schuld am Krieg und Schuld im Krieg zu dokumentieren, die politisch bedeutsame Tragweite dieser Zusammengehörigkeit zu erläutern und schließlich den Inhalt und die Bewertung der Schuld im Krieg im besonderen kurz zu erörtern.

Das juristische Dokument, durch das die beiden wesensverwandten Bestandteile wie ein Paar für die Öffentlichkeit erkennbar zur Ehegemeinschaft miteinander verbunden wurden, ist eben der Versailler Vertrag. In allen Partien, wo in dem Vertragstext selbst oder auch in den integrierend zum eigentlichen Vertrag gehörigen anderweitigen Dokumenten die Frage der Schuld am Krieg angeschnitten wird, ist stets zugleich auch von der Schuld im Krieg die Rede. Die betreffenden Stellen im Vertragstext selbst sind: die Präambel sowie die Artikel 228-231. Von den anderweitigen Dokumenten, die integrierend zum Vertrag gehören, kommen in Betracht: das Ultimatum der Entente vom 16. Juni 1919 sowie die oft genannte Mantelnote zu diesem Ultimatum.

In der Präambel wird der Schuld-am-Krieg-Begriff durch die Nennung der verschiedenen Kriegserklärungen angezogen (Österreich-Ungarn an Serbien, Deutschland an Rußland, Deutschland an Frankreich), der Schuld-im-Krieg-Begriff dagegen durch die Nennung des deutschen Einmarsches in Belgien.

In dem viel zitierten Artikel 231 wird Deutschlands Schuld am Krieg ausgesprochen. In den voraufgehenden Artikeln 228-2301 wird die Auslieferungsforderung der "wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges angeklagten Personen" ge- [83] stellt, das heißt, es wurde damit, wie sich späterhin aus der Auslieferungsliste selbst ergab, Deutschland, das Reich, der Staat als solcher in aller Form der Schuld im Krieg bezichtigt. Denn in der Auslieferungsliste waren unter anderen auch - es sei nur an die Namen Bethmann-Hollweg und Hindenburg erinnert - die für die staatlichen Maßnahmen Deutschlands unmittelbar verantwortlichen Persönlichkeiten aufgeführt.

Im Ultimatum der Entente vom 16. Juni 1919 handelt der ganze ausführliche Teil VII von den beiden wesensverwandten Begriffen; Abschnitt I dieses Teiles ist der Schuld am Krieg, Abschnitt II der Schuld im Krieg gewidmet.2

In der diesem Ultimatum beigefügten Mantelnote gleichen Datums werden die beiden Schuldhälften hintereinanderweg abgehandelt. Der Wortlaut dieses Schriftstücks läßt die Gleichwertigkeit, die den zwei Teilen zugesprochen wurde, deutlich erkennen. Man beachte besonders die Worte, die den Übergang vom ersten zum zweiten Abschnitt bilden. Es heißt in der Mantelnote:

      "Nach der Anschauung der Alliierten und Assoziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch gekommen ist, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat. Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands, getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt. Sie haben sich nicht mit dem wachsenden Gedeihen und Einfluß begnügt, nach welchem zu streben Deutschland berechtigt war, und welche alle übrigen Nationen bereit waren, ihm in der Gesellschaft der freien und gleichen Völker zuzugestehen. Sie haben getrachtet, sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren, so wie sie ein unterjochtes Deutschland beherrschten und tyrannisierten.
      Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie durch alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ihren Untertanen die Lehre eingeschärft, in internationalen Angelegenheiten sei Gewalt Recht. Niemals haben sie davon abgelassen, die Rüstungen Deutschlands zu Wasser und zu Lande auszudehnen und die lügnerische Behauptung zu verbreiten, eine solche Politik sei nötig, weil Deutschlands Nachbarn auf sein Gedeihen und seine Macht eifersüchtig seien. Sie sind bestrebt gewesen, zwischen den Nationen an Stelle der Freundschaft Feindschaft und Argwohn zu säen. Sie haben ein System der Spionage und Intrigen entwickelt, welches ihnen gestattet hat, auf dem Gebiete ihrer Nachbarn Unruhen und innere Revolten zu erregen und sogar geheime Offensivvorbereitungen zu treffen, um sie im gegebenen Augenblick mit größerer Sicherheit und Leichtigkeit zerschmettern zu können. Sie haben durch Gewaltsandrohungen Europa in einem Zustande der Gärung erhalten, und als sie festgestellt hatten, daß ihre Nachbarn entschlossen waren, ihren anmaßenden Plänen Widerstand zu leisten, da haben sie beschlossen, ihre Vorherrschaft mit Gewalt zu begründen.
[84]   Sobald ihre Vorbereitungen vollendet waren, haben sie einen in Abhängigkeit gehaltenen Bundesgenossen dazu ermuntert, Serbien innerhalb achtundvierzig Stunden den Krieg zu erklären. Von diesem Kriege, dessen Spieleinsatz die Kontrolle über den Balkan war, wußten sie recht wohl, er könne nicht lokalisiert werden und würde den allgemeinen Krieg entfesseln. Um diesen allgemeinen Krieg doppelt sicher zu machen, haben sie sich jedem Versuche der Versöhnung und der Beratung entzogen, bis es zu spät war; und der Weltkrieg ist unvermeidlich geworden, jener Weltkrieg, den sie angezettelt hatten, und für den Deutschland allein unter den Nationen vollständig ausgerüstet und vorbereitet war.
      Indessen beschränkt sich die Verantwortlichkeit Deutschlands nicht auf die Tatsache, den Krieg gewollt und entfesselt zu haben. Deutschland ist in gleicher Weise für die rohe und unmenschliche Art, auf die er geführt worden ist, verantwortlich.
      Obwohl Deutschland selber einer der Bürgen Belgiens war, haben seine Regierenden die Neutralität dieses durch und durch friedlichen Volkes, nachdem sie ihre Respektierung feierlich versprochen hatten, verletzt. Damit nicht zufrieden, sind sie mit kühler Überlegung zu einer Reihe von Hinrichtungen und Brandstiftungen geschritten mit der einzigen Absicht, die Bevölkerung zu terrorisieren und sie eben durch die Schrecklichkeit ihrer Handlungen zu bändigen.
      Die Deutschen sind es, welche als erste die giftigen Gase benutzt haben, trotz der fürchterlichen Leiden, die sich daraus ergeben mußten. Sie sind es, welche mit den Bombardements durch Flieger und der Beschießung von Städten aus weiter Entfernung ohne militärische Gründe den Anfang gemacht haben, mit dem alleinigen Ziel vor Augen, die seelische Widerstandskraft ihrer Gegner, dadurch daß sie die Frauen und Kinder trafen, zu vermindern. Sie sind es, die den Unterseebootkrieg begonnen haben, eine Herausforderung von Seeräubern an das Völkerrecht, indem sie so eine große Anzahl von unschuldigen Passagieren und Seeleuten mitten auf dem Ozean, weit entfernt von jeder Hilfsmöglichkeit, auf Gnade und Barmherzigkeit den Winden und Wogen, und, was noch schlimmer ist, den Besatzungen ihrer Unterseeboote ausgeliefert, dem Tode überantworteten. Sie sind es, die sich hinsichtlich der Kriegsgefangenen, welche sie gemacht hatten, eine barbarische Behandlung erlaubt haben, vor welcher die Völker unterster Kulturstufe zurückgeschreckt wären.
      Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Die schreckliche Verantwortlichkeit, die auf ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zusammenfassend zum Ausdruck bringen, daß wenigstens 7 Millionen Tote in Europa begraben liegen, während mehr als 20 Millionen Lebender durch ihre Wunden und ihre Leiden von der Tatsache Zeugnis ablegen, daß Deutschland durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei hat befriedigen wollen.
      Die Alliierten und Assoziierten Mächte halten dafür, daß sie denen, die ihr Alles dahingegeben haben, um die Freiheit der Welt zu retten, nicht gerecht werden würden, wenn sie sich damit abfinden würden, in diesem Krieg kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen das Recht zu erblicken....
      Deshalb bestehen sie (die Alliierten und Assoziierten Regierungen) darauf, daß diejenigen Persönlichkeiten, welche am offensichtlichsten für den deutschen Angriff, sowie für die Handlungen der Barbarei und Unmenschlichkeit, die von deutscher Seite die Kriegführung geschändet haben, verantwortlich sind, einer Gerechtigkeit überantwortet werden, die sie bisher in ihrem eigenen Lande nicht ereilt hat....
      Deutschland hat die Industrien, die Bergwerke und die Fabriken der ihm [85] benachbarten Länder ruiniert. Es hat sie nicht während des Kampfes zerstört, sondern in der wohl überlegten und erwogenen Absicht, seiner eigenen Industrie zu ermöglichen, sich der Märkte jener Länder zu bemächtigen, bevor ihre Industrie sich von der Verwüstung, die es ihnen in frivoler Weise zugefügt hatte, wieder hat erholen können. Deutschland hat seine Nachbarn alles dessen beraubt, was es nutzbar machen oder fortschleppen konnte. Es hat die Schiffe aller Nationen auf hoher See zerstört, da, wo es für die Passagiere und Besatzungen keine Rettungsaussichten gab."

Es mag bei dieser Gelegenheit hervorgehoben werden, daß die Mantelnote einen Einwand vorweg nimmt und nach ihrer Art widerlegt, der nicht selten auch von deutscher Seite vorgebracht wird, wenn Fragen der Schuld am und im Krieg besprochen werden. Man bekommt dann nämlich bisweilen zu hören, daß es sich hierbei doch um Angelegenheiten handle, die nur die frühere deutsche Regierung zu vertreten habe, uns aber, die Deutschen als Volk, nichts angingen. Das Ausland denkt darüber anders. Bis in unsere unmittelbare Gegenwart herein reichen die Dokumentierungen, die dem jetzigen Reich, dem deutschen Volk, dem deutschen Menschen die Verantwortung für die Geschehnisse der Vergangenheit zudiktieren. Die Mantelnote aber führt zu dieser Frage aus:

      "Sowohl während des ganzen Verlaufs des Krieges wie auch vor dem Kriege ist das deutsche Volk und sind seine Vertreter für den Krieg gewesen; sie haben für die Kredite gestimmt, sie haben die Kriegsanleihe gezeichnet, haben allen Befehlen ihrer Regierung, so roh auch diese Befehle sein mochten, gehorcht. Sie haben die Verantwortung für die Politik ihrer Regierung geteilt; hätten sie sie doch in jedem Augenblick, wenn sie nur gewollt hätten, stürzen können. Wenn diese Politik der deutschen Regierung geglückt wäre, so hätte das deutsche Volk ihr mit ebensoviel Begeisterung zugejauchzt, wie es den Kriegsausbruch begrüßt hat."

Schließlich ist für die Dokumentierung der Zusammengehörigkeit der beiden Kriegsschuldbegriffe noch auf ein anderes Schriftstück zu verweisen. All die angeführten Partien sowohl des eigentlichen Versailler Vertrages selbst als auch der integrierend zu ihm gehörigen sonstigen Akten gründen sich bekanntlich auf einen Bericht, der in der Zeit der Vorbereitungen für die Versailler Verhandlungen unter dem 29. März 1919 erstattet wurde und den offiziellen Titel führt: "Rapport présenté à la conférence des préliminaires de paix par la commission des responsabilités des auteurs de la guerre et sanctions".3 Dieser Bericht zeigt seinerseits, wenn auch der Titel nur von den "auteurs de la guerre" spricht, die in Rede stehende Zusammengehörigkeit der beiden Begriffshälften Schuld am Krieg und Schuld im Krieg in der sinnfälligsten, bündigsten Weise. Der umfangreiche Bericht diente nämlich keinem andern Zweck als ausschließlich [86] demjenigen, eben die beiden Schuldbegriffe so klar als möglich und so eingehend und ausführlich wie es sich für die Entente nur immer bewerkstelligen ließ, herauszuarbeiten, um alsdann noch den Entwurf eines gerichtlichen Verfahrens anzuschließen, dessen Bestimmungen entsprechend die Sühnung für das angeblich begangene deutsche Unrecht, sei es in Sachen der Schuld am Krieg, sei es in Sachen der Schuld im Krieg, in Scene gesetzt werden sollte. - Wir haben oben als Vergleich von einer Beißzange gesprochen. Hier im "Rapport" ist dieses Instrument bis zur feinsten Schärfe ausgebildet und überdies seine Gebrauchsanweisung beigefügt.

Die im vorstehenden gekennzeichnete Formel juristische Bindung der beiden Schuldbegriffe und ihr dadurch ausgedrücktes funktionelles Verhältnis würden vielleicht noch nicht als Begründung dafür ausreichen, der uns beschäftigenden Zusammengehörigkeit eine derartig grundlegende Bedeutung zuzusprechen, wie wir für notwendig erachten, wenn nicht diese äußeren Formen den Ausdruck einer psychologisch tiefen Gemeinsamkeit bilden würden. Dieser noch weiter nachzuspüren, auch wenn es nur in Kürze geschehen kann, wird daher notwendig sein.

Dabei läßt sich das oben gebrauchte Bild, durch den Versailler Vertrag seien die beiden Schuldbegriffe gleichsam wie ein Ehepaar in juristischer Form für die Öffentlichkeit erkennbar zur Gemeinschaft miteinander verbunden worden, im Sinn der psychologischen Zusammengehörigkeit noch weiter ausmalen: Die wahlverwandtschaftliche Liebe hatte die beiden zuvor zusammengeführt, der Vermählungsakt war der Abschluß einer vorauf gegangenen langfristigen Entwicklung während der Kriegszeit, die sich folgendermaßen skizzieren läßt.

Es ist bekannt, daß in der modernen Psychoanalyse der ja auch anderen Wissenschaften geläufige Begriff "Komplex" verwendet wird. Die psychoanalytische Lehre versteht darunter das Endergebnis des Vorgangs, daß Krankheiten, durch irgendwelche erschütternden Ereignisse in die Seele hineingetragen, sich dort festgesetzt, dort gewuchert und sich schließlich eingekapselt haben, so daß sie als sperrende Inseln den normalen Bewegungsverlauf, den gleichmäßigen Fluß des seelischen Erlebens stören. Diese psychoanalytische Definition gilt sowohl für die Seele des einzeln erlebenden menschlichen Geschöpfs als auch für die Seele der als Masse Erlebenden, wofür die Bezeichnung Weltseele erlaubt erscheinen mag. Seit der Zeit der furchtbaren Eindrücke des Krieges liegt nun in der Weltseele ein derartiger Komplex vor. Er ist durch die erlebten Schrecken, die Bedrängnisse, Ängste, Schmerzen, kurz durch die Gesamtheit der durchgemachten Erschütterungen erzeugt worden, und zwar nicht nur als Ergebnis der den Erschütterungen zugrunde liegenden wirklichen Vorgänge als solche, sondern in erster Linie als Ergebnis der Art, wie [87] diese Vorgänge der Weltseele erschienen, beziehungsweise wie sie ihr dargestellt wurden. Und in dieser Hinsicht hat es die Hetzpropaganda während des Krieges verstanden, der Weltseele ein Bild zu vermitteln, als ob das deutsche Handeln der Inbegriff des Entsetzlichen gewesen wäre. Deutschland der bluttriefende Mörder des Weltfriedens und Deutschland der brutal orgiastische Verletzer aller menschlichen Heiligkeiten und Rechte - mit diesen beiden Vorstellungsbildern hat die Kriegspropaganda gearbeitet, ist damit in die Weltseele eingebrochen und hat in ihr den besagten Komplex erzeugt, der seither den normalen Bewegungsverlauf und gleichmäßigen Fluß des seelischen Erlebens stört. Es handelt sich also bei den beiden Elementen, die zusammen in der Weltseele verkapselt liegen, um nichts anderes als das Begriffspaar von der Schuld am Krieg und im Krieg, die über alle formellen Äußerlichkeiten hinausgehend tiefinnerst miteinander verkoppelt, verfilzt, verwachsen sind.

Diesen bestehenden psychologischen Verhältnissen gilt es Rechnung zu tragen, wenn man den Begriff der in Versailles statuierten "Schuld" wieder aus der Welt schaffen will, und es muß gesagt werden, daß die deutschen Bemühungen, die dieses Ziel verfolgen, in dieser psychologischen Hinsicht noch zu wünschen übriglassen. Die wissenschaftliche und propagandistische Aufklärungsarbeit der letzten zehn Jahre hat mit Nachdruck das Thema Schuld am Krieg behandelt und hat darüber das Thema Schuld im Krieg vernachlässigt. Man betrachte die vorliegende Literatur. Die Schuld am Krieg prangt da in einem Lichtdasein von vielen Hunderten von Bänden. Die Schuld im Krieg dagegen führt ein Schattendasein; man kann die Zahl der ihr gewidmeten Bände an den Fingern abzählen.4 Dieser gewaltige Unterschied läßt sich auch nicht mit dem Hinweis rechtfertigen, daß er der verschiedenen Größe und Kompliziertheit der beiderlei Gebiete entspreche. Es liegt vielmehr ein Mißverhältnis vor, dessen Bedeutung in praktischer Hinsicht noch gekennzeichnet werden muß, nachdem dies in rechtlicher und psychologischer Hinsicht hinreichend geschehen sein dürfte.

Mit Genugtuung kann dabei zunächst die Tatsache verzeichnet werden, daß die intensiven deutschen Bemühungen, was die Klärung der Schuld am Krieg anlangt, nicht ohne Erfolg geblieben sind. Standen wir in den Tagen von Versailles einer so ziemlich geschlossenen Weltmeinung, oder besser gesagt, einem so ziemlich geschlossenen Weltgefühl gegenüber - denn eigenes Wissen und Überlegen steckte ja nicht viel in dem verdammenden Urteil, das die Weltöffent- [88] lichkeit damals über Deutschland millionenfach nachsprach -, so sehen wir heute, daß keineswegs bedeutungslose Kreise der neutralen wie auch der ehemals feindlichen Welt die deutschen Verteidigungsargumente zu einem erheblichen Grade angenommen haben. Die Entkapselung des Komplexes hat begonnen. Angesichts dessen könnte es richtig erscheinen, für die Zukunft die einfache Rezeptformel aufzustellen, daß die somit glücklich geschlagene Bresche durch gleichgeartetes Nachstoßen erweitert werden soll, beziehungsweise, daß die fernere Auswirkung der bereits erreichten Erfolge, was die formende Bildung der öffentlichen Meinungen in den fremden Ländern anlangt, alsdann teils mehr, teils weniger sich selbst überlassen bleiben soll. Der Hauptschritt scheint getan, der endgültige Erfolg scheint im Herannahen.

Was wir unter dem endgültigen Erfolg verstehen, darüber wird alsbald zu sprechen sein. Zuvor muß aber der scheinbar so einleuchtenden Rezeptformel ein wesentlicher Einwand entgegengehalten werden.

Beidem, sowohl der selbsttätigen Erweiterung als auch der bewußt durch zweckentsprechende Maßnahmen herbeizuführenden Verbreiterung der bestehenden Bresche, ist von vorneherein eine bestimmte Grenze gesetzt. Beide stoßen irgendwo auf einen ganz bestimmten Widerstand, den sie deshalb nicht zu überwinden vermögen, weil derselbe sein eigenes Zentrum hat oder mit anderen Worten, weil er mit den Argumenten der Schuld am Krieg überhaupt nicht überwunden werden kann. Real gesprochen haben wir die Erfahrung machen müssen, daß die Fortschritte, die wir hinsichtlich der Schuld am Krieg im Ausland gemacht haben, Hand in Hand gingen mit einer Verschärfung und Erhärtung der Behauptung von Deutschlands Schuld im Krieg. Fast automatisch weichen die öffentlichen Polemiken der Presse, private Diskussionen oder was dergleichen mehr in Betracht kommen mag auf den Nebenkriegsschauplatz der Schuld im Krieg aus, wenn die deutschen Argumentierungen auf dem Hauptkriegsschauplatz, nämlich der Schuld am Krieg, erfolgreich vorwärts zu dringen beginnen und für den Gegenredner mangels Bewegungsfreiheit die Luft in diesem Gebiet stickig zu werden anfängt. (Wobei wir uns bewußt sind, im Interesse der Konzentrierung des Ausdrucks einen insofern hinkenden Vergleich zu gebrauchen, als ja nur in Deutschland die Vorstellung besteht, es handle sich um einen Haupt- und einen Nebenkriegsschauplatz, wogegen im Ausland kein derartiger Wertunterschied gemacht wird.) Wenn daher der endgültige Erfolg erreicht werden soll, so muß auch das zweite Zentrum des Widerstandes in Angriff genommen, in gesonderten Angriff genommen werden, oder um den Gedankengang bis zu seiner Überspitzung hin zu treiben: alle Fortschritte, die wir hinsichtlich der Schuld am Krieg zu verzeichnen haben, bleiben illusorisch, wenn es nicht gelingt, auch [89] bezüglich der Schuld im Krieg den gegnerischen Argumenten die Bewegungsfreiheit zu nehmen.

Worin besteht aber das, was wir unter dem endgültigen Erfolg verstehen? - Wir sind bei der wichtigsten Frage angelangt, ohne deren sinnvolle Beantwortung alle bisherigen Ausführungen Formen ohne Inhalt, Abstraktionen ohne Wirklichkeitsgehalt gescholten werden könnten. Nichtsdestoweniger dürfen wir, nachdem dieser wichtige Punkt erreicht ist, verstummen. Denn der Beantwortung dieser Hauptfrage, die im Sinne der einleitenden Worte dieser Darstellung als das Symbol der freien Geistigkeit Europas angesehen werden muß, sind andere Blätter dieses Buches gewidmet.5

So können wir denn, nachdem die Tatsache und die Tragweite der Zusammengehörigkeit der beiden Schuldanklagen mit raschen, deutenden Linien umrissen wurden, nunmehr dazu übergehen, den eigentlichen Inhalt der Schuld-im-Krieg-Anklage zu kennzeichnen und zu werten. Einleitend ist dabei zum letztenmal ein umfassender Blick auf die beiden Hälften des Versailler Schuldbegriffs zu werfen, und dieses Mal trifft unser Auge auf eine gewisse Gegensätzlichkeit, die zwischen den beiden sonst so eng Zusammengehörigen besteht.

Es geht um die Frage, welcher geistigen Kategorie die Probleme der durch Versailles in die Welt gesetzten "Schuld" angehören. Bei der Schuld im Krieg ist diese Frage eindeutig zu beantworten. Bei der Schuld am Krieg herrscht Doppeldeutigkeit, denn geschichtswissenschaftliche und rechtliche Normen ringen miteinander um den Vorrang, als die entscheidenden Normen in Anwendung gebracht zu werden, wenn ein propagandistisch unverseuchtes, rein geistiges Urteil über die Entstehung des Weltkrieges abgegeben werden soll, eine Rivalität, die den Problemen der Schuld im Krieg naturgemäß fremd ist und deren Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang auch nicht weiter nachgegangen werden kann. Mag daher die an sich überaus interessante und sowohl wissenschaftlich wie praktisch gleich wichtige Frage offen bleiben, wem bei dieser Rivalität die Priorität zuzusprechen ist. Sicher bleibt, daß von diesem Gesichtswinkel aus gesehen die Gemeinsamkeit zwischen Schuld am Krieg und Schuld im Krieg ihr Ende findet. Für die Beurteilung der Probleme der Schuld im Krieg sind ausschließlich die Normen des Rechts maßgebend.

Man höre doch endlich mit der Behauptung auf, daß außerdem und darüber hinausgehend noch Normen einer "allgemeinen Moral" bei der Behandlung dieser Probleme - wie übrigens auch der Kriegsentstehungsprobleme - in Anwendung zu bringen seien. Nicht als ob die Dinge der Politik als prinzipiell amoralisch angesehen würden. Im Gegenteil. Aber eine "allgemeine" Moral gibt es nicht im Leben der [90] Völker und Staaten. Es ist blauer Dunst, wenn dergleichen behauptet wird. So wie die Erde heute gegliedert ist in Staaten und innerhalb der Staaten wiederum in Schichtungen der Parteien oder Schichtungen der Stände, besteht sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Völker im wesentlichen keine Übereinstimmung darüber, was als politisch moralisch anzusehen ist. Die Nationalisten vertreten eine andere Moral als die Internationalisten, die Pazifisten eine andere als die Militaristen, Demokraten und Liberale eine andere als Kommunisten und Faschisten; Sowjetrußland eine andere als Amerika oder England, Deutschland eine andere als Italien und was noch alles zu nennen wäre. Allen Vertretern sei der heilige Glaube an diejenige Moral, zu der sie sich bekennen, zugebilligt. Wo aber bleibt angesichts einer solchen babylonischen Verwirrung der Begriff "allgemeine" Moral? Er kann sich nur in seichten Köpfen halten, denen Vernebelung durch Phrasen wichtiger ist als Klärung.

Die Fragen der Schuld im Krieg sind also Rechtsfragen, genauer definiert: Völkerrechtsfragen. Sie handeln von dem Vorwurf, daß der deutsche Staat mit seinen Kriegsmaßnahmen gegen die Bestimmungen des geltenden Völkerrechts verstoßen habe. Was hat man, zunächst prinzipiell gesprochen, unter einem solchen Vorwurf zu verstehen?

Unrecht im Krieg - denn auch der Krieg kennt Recht und Unrecht, auch bei ihm haben wir es mit keinem prinzipiell rechtlosen, chaotischen, sondern mit einem durch das Recht mehr oder weniger geregelten Zustand zu tun - Unrecht im Krieg kann begangen werden sowohl von Einzelpersonen aus eigener Initiative als auch von den Staaten als solchen. Im letzteren Fall wird die rechtswidrige Handlung zwar auch von Einzelpersonen begangen, aber von Einzelpersonen, die entweder selbst die unmittelbaren Träger der staatlichen Verantwortung sind oder die, sei es auf ausdrücklichen Befehl der maßgebenden Stellen, sei es unter deren stillschweigender Duldung als Organe des Staates handeln. Nur wenn auf diese eine oder andere oder dritte Weise eine direkte oder indirekte Verantwortlichkeit des Staates als solchen in Frage kommt, ist das begangene Unrecht eine Völkerrechtsverletzung. Nur der Staat ist Subjekt des Völkerrechts. Die im Krieg aus eigener Initiative entsprungene Missetat eines Einzelindividuums dagegen, also rechtswidrige Handlungen, die ohne Auftrag und Wissen des eigenen Staates begangen werden, fallen unter die Normen des innerstaatlichen Strafrechts und haben mit dem Völkerrecht nichts zu schaffen. Man wird daher bei der nachfolgenden Wiedergabe der wesentlichen Einzelheiten, die den Schuld-im-Krieg-Begriff ausmachen, vergeblich nach den sogenannten "Greueln" suchen. Sie gehören nicht hierher. Bei Millionenheeren ist es selbstverständlich, daß auch verbrecherische Einzelindividuen mit [91] in den Reihen stehen und bei passender Gelegenheit ihre bösen Instinkte walten lassen. Entsprechende Untaten sind während des Weltkriegs in allen Armeen vorgekommen. Auch können Vergleiche zwischen den einzelnen Volksheeren der Kulturnationen mangels an ausreichenden zuverlässigen Unterlagen in ernsthafter Weise nicht gezogen werden. So gibt es nur eines: Schweigen. Diese Untaten sollen vergessen werden. Man darf es, weil sie den einzelnen Staat beziehungsweise das einzelne Volk nicht mehr belasten, als auch in Friedenszeiten die Untat eines Einzelnen sein Volk belastet. Wer dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen will, wird über das Thema Greuel nicht mehr zu sagen wagen.

Was die Einzelheiten der Völkerrechtsverletzungen anlangt, die man Deutschland zum Vorwurf machen zu dürfen glaubte, so gibt der oben zitierte Wortlaut der Mantelnote vom 16. Juni 1919 eine hinreichende Übersicht, auf welche Punkte es den Siegern ankam. Ihren vollständigsten Ausdruck haben die betreffenden Beschuldigungen allerdings in einem anderen Dokument gefunden, und zwar in der gleichfalls bereits erwähnten, auf dem Rapport beruhenden Auslieferungsliste vom 7. Februar 1920, der zufolge rund 900 Deutsche wegen angeblicher Rechtsverletzungen angefordert wurden, um durch ein Gericht der Sieger abgeurteilt zu werden. Es erübrigt sich indessen, an dieser Stelle näher auf dieses in der menschlichen Kulturgeschichte beispiellose Dokument einzugehen,6 das dank der in ihm bekundeten Rechtsauffassung nicht den Adressaten, sondern nur den Absender entwürdigt. Die hier doch nur summarisch zu reproduzierenden Einzelheiten über den Schuld-im-Krieg-Begriff sollen daher in freier Anlehnung an den Wortlaut der Mantelnote behandelt werden. Nur eins bleibt über die Auslieferungsliste zu sagen.

Sämtliche 900 in ihr namhaft gemachten Fälle, die zum einen, kleineren Teil Völkerrechtsverletzungen im oben charakterisierten Sinn, zum größeren Teil aber Individualvergehen betrafen, sind entsprechend den von Deutschland übernommenen staatlichen Verpflichtungen beim Reichsgericht in Leipzig bearbeitet worden. In 13 Fällen kam es dabei zu prozessualen Verhandlungen,7 in den übrigen [92] Fällen blieb es bei oberreichsanwaltlichen Ermittlungsverfahren. Zum erheblichen Teil gestützt auf die ihm für seine besonderen Zwecke zugänglich gewesenen Ergebnisse dieser reichsgerichtlichen Arbeiten, daneben aber auch seine eigenen Forschungswege gehend hat ein ausdrücklich dafür eingesetzter Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstags die wesentlichen völkerrechtlichen Einzelfragen aus der Zeit des Weltkriegs geprüft und seine auf jahrelangen Forschungen beruhenden Ergebnisse veröffentlicht.8 Auf diesen Ergebnissen beruht die folgende Wiedergabe der Einzelprobleme der Schuld im Kriege.

Der deutsche U-Bootkrieg, den die Mantelnote eine "Herausforderung von Seeräubern an das Völkerrecht" nennt, war von Anfang an und in seinen sämtlichen verschiedenen Stadien eine Abwehraktion gegen die im Verlauf des Krieges immer krasser werdenden Handlungen der gegnerischen Absperrungspolitik, die man unter der Bezeichnung "Blockade" zusammenzufassen sich gewöhnt hat. Darunter sind im wesentlichen u. a. die folgenden einzelnen ihrerseits völkerrechtswidrigen Maßnahmen des gegnerischen Seehandelskriegs zu verstehen. Die Verletzung der Konterbandebestimmungen der Londoner Seerechtsdeklaration, deren wichtigste eine vorschrieb, daß "relative Konterbande", wozu Lebensmittel zu zählen waren, auf der Fahrt nach Feindesland nicht beschlagnahmt werden dürfen, wenn sie nicht genau nachweisbar unmittelbar für den Gebrauch der Streitmacht bestimmt sind. Ferner die Verletzung des Durchsuchungsrechtes, demzufolge neutrale Schiffe da, wo sie auf See angehalten wurden, auf ihre etwaige Konterbande hin zu durchsuchen waren. Statt dessen wurden diese Schiffe in englische Häfen geschleppt, dort monatelang festgehalten und meist auch zur Abgabe ihrer Ware in irgendeiner Form gezwungen. Schließlich die Erklärung der Nordsee zum Kriegsgebiet am 2. November 1914, wonach dort der gesamte neutrale Schiffsverkehr verboten wurde, sofern er sich nicht auf bestimmten, von England vorgeschriebenen Routen vollzog. Auf diesen Routen aber herrschte die Willkür der englischen Durchsuchungspraxis.

Gegen derartige völkerrechtswidrige Maßnahmen setzte sich Deutschland mit seiner Erklärung des beschränkten U-Bootkriegs vom 4. Februar 1915 zur Wehr, der den Verkehr der feindlichen [93] Kauffahrteischiffe in den Gewässern um Großbritannien betraf und verfügt wurde, nachdem die von Deutschland zuvor dazu aufgerufenen neutralen Staaten gegen die ihre eigenen Rechte verletzenden britischen Seemaßnahmen nicht wirksam auftraten. Im U-Bootsperrgebiet wurden für den neutralen Schiffsverkehr bestimmte Freirouten gelassen. Nichtsdestoweniger erhoben unter der Führung der Vereinigten Staaten die Neutralen Einspruch gegen dieses deutsche Vorgehen. Deutschland gab auch, nachdem schwerwiegende Zwischenfälle eingetreten waren ("Lusitania", "Arabic", "Soussex"), nach, indem es die Erwartung aussprach, daß Amerika nunmehr von sich aus für die Aufhebung der gegnerischen, völkerrechtswidrigen Absperrung Sorge tragen würde. Dies blieb aber eine Hoffnung. Im Januar 1917 griff daraufhin Deutschland erneut zur Selbsthilfe und erklärte, sein Vorgehen verschärfend, den uneingeschränkten U-Bootkrieg, d. h. noch weit größere Seegebiete als früher wurden Kriegsgebiet, nicht nur feindliche, sondern auch neutrale Schiffe sollten dort warnungslos angegriffen werden. Wiederum wurden aber für den neutralen Verkehr gewisse Seerouten freigehalten. Es ist bekannt, daß dies den Eintritt vor allem Amerikas in den Krieg zur Folge hatte.

Durch den deutschen U-Bootkrieg sind 30 000, durch den gegnerischen Hungerkrieg 800 000 Menschen ums Leben gekommen. So günstig dieser Zahlenvergleich für Deutschland aussieht, so kommt ihm doch eine völkerrechtliche Bedeutung nicht zu. Das rechtliche Skelett der geschilderten schwerwiegenden Maßnahmen sieht vielmehr wie folgt aus.

Als Repressalie gegenüber dem Feinde hat der deutsche U-Bootkrieg, der beschränkte sowohl als der uneingeschränkte, ohne weiteres seine volle völkerrechtliche Berechtigung. Repressalien, die sich gegen den Feind richten, dürfen aber nach dem Völkerrecht nicht zugleich auf Neutrale ausgedehnt werden. Wenn nun der deutsche U-Bootkrieg bis zu einem gewissen Grade auch in die Rechte neutraler Staaten eingriff, so wäre dies ihnen gegenüber eine Völkerrechtswidrigkeit gewesen, wenn diese Staaten nicht sich selbst zuvor ihrerseits dieser Rechte schon begeben hätten, indem sie sich den Absperrungsmaßnahmen der Feinde gegenüber auf bloße Proteste beschränkten und auf weitergehende Maßnahmen verzichteten. Dadurch gewann Deutschland den Anspruch, daß diese Staaten dem U-Bootkrieg gegenüber, wenn sie nicht ihre Neutralitätspflicht verletzen wollten, die gleiche Duldung übten, ihn allenfalls also mit papierenen Protesten beantworteten. Wenn sie mehr taten, so verletzten sie den völkerrechtlichen Grundsatz, daß ein Neutraler im Kriege beide Parteien hinsichtlich der Bedingungen der Kriegführung gleichmäßig zu behandeln hat.

[94] Der Gaskrieg. Bei der Analyse der gegen Deutschland erhobenen Beschuldigungen wegen der Verwendung von Giftgas im Kriege stößt man auf geradezu erstaunliche Verhältnisse, was die Rechtslage betrifft, und auf eine Unwahrheit, was die Beschuldigung anlangt.

In Artikel 171 des Versailler Vertrages wurde Deutschland die Herstellung und Einfuhr von Giftgas untersagt "mit Rücksicht darauf, daß der Gebrauch von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen... verboten ist".9 Sollte dieser Artikel rechtsschöpferischen Charakter haben, d. h. wollte er ein entsprechendes Verbot der Verwendung von Giftgas von sich aus aussprechen, so mag er in Ordnung sein. Wollte er aber besagen, daß ein entsprechendes Verbot bereits bestehe und sollte durch ihn, wofür der Wortlaut des Artikels zu sprechen scheint, eine Bezugnahme auf dieses bereits bestehende Verbot stattfinden, so waren die Versailler Juristen zum mindesten im Irrtum. Ein solches Verbot bestand nämlich nicht, beziehungsweise so gut wie nicht, denn die Gestaltung des Wortlauts der Haager Erklärung vom 29. Juli 1899 ließ es geschehen, daß das von ihr ausgesprochene Verbot zum guten Teil in sich selbst aufgehoben wurde.

Die betreffende Haager Erklärung untersagte, "solche Geschosse zu verwenden, deren einziger Zweck ist, erstickende oder giftige Gase zu verbreiten", d. h. es wurde durch die Erklärung nicht nur nicht der Gebrauch von Giftgas schlechthin verboten, sondern nur derjenige von Geschossen, die entsprechende Gase verbreiten. Außerdem wurde dieses an sich schon wenig umfassende Verbot durch den Zusatz noch weiter eingeschränkt, daß diese Verbreitung der einzige Zweck der betreffenden Geschosse sein sollte. Die Anwendung von Giftgas ohne Zuhilfenahme von Geschossen und ebenso die Verbreitung von Giftgas durch Geschosse, die neben diesem besonderen Zweck noch die übliche Sprengwirkung von Geschossen hatten, war also im Weltkrieg völkerrechtlich erlaubt.

Diese Feststellung ist nicht das Ergebnis einer mephistophelischen Interpretationskunst eines infolge Kurzsichtigkeit oder Irrtums mangelhaft gestalteten Vertragstextes, sondern sie ist das bündige Ergebnis der betreffenden Haager Verhandlungen selbst, die zur Formulierung des zitierten Vertragstextes geführt haben. Denn ursprünglich wollte man damals den Gebrauch von Gasgeschossen schlechthin verbieten, ging aber alsdann bewußt dazu über, dieses Verbot immer mehr einzuschränken, und zwar auf Geschosse, die "den Zweck", alsdann den "ausdrücklichen Zweck" und schließlich [95] sogar (der endgültige Wortlaut) den "einzigen Zweck" der Giftgasverbreitung hatten. Warnend erhob sich in den Verhandlungszimmern eine Stimme und wies darauf hin, daß durch diese Einschränkung das Verbot so gut wie gegenstandslos würde. Man setzte sich indessen über diese Warnung weg, weil man mit dem Verbot nicht mehr treffen wollte. Diese durch die Haager Erklärung geschaffene Rechtslage mag traurig grotesk erscheinen, sie ist zwingend eindeutig.

Ihr zufolge ist das Völkerrecht zum erstenmal verletzt worden durch die französische Armee, und zwar bei der Verwendung von Gewehrgasmunition und Gashandgranaten, die keine Sprengwirkung hatten, sondern den bewußten einzigen Zweck verfolgten, den Gegner einzugasen. Dies geschah im März 1915. Die zweite Verletzung erfolgte wiederum durch Frankreich, das seit dem Frühjahr 1916 von seiner Artillerie hochgiftige Phosgengeschosse ohne Sprengladung verschießen ließ. Beide Male ging anschließend die deutsche Armee zu einer entsprechenden Kampfesweise über, die aber als Gegenmaßnahme völkerrechtlich nicht beanstandet werden kann.

Dagegen war es keine Völkerrechtsverletzung, wenn Deutschland im Januar 1915 an der russischen Front Artilleriegasmunition, die sogenannten T-Geschosse, verwandte, die eine Gaswirkung und Sprengwirkung miteinander kombinierten. Ebensowenig verstieß die berühmte deutsche Gaswolke von Langemaark (22. April 1915) gegen das Völkerrecht, denn zu ihrer Erzeugung wurden überhaupt keine Geschosse benötigt. Das Gas wurde damals aus Flaschen abgeblasen.

Heute besitzen wir das bereits von allen Großmächten unterzeichnete Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925, das weit über die Haager Erklärung hinausgehend jede Art der Anwendung von Gas im Krieg untersagt. Wird sich dieses ideale Verbot, wenn es im Ernstfall darauf ankommt, Wirksamkeit verschaffen? - Man vermag seine Skepsis vorläufig nur schwer zu unterdrücken, und es kann nur der eine Wunsch ausgesprochen werden, der Welt möge die Wiederholung der betreffenden Ereignisse des Weltkriegs erspart bleiben, insbesondere auch jenes Ereignisses, daß ein Volk jubilierte und seinen Erfindergenius pries, als es glaubte, eine alles vernichtende Gaswaffe in die Hand bekommen zu haben. Dies geschah in Frankreich im Herbst 1914, als ein in Wirklichkeit unzutreffendes Gerücht umlief, der Erfinder Turpin habe den Ententearmeen ein solches Gift zur Verfügung gestellt.

Kriegsgefangene. Es hat im Weltkrieg in allen Staaten zusammen insgesamt mehr als 3½ Millionen Kriegsgefangene gegeben. Daß bei der Betreuung einer solch gewaltigen Menge, die zudem aus Menschen voll der schärfsten inneren Spannungen bestand, alle Verhältnisse immer in tadelloser Ordnung gewesen wären, wird nie- [96] mand behaupten wollen. Die betreffenden Beschuldigungen der Mantelnote, die Deutschland einer "barbarischen Behandlung" seiner Kriegsgefangenen zeiht, "vor welcher die Völker unterster Kulturstufe zurückgeschreckt wären", wollten daher sicherlich nicht so sehr auf spezielle Einzelvorkommnisse abzielen, als eine Generalanklage sein, durch die die Behandlung im allgemeinen, die Ernährung, Bekleidung, Beschäftigung usw. getroffen werden sollten. Um die Stichhaltigkeit einer solchen allgemeinen Beschuldigung zu prüfen, gibt es nun das sehr einfache Hilfsmittel der statistischen Zahlen. Sie enthalten das objektive Ergebnis der Sorge, die die einzelnen Staaten ihren Kriegsgefangenen haben angedeihen lassen. Was zeigt sich da?

Beim Vergleich der folgenden beiden Nachweisungen wird man finden, daß Deutschland, trotzdem es in seinen Mitteln für den Unterhalt der Gefangenen beschränkt war, besser abschneidet, als die gegnerischen Staaten. Die Beschränkung der Unterhaltsmittel aber war eine Folge der Hungerblockade, die in Deutschland zur Rationierung zwang. Diese wurde jedoch nachweislich so gehandhabt, daß die Gefangenen zu allen Zeiten die gleiche Menge Nahrungsmittel erhielten wie die deutsche Zivilbevölkerung. Die allgemeine Beschuldigung der Mantelnote bricht also in sich zusammen.

Allerdings gibt es die Kriegsgefangenen betreffend auch eine spezielle Beschuldigung, die aber nicht in der Mantelnote, sondern in der Auslieferungsliste Ausdruck gefunden hat. In dieser ist behauptet, daß Deutschland seine Kriegsgefangenen verschiedener Nationalität zwecks Seuchenübertragung untereinander vermischt habe. Bei der Prüfung dieser Beschuldigung durch das Reichsgericht hat sich ergeben, daß es sich um eine niederträchtige, übrigens auch dumme Lüge handelt. Nichts lag den leitenden deutschen Stellen ferner, als Seuchen innerhalb Deutschlands sich bilden und verbreiten zu lassen. Die Bekämpfung infektiöser Krankheiten war eine der hauptsächlichsten Sorgen des militärischen Sanitätsdienstes. Sie hat vielen Ärzten und Krankenpflegern Gesundheit und Leben gekostet. Die Mischung von Gefangenen verschiedener Nationalität in Deutschland ist allerdings zu Anfang des Krieges, ehe die sanitäre Bedenklichkeit dieser Maßnahme erkannt war, vorgenommen worden. Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus läßt sich indessen kein Einwand gegen sie erheben.

Schließlich kann man für die Beurteilung der Kriegsgefangenenfrage noch die Rolle in Betracht ziehen, die die einzelnen Staaten während des Krieges in den internationalen, im Interesse der Kriegsgefangenen gepflogenen Verhandlungen gespielt haben. Deutschland erscheint dabei als Anreger und Vorkämpfer für eine ganze Reihe von [97] völkerrechtlichen Neuregelungen, durch die das Schicksal der Kriegsgefangenen verbessert wurde.10

Wenn daher das Wort von der "barbarischen Behandlung" noch einmal in den Mund genommen werden darf, so mag es demjenigen Staat zur Begutachtung vorgelegt sein, der den Nachweis über den Verbleib von mehr als 43 000 seiner Sorge anvertrauten Kriegsgefangenen schuldig geblieben ist. Dieser Staat ist Frankreich. (Siehe Tabellen auf nächster Seite.) [Scriptorium merkt an: der Übersichtlichkeit halber von uns hier gleich nachfolgend eingefügt.]

[Orig. S. 98]       I.                    
Nachweisung

der in Kriegsgefangenschaft geratenen, in ihre Heimat zurückgekehrten,
in Kriegsgefangenenschaft gestorbenen Deutschen
und der nicht aufklärbaren Restfälle

Während des Krieges
befanden sich Deutsche
in Gefangenschaft:
Davon sind:


Staat Gesamt-
zahl
lebend
in das
jetzige
Reichs-
gebiet
zurück-
gekehrt
lebend vom
Fremdstaat
unmittelbar
in die
abgetretenen
Gebiete
entlassen
in der Kriegs-
gefangenschaft
gestorben
unaufgeklärte
Fälle
Anzahl vom
Hundert
der
Gesamt-
zahl
Anzahl vom
Hundert
der
Gesamt-
zahl








1 2 3 4a 4b 5a 5b








Frankreich
   & Belgien
424 157 330 367 25 310     25 229 5,95   43 251 10,19  
England 328 020 299 663 18 418     9 939 3,03   —    —    
Amerika 49 560 45 660 2 949     951 1,92   —    —    
Rußland 168 104 96 306 4 818     15 767 9,38   51 213 30,45  
Rumänien 12 898 8 471 438     3 145 24,38   844 6,54  
Andere Länder 11 036 7 930 161     868 >7,87   2 077 18,82  


II.
Nachweisung

der in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen und dort gestorbenen
Soldaten der Feindbundländer

Während des Krieges befanden sich
Soldaten des Feindbundes
in deutscher Gefangenschaft:
Davon sind bis zum
10. August 1919 gestorben
Staat Höchstzahl Anzahl vom Hundert
der
Höchstzahl




1 2 2a




Frankreich 535 411 17 308   3,23       
Belgien 46 019 1 004   2,18        
England 185 329 5 547   2,99        
Vereinigte Staaten von Nordamerika   2 457 59   2,40        
Rußland 1 434 529 75 989   5,39        
Rumänien 147 986 25 67411 17,3          
Italien 133 287 7 746   5,81        
Japan 107 —   —          
Montenegro 5 —   —          
Portugal 7 107 164   2,31        
Serbien 28 746 1 874   6,52        


Zerstörungen. Die "wohl überlegte Zerstörung" von Industrien aus Konkurrenzneid, deren Deutschland in der Mantelnote beschuldigt wird, bezieht sich in erster Linie auf die im französischen Kohlengrubengebiet des Departement du Nord im Sommer 1918 getroffenen Maßnahmen. Als damals die deutschen Armeen zum Rückzug gezwungen wurden, erschien es den leitenden militärischen Stellen richtig, die umfangreichen Kohlenfelder, deren Ausbeutung im deutschen Heeresinteresse erfolgreich betrieben worden war, systematisch zu zerstören. Im Anfang, als noch mit einer längeren Dauer des Krieges gerechnet wurde, ging man dabei auf eine langfristige Unbrauchbarmachung aus und sprengte unter Tag. Als klar wurde, daß der Krieg verloren sei und bald beendigt werden müsse, beschränkte man sich, um dem Vorwurf der willkürlichen Zerstörungssucht zu entgehen, auf Sprengungen über Tag, die immer mehr abgemildert wurden.

Es ist aktenmäßig beweisbar, daß bei der Anordnung dieser schwerwiegenden Maßnahme ausschließlich militärische Überlegungen gespielt haben. Kohle war, namentlich angesichts des in Frankreich bereits bestehenden Mangels an diesem Rohstoff, ein überaus wichtiges Kriegsmittel. Den Gegner einer solchen Kraftquelle zu berauben erschien daher als militärisches Erfordernis. Aus diesem und keinem anderen Grunde wurden die Zerstörungen befohlen. Kein deutscher industrieller "Konkurrent" hat bei der Maßnahme oder bei der Entstehung dieses Gedankens mitgewirkt.

Die Haager Landkriegsordnung (Artikel 23 g) erlaubt ausdrücklich Zerstörungen in den Fällen, wo sie "durch die Erfordernisse des Krieges dringend erheischt werden". Dieser Fall lag vor und so müssen die deutschen Maßnahmen als völkerrechtlich gerechtfertigt angesehen werden.

Das gleiche gilt auch für die noch größeren, nicht nur auf industrielle Betriebe beschränkten, sondern ganze Geländestreifen nebst [98=Tabellen] [99] Wegen, Brücken, Ortschaften usw. umfassenden Zerstörungen gelegentlich des sogenannten Hindenburgrückzugs in der Gegend von St. Quentin zu Beginn des Jahres 1917. Der taktische Zweck dieser gewaltigen Zerstörungen war, das betreffende Gelände für zukünftige militärische Operationen auf lange Sicht hinaus unbrauchbar zu machen. Die deutsche Heeresleitung hatte richtig vorausberechnet, daß an eben dieser Frontstelle im Frühjahr 1917 eine große französisch-englische Offensive einsetzen würde, der die deutschen Truppen nach den Schwächungen der Somme-Schlacht nicht mehr gewachsen gewesen wären. Um der drohenden Niederlage zu entgehen, wurden deshalb die natürlichen und technischen Voraussetzungen für den gegnerischen Angriff planmäßig vernichtet. Die später einsetzende Offensive der Entente gestaltete sich daraufhin in der Tat zu einer eigenen schweren Niederlage.

Auch in diesem Fall hat nachweisbar nicht der Schatten einer Idee von der industriellen Vernichtung der Konkurrenz eine Rolle gespielt. Das Völkerrecht rechtfertigt entsprechend auch diese Maßnahme.

Es muß aber noch auf einen anderen Gesichtspunkt hingewiesen werden. Die in der Mantelnote mit so schneidender Schärfe geäußerte Anklage, daß der Gedanke an die Vernichtung von Konkurrenten industrieller oder anderer Art die deutschen Kriegsmaßnahmen bestimmt oder beeinflußt habe, wirkt grotesk im Munde von Vertretern, deren eigene Staaten während des Krieges unter englischer Führung ein großes System ausgearbeitet haben, das eben der restlosen Vernichtung der deutschen Handels- und Industrieunternehmungen im Ausland diente. Unter Verletzung des völkerrechtlichen Grundrechts vom Schutz des privaten Eigentums in Kriegszeiten (Haager Landkriegsordnung Artikel 23 h) wurden überall in der Welt die deutschen Unternehmungen beschlagnahmt und liquidiert. Wobei der Fachausdruck Liquidation vielfach eine schönfärberische Umschreibung für ein gewissenloses Verschleudern wertvoller Kulturgüter bedeutet. Auch diese Maßnahme mußte Deutschland zu seinem eigenen Schutz in Repressalienform beantworten. Sein Ruhm, in diesen Fragen des sogenannten Wirtschaftskriegs während des Weltkriegs der Vorkämpfer für das moderne Völkerrecht der jüngsten Vergangenheit und sicherlich auch der Zukunft gewesen zu sein, wird dadurch in nichts geschmälert.

So erweisen sich die hauptsächlichsten Anklagen der Mantelnote bei kritischer Betrachtung, mag diese auch nur kurz gehalten sein, als nicht haltbar. Je mehr man ernst, sachlich und unangekränkelt von der Kriegspropaganda diesen Dingen gegenüber tritt, um so mehr [100] schwindet die Schuld, die Deutschland zur Last gelegt werden sollte, in sich zusammen, um so mehr entstehen Belastungen für die Gegenseite. Die Aussichten dafür, daß im Sinn des früher Ausgesprochenen der wissenschaftliche und propagandistische Kampf auf dem Gebiet der Schuld im Krieg erfolgreich neben demjenigen der Schuld am Krieg geführt werden kann, sind gut, sind sogar recht gut.

Wie aber steht es, so wird fragend eingewandt werden, mit den Ereignissen in Belgien, d. h. mit der Verletzung der belgischen Neutralität, mit den zahlreichen Erschießungen belgischer Zivilisten beim Durchmarsch 1914, mit den Deportationen belgischer Arbeiter? Hat da nicht die belgische Publizistik, die mit so fanatischer Leidenschaftlichkeit bis in unsere Gegenwart hinein das deutsche Verschulden anprangert, recht?

Diese Fragen lassen sich auf Grund derjenigen Unterlagen, die für die bisherige Darstellung der Einzelheiten der Schuld im Krieg bestimmend waren, nämlich auf Grund der völkerrechtlichen Arbeiten des obenerwähnten Untersuchungsausschusses des Reichstags, nur teilweise beantworten. Ausführlich ist von dieser Kommission nur die Deportationsfrage behandelt worden. Betreffend die Vorkommnisse während des Durchmarschs durch Belgien sind dagegen manche Fragen offen geblieben und mußten aus Gründen offen bleiben, von denen alsbald noch die Rede sein wird. Die Verletzung der belgischen Neutralität schließlich ist von dem Ausschuß bewußt ausgeschaltet worden, weil es sich um ein für eine isolierte völkerrechtliche Bearbeitung nicht geeignetes Problem handelt. Auch hierüber alsbald noch ein Wort.

Über die Frage der Deportationen ein völkerrechtliches Urteil abzugeben war insofern schwierig, als eine eigene Rechtsunterlage dafür nicht vorhanden war. Man wird in den modernen völkerrechtlichen Texten vergeblich nach dem speziellen Begriff "Deportation" suchen. Die angesichts dieses Mangels für eine Urteilsbildung heranzuziehenden völkerrechtlichen Bestimmungen allgemeinen Charakters aber lassen zum einen Teil eine derartige Maßnahme als zulässig erscheinen (Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung), zum andern Teil sprechen sie dagegen (Artikel 46 der Haager Landkriegsordnung). Mit Rücksicht auf diese schwierige Rechtslage müßte die Entscheidung davon abhängig gemacht werden, welche Motive für die Anordnung der Deportationen maßgebend gewesen sind. In dieser Hinsicht war aber wiederum für den deutschen Untersuchungsausschuß keine vollständige Klarheit zu gewinnen. Er sah auf der einen Seite ein völkerrechtlich zulässiges Motiv, nämlich die Bekämpfung der sozialpolitisch und auch militärisch gefährlichen Arbeitslosigkeit in Belgien gegeben. Auf der andern Seite bestand zugleich ein völkerrechtlich widerrechtliches Motiv, nämlich die Heranziehung von Ar- [101] beitskräften zu Leistungen gegen ihren Willen, wodurch der feindlichen Wehrmacht Vorteile erwuchsen. Innerhalb dieser Alternative hat es der Untersuchungsausschuß bzw. seine Mehrheit für richtig befunden, über die Deportationsmaßnahme als solche ein völkerrechtliches Urteil nicht abzugeben, sondern er hat sich darauf beschränkt, die spezielle Art, wie die Deportationen in Belgien durchgeführt wurden, in ihrer Härte, mangelnden Sorgsamkeit und Organisation als völkerrechtswidrig zu bezeichnen. Die Minderheit des Ausschusses hat darüber hinaus auch die Maßnahme als solche verurteilt. Ergänzend sei hinzugefügt, daß die von Frankreich durchgeführten ähnlichen und in ihren Motiven klar erkennbaren Deportationen von Bewohnern der während des Krieges besetzten Gebiete Elsaß-Lothringens vom Untersuchungsausschuß als völkerrechtswidrig gekennzeichnet wurden.

Was die Ereignisse in Belgien während des Durchmarschs im Jahre 1914 anlangt, so waren der Untersuchungstätigkeit eines einseitig deutschen Ausschusses naturgemäß enge Grenzen gezogen. Über Einzelvorkommnisse, wie etwa die Erschießungen und Zerstörungen in Dinant und in anderen belgischen Orten, deren vollkommene Klärung nur mit Hilfe eines kontradiktorischen Verfahrens möglich ist, mußte sich der Ausschuß eines Urteils enthalten. Er hat dementsprechend nur die Grundfragen untersucht, ob und unter welchen Bedingungen ein Franktireurkrieg überhaupt völkerrechtlich zulässig ist, und er ist dabei auf Tatsachen gestoßen, die das belgische Verhalten als Verletzungen des Völkerrechts kennzeichnen. Mit dieser Feststellung wären indessen noch nicht alle Einzelvorkommnisse, wie etwa diejenigen von Dinant, völkerrechtlich gedeckt, über die belgischerseits so krasse Schilderungen verbreitet worden sind und noch immer verbreitet werden, daß eine weitere Klärung im Interesse zukünftiger guter Beziehungen zwischen den beiden Staaten von jedem ernsthaft Gesinnten gewünscht werden muß. Aber es ist überaus befremdlich, daß die belgische Regierung es unter mannigfachen Ausflüchten umgeht, eine international unparteiische Untersuchungskommission mit kontradiktorischer Verfahrensart, die von Deutschland immer wieder in Vorschlag gebracht wird, in Aktion treten zu lassen.

Bei der großen Frage der Verletzung der belgischen Neutralität schließlich handelt es sich um ein Problem, das gewissermaßen den Schnittpunkt bildet zwischen den beiden Begriffsfeldern Schuld am Krieg und Schuld im Krieg. Denn die während des Kriegs von Deutschland auf Grund gewisser Aktenfunde in Brüssel aufgestellte Behauptung, Belgien habe selbst seine Neutralität nicht gewahrt, hält einer kritischen Rechtsprüfung nicht stand. Vielmehr bildet die Frage der Verletzung der belgischen Neutralität ein Kettenglied, und zwar das [102] letzte in der Serie derjenigen Ereignisse, die zum Kriegsausbruch geführt haben. Deutschland kann sich zur Rechtfertigung des von ihm begangenen Vertragsbruchs betreffend die belgische Neutralität auf das völkerrechtliche Grundrecht des Notstands berufen unter der Voraussetzung, daß seine Haltung während der Krise des Sommers 1914 sowie in der weiter zurückreichenden Kriegsvorgeschichte einwandfrei ist. Von diesem letzten Urteil betreffend die Schuld am Krieg ist das erste Urteil betreffend die Ereignisse der Schuld im Krieg unmittelbar zwangsläufig abhängig. Wir sind am Ende also wieder, diesmal noch in einer anderen Form, bei der anfangs besprochenen Zusammengehörigkeit unserer beiden Begriffshälften angelangt.

Aber der Schlußpunkt darf noch nicht unter diese Ausführungen gesetzt werden. Wir sind noch einen letzten bedeutsamen Hinweis schuldig, der für das gesamte Gebiet der Schuld im Krieg gilt.

Mehrfach war auf den vorliegenden Seiten davon die Rede, daß die Arbeiten des Untersuchungsausschusses des Reichstags zur Erkenntnis einer mangelhaften völkerrechtlichen Rechtslage geführt haben, und weit öfter, als hier darzustellen möglich war, haben in Wirklichkeit die sachlichen Forschungen der Kommission zu derartigen Hinweisen Veranlassung gegeben. Ist es klar, welche Tragweite diesen speziellen Ergebnissen innewohnt? - Für denjenigen, der es noch nicht zu durchschauen vermocht hat, sei es gesagt: Die dem Interesse der gesamten Menschheit dienende Verbesserung und Fortbildung des Völkerrechts ist in der fruchtbarsten Weise an die objektive Betrachtung der Ereignisse des Weltkriegs gebunden. Es sind aus dieser retrospektiven Schau die wertvollsten Gesichtspunkte für die Zukunft zu schöpfen, denn kein Völkerrecht kommender Zeiten vermag auf das Kriegsrecht zu verzichten. Selbst wenn einmal in einer idealen Zeit Friede auf Erden herrschen sollte, wird das Kriegsrecht in der Form des Rechts der Exekution gegen den Rechtsbrecher als wesentlicher Bestandteil der Kulturgütergemeinschaft notwendig und lebendig sein.

Die Schuld-am-Krieg-Betrachtung mündet aus in der völkerrechtlichen Kriegsächtung. Die Schuld-im-Krieg-Betrachtung mündet aus in der dazu wesenseigentümlichen Ergänzung, in der Vervollkommnung des Kriegsrechts.

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1Wortlaut siehe S. 17 u. 18 des Artikels v. Freiherr v. Lersner: "Die Auslieferung der deutschen »Kriegsverbrecher«." ...zurück...

2Der Raummangel verbietet es, dieses unter den einschlägigen Versailler Materialien bisher am wenigsten bekannte, umfangreiche Schriftstück hier im Wortlaut zu zitieren. [Scriptorium merkt an: bei uns im Volltext online hier!] ...zurück...

3Siehe hierüber S. 17 des Artikels von Lersner: "Die Auslieferung der deutschen »Kriegsverbrecher«." ...zurück...

4Als hauptsächlichstes Werk ist eigentlich nur die Veröffentlichung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Reichstags: Völkerrecht im Weltkrieg, Berlin 1927, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, zu nennen. ...zurück...

5Siehe hierüber den Artikel von Dr. Draeger: "Die internationale Erörterung der Kriegsschuldfrage". ...zurück...

6Alles Wesentliche über die Auslieferungsliste ist in dem schon mehrfach angezogenen Artikel des Freiherrn von Lersner enthalten. ...zurück...

7Die französische Regierung hat bekanntlich ihre Delegation bei den Leipziger Verhandlungen unter Protest zurückgezogen, nachdem das Reichsgericht den von Frankreich der Tötung von Verwundeten und der Pardonverweigerung gegenüber Gefangenen angeklagten General Senger freigesprochen hatte. Die deutsche Regierung hat daraufhin die bis dahin ergangenen neun Urteile des Reichsgerichts sofort veröffentlicht (Reichstagsdrucksache Reichstag I 1920/21 Drucksache Nr. 2584), um dem Vorwurf einer einseitigen deutschen Rechtsprechung entgegenzutreten. Höchste richterliche Beamte der ehemals gegnerischen wie auch neutraler Staaten haben sich übrigens diesen Vorwurf nicht zu eigen gemacht, sondern im Gegenteil der Tätigkeit des Reichsgerichts Anerkennung gezollt. So u. a. der englische Attorney General, der englische Solicitor General, der Präsident des niederländischen Kriegsgerichts. Über ihre günstige Beurteilung der reichsgerichtlichen Verhandlungen siehe Völkerrecht im Weltkrieg, Band III, Seite 60. ...zurück...

8Völkerrecht und Weltkrieg, vgl. die Fußnote auf Seite 87 der vorliegenden Abhandlung. [Scriptorium merkt an: hier Fußnote 4.] ...zurück...

9Der volle Wortlaut des Artikels 171 Absatz 1 heißt: "Da der Gebrauch von Stickgasen, giftigen oder anderen Gasen oder ähnlichen Flüssigkeiten, Stoffen oder Vorrichtungen verboten ist, wird ihre Herstellung in Deutschland und ihre Einfuhr streng untersagt." ...zurück...

10Abkommen über den Austausch von Invaliden, von Sanitätspersonal, von solchen Gefangenen, die eine lange Gefangenschaftszeit durchgemacht haben usw. ...zurück...

11Die hohe Sterblichkeitsziffer der in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesenen rumänischen Soldaten erklärt sich durch den Umstand, daß diese Leute in einem überaus verwahrlosten und entkräfteten Zustand in die deutschen Hände gefallen sind, so daß ihnen besondere Zulagen an kräftigen Nahrungsmitteln gewährt werden mußten. ...zurück...

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger