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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

II. Die moralische Ächtung des deutschen Volkes
als Mittel zur Unterhöhlung der Rechtsgrundlage
  (Teil 3)

b) Die Kriegsschuldlüge   (Teil 2)

2) Die internationale Erörterung der Kriegsschuldfrage

Dr. phil. h. c. Hans Draeger
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände

I.

(1) Die Kriegsschuldfrage ist - das muß zunächst festgestellt werden - in ihrer bekannten Formulierung eine politische Frage. Politisch ist sie auf Grund ihrer Entstehung als Kriegsmittel; politisch ist sie in ihrer völkerrechtlichen Versailler Prägung als Mittel des "unsauberen Friedens"; politisch ist sie in der nachkriegszeitlichen Anwendung und Auswertung dieser Versailler Formulierung. Der Historiker fragt nach den Ursachen, nach den Gründen eines geschichtlichen Ereignisses. Er kann mit der Frage: Wie ist es gewesen? einfache Tatsachenfeststellung betreiben; er kann je nach Blickrichtung und Einstellung ein Ereignis aus den Handlungen der beteiligten Personen erklären; er kann es in weitere unpersönlichere Zusammenhänge soziologischer und entwicklungsgeschichtlicher Art hineinstellen. Die erste Voraussetzung seiner Arbeit als einer wissenschaftlichen ist jedoch immer die Unvoreingenommenheit der Urteilsbildung. Er kann und darf sich ein Urteil über die Zusammenhänge erst nach gewissenhafter Erforschung aller zugänglichen Quellen und Umstände erlauben. Die wissenschaftliche Einstellung ist leidenschaftslos, unvoreingenommen. Wenn auch selbstverständlich die historische Urteilsbildung beeinflußt wird von der Weltanschauung, der nationalen Gebundenheit, dem Temperament, der Menschlichkeit des Geschichtsforschers, wenn also subjektive Faktoren niemals ganz auszuschalten sind, so muß doch der Wille auf Objektivität, auf allseitige Berücksichtigung der Umstände gerichtet sein, um dem Ziele der Erforschung der wirklichen Zusammenhänge zu dienen.

Etwas ganz anderes ist die Frage nach der sittlich-moralischen Beurteilung historischer Ereignisse. Hier gilt die Frage: Durfte das sein? Ist diese oder jene Handlung vom Standpunkt des Rechts und der Gerechtigkeit zu billigen gewesen? Die Geschichte ist voller Taten, die die Moral, die die Sittlichkeit nicht billigen kann, die sie sogar verurteilen muß. Immer haben menschliche Gier und Leidenschaften sich über die Rechte anderer - Einzelpersonen oder Völker - hinweggesetzt. Immer sind die Normen, die sittliches Bewußtsein, die rechtliches Streben innerhalb der Staaten wie für das Verhältnis [52] der Staaten untereinander aufgestellt haben, durchbrochen und verletzt worden. Das ändert jedoch an der Gültigkeit solcher Gesetze nichts. Das berührt die Berechtigung nicht, vom ethischen Standpunkt aus historische Ereignisse zu beurteilen und sie an sittlichen Maßstäben zu messen. Es erhellt jedoch ohne weiteres, daß ein gerechtes sittliches Urteil nur auf Grund der Kenntnis der wahren Zusammenhänge gefällt werden kann, daß es notwendigerweise falsch sein muß, wenn es auf Unkenntnis wichtiger Umstände beruht, daß somit auch für die ethische Beurteilung geschichtlicher Ereignisse der Historiker Vorarbeit geleistet haben muß.

Ganz anders aber ist der Politiker eingestellt. In der Politik gilt zunächst und vor allem das Gesetz des Handelns. Der Politiker, der Staatsmann greift handelnd in die Ereignisse ein. Er kann sich nicht betrachtend und beurteilend wie der Historiker oder der Ethiker verhalten. Die Politik bildet vielmehr umgekehrt erst den Stoff der Geschichte und unterliegt erst nach dem Geschehen der Beurteilung durch die Ethik. Ohne Kenntnis der hauptsächlich treibenden geschichtlichen Kräfte ist die Beurteilung und Erkenntnis einer augenblicklichen politischen Lage nicht möglich. Im Augenblick der Entscheidung jedoch muß der Politiker handeln. Seine Aufgabe ist es, zum Vorteil des Landes, des Volkes, des Staates zu handeln, die seiner Verantwortung anvertraut sind. Die Verantwortung für den Staat, den er vertritt, muß für den Staatsmann die oberste sittliche Norm sein. Erst darüber hinaus erhebt sich die schwere, kaum lösbare Frage, ob im Namen des Staates Handlungen begangen werden dürfen, die dem Einzelnen verboten sind. Ohne dieser in tiefste Probleme hineinführenden Frage an dieser Stelle weiter nachgehen zu können, müssen wir hier feststellen, daß sehr häufig Staatsmoral und private Moral in Widerspruch zueinander geraten sind, daß die Politik oft Mittel benutzt und Wege geht, die der Ethiker verurteilen muß.

Der Politik kann alles zum Mittel werden. Sie muß auf allen Saiten der menschlichen Seele spielen; sie wendet alle Mittel der Beeinflussung an, um ihre Ziele zu erreichen. Je schwieriger die Entscheidungen, je folgenschwerer sie für den Staat sind und je tiefer sie das ganze Volk in allen seinen Schichten in Mitleidenschaft ziehen, desto notwendiger ist es, alle psychologisch wirksamen Mittel anzuwenden, um das Volk zur Anteilnahme, zur Zustimmung zu der getroffenen Entscheidung zu veranlassen. Insbesondere trifft dies auf den Krieg zu. Solange der Krieg als letztes Mittel der Politik gilt, solange ist er auch nur dann als gerechtfertigt, als sittlich erlaubt angesehen worden, als seine Notwendigkeit eben als letzter Ausweg zu erweisen war. Hier stoßen wir jedoch an die mannigfachen Möglichkeiten der Politik, dieses ethische Empfinden der Völker als Mittel [53] zu benutzen und unter Umständen zu mißbrauchen, sie durch falsche Angaben, durch falsche Darstellung der Zusammenhänge zu Handlungen mitzureißen, zur Teilnahme an einem Krieg zu bringen, zu dem die Völker bei Kenntnis der wahren Motive vielleicht die Gefolgschaft verweigert hätten.

(2) In einem bisher nicht vorgekommenen Ausmaß wurden nun im Weltkrieg die Grundsätze von Recht und Moral als Mittel in den Dienst der Politik gestellt. Dieser Krieg war ein Krieg nicht nur der bewaffneten Heere; er war ein Krieg der Völker schlechthin. Er griff tiefer in das Leben jedes einzelnen hinein als je ein Krieg zuvor. Wenn eine solche Katastrophe über die Welt hereinbrach, so lag das Suchen nach einem "Schuldigen" besonders nahe. Daß die Kriegsschuldfrage im Weltkrieg in so starkem Maße eine Rolle gespielt hat, ist in gewisser Weise aus der Gesamtlage erklärlich. Entstanden aus der politischen Gesamtkonstellation, aus dem Mechanismus der Bündnisse, schon lange drohend aus den politischen Spannungen, war das Bedürfnis nach der moralischen Rechtfertigung des Weltkrieges um so größer, je schwerer die Folgen waren, die er über die Menschheit brachte.

Deutschland stand in diesem Krieg von vornherein auch geistig gegen eine Übermacht. Politisch und militärisch eingekreist, wurde es auch sofort in die ungünstige Lage des moralisch Angeklagten versetzt. Die Umstände des Kriegsausbruches, die von deutscher Seite ausgegangenen Kriegserklärungen, der Einmarsch in Belgien u. a. erleichterten es geschickter Darstellung, Deutschland die Rolle des Angreifers zuzuschieben. Inmitten der Ereignisse stehend, der historischen Forschung vorgreifend, die allein von dem nötigen Abstand aus die Zusammenhänge übersehen kann, wurde zu politischen Zwecken der Welt die Behauptung eingehämmert, daß Deutschland der Urheber des Krieges sei. Zugleich wurde damit ein moralisches Verdammungsurteil gesprochen, wurde Deutschland als der Weltfeind hingestellt. Das setzte sofort nach Kriegsausbruch ein. Die Kriegsschuldfrage entstand sogleich mit dem Weltkrieg und sie wurde sofort in den Reden der Ententestaatsmänner, in der Propaganda behandelt, jedoch nicht als Frage, sondern als feststehende Tatsache. Es wurde als bereits erwiesen, als beantwortet hingestellt, wer der Urheber dieses Krieges war: Deutschland. Der Britische Ministerpräsident H. A. Asquith äußerte sich schon im September 1914 wie folgt:

      "Wer ist verantwortlich für die unermeßlichen Leiden, denen die Welt entgegengeht? Eine Macht ist verantwortlich, eine allein, und diese Macht ist Deutschland."

Dem gegenüber wurde der Krieg der Entente schon in den gleichen Reden in den Dienst der höchsten Ideale, der Grundsätze von Mo- [54] ral und Recht gestellt. Die "Gerechtigkeit" der Sache der Entente wurde nicht nur aus dem angeblichen "Angriff" Deutschlands hergeleitet; sie wurde darüber hinaus in einen Prinzipienstreit gestellt, in einen Kampf des "Guten" mit dem "Bösen". Deutschland wurde in diesem geistigen Kampf das "böse" Prinzip der "Gewalt" zugesprochen. Die Entente dagegen vertrat in der Kriegspropaganda das "gute" Prinzip des "Rechtes"; sie war nicht in den Krieg eingetreten um selbstsüchtiger Ziele wegen, sondern zum Kampf um diese hohen moralischen Grundsätze.

Mit solchen Gedankengängen wurde insbesondere die amerikanische Volksseele vergiftet und gegen Deutschland aufgewiegelt. Deutschland wurde als der Verächter von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit hingestellt. Der Krieg wurde dem amerikanischen Volk als Kreuzzug gepredigt. Demgemäß wurden die Deutschen als "Barbaren" und "Hunnen", ihre politischen Einrichtungen als rückständig, ihre Moralität als minderwertig, ihre kulturellen Leistungen als geringfügig und nicht eigenartig hingestellt. Ihre Kriegführung wurde als grausam und verbrecherisch bezeichnet.

Und noch eine andere psychologische Quelle muß dargestellt werden. Es gab natürlich in den Ententeländern auch Widerstände der mannigfachsten Art zu überwinden. In England waren es beispielsweise namentlich die liberalen Kreise und Zeitungen, die bis zuletzt die Notwendigkeit für England bestritten, am Krieg teilzunehmen. Wie jedoch Irene Cooper Willis in ihrem Buche England's Holy War sehr aufschlußreich gezeigt hat, ist unmittelbar nach dem Eintritt Englands in den Krieg diese Idee des "heiligen Krieges" entstanden. Und gerade die englischen Liberalen waren die Träger dieser Idee. Aus dem Gefühl "nun wir im Krieg sind, müssen wir ihn gewinnen" und aus dem Gefühl, ihn eigentlich nicht gewollt zu haben, im Grunde widerwillig an ihm teilzunehmen, ist die "Heiligsprechung" des Krieges entstanden, "aus einer erzwungenen Union zwischen Verabscheuung und Unterwerfung unter den Krieg". Da die Existenz des Krieges aber nicht geleugnet werden konnte, mußte seine Natur geändert werden, und so wurde der Kriegsgedanke gesteigert: "Der Sieg Deutschlands würde die dauernde Erhebung des Kriegsgottes über alle menschlichen Dinge bedeuten. Die Niederlage Deutschlands wird den Weg zur Abrüstung und zum Frieden auf Erden eröffnen, niemals gab es einen gerechteren Krieg als den gegen Deutschland."

Also nicht nur als der politische Feind, sondern als der Feind der Menschheit schlechthin wurde Deutschland bekämpft. Über die politischen Gründe zum Krieg hinaus wurde eine moralische Rechtfertigung des Krieges gesucht. Und diese wurde in der moralischen Verleumdung und Verfemung Deutschlands und des deutschen Volkes [55] gefunden. Wir dürfen diese psychologischen Gründe, aus denen heraus die Kriegsschuldfrage zu der den geistigen Kampf des Weltkrieges beherrschenden Rolle kam, nicht übersehen. Die Überzeugung von der deutschen Kriegsschuld ist einerseits aus diesen spontan wirkenden psychologischen Gründen entstanden. Andrerseits muß eine bewußte Handhabung der Begriffe von Moral und Recht im Dienste politischer Zwecke durch alle Mittel der Propaganda in Rechnung gezogen werden. Die Kriegsschuldfrage wurde so die wichtigste politische Waffe des Krieges; sie war es, die ein ganzes und später den Krieg endgültig entscheidendes Volk, die Amerikaner, in den Weltbrand hineintrieb.

(3) Sie wurde aber auch die politische Waffe der Gegner für den Friedensschluß. Der Gedanke eines Friedens auf der Grundlage des "Rechtes und der Gerechtigkeit" wurde als erhabenstes Kriegsziel mit allen Mitteln der Propaganda der Welt hingestellt. Indem aber die Antithese "Recht und Gewalt" auf den Krieg übertragen und dadurch die Idee des "Rechtsfriedens" willkürlich und zweckbestimmt mit der moralischen Verfemung Deutschlands verkoppelt wurde, verbog und verfälschte man den positiven Inhalt dieser Gedanken. Die möglichst gründliche Niederlage Deutschlands galt als die Voraussetzung des "Friedens der Gerechtigkeit". Ein Friede auf dem status quo wurde als nicht genügend erachtet. Die Gestaltung des Versailler Friedens ist nicht zu verstehen, wenn man nicht diese Verkuppelung in Rechnung zieht. Und auch Wilson, der Verkünder der 14 Punkte, der Wortführer des "Rechtfriedens", machte sich die Kreuzzugsidee gegen Deutschland zu eigen. In einer Rede vom 6. April 1918 forderte er:

      "Gewalt, Gewalt bis zum äußersten, Gewalt ohne Einschränkung oder Schranke, die gerechte oder triumphierende Gewalt, die das Recht zum Gesetz der Welt macht und jede selbstsüchtige Herrschaft in den Staub niederwerfen wird."

Frühzeitig wurde auch der Gedanke der Wiedergutmachung erörtert und mit der deutschen Schuld am Kriege und im Kriege begründet. So stellte schon 1917 die 1887 gegründete französische Vereinigung "La paix par le droit" als 6. Punkt ihres Programms für den "Rechtsfrieden" auf:

      "In wirtschaftlicher Beziehung ist es gerecht, den Mittelmächten, da sie verantwortlich für den Krieg sind, den größten Teil der Lasten aufzuerlegen, welche dieser den Kriegführenden bringt."

Präsident Wilson hatte in seiner Kongreßbotschaft vom 2. April 1917 zum ersten Male den Gedanken einer moralischen Unrechthaftung aus Krieg formuliert, als er verkündete,

[56]   "daß wir am Anfang eines Zeitalters stehen, in dem die gleichen Grundsätze von Schuld und Verantwortung für begangenes Unrecht unter den Völkern ebenso beobachtet und angewendet werden müssen, wie unter den einzelnen Angehörigen zivilisierter Staaten."

Und die Entente zeichnete in ihrer Antwort vom 12. Januar 1917 auf die Wilsonsche Friedensnote vom 21. Dezember 1916 die Grundsätze des künftigen Friedens in folgender Weise:

      "Die Alliierten empfinden ebenso tief wie die Regierung der Vereinigten Staaten den Wunsch, möglichst bald diesen Krieg beendet zu sehen, für den die Mittelmächte verantwortlich sind und der der Menschheit grausame Leiden auferlegt. Aber sie sind der Ansicht, daß es unmöglich ist, bereits heute einen Frieden zu erzielen, der ihnen die Wiedergutmachungen, Rückerstattungen und Bürgschaften sichert, auf die sie ein Recht haben infolge des Angriffes, für den die Mittelmächte die Verantwortung tragen und der im Ursprung gerade darauf abzielte, die Sicherheit Europas zugrunde zu richten."

So wurde die angebliche Kriegsschuld Deutschlands zur moralischen Basis und zu einem Bestandteil des Friedensvertrages. Die unerhörten Härten der Friedensbedingungen konnten der Welt nur mit der propagierten Idee des "Rechtsfriedens" begreiflich gemacht werden. Wenn das Völkerrecht durch Versailles den schwersten Stoß erhalten hat, wenn die bisher übliche Friedens- und Amnestieklausel in der Versailler Urkunde fehlt, so ist das den Verwirrungen zuzuschreiben, die die zügellose Verfemung des Gegners im Rechts- und Billigkeitsgefühl angerichtet hatte. Wie sollte ein unterlegener Feind anständig behandelt werden, der vier Jahre lang der Welt als die Verkörperung des Bösen hingestellt worden war?

Der milde Klang des Wortes "Gerechtigkeit" wandelte sich durch den Gedanken der "Abrechnung", den Clemenceau in die Debatte schleuderte, zur unbilligen Härte. Wilson schloß sich diesem Gedankengang an, wenn er am 3. Juni 1919 äußerte:

      "Die Frage, die mich beschäftigt, lautet: Wo haben sie mit ihren Behauptungen recht, wo haben sie gezeigt, daß die Vereinbarungen des Friedensvertrages in wesentlicher Hinsicht ungerecht sind? Denn sie sind hart, aber die Deutschen verdienen das, und ich glaube, es ist natürlich, daß eine Nation ein für allemal lernt, was ein ungerechter Krieg an sich bedeutet."

So konnten die schon im Krieg verfolgten machtpolitischen Kriegsziele und die ihnen entsprechenden Friedensbedingungen nur durch Aufrechterhaltung der Verfemung Deutschlands zum Schein gerechtfertigt werden, wie sie während des Weltkrieges unter dem Nebel der Propaganda für den "Rechtsfrieden" verhüllt wurden. Die Moral blieb weiter im Dienste der Politik, wurde nicht ihr Leitstern für einen Zustand höherer sittlicher Entwicklung, diese wurde vielmehr im Gegenteil durch eine solche politische Ausnützung weiter zurückgeschleudert.

Die 14 Punkte Wilsons hatten, allgemein als völkerrechtlicher Fort- [57] schritt gewertet, den "Verzicht" auf Kriegsentschädigung verkündet. Es wurde dafür der "Schadenersatz" eingeführt, der jedoch in seiner Anwendung und Begründung nicht zu einer Begrenzung dessen, was man vom besiegten Feind forderte, sondern zu der zur Genüge bekannten Maßlosigkeit der Reparationsansprüche führte. Harold Temperley gibt in seinem großen Werk History of the Peace Conference London 1920, im 2. Band beachtliche Aufschlüsse über die Genesis der Reparationsfrage:

      "Die moralische Basis des Anspruchs der Alliierten auf Reparation braucht nicht erörtert zu werden. Für seine eigenen ungerechten Ziele hatte Deutschland einen Krieg hervorgerufen, der unerhörte Verluste und Leiden über die Welt brachte. Es war gerecht, daß es, wie jeder Rechtsbrecher, vollen Ersatz nach seinen Kräften leisten mußte. Freilich konnte es nicht für alle Verluste von Leben und für das menschliche Elend, welches es verursacht hatte, büßen. Aber materieller Schaden konnte wiedergutgemacht werden, und soweit diese Aufgabe auf Deutschlands Schultern gelegt werden konnte, war es sowohl Pflicht wie Interesse der Alliierten, darauf zu halten, daß es geschah...
      Eine lange internationale Praxis hatte das Recht des Siegers geheiligt, die Kosten des Krieges von dem besiegten Feind zu fordern. Jedoch war diese Basis durch die Waffenstillstandsverhandlungen geändert. Die 14 Punkte sahen weder Entschädigung, noch Kriegsentschädigung vor, sondern nur (!) Schadenersatz für erlittene Verluste...
      Aus Artikel 231/2 geht hervor, daß die Alliierten sich entschieden, zwischen ihren moralischen und materiellen Ansprüchen zu unterscheiden. Während sie Deutschland ein allgemeines Schuldbekenntnis, den Krieg durch seinen Angriff verursacht zu haben, auferlegten, hatten sie sich entschieden, ihre Ansprüche auf den durch die Note vom 5. November 1918 bezeichneten Schaden zu beschränken...
      Der erste Artikel der Bestimmungen über Reparationen besagt, daß Deutschland und seine Verbündeten für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die seine Gegner infolge des Krieges erlitten haben. Diese Verantwortung ist eine moralische und nicht eine finanzielle. Artikel 232 erkennt an, daß die Hilfsmittel Deutschlands nicht ausreichten für den Ersatz aller Kriegsschäden...
      Die logische Struktur des Vertrages hinsichtlich der Finanzen und Reparationen kann wie folgt zusammengefaßt werden:
      1. Deutschland erkennt die moralische Verantwortung an, alle Schäden verursacht zu haben, die infolge des Krieges eingetreten sind.
      2. Der Vertrag bestimmt, welcher Teil dieser Schäden eine finanzielle Verpflichtung Deutschlands ist."

So wurden die finanziellen Forderungen der Entente an Deutschland nicht auf Grund des verlorenen, sondern vielmehr des "verschuldeten" Krieges erhoben. So konnte man scheinbar einem völkerrechtlichen Fortschritt huldigen, der mit der früheren Praxis des Siegerrechtes auf Kriegsentschädigung brach. Man konnte aber die Ansprüche auf die vollen Kriegskosten heraufschrauben und, indem man die sehr dehnbar und schwer zu bestimmende "Grenze" der deutschen Leistungsfähigkeit einführte, immer noch als enthaltsam dastehen, da man ja eigentlich noch mehr hätte fordern können. [58] So hat die "moralische Basis" des Friedens, indem sie als Beschuldigung auftrat, in Wirklichkeit nicht zu einer Mäßigung der Friedensbedingungen, nicht zu wirklicher und weiser Gerechtigkeit geführt, sondern zu unmenschlicher und grausamer Härte. Der Fall jeglicher Hemmungen in der Ausnutzung der durch die Niederlage Deutschlands der Entente zugefallenen Macht ist so ganz wesentlich auf diese Fälschung der Politik durch eine Moralordnung zurückzuführen.

(4) Außer dem Ultimatum vom 16. Juni 1919, der Mantelnote und dem Artikel 231 ist die Antwort, die die Entente auf die einzelnen deutschen Einwände zu den Friedensbedingungen am 16. Juni 1919 gab, ein weiterer Beweis für die enge Verkoppelung des Begriffs der Gerechtigkeit mit der Beschuldigung Deutschlands sowie für die moralische Bemäntelung politischer Zwecke.

Die deutschen Einwände vom 29. Mai 1919 zu den Friedensbedingungen stützten sich vor allem auf die Widersprüche zu dem Friedensprogramm Wilsons und zu den im Waffenstillstand getroffenen Vereinbarungen. Die Antwort der Entente suchte trotzdem den Nachweis des "Rechtsfriedens" zu führen unter Zuhilfenahme immer neuer Beschuldigungen. Die deutsche Delegation protestierte gegen die Einverleibung Elsaß-Lothringens ohne Volksabstimmung, deren Unterlassung ein noch größeres Unrecht bedeute als das angebliche von 1871. Die Entente erwiderte, in allen seinen Bestimmungen habe der Vertrag nur den Zweck, Personen und Sachen wieder in den Rechtszustand zu versetzen, in dem sie sich 1871 befanden. Die Verpflichtung, das damals begangene Unrecht wieder gut zu machen, lasse keine andere Möglichkeit zu, und Deutschland habe diese Verpflichtung übernommen, als es den 14 Punkten zustimmte. Deutschland habe somit keinen Anspruch, eine Volksabstimmung zu verlangen. Eupen-Malmedy sei Angriffsbasis für den preußischen Militarismus gewesen; im Saargebiet würden die Einwohner zum erstenmal seit der "Annexion" dieses Gebiets durch Preußen und Bayern, die eine gewaltsame gewesen sei, "eine Regierung an Ort und Stelle haben, die keine andere Sorge und Interessen hat, außer dem für das Wohlbefinden der Bevölkerung". Wenn die deutsche Delegation hinsichtlich der Ausbeutung der Kohlengruben es ablehne, eine Wiedergutmachung zu leisten, "die den Charakter der Strafe haben würde", so scheine "der deutsche Begriff von Gerechtigkeit eine Vorstellung auszuschließen, die für jede gerechte Regelung wesentlich ist". Dem Hinweis auf die Widersprüche zum Wilson-Programm bei der Grenzziehung im Osten begegnet die Antwort mit Vorwürfen gegen die Teilung Polens, mit der Behauptung des vorwiegend polnischen Charakters von Westpreußen und Posen, mit Beschuldigungen gegen die deutsche Polenpolitik. Ostpreußen sei seinen "Ureinwohnern" ent- [59] rissen, Danzig "durch Gewalt und wider den Willen seiner Bewohner dem preußischen Staat einverleibt" worden. Hinsichtlich Oberschlesiens wird zwar zugegeben, daß man die Behauptung aufstellen könne, daß Polen keinen rechtlichen Anspruch auf die Abtretung Oberschlesiens habe, daß aber feierlich erklärt werden müsse, daß die Behauptung, es hätte keine Rechte darauf, die durch die Grundsätze des Präsidenten Wilson gestützt würden, nicht der Wahrheit entspräche. Die Wegnahme der Kolonien wurde mit den schwersten Vorwürfen gegen die deutsche Kolonialbetätigung begründet; mit moralischem Augenaufschlag wurde erklärt, Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation sei zu deutlich zutage getreten, als daß die alliierten und assoziierten Mächte die Verantwortung dafür übernehmen könnten, 13 bis 14 Millionen Eingeborener von neuem einem Schicksal zu überlassen, von dem sie durch den Krieg befreit worden seien. Die einseitige Entwaffnung Deutschlands solle dessen kriegerische Angriffspolitik unmöglich machen. Deutschland solle eine Probezeit ablegen, bis es würdig sei, in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Auch hinsichtlich der Beschlagnahme des deutschen Privateigentums im Auslande als Vorleistung für die Reparationen ist eine Anspielung auf den Gedanken des Artikels 231 in dem Hinweis zu erblicken, daß die alliierten Mächte während des Krieges selbst auswärtige Kapitalanlagen ihrer Staatsangehörigen in Anspruch nehmen mußten: "Jetzt ist die Zeit gekommen, wo Deutschland dasselbe tun muß, wozu es seine Gegner gezwungen hat." Sogar für die Bestimmungen über die Handelsbeziehungen wird zur Begründung herangezogen, daß Deutschland zeitweilig das Recht, auf dem Fuße völliger Gleichberechtigung mit den anderen Nationen behandelt zu werden, entzogen werde:

      "Die gesetzwidrigen Handlungen des Feindes haben viele der verbündeten Staaten in eine Art wirtschaftlicher Unterlegenheit gegenüber Deutschland gebracht... und es ist nur recht und billig, daß die alliierten und assoziierten Mächte für diese Periode eine größere Freiheit haben, ihren wirtschaftlichen Verkehr zu ordnen, als dies den Urhebern des Angriffs zugestanden wird."

Und ganz zum Schluß wird zu Teil XIV (Bürgschaften) bemerkt:

      "Nach 4½ jähriger Dauer des Krieges, den die Verleugnung dieser Grundsätze (von Moral und Kultur) durch Deutschland heraufbeschworen hat, können die alliierten und assoziierten Mächte nur die Worte des Präsidenten Wilson vom 27. September 1918 wiederholen: »Darum muß der Frieden Bürgschaften erhalten, weil an ihm Vertragschließende teilnehmen, auf deren Versprechungen, wie man gesehen hat, kein Verlaß ist«."

(5) Das Versailler Kriegsschuldurteil bezieht sich also nicht nur auf Teil VIII, sondern, wie deutlich aus der Antwort der Entente zu den deutschen Einwänden hervorgeht, will sie auch zahlreiche andere Bestimmungen mit deutschen Verfehlungen begründen. So- [60] mit ist die Behauptung von der deutschen Kriegsschuld nicht nur das Fundament der Reparationen; sie bezieht sich vielmehr auf den ganzen Vertrag. Daß die Entente die Beschuldigung Deutschlands brauchte zur Rechtfertigung der Friedensbedingungen, die, ohne daß die Welt an die besondere Schuld Deutschlands geglaubt hätte, doch vor der öffentlichen Meinung und dem einfachen Rechtsgefühl nicht hätten bestehen können, erhellt unzweideutig aus diesen Antworten, die von den unerhörten Beschuldigungen der bekannten Mantelnote umrahmt werden.

Und in diesem Sinne wurde der Vertrag auch den Völkern empfohlen. So sagte Lloyd George am 3. Juli 1919 vor dem House of Commons über den Vertrag: "Es ist kein Zweifel, daß sie (die Friedensbedingungen) streng sind. Sind sie gerecht?" Er geht darauf die territorialen Bestimmungen des Versailler Diktates durch und rechtfertigt sie. Danach fährt er fort:

      "Ich komme nun zu den Reparationen. Sind die Bedingungen, die wir auferlegt haben, ungerecht für Deutschland? Wenn die gesamten Kosten des Krieges, alle die Kosten, die jedes Land, das in den Krieg durch die Handlungen Deutschlands gezwungen wurde, gehabt hat, Deutschland auferlegt worden wären, so würde das mit dem Grundsatz der Gerechtigkeit in der zivilisierten Welt übereinstimmen. Es gab nur eine Grenze für die Gerechtigkeit und den Verstand für die Reparationen, und das war die Grenze der Fähigkeit Deutschlands zu zahlen... Ist bei den Zahlungen etwas ungerecht für Deutschland? Ich glaube nicht, daß jemand das ungerecht nennen könnte. Sicher wird niemand das ungerecht finden, außer er glaubt, daß das Recht des Krieges auf der Seite Deutschlands war.
      Ich komme zu einem anderen Punkt, der Entwaffnung. Ist in Anbetracht des Gebrauches, den Deutschland von seiner Armee gemacht hat, etwas Unrechtes darin, daß diese Armee zerstreut wird, wenn es entwaffnet und unfähig gemacht wird, das Unrecht, das es über die Welt gebracht hat, zu wiederholen?" Nachdem Lloyd George sodann auch die Wegnahme der Kolonien mit der kolonialen Schuldlüge begründete, ging er über zu der geforderten Bestrafung des Kaisers und der "Kriegsverbrecher" und fährt dann fort: "Was war das Verbrechen? Deutschland provozierte nicht nur, sondern plante den vernichtendsten Krieg, den die Welt je gesehen hat. Es plante und bereitete ihn jahrelang vor. Die Nation ist mitschuldig. Deutschland ist nicht gegen den Willen der Bevölkerung in den Krieg gezogen." (Temperley a.a.O. Band III, Seite 83 ff.)

(6) Bekannt ist auch das Wort von Lloyd George vom 3. März 1921, daß die deutsche Verantwortung für den Krieg für die Alliierten grundlegend und die Basis sei, auf der der Bau errichtet wurde. Weniger bekannt ist, daß auch Briand bei einer aktuellen, kaum weniger schwerwiegenden und an sich dem Rechtsgefühl ins Gesicht schlagenden Entscheidung, nämlich bei der über Oberschlesien, auf die Anschuldigung zurückgriff, indem er am 17. August 1921 sagte:

      "Ich durfte nicht zugeben, daß der Geist, in dem der Friedensvertrag niedergeschrieben ist, dahin führt, Deutschland, das von den Verbands- [61] mächten feierlichst für verantwortlich für den Krieg erklärt worden ist, eine ungeheure Mehrheit polnischer Stimmen zuzuteilen, während Polen nur eine kleine deutsche Minderheit erhalten soll, und das alles nur aus dem Grunde, weil Deutschland schon seit 50 Jahren, gleich nach dem Kriege von 1870/71, mit den Milliarden, die es Frankreich erpreßt hat, seine Industriegegenden aufgebaut hat, die in völkischer Hinsicht durchaus polnisch sind."

Hier finden wir klar die politische Nutzanwendung der Kriegsschuldfrage auf Grund ihrer völkerrechtlichen Formulierung im Versailler Vertrag. Ihre große Gefahr liegt - über den Rahmen ihrer fundamentalen Bedeutung für die Versailler Urkunde hinaus - eben in der drohenden Möglichkeit, zu jedem passenden Zeitpunkt von der Gegenseite für akute außenpolitische Interessen nutzbar gemacht zu werden. Es ließen sich hierfür eine Fülle von Beispielen anführen. Nur auf eine, die uns im Augenblick besonders berührt, sei hier noch kurz hingewiesen. Als die Verhandlungen über Einsetzung des Young-Komitees schwebten, hielt es der Temps für zweckmäßig, in den ersten Januartagen 1929 zu schreiben:

      "Den Bericht von Parker Gilbert kann man als eine Stütze für die Behauptung derjenigen ansehen, die dafür sind, daß Deutschland, imstande seine Verpflichtungen zu erfüllen, auch in vollem Maße bezahlen muß, was die Billigkeit fordert. Es würde jedem Sinn der elementarsten Gerechtigkeit widersprechen, wenn man den Nationen, die die beklagenswerten Opfer des Krieges waren, neue Lasten auferlegen würde, während die für den Weltkrieg Verantwortlichen zugleich eine Begünstigung erfahren würden, die in den natürlichen Bedürfnissen ihrer Wirtschaft nicht gerechtfertigt ist. Wenn Deutschland, wie das jetzt klar ist, die vollen Jahreszahlungen des Dawes-Planes ohne seine eigenen Existenzmittel oder die Entwicklung seines Wohlstandes zu gefährden, bezahlen kann, liegt kein Grund vor, nicht von ihm die pünktliche Erfüllung seiner Verpflichtungen zu fordern."

Und einen Monat später schrieb dasselbe Blatt:

      "Die Regelung der Reparationen muß, um dauerhaft zu sein, ein Werk der Gerechtigkeit und Billigkeit sein. Wenn es richtig ist, daß die Sachverständigen ihre Aufgabe in einer Atmosphäre der Versöhnung erledigen, so muß man doch daran erinnern, daß es eine Grenze gibt, die die Nationen, die die beklagenswerten Opfer des Krieges waren, nicht überschreiten können. Der schlimmste Irrtum, den man begehen könne, sei, zu glauben, daß angesichts der Notwendigkeit abzugrenzen, die Mächte, denen der Krieg aufgezwungen wurde, die die härtesten Opfer gebracht haben, und die 10 Jahre lang aus eigenen Mitteln die Wiederherstellung der zerstörten Gebiete gefördert haben, die Selbstvergessenheit bis zu den Zugeständnissen treiben könnten, daß ihnen die geschuldeten Reparationen nicht die Verpflichtungen decken, die sie anderen Nationen gegenüber eingehen mußten, um den Streit bis zum gemeinsamen Sieg durchzuhalten, sowie die Wiederherstellung ihrer Ruinen, die sie aus eigenen Mitteln sichern mußten."

Man mag das für die Meinung einer unverantwortlichen Zeitung halten. Diese Meinung erhält ihre wirkliche Färbung erst, wenn man sieht, wie der verantwortliche Leiter der französischen Politik, der Ministerpräsident Poincaré, in den gleichen Gedankengängen wandelt. [62] Am 20. Mai 1929, als die Pariser Reparationsverhandlungen den Anschein eines Fortschritts erweckten, erklärte er in einer Rede in Douaumont:

      "Sie (die Bevölkerung von Douaumont) hat das Recht, von uns im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, daß wir immer an ihr Schicksal denken, wenn sich vor der Welt diese großen Fragen der Schäden und der Reparationen erheben, in denen die Parteinahme und die Leidenschaft nicht den Glanz der Wahrheit verdunkeln sollen. Welche Lügen man auch immer über den Ausbruch des Krieges 1914 zu verbreiten suchte; das französische Volk und die französische Regierung waren 1914 wie vorher dem Frieden zugeneigt, und sie taten alles, was in ihrer Macht stand, um ihn zu erhalten. Unsere Gegner haben sich nicht damit begnügt, uns den Krieg zu erklären und durch diese Erklärung jeden Verständigungsversuch zu hindern. Sie haben ein unleugbares Verbrechen begangen. Sie haben die belgische Neutralität verletzt. Dieser Angriff auf das Menschenrecht hat allein den Einbruch in neutrales Gebiet ermöglicht, und durch diesen Einbruch in neutrales Gebiet ist der in unseres erfolgt. Der Feind, der auf unsere östlichen Befestigungen gestoßen wäre, konnte mit Leichtigkeit eine Grenze überschreiten, die mangels dauernder Befestigungen durch das gegebene Wort hätte geschützt sein sollen. Angenommen, daß entgegen dem Zeugnis der offenkundigen Tatsachen und Akten die Zentralmächte nicht absichtlich die Initiative und Verantwortung für den Krieg übernommen hätten, so würden sie dennoch, da sie durch ihren Gewaltstreich gegen Belgien diesem und Frankreich unberechenbaren Schaden zugefügt haben, uns beiden vollen Ersatz schulden.
      Viele wahrhaftige Deutsche - so verblendet sie auch durch eine teilweise und unvollständige Beweisführung sein mögen, der man entscheidende Beweise, die in Berlin selbst gleich nach dem Waffenstillstand veröffentlicht wurden, vorenthält - gestehen zu, daß durch einen solchen in Verletzung der Verträge und ohne Schonung der Bevölkerung durchgeführten Einfall ein Rechtsanspruch auf Entschädigung für allen Schaden an Personen und Sachen entsteht.
      Eine angemessene Reparation sollte Frankreich keine der Kosten zur Last legen, die es auf sich nehmen mußte, sei es zur Wiederherstellung der zerstörten Gebiete, sei es für die Pensionen der zivilen und militärischen Opfer. Seit langem haben wir auf die Hoffnung einer so günstigen Regelung verzichten müssen und jedesmal, wenn Verhandlungen mit unseren Schuldnern stattfanden, haben wir uns zu Zugeständnissen hergegeben, getrieben durch den Wunsch nach Versöhnung und unserer eingewurzelten Friedensliebe. Obwohl wir wußten, daß wir nicht in dem Maße entschädigt würden, wie wir es verdienten, haben wir uns nicht entmutigen lassen...
      Die Regierung wünscht zur wirtschaftlichen Erholung der Welt eine endgültige Regelung. Aber es wäre ungerecht und unannehmbar, wenn Frankreich, das mißhandelte und verwüstete Frankreich, die Kosten tragen sollte. Wir haben nicht das Recht, die Toten zu vergessen, die unsere Gemeinden beweinen, wir haben nicht das Recht zu vergessen, daß mehrere unter ihnen, wie Douaumont, sogar untergegangen sind und zum einzigen Erinnerungszeichen eine Grabsäule hinterlassen haben. Heute wie gestern, morgen wie heute, sind unsere Toten, sind unsere Verwundeten, ist unsere heimgesuchte Bevölkerung die beste Sicherung für das Recht Frankreichs."

Und keinen anderen Zweck als diese französischen Äußerungen hat die Ende des vorigen und im Verlauf dieses Jahres von belgischer [63] Seite betriebene Propaganda über die angeblichen deutschen Verwüstungen, die massenweise Versendung von Propagandapamphleten über Dinant, Löwen usw. Die Versailler Schuldanklage sollte für die politischen und wirtschaftlichen Interessen der beiden Länder ausgenutzt werden.


II.

(1) Zwei Gesichtspunkte beherrschen die gesamte Erörterung der Kriegsschuldfrage. Der eine ist der, der in Versailles in so verhängnisvoller Weise mißbraucht wurde, der gesunde und von allen Völkern freudig und aufrichtig begrüßte Gedanke, durch eine sorgfältige Analyse der Ursachen des großen Weltkrieges zu einer Verminderung, ja vielleicht zu einer Verhinderung, zu einer Ächtung von Kriegen zu gelangen. Es erlangte durch die Fixierung in einem Friedensvertrag eine Anschauung völkerrechtliche Geltung, die bisher für die Praxis der Kriege und der Friedensschlüsse nicht maßgebend war: die Anschauung vom Krieg als Verbrechen, während der Krieg bisher als letztes Mittel der Politik völkerrechtlich erlaubt war. Wir haben hier nicht den tatsächlichen oder vermeintlichen völkerrechtlichen Fortschritt an sich zu werten, sondern können nur betonen, daß die fortschrittlichen Möglichkeiten in verhängnisvoller Weise dadurch entwertet wurden, daß diese Anschauung mit einem Urteilsspruch verbunden wurde, der jeglicher Rechtspraxis widersprach, indem die Partei, die als Ankläger und Richter zugleich auftrat, ihn fällte. Der Angeklagte wurde nicht gehört. Die Politik war maßgebend für den Urteilsspruch. Sie griff auch der historischen Forschung nach den Kriegsursachen vor. Als eine cause jugée wollte sie behandelt wissen, was unmöglich einwandfrei festgestellt sein konnte. Und so tritt der andere, für uns Deutsche lebensnotwendige, für die soeben dargestellte Anschauung und damit für alle Völker aber sich zwangsläufig ergebende und für ihre Verfolgung und Durchsetzung notwendige Gesichtspunkt hinzu, das Kriegsschuldurteil des Versailler Vertrages nachzuprüfen. In treffender Weise hat die deutsche Reichsregierung in ihrem Antrage vom 29. November 1918 auf Einsetzung einer Untersuchungskommission die Aufklärung aller Einzelheiten der Vorgänge, die zum Kriege führten, als notwendig hingestellt für die Herbeiführung des Weltfriedens, für die Schaffung dauernder Sicherheit gegen künftige Kriege und für die Wiederherstellung des Vertrauens der Völker untereinander. Eine gerechte Würdigung der Hergänge bei Freund und Feind ist die Vorbedingung für die künftige Versöhnung der Völker, ist die einzige mögliche Grundlage für einen dauernden Frieden und für den Bund der Völker. Die Gegenseite verhielt sich ablehnend. So antwortete die britische Regierung in ihrer Note vom 7. März 1919:

[64]   "Ich habe die Ehre Sie zu benachrichtigen, daß die Regierung Seiner Majestät der Meinung ist, daß es unnötig sei, auf den deutschen Vorschlag irgendeine Antwort zu geben, da nach Meinung der verbündeten Regierungen die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg längst unzweifelhaft festgestellt worden ist."

Die Regierungen der anderen Mächte nahmen zu der deutschen Anregung überhaupt nicht Stellung.

(2) Die Bemühungen der deutschen Delegation unter Graf Brockdorff-Rantzau und der deutschen Reichsregierung, aus der Versailler Urkunde namentlich diese Bedingungen zu entfernen, die, "ohne eine materielle Bedeutung zu besitzen, lediglich den Zweck verfolgen, dem deutschen Volke seine Ehre zu nehmen", scheiterten. "Übermächtiger Gewalt weichend" mußten auch diese Bedingungen mitunterzeichnet werden. So gelang es nicht, die politische Fixierung der Behauptung von der deutschen Kriegsurheberschaft im Versailler Vertrag abzuschlagen. Für Deutschland konnte die Angelegenheit damit jedoch niemals als "abgeurteilt" gelten. Der Protest gegen die "unerhörte Ungerechtigkeit" der Friedensbedingungen, der Protest gegen die falsche moralische Begründung mußte eine Bewegung hervorrufen, die sich auf die Revision von Versailles richtete, die die Anfechtung des Versailler Urteils, die Wiederaufnahme des Verfahrens erstrebte. Der Weg dafür war durch die Gegenseite vorgeschrieben. Die Anklage von Versailles mußte sachlich widerlegt werden. Dies konnte nur mit den Mitteln der historischen Forschung geschehen. Indem auf die Einleitung dieses Beitrages verwiesen wird, soll nochmals ausdrücklich festgestellt werden, daß die Fragestellung des Versailler Urteils von deutscher Seite als unzulässig und unhistorisch angesehen wird. Wenn die deutsche Forschungs- und Aufklärungsarbeit aber in den jetzt abgelaufenen zehn Jahren diese Fragestellung im wesentlichen übernommen hat, so erfolgte dies, weil wir es eben mit einer ausgesprochen politischen Frage zu tun haben. Die historische Frage nach den Gründen des Weltkrieges kann überhaupt erst erörtert werden, wenn die mit politischen Zweckabsichten verbundene Versailler Anklage beseitigt ist. Wir kommen auf diesen Gedanken noch einmal ausführlicher zurück. An dieser Stelle soll nur gesagt werden, daß die advokatorische Form der internationalen Erörterung der Kriegsschuldfrage, die Form, die sich mit den Begriffen "Anklage" und "Widerlegung" umschreibt, von der Gegenseite bewirkt worden ist. Aus ihr ergeben sich die vom Historiker festzustellenden Mängel an der Bewegung. Es kann aber nicht geleugnet werden, daß die Widerlegung der Versailler Anklage von deutscher Seite aus mit allen Mitteln und nach den Methoden der historischen Forschung betrieben worden ist.

[65] (3) Hierfür galt es zunächst den Stoff für die historische Urteilsbildung auf objektiver Grundlage bereitzustellen. Schon 1919 war der Anfang gemacht worden mit dem Deutschen Weißbuch über die Schuld am Kriege, der sogenannten Professoren-Denkschrift, und der Herausgabe der Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch, der sogenannten Kautsky-Akten. Der stärkste Beitrag zur geschichtlichen Forschungsarbeit ist aber durch die Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 bis 1914 geliefert worden, die 1921 begonnen und im Frühjahr 1927 nach dem Ende 1926 erfolgten Abschluß der Öffentlichkeit in 40 Bänden zu 54 Teilen übergeben wurde. Das Motto für diese ebenso schwierige wie verantwortungsvolle Arbeit lautete nach der Formulierung, die der damalige Reichsaußenminister Dr. Rathenau 1922 beim Erscheinen der ersten Bände prägte: "Im Dienste der Wahrheit." Den leichtfertigen und böswilligen Behauptungen der Kriegspropaganda und ihrer willkürlichen Fixierung im Friedensvertrag sollte das unanfechtbare Rüstzeug der wissenschaftlichen Forschung durch die lückenlose Offenlegung aller, auch der geheimsten Vorgänge der deutschen Politik seit 1871 entgegengestellt werden. Niemals ist der Wahrheitsmut dieser Veröffentlichung hinter dem ursprünglichen Zweck, der Widerlegung des Versailler Urteils, zurückgewichen. Auch die zahlreichen Fehler und Irrtümer der deutschen Vorkriegspolitik liegen vor aller Augen zur Beurteilung dar. Nur das ist nicht in den Akten zu finden, weil es nicht in ihnen zu finden war: eine Stütze für die Anklage, daß Deutschland im frevlerischen Streben nach Weltherrschaft, nach Unterjochung freier Völker bewußt den Krieg vorbereitet und bei Gelegenheit willentlich und wissentlich entfesselt habe. Die Erhaltung des Friedens ist, auch wenn dieses Ziel nicht zu jeder Zeit mit glücklichen Mitteln verfolgt wurde, immer Leitstern der deutschen Politik gewesen. Der Weltkrieg, aus einer Konstellation der Mächtegruppierung entstanden, die sich in den Jahren vor dem Kriege immer ungünstiger für Deutschland entwickelt hatte, konnte deutscherseits nicht verhindert werden, und es dürfte müßig sein, sich mit den vielen "Wenn"-Fragen aufzuhalten, die sich bei jedem Ergebnis, bei jedem Schritt stellen lassen.

Wie wir gesehen haben, hat Deutschland durch Veröffentlichung seiner Akten alle seine Geheimnisse offengelegt. Das Bild über die internationale Politik von 1871-1914 konnte ergänzt werden durch die teilweise Veröffentlichung österreichischer Akten, sowie durch Publikationen der Sowjetregierung über die russische Vorkriegspolitik. Dem deutschen Vorgehen, der moralischen Wirkung der deutschen Aktenpublikation haben sich auch die anderen Regierungen auf die Dauer nicht verschließen können. So hat England bisher von seiner auf 11 Bände berechneten Ausgabe der Bri- [66] tischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898-1914 den 11., den Kriegsausbruch betreffenden Band, sowie den 1.-5. Band über die Zeit von 1898-1909 veröffentlicht. Amerika hat gleichfalls schon einen Band seiner Aktenpublikation der Öffentlichkeit übergeben. In Frankreich liegen zwar schon seit langem die Beschlüsse auf Öffnung der Archive vor, jedoch sind bisher Akten noch nicht herausgegeben worden. Das für Anfang dieses Jahres geplante Erscheinen der ersten drei Bände ist nach neueren Mitteilungen doch wieder hinausgeschoben worden.

In wissenschaftlich-systematischer Weise sind von deutscher Seite alle Einzelheiten des gesamten Fragenkomplexes untersucht worden. Die 1921 gegründete "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" hat in gründlicher und umfassender Weise alles einschlägige Material gesammelt, gesichtet und verarbeitet. Zahlreiche deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller aller politischen Richtungen sind unermüdlich um die Klärung des Tatbestandes bemüht gewesen. Der Arbeitsausschuß Deutscher Verbände hat bei seiner auf überparteilicher Grundlage im In- und Auslande geleisteten Aufklärungsarbeit immer nur wissenschaftlich fundierte Darstellungen und Angaben verbreitet.

(4) In immer steigendem Maße hat sich auch die historische Forschung des Auslandes an der Klärung der Kriegsschuldfrage beteiligt. Die wissenschaftliche Literatur darüber ist allmählich fast unübersehbar geworden, und eine Übersicht hierüber zu geben, würde an dieser Stelle zu weit führen. Wie Pierre Renouvin vor kurzem in einem im Aprilheft der Zeitschrift L'Esprit International erschienenen längeren Aufsatz, auf den wir in anderem Zusammenhang noch zurückkommen werden, sich ausdrückte, ist die Forschung des Auslandes der deutschen "Propaganda" und dem Einfluß der deutschen Protestbewegung "erlegen", indem sie die Forderungen der deutschen Historiker angenommen hat. Wir können deutscherseits diese widerwillig gegebene Feststellung nur begrüßen, da wir wissen, daß ein großer Teil dieser Forscher bei Beginn ihrer Arbeit durchaus nicht auf dem Standpunkt der "deutschen These" stand, aber nach einem gewissenhaften und eindringlichen Studium der zur Verfügung stehenden Quellen zur Revision des in Versailles gefällten Urteils kam und seiner Meinung offen Ausdruck gab. Wahrheitsuchende Männer in allen Ländern der Welt haben mit großem Eifer und wissenschaftlicher Gründlichkeit das einschlägige Aktenmaterial, die zahlreichen Memoirenwerke, Sonder- und Spezialstudien verarbeitet und ihre Auffassungen in grundlegenden Werken veröffentlicht. In Amerika sind es Männer wie H. E. Barnes, F. Bausman, Becker, Bright, Blakeslee, St. E. Bruce, Buell, J. W. Burgess, E. Davis, [67] J. S. J. Ewart, S. B. Fay, J. Gaffney, W. L. Langer, A. J. Nock, Salmon, F. Schevill, Bernadotte Schmitt, Ch. Seymour, Ch. C. Tansill und andere, die sich in dieser Richtung bemühen. Die Engländer, von denen der leider verstorbene E. D. Morel schon frühzeitig den Kampf gegen das "zerstörende Gift" aufgenommen hatte, beteiligen sich durch R. Beazley, W. H. Dawson, G. L. Dickinson, Edith Durham, G. P. Gooch, C. H. Herford, Haedlam Morley, Harold Temperley, A. Ponsonby und anderen. Von Italienern seien Barbagallo, Torre, Salandra, Nitti, Cadorna, Palamenghi-Crispi und Lumbroso genannt. Selbst in Frankreich mehrt sich die Zahl derjenigen, die der Wahrheit die Ehre geben. Georges Demartial, Alcide Ebray, Alfred Fabre-Luce, Gouttenoire de Toury, Louis Guétant, Victor Margueritte, Matthias Morhardt, der ehemalige Botschafter Paléologue, Alfred Pevet, Ernest Renauld, Pierre Renouvin seien erwähnt. In Japan, in Rußland, in den neutralen Staaten sind überall Männer in der gleichen Richtung am Werk.

Als das Ergebnis ihrer Untersuchungen läßt sich feststellen, daß die Unhaltbarkeit des Artikels 231 von der wissenschaftlichen Forschung in der ganzen Welt anerkannt ist. Aus der Fülle der Untersuchungsergebnisse sei hier nur auf die Zusammenfassung hingewiesen, die der amerikanische Professor Sidney B. Fay in seinem zweibändigen Werk: The Origins of the World War Ende vorigen Jahres gab:

      "Das Urteil des Versailler Vertrages, daß Deutschland und seine Verbündeten allein verantwortlich sind, müssen wir fallen lassen. Es gründet sich auf unvollständige und nicht immer vernünftige Beweise. Es wird allmählich von den besten Historikern aller Welt anerkannt, daß es nicht mehr zu halten und zu verteidigen sei. Es beruht auf historisch ungesunder Grundlage und sollte daher revidiert werden."

Und erwähnt sei auch das Urteil des Historikers an der Pariser Sorbonne Pierre Renouvin:

      "Der Artikel 231 des Versailler Diktates spricht ein Urteil aus: Mit unvollständigen Beweisen haben die Staatsmänner es unternommen, eine offizielle Überzeugung festzunageln, eine historische Wahrheit niederzulegen, die schon durch ihren Charakter der wissenschaftlichen Genauigkeit entbehrt."

(5) Die wissenschaftliche Forschung hat somit die stärkste Bresche in das Urteil von Versailles gelegt. Wissenschaftlich ist es als widerlegt zu betrachten, wenn auch für Einzelfragen noch Stoff für eine jahrzehntelange Arbeit vorliegt. Wie steht es aber mit der Anerkennung dieses wissenschaftlich erforschten Tatbestandes? Die Lösung der Kriegsschuldfrage im Sinne des Versailler Vertrages kann nicht die Wissenschaft allein bringen. Eine noch so eindringliche wissenschaftliche Erforschung der Kriegsursachen wird der moralisch-psychologisch-politischen Seite des Problems nicht nachkommen können. [68] Das Versailler Kriegsschuldurteil entsprach einer in vier Jahren Weltkrieg erzeugten Weltmeinung. An der Entstehung dieser Weltmeinung wirkten die verwickeltsten völkerpsychologischen Vorgänge mit. Mit allen Mitteln der Propaganda wurde sie gefördert. So reicht sie tief ins Moralische hinein. Es hängen auch so viele politische Interessen daran, daß die Widerstände, die sich noch allenthalben der Anerkennung der Wahrheit entgegenstämmen, vielfach noch sehr stark sind. Das gilt sogar noch für die wissenschaftlichen Kreise. Noch 1928 hat der 6. Internationale Historikerkongreß in Oslo die Kriegsschuldfrage von der Erörterung ausgeschlossen. Eine Aufforderung an die Mitglieder der Versailler Kriegsschuldkommission von 1919 sich zu äußern, wie sie heute angesichts der durch die Dokumentenveröffentlichungen geklärteren Sachlage sich zu ihrer damaligen Auffassung über die deutsche Kriegsschuld stellten, die Dr. von Wegerer, der Leiter der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen, im Juliheft 1928 der Current History ergehen ließ, wurde von den meisten abgelehnt, von einem Teil sogar noch im Sinne der Versailler Behauptung beantwortet. Noch 1923 hatte der Internationale Historikertag unter Ausschluß Deutschlands stattgefunden, wie es unter dem Druck des internationalen Boykotts gegen deutsches Wesen überhaupt ja sehr lange gedauert hat, bis die internationalen wissenschaftlichen Fäden wieder geknüpft wurden. Der geistige Krieg gegen Deutschland beschränkte sich nicht nur auf die Vorwürfe gegen die deutsche Politik; der deutsche Charakter an sich wurde beschimpft. Einen Niederschlag dieser Kriegspsychose haben wir zum Beispiel in einem Buch, das, abgeschlossen im Dezember 1919, mit der Jahreszahl 1925 unter dem Titel Créer bei Payot, Paris, erschien und keinen Geringeren als Edouard Herriot zum Verfasser hat. Grausamkeit, Überheblichkeit, Lüge sind hiernach die Grundzüge des preußischen Charakters, einem "der widerwärtigsten, dem man begegnen kann". Deutschland fühle sich in der Schlechtigkeit wohl. Neben diesen Vorwürfen gegen den preußisch-deutschen Charakter fallen herabsetzende Bemerkungen gegen die deutsche Wissenschaft und die deutsche Technik. Deutschland habe selbst fast nichts erfunden, aber von den Erfindungen anderer immer Nutzen gezogen. [Scriptorium merkt an: den Bestohlenen des Diebstahls bezichtigen - das ist nach wie vor das beste Deckmäntelchen für die eigenen Vergehen!] Wenn auch solche allgemeinen Beschimpfungen im Laufe der Jahre zurückgetreten sind, so sind die in die Kriegsschuldbehauptung im engeren Sinne gruppierten Anschauungen durchaus noch nicht in der öffentlichen Meinung der anderen Länder geschwunden. Die Schulbücher sind weder in Amerika, noch namentlich in Frankreich trotz dankenswertester Bemühungen auch in diesen Ländern noch keineswegs von dem Gift gereinigt. Ende des letzten Jahres ist bei dem Militärverlag Charles Lavauzelle in Paris ein kleines Lehrbuch für die militärische Jugenderziehung herausgekom- [69] men, das zweifellos mit Zustimmung des französischen Kriegsministeriums veröffentlicht worden ist. Es beginnt mit der Feststellung der deutschen Kriegsschuld. "Ursachen des Krieges" lautet die Überschrift, worauf es heißt:

      "Der im August 1914 durch Deutschland und Österreich Rußland und Frankreich erklärte Krieg war die gewollte Folge einer Politik, die auf die Sicherung der Hegemonie der germanischen Macht in der Welt hinzielte. Die Schwierigkeiten, die Deutschland in Marokko machte, die Konferenz von Algeziras im Jahre 1906 und der Panthersprung von Agadir im Juli 1911 waren die ersten charakteristischen Symptome des Konfliktes, der Europa bedrohte. Seit 1911 verschärften sich die kriegerischen Tendenzen Deutschlands. Seine aktive Heeresstärke stieg in drei Jahren von 650 000 auf 900 000 Mann. Deutschlands Verbündeter Österreich hielt seinerseits die Mobilisierung eines Teiles seiner Streitkräfte dauernd aufrecht. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni 1914 gab für den durch die preußische Militärkaste und die Alldeutschen gewünschten Krieg den Vorwand ab."

Darauf folgen unter der Überschrift "Die Kriegserklärung" die weiteren Ausführungen:

      "Österreich erklärt am 18. Juli an Serbien im Anschluß an ein absichtlich kategorisch und verletzend gehaltenes Ultimatum, auf das das Kabinett von Belgrad trotzdem eine versöhnliche Antwort gegeben hatte, den Krieg. Als Antwort auf die österreichische Mobilisierung mobilisierte Rußland am 31. Juli. Deutschland ordnet die allgemeine Mobilmachung am 1. August an - allerdings hatte es im geheimen seit dem 25. Juli mobilisiert - und erklärt Rußland den Krieg. Während der Periode politischer Spannung hat Deutschland alle Vermittlungsvorschläge, die in der Absicht, den Konflikt zu vermeiden, durch Frankreich oder England gemacht worden waren, vereitelt. Frankreich verfügt treu seinem Bündnisvertrag seinerseits die allgemeine Mobilmachung am 1. August. Am 3. August erklärt Deutschland unter anerkanntermaßen nichtigen Vorwänden, die zudem inzwischen dementiert worden sind, Frankreich den Krieg, und schließlich stellt sich England, während Italien uns seine Neutralität versichert, am 4. August angesichts der Verletzung Belgiens und Luxemburgs an unsere Seite. So war in wenigen Tagen zwischen Deutschland und Österreich einerseits, Frankreich, Rußland, England, Belgien und Serbien andererseits der Krieg ausgebrochen. Japan trat am 15. August auf die Seite der Alliierten.
      Was auch Deutschland behaupten möge, heute ist in aller Form bewiesen und festgestellt:
      daß es den Krieg gewollt hat;
      daß es ihn zu dem ihm genehmen Augenblick mit den tadelnswertesten Mitteln entfesselt hat;
      daß es mit Voreingenommenheit alle zu seiner Verhinderung gemachten Anstrengungen vereitelt hat;
      daß es französisches Gebiet vor der Kriegserklärung verletzt hat.
      Deutschland bleibt deshalb auf alle Zeit vor der Geschichte für diesen Krieg verantwortlich, den es gewollt, vorbereitet, provoziert und aufgezwungen hat."

Das ist der Geist, in dem die französische Jugend über die Kriegsschuldfrage unterrichtet wird. Vor allem ist es jedoch die Presse, in der die Beschuldigungssucht gegen Deutschland bei jeder Gelegenheit wieder hervorbricht und dabei immer wieder auf Argumente hinsichtlich der Kriegs- [70] schuldfrage zurückgreift. Ohne ihren Standpunkt in der Angelegenheit zurückgenommen zu haben, ist in der englischen Presse ein Zurücktreten, eine gewisse Gleichgültigkeit der Kriegsschuldfrage gegenüber zu beobachten. Anders steht es mit der französischen Presse. Die deutsch-französischen politischen Spannungen, die Rheinlandräumung, die Sicherheitsfrage, die Reparationsfrage geben den französischen Zeitungen immer wieder Anlaß, spontan mit Beschuldigungen und Verdächtigungen zu arbeiten. Der "deutsche Angriff" ist stehendes Argument, wenn von der "bedrohten" französischen Sicherheit die Rede ist. Die deutsche Vertragstreue wird immer wieder angezweifelt und die restlose Erfüllung der Verträge von Deutschland gefordert. Es wurde schon gezeigt, daß der enge Zusammenhang der Kriegsschuldfrage mit der Reparationsfrage auch jetzt wieder stark hervorgetreten ist.

Oft genug wird zwar der beliebte Unterschied zwischen den "zwei Deutschland" gemacht. Es wird die bereits in der Kriegspropaganda angewandte Gleichung republikanisch = friedlich, monarchistisch = kriegerisch angewendet, was auf das Ausspielen der Unterscheidung Regierung und Volk hinauskommt. Für diese Vergleiche sind jedoch vorwiegend taktische Gründe maßgebend, um dadurch einen Zwiespalt in das deutsche Volk zu treiben. Wenn es darauf ankommt, wird doch, wie schon in der Antwort der Entente vom 16. Juni 1919, die Last und Schuld auf das ganze deutsche Volk gelegt.

(6) So ist es die Gegenseite, die immer wieder auf die angebliche Kriegsschuld Deutschlands zurückkommt und zu keinerlei Entgegenkommen, zu keinerlei Abstrich bereit ist. Die Bindung an das Versailler Kriegsschuldurteil steht immer noch hemmend zwischen der Aussöhnung der Völker, bildet ein psychologisch-moralisch-politisches Friedenshindernis. So deutlich das zu spüren ist, so wenig ist bisher die Gegenseite bereit gewesen, es hinweg zu räumen. In der Diskussion der Staatsmänner, somit in der hohen Politik steht die Kriegsschuldfrage im wesentlichen noch da, wo sie 1919 stand. Das Urteil gilt noch immer, und die Gegenseite hält zähe daran fest.

Zur Unterzeichnung gezwungen, ist für Deutschland, so lange das Versailler Kriegsschuldurteil besteht, die Haltung ihm gegenüber fest bestimmt. Alle Gruppen des deutschen Volkes haben sich in eindrucksvoller Weise gegen das Urteil des Artikels 231 ausgesprochen. Die deutsche Bewegung gegen die falsche Behauptung wird bestehen, so lange der Artikel 231 in Geltung ist. So illusionsfrei das deutsche Volk auch den gegenwärtig noch bestehenden Machtverhältnissen ins Auge sehen muß, es wird das Streben, die Fesseln zu lockern, niemals aufgeben; es wird sich mit dem Urteil des Artikels 231 nicht abfinden. Die deutsche Reichsregierung, die nicht [71] nur bei der Unterzeichnung protestiert und nicht nur in zahlreichen Erklärungen sich auf diesen Protest berufen hat, benutzte denn auch wichtige außenpolitische Entscheidungen, wie 1924 die Annahme des Dawesplanes, 1925 die Verhandlungen in Locarno, 1926 den Eintritt in den Völkerbund, um immer wiederholt der Auffassung Ausdruck zu verleihen, daß diese politischen Schritte nicht als ein stillschweigendes Sichabfinden mit dem Versailler Schuldspruch gedeutet werden dürften. Es ist freilich trotz allen Entgegenkommens, das die deutsche Politik bewies, nicht gelungen, die Gegenseite zu einer Aufgabe ihres Standpunktes zu bewegen. Die Vorstöße der deutschen Reichsregierung sind ohne Erfolg geblieben, und Deutschland hat kein Mittel, die Gegenseite zur Aufgabe ihres Standpunktes zu zwingen, so lange die Gegenseite dies nicht will. Für die politische Lösung der Kriegsschuldfrage ist sie keine Frage der Erkenntnis, sondern eine solche des Willens.

Auf der anderen Seite darf natürlich auch ein reiner Opportunitäts-Standpunkt in der Kriegsschuldfrage nicht ausschlaggebend sein. Es ist wohl richtig, daß viele Schritte der Reichsregierung, daß zum Beispiel auch die bekannte Tannenbergrede des Reichspräsidenten von Hindenburg die Gegenseite zur Versteifung ihres Standpunktes in der Kriegsschuldfrage veranlaßt hat. Die sittlich-moralische Bedeutung der Kriegsschuldfrage muß aber für das deutsche Volk über solchen Tagesaufregungen stehen. Trotz aller Bedenken, die sich bei einer Beobachtung der Auswirkungen derartiger Regierungserklärungen im Ausland auslösen mögen, ist doch festzustellen, daß sie mit dazu beigetragen haben, das Urteil der weiten Massen des Auslandes ins Schwanken zu bringen. Die Existenz der Kriegsschuldfrage ist für die Entente unbequem. Es ist für sie ärgerlich, daß das deutsche Volk das Recht, sie als cause jugée zu behandeln, in Frage stellt. Das deutsche Volk darf jedoch um seiner Selbstachtung, seiner sittlichen Existenz willen nicht auf sein Recht verzichten, den Protest gegen die falsche Anschuldigung aufrecht zu erhalten. Das Ziel der Befreiung von einer die Nation schwer schädigenden Verleumdung steht noch immer vor ihm; ihm nachzustreben, darf ihm nicht verwehrt werden. Freilich werden Mittel und Wege, die angewandt werden, immer sorgfältig geprüft werden müssen.

(7) Ohne irgendwie von Deutschland dazu veranlaßt zu sein, haben es andererseits die Staatsmänner der Gegenseite nicht an Gelegenheiten fehlen lassen, ihrerseits die alten Beschuldigungen zu wiederholen und in immer neuer Form vorzubringen. Poincaré, dessen Sonntagsreden aus den ersten Jahren der Nachkriegszeit fortwährend die Kriegsschuldfrage behandelten, hat auch bis in die jüngste Zeit hinein von dieser Gewohnheit nicht gelassen. Es sei [72] nur an seine Reden von Lunéville, Laeken, Orchies, Bar-le-Duc im Jahre 1927, an seine Reden in Straßburg, Carcassone, Chambery im Jahre 1928 erinnert. Das Ableben des Botschafters der Vereinigten Staaten in Paris, Myron T. Herrick, benutzte er, um den Verstorbenen als treuen Freund Frankreichs zu feiern, der 1914 gewußt habe, daß Frankreich keinerlei Schuld an dem Konflikt und an der Katastrophe habe. Herrick habe sich zum Verteidiger der französischen Sache gemacht, und wenn Amerika mit der Überreichung der Medaille an die Stadt Verdun 1922 "diese kleine und ruhmreiche Stadt ehren wollte, so, weil es wußte, daß die Schlacht und der Sieg von Verdun die Schlacht und der Sieg des Rechtes und der Freiheit waren". Auch die schon erwähnte Rede in Douaumont vom 20. Mai dieses Jahres bewegt sich, wie wir gesehen haben, in denselben Gedankengängen.

Auch Briand hat in der letzten Zeit nicht weniger als dreimal anläßlich des Kellog-Paktes es nicht unterlassen können, Anspielungen auf die Kriegsschuldfrage zu machen, indem er mit einem gewissen Mitleid von den Bemühungen und den Ängsten des deutschen Volkes sprach, die Verantwortung für den Weltkrieg von sich abzuwälzen, ohne im geringsten in Frage zu stellen, daß die Verantwortlichkeit dieses Volkes bestehe.

In dem Vorwort zu der neuen Auflage seines Buches 25 Jahre 1892-1916 lehnt es Lord Grey ab die Frage zu erörtern, ob der Artikel 231 der Wahrheit entspricht oder nicht. Er bedauert nur, daß man ihn in den Friedensvertrag hineingenommen habe. Eine Aufhebung des Artikels würde als ein gewisses Zugeständnis der Alliierten aufgefaßt werden, als würde damit die Unschuld Deutschlands zugegeben und als ein Zugeständnis eines gewissen Bewußtseins von Kriegsschuld seitens der Alliierten. Wenn auch das Bedauern über die Aufnahme des Artikels eine gewisse Unterhöhlung desselben bedeutet, so will doch Lord Grey auch nicht die Konsequenzen ziehen, ihn wirklich zu beseitigen.

Dieselben politischen Motive sind es auch, die den langen Widerstand erklären, der in den Ententeländern sich der Öffnung der Archive widersetzte. Schließlich hat aber, wie schon erwähnt, doch das Beispiel Deutschlands gewirkt, und die Veröffentlichung der deutschen Dokumente hat so entschieden einen starken moralisch-politischen Einfluß ausgeübt. Der Entschluß, die englischen Akten zu veröffentlichen, wurde 1924 auf Grund eines Briefwechsels zwischen Seaton-Watson und Chamberlain gefaßt. In Frankreich war der Widerstand gegen die Öffnung der Archive besonders stark. Seit 1923 erhob Ferdinand Bouisson, der Präsident der Liga für Menschenrechte, die Forderung nach Öffnung der Archive; mehrmals, nämlich 1923 von Poincaré und im November 1924 von Herriot wur- [73] den seine Anträge von der Regierung abgelehnt. Im November 1925 und im September 1926 wurde die Antwort erteilt, daß man noch mit der notwendigen Vorordnung der Dokumente beschäftigt sei. Endlich in der Kammersitzung vom 10. Februar 1927 erteilte Poincaré auf eine Anfrage des Abgeordneten Fontanier die Antwort, daß jetzt, nachdem die anderen Länder mit ihren Veröffentlichungen vorangegangen seien, auch für Frankreich der Zeitpunkt zur Veröffentlichung gekommen sei. Aber erst nach einem Jahre, im Februar 1928, wurde endlich die Zusammensetzung des 44köpfigen Ausschusses bekanntgegeben, der mit der Herausgabe betraut wurde. Er unterscheidet sich grundsätzlich von dem kleinen Gremium von zwei bis drei Gelehrten, denen in Deutschland und England die Arbeiten übertragen wurden dadurch, daß zahlreiche Diplomaten und Politiker in diesem Ausschuß vertreten sind.

(8) Diese Darstellung würde nicht vollständig sein, wenn in ihr nicht auch einiger Bewegungen gedacht würde, die doch Zeugnis davon ablegen, daß auch in den Ländern der Gegenseite neben der wissenschaftlichen Erörterung eine politische Diskussion über die Kriegsschuldfrage einherläuft. Schon 1922 fand in der französischen Kammer eine tagelange Debatte über die Kriegsschuldfrage statt. Angeregt durch Interpellationen der Abgeordneten Villenaut, Lafont, Marcel Cachin und Vaillant kam es zu dramatischen Szenen. Zwar erfolgte keine gründliche Erörterung der Angelegenheit; auch war das gegen Poincaré gerichtete Anklagematerial zu improvisiert. Immerhin bedurfte es aber doch des Eingreifens von Poincaré und von Viviani, von denen besonders der letztere in glänzender Beredsamkeit die Situation zugunsten Poincarés herumriß. In der Zwischenzeit ist die Frage noch mehrfach im französischen Parlament behandelt worden. Aber wie in Frankreich noch immer gegen unbequeme Wahrheiten vorgegangen wird, zeigt der Fall Demartial, dem im letzten Jahr das Recht entzogen wurde, den Orden der Ehrenlegion in den nächsten fünf Jahren zu tragen. Anlaß dazu war ein Aufsatz, den Demartial in einer amerikanischen Zeitschrift gegen den Artikel 231 veröffentlicht hatte. "Der Aufruf an die Gewissen", den am 9. Juli 1925 unter Führung von Victor Margueritte 100 Franzosen unterzeichneten, wendet sich gegen die Erpressung der Unterschrift unter den Artikel 231. Ein englischer gleichnamiger Aufruf Ende des Jahres 1926 wendet sich, ohne zu dem Inhalt des Artikels Stellung zu nehmen, gegen den Präzedensfall, daß der Sieger auf solche Weise ein Urteil gesprochen hat. Er ersucht die Regierungen, entweder diesen Artikel zu ändern oder einzeln entsprechende Absichten kund zu tun. Bezugnehmend auf den vorher erwähnten Aufruf hat Victor Margueritte Ende des letzten Jahres noch [74] einen mit 131 Unterschriften versehenen "Appell an den gesunden Menschenverstand" veröffentlicht. Auf das bereits erwähnte Urteil von Renouvin, des hervorragendsten französischen Kenners der Materie sei hier noch einmal hingewiesen. So fehlt es an Vorstößen von privater Seite auch in den fremden Ländern sicher nicht. Doch so lange die offizielle Politik ihnen nicht Rechnung trägt, kann von einer wirklichen Lösung nicht die Rede sein. In diesem Zusammenhang sei noch auf die verschiedenen Debatten hingewiesen, die im amerikanischen Senat und in der amerikanischen Kammer stattfanden. Der Senat lehnte 1924 einen Antrag des Senators Owen, die Kammer einen solchen des Abgeordneten Victor Berger, in denen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gefordert wurde, ab. Senator Owen hatte erst mit seiner 6. Resolution Erfolg, indem der Senat den Auftrag gab, eine bibliographische Zusammenstellung über die gedruckten Unterlagen über den Ursprung des Weltkrieges anzufertigen. Wie jedoch der ehemalige amerikanische Generalkonsul Gaffney 1927 mitteilte, ist dieser Bericht "aus Gründen diplomatischen guten Einvernehmens" nicht als Regierungsdrucksache herausgekommen, vermutlich, weil er für Deutschland zu günstig ausgefallen war. Eine außerordentlich starke Bewegung hat sich in Amerika namentlich in den Kreisen der Deutsch-Amerikaner und, unterstützt von den im National Weekly Syndicate zusammengeschlossenen Zeitungen, für die Resolution entfacht, die Senator Shipstead am 3. Mai 1928 eingebracht und am 7. Januar 1929 wiederholt hatte. Diese Resolution geht davon aus, daß der Artikel 231 auf dem Gutachten der von der Entente 1919 eingesetzten Kommission beruht. Da Amerika in dieser Kommission durch Staatssekretär Lansing und Professor Scott vertreten war, ein derartiges Urteil jedoch nur von einem unparteiischen Gerichtshof hätte gefällt werden dürfen, wird der Senat ersucht zu entscheiden, ob nicht für die amerikanische Regierung der Zeitpunkt gekommen sei, den alliierten Mächten zu empfehlen, diesen Artikel abzuändern oder die Absicht kundzutun, ihn nicht mehr zu beachten. Die Entscheidung über diese Resolution ist noch nicht gefallen.

(9) So wichtig und begrüßenswert diese Bewegungen in den einzelnen Ländern für die Lösung der Schuldfrage sind, so sind ihre politischen Auswirkungen doch noch nicht endgültig zu bewerten. In der Fülle der Ereignisse und Vorgänge ist eine Erklärung jedoch von ganz unübersehbarer Bedeutung geworden. Es gibt eine einzige einheitliche Stellungnahme von Vertretern aller Länder, die hier daher besonders hervorgehoben werden muß. Sie knüpft an den Versuch an, seitens der Weltkirchenkonferenz zu einer Lösung der Kriegsschuldfrage beizutragen. Auf der Tagung dieser Konferenz in Stockholm im Jahre 1925 hatte die deutsche Delegation darauf verzichtet [75] die Kriegsschuldfrage zu erörtern, um eine Störung der Harmonie zu vermeiden. Nach Schluß der Konferenz richtete jedoch der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, D. Kapler, seinen seitdem berühmt gewordenen Brief an den Fortsetzungsausschuß der Weltkonferenz, in dem er die Klärung der Schuldfrage als eine moralische Aufgabe ersten Ranges bezeichnete und den Antrag stellte, sie auf der Tagung des Fortsetzungsausschusses zu behandeln. Dieser Brief hat eine sehr lebhafte Diskussion ausgelöst. Es gelang aber schließlich trotz vieler Widerstände den deutschen Antrag auf die Tagesordnung der Sitzung des Fortsetzungsausschusses in Bern zu bringen, und hier kam es dann in der Tat auch im August 1926 zu einer Entschließung, die als die erste wirkliche internationale Stellungnahme zur Kriegsschuldfrage anzusehen ist; denn ihr stimmten die Delegationen der ganzen Welt zu. Die Erklärung hebt die Frage dem unpolitischen Charakter der Kirche gemäß aus der politischen Sphäre heraus und gibt ihr einen rein religiösen und moralischen Charakter. Von dieser Plattform aus wird festgestellt,

      "daß unmöglich durch Krieg festgesetzt werden kann, was Recht ist; daß politische Urkunden durchaus nicht mit Notwendigkeit geeignet sind, ein endgültiges moralisches Urteil zu fällen, daß ein jedes erzwungenes Bekenntnis, wo immer es auch abgelegt sein mag, moralisch wertlos und religiös kraftlos ist."

Diese Entschließung, die weiten Widerhall in der Kirche, namentlich auch in Amerika, gefunden hat, hält sich innerhalb der Grenzen, die der unpolitische Charakter der Kirche zieht. Sie stellt dagegen die große moralische Bedeutung, die das Problem für die Versöhnung der Völker hat, heraus.


III.

(1) Die Behauptung, daß Deutschland vorsätzlich und bewußt den Weltkrieg als Angriffs-, Eroberungs- und Unterjochungskrieg vorbereitet und entfesselt hat, muß durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung als widerlegt angesehen werden. Es wird daher auch in Deutschland von ihr schlechthin nur noch als von der "Kriegsschuldlüge" gesprochen. Gegen sie kämpft das deutsche Volk aus zwei Gründen. Der eine geht von dem völkerpsychologischen Inhalt der Kriegsschuldfrage aus, von der Ächtung des deutschen Namens, von den Auswirkungen der Kriegspropaganda, von der dadurch gebildeten internationalen politischen "Atmosphäre". Der zweite bezieht sich auf die völkerrechtliche Verankerung des Inhaltes dieser Kriegspropaganda im Versailler Vertrag. Es ist nicht zu verkennen, daß im Hinblick auf die Einstellung der Weltmeinung gegenüber der Zeit um 1918 und den folgenden Jahren gewaltige Fortschritte gemacht worden sind. Die wissenschaftliche Arbeit [76] hat erhebliche Einbruchstellen geschaffen. In dieser Begrenzung gilt sicher die so oft zu hörende Redensart, daß im Auslande kein verständiger Mensch mehr an die deutsche Kriegsschuld glaube. Die durch die Kriegspropaganda ausgelösten Vorstellungen beginnen sich allmählich zu zersetzen. Immer weitere Kreise der ausländischen Wissenschaft, der Publizistik, der Politik nähern sich in ihren Auffassungen den Ergebnissen der deutschen Forschungsarbeit. In immer stärkerem Maße beginnen auch die breiteren Massen der ausländischen Bevölkerung das zu vergessen, was ihnen im Kriege durch eine hemmungslose Propaganda eingehämmert wurde. Den einzigen Zusammenhalt des auseinanderbrechenden Lügengebäudes bildet heute eigentlich nur noch die darum gelegte politische Klammer, das aus machtpolitischen Gesichtspunkten geborene Bestreben, die durch die Behauptung von der deutschen Kriegsschuld ausgelösten Empfindungen zu erhalten und weiter zu verkrampfen.

An diesem Punkte schneiden sich nun die beiden Seiten der deutschen Kriegsschuldbewegung; denn diese politische Klammer wird in der Hauptsache durch das Urteil des Versailler Vertrages gebildet; sie stützt zum mindesten das eben gekennzeichnete politische Bestreben. Wir haben gesehen, wie zu bestimmten ihr erwünschten Augenblicken von der Gegenseite, namentlich von seiten der Franzosen das Versailler Diktat immer wieder als Begründung für politische Ziele und Zwecke herangezogen wird. Die wichtigste Voraussetzung für die endgültige Zersetzung der Weltmeinung ist daher die Tilgung der Lüge von der deutschen Kriegsschuld in der Versailler Urkunde.

(2) Die Kriegsschuldfrage muß aber in einen viel weiteren Raum gestellt werden. Sie ist über den Rahmen ihrer nationalen Bedeutung für Deutschland hinaus ein allgemeines, ein internationales, ein europäisches Problem. Wenn heute in Genf völkerrechtliche Vereinbarungen über die Ächtung des Angriffskrieges gesucht werden, wenn der Kellogg-Pakt diese Gedanken in eine straffere Form brachte, so ist die ideenmäßige Verbindung zwischen diesen Versuchen und der möglichen idealen Auffassung klar erkennbar, die in einem solchen Schuldurteil enthalten sein kann. Deutschland hat hervorragend an der Gestaltung dieser neuen Gedanken mitgewirkt. Es hat als erster Staat vorbehaltlos dem Kellogg-Pakt zugestimmt. Deutschland hat bewiesen, daß es sich zu solchen hohen sittlichen Gedanken zu bekennen gewillt ist. Wie aber soll es ein Volk ertragen können, daß es, wenn einmal die in Versailles mißbrauchte Anschauung allgemein völkerrechtliche Gültigkeit erlangt hat, urkundlich zum Verbrecher an der Menschheit gestempelt wurde? Weit über den Zeitraum der Wirksamkeit des Versailler Vertrages hinaus wird für [77] alle späteren Zeiten fortentwickelten Völkerrechtes diese unter ganz anderen als dann maßgebenden Voraussetzungen zustande gekommene, dabei den historischen Tatsachen nicht entsprechende Behauptung auf dem deutschen Volke lasten. Die neue Anschauung wird so von vornherein so stark belastet, daß jede wünschenswerte Entwicklung gehemmt sein muß. Die Herbeiführung eines in einwandfreier historischer und juristischer Form zustande gekommenen Urteils ist somit unerläßliche Voraussetzung für diese völkerrechtliche Entwicklung.

(3) Eine aktuelle Bedeutung besitzt die Kriegsschuldfrage für die europäische Versöhnungspolitik. Es ist ein unmögliches Verlangen, daß Deutschland sich mit dem Versailler Urteil als cause jugée abfinden soll. Die Bewegung gegen sie, die die notwendige politische und sittliche Folge ihrer Fixierung im Versailler Diktat ist, bildet allerdings einen Herd der Unruhe. Der französische Senator Henri de Jouvenel hat in einem Artikel "Zur Kriegsschuldfrage", der am 14. April 1929 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, sich darüber folgendermaßen geäußert:

      "So sehr ich persönlich überzeugt bin, daß die Regierungen und Generalstäbe Deutschlands und Österreichs ihre Verantwortung am Kriegsausbruch im Juli 1914 tragen (was, wie mir scheint, die deutschen und österreichischen Dokumente selbst zur Genüge beweisen), so sehr finde ich es bedauerlich, daß man Deutschland die unnötige Demütigung zugefügt hat, die es im Jahre 1919 nicht imstande war zu verhindern.
      Die Demütigung war der Verbündeten unwürdig. Dieses zwangsweise auferlegte Eingeständnis der Schuld am Kriege hat das Recht der Verbündeten auf Reparationen in keiner Weise verstärkt. Man hat zwei ganz wesensverschiedene Dinge miteinander vermengt. Man kann sehr schön von Kriegen sprechen und vom Sieg der Gerechtigkeit; aber der Sieg an sich ist noch keineswegs eine Gewähr für Gerechtigkeit, sondern ein Beweis der Übermacht. Der Sieg verschafft materielle Vorteile. Es ist aber nicht gerecht, andere von ihm zu fordern, denn das ist ein Eingriff der äußeren Gewalt in die Gedankenfreiheit und wirft gerade die Grundsätze um, die man in Frankreich, England, Amerika und ihren verbündeten Ländern so stolz als Kampfziele verkündet hatte.
      Ein freiwilliges Bekenntnis hätte weltgeschichtlichen Wert gehabt, aber man hat es unmöglich gemacht, indem man den Makel auf das ganze Volk übertragen hat. Da wurden denn die geistigen Führer, die Geschichtsforscher und alle Gelehrten aufgeboten, um der Nation ihre eigene Unschuld zu beweisen. Und diese opferten ihren kritischen Sinn ihrer Vaterlandsliebe. Es gehört ein seltsamer Mut dazu, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen.
      Aber umgekehrt wirken nun ihre Beweisgründe und Gegenanklagen verhetzend und wecken auf unserer Seite neuen Zorn. So geht der Zwist hin und her. Statt die Gemüter zu beruhigen, wird der geistige und moralische Kampf zwischen den beiden Rassen immer von neuem aufgestachelt. Das ist fürwahr ein ungeeignete Vorbereitung für eine friedliche Auseinandersetzung und eine Verhütung späterer Kriege.
      Hier aber liegt das ganze Problem. Es ist vor allem nötig, geduldig und [78] unparteiisch alle Ursachen des Weltkrieges zu studieren, um darin das Mittel zu finden, einen neuen zu verhindern. Sämtliche Völker haben die Pflicht, an diesem internationalen Werk des Friedens mit allen Kräften mitzuarbeiten. Das ist die erste Aufgabe des geistigen Austausches. Nur unter dieser Bedingung kann die Geschichte eine für die Politik nutzlose Wissenschaft lehren."

In ähnlicher Weise hat sich Pierre Renouvin über die politischen Auswirkungen des Versailler Urteils und der dadurch zwangsläufig hervorgerufenen Bewegung geäußert. Auch der Direktor des Internationalen Arbeitsamtes in Genf Albert Thomas hat gelegentlich eines Vortrages in Berlin auf die schwere Beeinträchtigung der Verständigungspolitik durch die Kriegsschuldfrage hingewiesen. Zwar sei die Überzeugung des deutschen Volkes in dieser Frage, der des französischen diametral entgegengesetzt. Dennoch müsse der Versuch gemacht werden, die Fragen entrückt von aller Politik und in voller Objektivität zu prüfen.

(4) Von jedem Betracht aus wird daher die Lösung der Kriegsschuldfrage zu einer politischen Angelegenheit, zu einer Aufgabe der Außenpolitik. Lebenswichtige Interessen des deutschen Volkes erfordern diese Lösung; die Fortbildung des Völkerrechtes erheischt sie gebieterisch; die endgültige Liquidierung des Krieges, die Politik der Versöhnung und der Verständigung verlangt sie.

Aber auch vom Standpunkt der historischen Erforschung der Kriegsursachen aus muß eine politische Lösung der Kriegsschuldfrage als notwendig bezeichnet werden. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß das Versailler Urteil die Untersuchung dieser Frage in eine bestimmte Richtung politischer und nicht wissenschaftlicher Art gedrängt hat. Die Erforschung der Kriegsursachen kann erst dann wissenschaftlichen Forderungen voll entsprechen, wenn die Untersuchung von der falschen Fragestellung, von der falschen Blickrichtung der Versailler Anklage befreit ist. Verständige Menschen in der ganzen Welt wollen eine objektive Untersuchung der Kriegsursachen, eine Untersuchung, die frei von jeder politischen Bindung ist. Sie wollen das Hin und Her der Anklagen und Gegenanklagen, das ja nur verhetzend und beunruhigend wirken kann, beseitigen. Das Versailler Urteil aber verbietet ein geduldiges und unparteiisches Studium der Kriegsursachen. Seine Beseitigung ist daher die Voraussetzung für jede wirkliche historische Forschung.

Viel und lebhaft diskutiert worden ist daher die Forderung nach der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Deutschland hat diese Forderung zuerst erhoben. Es hat durch den Mund seiner führenden Männer, zuletzt durch die Erklärung des Reichspräsidenten von Hindenburg seine Bereitwilligkeit kund getan, den Nachweis für seinen Standpunkt vor unparteiischen Richtern zu führen. Allmählich haben sich einzelne Vertreter anderer Länder diesem deutschen Ver- [79] langen angeschlossen, so insbesondere die Amerikaner Harry Elmer Barnes und Sidney Fay und der Engländer Wickham Stead. Es sind von neutraler Seite sogar positive Versuche in dieser Richtung unternommen worden, so von dem Niederländischen Komitee zur Untersuchung der Ursachen des Weltkrieges unter der Leitung Japikses, so die Umfrage, die der norwegische Völkerrechtslehrer Aall veranstaltet hat. Im amerikanischen Senat ist die Frage in den Anträgen der Senatoren Owen und Shipstead, in der amerikanischen Kammer durch den entsprechenden Antrag des Abgeordneten Victor Berger angeschnitten worden. Zu positiven Ergebnissen haben aber alle diese Bemühungen nicht geführt. Albert Thomas hat dann angeregt, zunächst einen deutsch-französischen Ausschuß für die Erörterung der Kriegsschuldfrage einzusetzen. Der Gedanke ist von französischer Seite nicht weiter verfolgt worden.

(5) Gegen die Einsetzung eines solchen internationalen Untersuchungsausschusses sprechen eine Reihe von Gesichtspunkten. Ende 1927 richtete die französische Zeitschrift L'Observateur Européen eine Rundfrage an die französische Presse: "Soll man einem internationalen Gerichtshof die Akten der Verantwortlichkeit für den Krieg unterbreiten?" Neun von den eingegangenen zehn Antworten verneinten die Notwendigkeit dieses Schrittes. Jede dieser Antworten ging von der Voraussetzung aus, daß es sich dabei nur um die Feststellung der deutschen Verantwortlichkeit handeln könnte. Sie hielten in der Zukunft ein allmähliches Vergessen, nicht aber eine Zurücknahme des Kriegsschuldurteils für möglich. Das ist aber gerade die Auffassung, gegen die mit aller Energie angekämpft werden muß. Die historische Untersuchung der Kriegsursachen darf nicht von einem voreingenommenen Standpunkt ausgehen. Sie hat sich nicht in den Dienst eines politischen Zweckes zu stellen. Es muß eben durch eine zielbewußte entschiedene Bewegung ein politischer Wille ausgelöst werden, der den politischen Bedürfnissen der Kriegsliquidation, den rechtlichen Bedürfnissen der Völkerrechtsentwicklung, den wissenschaftlichen Bedürfnissen der Geschichtsforschung Rechnung trägt. Wenn, wie Jouvenel dies in dem schon erwähnten Aufsatz vorschlägt, bis zu dem Tage, an dem das Komitee dem Völkerbund seinen einstimmigen Bericht unterbreiten würde, alle Parteien sich verpflichten müßten, die Debatten über die Kriegsschuld ruhen zu lassen, so ist das vom deutschen Standpunkt aus natürlich nur möglich, wenn zuvor auch die urkundliche Feststellung seiner Verantwortlichkeit beseitigt würde. Das sieht der Historiker Renouvin ganz deutlich, indem er seinerseits das als die Voraussetzung für eine gründliche wissenschaftliche Forschung bezeichnet. Er hält das allerdings nach Lage der politischen Verhältnisse nicht für möglich. Er will daher lediglich die [80] ausschließliche wissenschaftliche Erörterung, also gleichfalls die Einstellung der politischen Arbeit gegen das Versailler Urteil. Vom Standpunkt französischer Auffassung aus mag man solche Gesichtspunkte als begründet anerkennen; es spricht aus solchen Zumutungen ja letztlich nur die Angst vor den Wirkungen der deutschen Forschungs- und Aufklärungsarbeit. Den Erfordernissen, die für Deutschland maßgebend sind, wird damit aber keine Rechnung getragen. Wir können uns weder damit abfinden, daß die Verschiebung eines Urteils auf unbestimmte Zeit geplant wird, noch damit, daß die Angelegenheit lediglich zu einer solchen der Gelehrtenstuben wird. Für Deutschland ist aus allen in diesem Beitrag hervorgehobenen Gründen die restlose Befreiung von dem Urteil in Versailles dringend notwendig. So sehr wir bereit sind, uns für eine objektive und lediglich nach historischen Gesichtspunkten betriebene Forschung zur Verfügung zu stellen, so sehr müssen wir jedoch unbedingt die Voraussetzungen hierfür gegeben sehen. Wir erblicken sie nur in einer Verbindung der Gedanken, die der Politiker (Jouvenel) und der Historiker (Renouvin) geäußert haben. Deutschland muß daher eine internationale Vereinbarung fordern, die den Artikel 231 ablöst durch die Einsetzung eines internationalen unparteiischen Ausschusses zur Erforschung der Kriegsursachen.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger