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Bd. 10: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Teil


Von Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
[824] Ausblick

Wir halten in diesem Augenblick den Atem an. Das deutsche Geschlecht, das aus der europäischen Existenz des Deutschen Reiches und aus den wachsenden Gegnerschaften gegen das Werk Bismarcks hinüberschritt in die einem unabwendbaren Schicksal gleich sich entfaltende "Vorgeschichte" des Weltkrieges, diesen Begriff in seinem universellen Sinne genommen - das Geschlecht, das den heroisch bestandenen vierjährigen Vernichtungskrieg des größten Teiles der Welt gegen das Reich in dem tödlichen System der Friedensschlüsse, in diesem Versuch einer Verewigung von Kriegführung und Kriegsgesinnung, ausmünden sah -, dieses Geschlecht wird niemals aufhören, dieses ganze Geschehen als einen sinnhaften und zweckerfüllten Zusammenhang von durchgreifender Einheit zu empfinden. In so tiefgefurchten Linien hat sich dieses erschütternde Erleben, in unser aller, der Volksgemeinschaft wie jedes einzelnen Dasein, als sein innerster Kern eingegraben, es läßt bis zum heutigen Tage nicht ab, in unserm Wesen unauslöschbar aufzugehen. So wird eine Fortsetzung dieses Werkes, die durch die politische Geschichte des Krieges und den endlosen Ablauf der Friedensabwicklung reicht, den natürlichen Abschluß bilden müssen.

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch konnte es kaum anders sein, als daß die Miterlebenden zunächst nur den Untergang empfanden, nur die abgrundtiefe Scheide der Zeiten, nur die Notwendigkeit, Staat und Gemeinschaft, die zu versinken drohten, aus ganz neuen Quellen des Lebens wiederaufzubauen. Mochte es doch manchem im Dröhnen des Umsturzes so erscheinen, als ob vordem ganz andere politische, wirtschaftliche und sittliche Gesetze auf dieser Erde geherrscht hätten, und als ob insbesondere die Deutschen vordem ein ganz anderes Volk gewesen seien, als sie nunmehr, nach unsagbaren Prüfungen, zu werden sich anschickten. Erst als das Gefühl dieses Bruches, durch das ein Jeder, der die Dinge tiefer nahm, qualvoll hindurch mußte, irgendwie überwunden war, brach in der deutschen Menschheit die Erkenntnis wieder durch, daß dieses ganze Erleben, die Gegenwart und die nahe, selbst die fernere Vergangenheit, sich doch wieder in einer grandiosen Einheitlichkeit zu einem Zusammenhange von tiefstem Sinne - das besagt das Wort Schicksal, das wir hier frei von allen fatalistischen Nebentönen anwenden - zusammenfüge und verschmelze.

Das Mächtigste in dem Leben großer Völker ist das Geheimnis dieser inneren Einheit, das Kontinuum, das dieses Ganze ihrer Sendung durchzieht und [825] durchleuchtet. Daher werden zur höchsten Geltung immer diejenigen Völker inmitten der andern gelangen, die der ihnen eingeborenen Kontinuität dieses Besitzes - der häufig ein tragischer Besitz von schmerzlich-süßer Allgegenwart ist - sich wesenhaft bewußt sind, die aus ihr sich zu deuten und zu bestimmen die Kraft haben. Auch der Deutsche der Gegenwart, der aus allem "Unerhörten" in den Nöten seiner Tage den Blick zurücklenkt, wird sein wahres historisches Selbst erst dann erfassen können, wenn er über alle innern und äußern Kämpfe, über alle Stufen des letzten Reiches hinweg, über 1890 und 1870/71, über 1866 und 1815 sich den ganzen Bedingungen seines historischen Gewordenseins hingibt. Erst aus dem Strom der säkularen Entwicklung wird ihm eine Antwort auf die Frage auftauchen: Sag, was will das Schicksal uns bereiten?

So haben wir in dieser Darstellung den Ausgang weiter zurückliegend, als die Sache vielleicht zu fordern schien, genommen. In den naturgegebenen Bedingungen unseres Volkstums und in den ersten Anfängen unseres Staates, in der Verbindung von höchster Universalität und tiefster Besonderung, aus denen dann in schweren Erschütterungen das ebenso weitgreifende wie in sich aufgelockerte, dieses so ganz einmalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich erhebt, ein Mikrokosmos der großen Staatengesellschaft in sich, eine Zusammenfügung kleiner Zwerggebilde und zukunftsreicher großer Staaten, in der Tiefe der Nation wurzelnd und doch wieder von einem modernen Nationalstaat weiter entfernt als alle andern. Bis dann schließlich, im Zeitalter der französischen Revolution, eine neue Riesenwelle der Erschütterungen dieses regelwidrige Gebilde der Mitte in seinem äußeren Bestande und in seinen seelischen Untergründen am tiefsten durchknetete. Denn das Schicksal des Erdteils wurde immer von seiner Mitte aus am Individuellsten durchlebt. Wo man von außen her den tiefsten Eingriffen unterlag, wurde man in das Innerste der Widerstandskräfte zurückgedrängt, und schöpfte aus der Idee der Nation, so allgemein und verschwommen sie bisher auch begriffen war, den Antrieb, sie gegen die bedrohende europäische Umwelt nach außen zu wenden und, um der Macht zu begegnen, sie in Macht zu verwandeln.

So sollte das Deutschland des 19. Jahrhunderts durch eine Entwicklung hindurchgehen, deren historisches Gelingen von vornherein gar nicht einmal so feststand. Daß sich in der Mitte Europas doch noch ein geschlossener Nationalstaat nach dem Beispiel der andern bildete, daß das Verspätete doch noch, trotz aller Hemmungen von innen wie von außen gelang, das war nicht ohne ein denkwürdiges Zusammentreffen möglich. Eine große Persönlichkeit und ein historischer Moment mußten sich vereinen, um das erhoffte Ideal in seiner Wirklichkeit erstehen zu lassen, die vielleicht dieses Ideal nicht vollkommen erfüllte, aber ihm nahe kam und die Gewähr eines bleibenden und starken Lebens in sich trug. Immerhin unter erschwerten Bedingungen, inmitten von Gegnerschaften, die, ringsum in Jahrhunderten emporgekommen, wohl gezwungen werden [826] konnten, der nationalen Selbstbestimmung der Deutschen freien Raum zu gönnen, aber in die damit gegebene Machtverschiebung Europas sich um keinen Preis finden wollten. Dergestalt, daß an der entscheidenden Stelle eine unauslöschliche nachbarliche Feindschaft zurückblieb.

Der deutsche Nationalstaat hatte die Kraft aufgebracht, die frische Zusammenfassung seiner Elemente durchzusetzen, er mußte jetzt die Macht entwickeln, seine Autonomie in der Mitte des Kontinents zu behaupten, sein eigenes Dasein - wie in den großen staatlichen Lebensprozessen immer das eine aus dem anderen zu folgen scheint - gegen die das Reich der Mitte flankierenden Gewalten wehrhaft abzusetzen. Immer sichtbarer wurde schon frühzeitig ein doppeltes Lebensgesetz, das im Grunde bereits hinter den Schicksalsstürmen des Mittelalters verborgen lag. Diese Mitte muß stark sein, um sich an ihrer Stelle nach ihrem Gesetz behaupten zu können; sei sie aber auch noch so stark, sie wird immer an ihrer Stelle und unter ihren Lebensbedingungen auch einem höheren Risiko unterliegen, die errungene Macht wieder einzubüßen. Wenn sie ungewöhnlich stark wurde, erwies sich bald, daß eine Überlegenheit der Mitte von den anderen nicht zu ertragen war, sondern mit neuen gegnerischen Kombinationen, wie sie von der Lage begünstigt wurden, beantwortet wurde. Und wenn das Reich in seiner gesicherten Mittelstellung dazu überging, die verlorenen Jahrhunderte auch draußen in der Welt nachzuholen, einen ihm entsprechenden Anteil auch auf den überseeischen Schauplätzen zu gewinnen, so konnte das nur auf die Gefahr hin geschehen, die nahen Gegnerschaften auf allen Seiten gegen den Kern seiner Existenz zusammenzuschließen.

Die eigentümliche Polarität dieser außerpolitischen Probleme ist für das mittelalterliche Kaiserreich schon von dem großdeutschen Historiker Julius Ficker erkannt worden: "Die Lage des deutschen Volkes in Mitteleuropa erfordert einen gewissen Einfluß auf seine Nachbarn - so allein kann es der Gefahr begegnen, von allen bekämpft zu werden." Und den preußischen Staat, der diese Mittelstellung erbte, glaubte der englische Historiker Seeley mit der Formel zu kennzeichnen: "Der Staat konnte sich nicht sicher fühlen, ohne zugleich gefährlich zu sein." Wenn eine solche "Gefährlichkeit" auch des neuen Deutschen Reiches in Frage käme, so war sie durch die Tatsache seiner großmächtlichen Flankierung restlos kompensiert, und man muß zugeben, daß sie weder gegen große noch gegen kleine Nachbarn jemals mißbraucht wurde. Auch die deutsche Weltpolitik lief nur darauf hinaus, das Schwergewicht in der Mitte zu benutzen, um als ebenbürtiger Anwärter an der letzten Erschließung der Erde teilzunehmen.

Dieses Deutsche Reich, so mochte es den andern sich darstellen, schien unter dem Gesetz zu stehen, zwar von größeren Schwierigkeiten als die andern umgeben zu sein, aber sie durch einen höheren Aufwand von bewußter Energie doch wieder auszugleichen - und dieses Gefühl der stärkeren Anspannung, [827] die ihr Ziel erreicht, erregte das Mißgefühl der Rivalen. Wenige Wochen vor dem Weltkriege sehen wir den russischen Ministerpräsidenten einmal aufschäumen, daß dieses Deutsche Reich, das an ursprünglicher, elementarer Gewalt seinem russischen Nachbar unterlegen sei, nur durch seine Organisation und Disziplin den Stärkeren vorzustellen instandgesetzt werde - man weiß aus der russischen Literatur, wie tief gerade diese Abneigung gegen den disziplinierten Deutschen und seine Eigenschaften im russischen Volkscharakter begründet ist, und wird sich nicht wundern, daß sogar die Anklage auf Hegemonie auf diesem Boden in dieser Verbrämung erscheint. Die Engländer, die Franzosen werden sie anders und auf ihre Weise begründen. Damit soll nicht abgewiesen werden, daß an dem, was hier als ein großer allgemeiner Prozeß geschildert wird, auch die Menschen ihren Anteil haben. Das deutsche Volk selbst, in einer sprunghaften Umbildung seiner äußeren staatlichen und inneren gesellschaftlichen Lebensformen - fast zu rasch - durch wechselnde Entwicklungsphasen hindurchgetrieben, zu Reichtum, Macht und Selbstgefühl gelangt, entwickelte nicht gerade die Tugenden, die Anderen mit seiner Erscheinung auszusöhnen. Mißgriffe, Überspannungen und Veräußerlichungen blieben nicht aus, und diejenigen, die sich in sorglosem Besitze wiegten, gestanden sich nicht unbarmherzig genug ein, daß jener erste Aufstieg des Reiches unter der ungewöhnlichen Führung des Genius in einmaliger Konjunktur sich vollzogen hatte, daß aber nichts dafür spreche, ob sich beides auch für den Fall einer erneuten Prüfung wiederholen werde.

Die Voraussetzungen, unter denen das Deutsche Reich seine Existenz in der Mitte Europas führte, machten es aber unwahrscheinlich, daß das Reich, das im frühen Mittelalter eine universale Rolle zu spielen vermocht hatte, eine annähernd hegemonische Laufbahn noch einmal würde einschlagen können. Die eigentlichen Weltmächte, die auf sicheren und uneinnehmbaren Plätzen saßen, verfügten über einen Vorsprung, den einzuholen uns nach unsern ganzen Lebensbedingungen auch bei höchster Energie versagt blieb. Man wußte in den gegnerischen Kabinetten genau genug, innerhalb welches europäischen Radius das Deutsche Reich eine fast unangreifbare Macht ersten Ranges war, und auf welchen außereuropäisch-peripherischen Schauplätzen es doch nur eine Macht zweiten Ranges vorstellte. Nachher hat der vierjährige Abwehrkampf der Deutschen im Weltkrieg, als Leistung unseres Volkes etwas Unvergleichliches, immer wieder die Vorstellung erwecken können, als wenn doch die gefährlichsten Möglichkeiten grenzenloser Machtentfaltung hier geschlummert hätten - es wird dabei nur außer acht gelassen, daß viel bedrohlichere Möglichkeiten fundamentaler Gefährdung, von einer Art, wie sie den andern führenden Staaten niemals zuteil werden konnte, dicht daneben lagen.

Es ging für die Deutschen im Weltkriege - und das unterschied ihre Schicksalslage von fast allen ihren großen und kleinen Gegnern - in ganz anderem Umfange um das Ganze ihrer Existenz, nicht nur um die Höhenlinie ihrer Macht [828] und ihrer Wohlfahrt, sondern um die Behauptung fast aller Grundlagen ihres historisch erwachsenen Daseins. Die gesamten Jahrhunderte deutscher Geschichte standen auf dem Spiele: eines solchen Siegespreises war der Kreis der Feinde, wie seine Kriegsziele bezeugen, sich bewußt.

Als die Deutschen in den Weltkrieg eintraten, ein Schicksal auf sich nehmend, das sie nicht gesucht hatten, stellte sich sehr bald heraus, daß sie für diese unglaubliche Leistung ein Kriegsziel, das sie hätte locken oder mitreißen können, überhaupt nicht besaßen; ja, sie wußten - in einer fast verwirrenden Weise - kaum, wo sie es hätten suchen sollen; allein die Erhaltung der deutsch-slawisch-magyarischen Großmacht Österreich-Ungarn konnte kaum als ein fortreißendes und erlebtes Ziel für ein großes Volk bezeichnet werden. Was aber später an Kriegszielen auftauchte, waren militärische Konsequenzen aus bestimmten Kriegslagen oder historische Reminiszenzen publizistischer Liebhaber. Das amtliche Kriegszielkonto der politischen Reichsleitung im Weltkriege ist von einer realpolitischen Enthaltsamkeit ohne gleichen.

Wenn man bei Kriegsausbruch auf deutscher Seite nach einem historischen Vergleiche suchte, so war es im geheimen doch, auch von Kaiser Wilhelm II. tief empfunden, die Situation des siebenjährigen Krieges und die Hoffnung, nach dem Beispiel des großen Friedrich durch heldenhafte Anspannung alle Unterlegenheiten auszugleichen: der Zwang zu siegen, um nicht untergehen zu müssen, klang als Unterton in manches heroische Wort. Als aber die einzige militärisch vorgesehene Möglichkeit, die Ungunst der gesamten Machtverhältnisse wahrhaft auszugleichen, in der Marneschlacht verschwand, da blieb nur die äußerste Zusammenfassung aller Mittel, sich in der Abwehr siegreich zu behaupten; die Not des nächsten Tages und wie man ihrer Herr wurde, verschlang fast alle Kräfte; so ruhmvoll die Reihe der Siege über die einzelnen Gegner anwuchs, die Frage, wie man den Krieg beendigen wollte, lag fortan im Dunkel. Auf der feindlichen Seite aber wurde das innere Gefühl einer Überlegenheit, die auf die Dauer nicht unterliegen könne, trotz aller Niederlagen niemals ernstlich erschüttert. Schon als der Dreiverband Rußland - Frankreich - Großbritannien sich bei Kriegsbeginn zusammenschloß, flankiert durch die beiden Balkanstaaten Serbien und Montenegro, und verstärkt durch Belgien, war der Eindruck der Welt weit überwiegend, daß nicht bei den Mittelmächten (und der militärischen Schlagfertigkeit des ersten Momentes) die eigentliche Überlegenheit liege, sondern bei der Summe ihrer Gegner und der ihnen aus der ganzen Welt zuwachsenden Machtmittel, Sympathien und Möglichkeiten - gegen diese Rechnung vermochten auch die deutschen Erfolge im Felde kaum aufzukommen.

Die Gegner wußten in ihrem Überlegenheitsgefühl vom ersten Augenblicke an sehr wohl, was sie wollten, und stimmten auch darin überein, daß es nicht [829] um Teile, sondern um das Ganze gehen sollte. Eine Vorgeschichte des Weltkrieges wäre unvollkommen, wenn sie nicht noch einen letzten Blick hinauswürfe auf die in den Kabinetten und in der öffentlichen Meinung immer höher steigenden Kriegsziele der Franzosen, Russen, Engländer, und dann der Italiener, Polen, Tschechen, Belgier usw. Was da in den Köpfen der Staatsmänner sofort lebendig wurde - und nur von diesen "amtlichen" Kriegszielen ist hier die Rede - läßt wohl einen Rückschluß auf die wahren Ursachen des Krieges zu: alle tieferen Instinkte, in der diplomatischen Sprache der Vorkriegszeit vorsichtig verhüllt, brechen jetzt in greller Nacktheit durch. So fällt von diesen Kriegszielen, wie sie amtlich im geheimen formuliert oder auch der Öffentlichkeit zugestanden wurden, noch ein Licht zurück auf die eigentlichen Motive, die in den Jahren vor dem Kriege den Machtwillen der gegnerischen Großmächte lenkten.

Das französische Programm war am geschlossensten und weitreichendsten, denn es war historischer Natur. Handelte es sich doch hier überhaupt um den einzigen Gegensatz, der aus langer Vorgeschichte etwas von dem Geruch der Erbfeindschaft an sich trug - zumal für den Deutschen kreisten fast alle ihre lebendigen Kriegserinnerungen um Krieg mit Frankreich. Und auch dieses Mal lag hier die Entscheidung. Wohl gab es im August 1914 deutsche Politiker, die den scheinbar einleuchtenden Rat gaben, nach einem (erwarteten) entscheidenden Siege über Frankreich mit diesem Gegner sofort einen Sonderfrieden auf der Grundlage des status quo zu schließen - wie verkannten doch diese wohlmeinenden Doktrinäre die elementarste der historischen Gegnerschaften, die Unbedingtheit des französischen Machtwillens, sobald der Deutsche in Frage kam. Als der Krieg zu Ende ging, täuschten sich selbst die erfahrenen angelsächsischen Völker, die mit ihrem Blute den Widerstand der französischen Heere aufrechterhalten hatten, über die militärische Situation auf dem Kontinent. Nur solange der Deutsche noch aufrechtstand, konnten Engländer und Amerikaner hoffen, einen maßgebenden militärisch-politischen Einfluß auf ihren Verbündeten auszuüben; sobald der Waffenstillstand vollzogen war, waren sie selbst für ihren Verbündeten entbehrlich, und auf dem Kontinent konnte fortan - mit dem Ausscheiden der großen Militärmächte - der französische Machtwille schalten, wie er es selbst auf der Höhe Napoleons kaum vermocht hatte. Das war die Entscheidung, die dieses Mal mit dem Blute fast der ganzen Welt herbeigeführt worden war.

Bis zum Kriegsausbruch hatte das amtliche Frankreich sich sehr selten öffentlich zur Revanche bekannt, aber Freund und Feind waren über sein Kriegsziel nicht im unklaren. Ohne daß dieses Ziel in einem Vertrage mit Namen genannt oder nur angedeutet wurde, es stand doch wie eine für jeden lesbare Geheimschrift über der französischen Geschichte seit 1871: hier lag der Sinn, die verborgene Triebkraft ihrer Politik. Erst in den letzten Jahren gewöhnte man sich in Paris, auch in der amtlichen Sprache die Dinge bei ihrem Namen zu nennen. Ein [830] französischer Diplomat bezeichnete damals als Zielsetzung des russischen Bündnisses: "Konstantinopel und die Meerengen bilden das Gegenstück zu Elsaß-Lothringen - dies ist in keinem bestimmten Abkommen ausdrücklich schriftlich festgelegt, ist aber das oberste Ziel des Bündnisses, das man als unerläßlich feststehend ansieht."1 Es war daher eine entscheidende Wendung, als Frankreich unter den Auspizien Poincarés, die bisherige Zurückhaltung in der Orientpolitik aufgebend, sich dem Russen bedingungslos zur Verfügung stellte: dieser Übergang zum Aktivismus verpflichtete auch die andere Seite auf das Programm der Revanche. Das wurde auch von der russischen Seite während der Mission Delcassés im Jahre 1913 vertraglich anerkannt, und damals schon war die Rückgabe von Elsaß-Lothringen mit dem Ausblick auf die "notwendige Vernichtung von Deutschlands politischer und wirtschaftlicher Macht" in einen Zusammenhang gebracht. Auf diese Formel griffen die Franzosen bei Sasonows Frage im Oktober 1914, während ihre Regierung noch in Bordeaux saß, unbedenklich zurück. Es liegt im Wesen eines solchen Programms, daß es sich mit politischen, wirtschaftlichen, militärischen Motiven ins Uferlose steigern ließ, und so hatte denn der Umfang dieser Begehrlichkeiten zwischen der französischen und der russischen Regierung damals bereits die folgende amtlich festgelegte Grenze erreicht. Voran Elsaß-Lothringen, aber schon nicht mehr in dem Umfange, in dem es bis 1870 zu Frankreich gehört hatte, sondern "mindestens bis zum Umfange des früheren Herzogtums Lothringen ausgedehnt", wobei nach französischen Wünschen die strategischen Notwendigkeiten und die wirtschaftlichen Bedürfnisse (das ganze Eisenerzrevier Lothringen und das ganze Kohlenrevier des Saarbeckens) zu befriedigen waren - alles was die Historie irgendwie decken mochte oder Schwert und Industriekapital für wünschenswerte Abrundung erklären würden. Alles übrige linksrheinische Gebiet, jetzt zum Bestande des Deutschen Reiches gehörig, soll von Deutschland ganz abgelöst und von jeder politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland befreit (!) werden. Dergestalt, daß dieses linksrheinische Gebiet, so weit es Frankreich nicht einverleibt wird, ein autonomes und neutrales Staatswesen bilden und so lange von den Franzosen besetzt bleiben soll, bis die feindlichen Reiche endgültig alle Friedensbedingungen und Garantien erfüllt haben werden. Also Aufteilung des ganzen linksrheinischen Deutschlands in ein Gebiet französischer Einverleibung und ein Gebiet unabsehbarer französischer Besetzung.

Auf dieser Forderung beharrten alle französischen Regierungen während des Krieges. Am 12. Januar 1917 bezeichnete Briand als "volle Sicherheit" für Frankreich nicht nur die Angliederung des Elsaß und des um das Saargebiet zu vergrößernden Lothringens, sondern auch die Lostrennung des ganzen linken Rheinufers von Deutschland; und am 27. Februar 1917 gestand das schon von der Revolution bedrohte Rußland alle diese Forderungen einschließlich [831] der "Befreiung" des linken Rheinufers zu. Noch am 11. März empfing der Zar als Gegenleistung "die volle Freiheit, seine westlichen Grenzen nach Ermessen zu bestimmen". Der erobernde Franzose trug keine Bedenken, die Rheingrenze mit einer deutsch-russischen Odergrenze zu bezahlen.

Dem Historiker sind diese Kriegsziele nicht unbekannt. Es sind im wesentlichen dieselben Ziele, die dem Kaiser Napoleon III. in den Jahren vor 1870 vorschwebten und ihn schließlich in den Krieg trieben: beide Male bedeutete die Rheingrenze zugleich die Zurückwerfung Preußens am Rhein, die Zertrümmerung der preußischen Führerstellung in Deutschland, eine Rückbildung des deutschen Staates nach dem Bedürfnis nachbarlicher Machtspekulationen. Diese Kriegsziele des Weltkrieges erneuerten nichts anderes als die historische Rheinpolitik der Franzosen; die ganze Kette des Geschehens, die vom 17./18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart reicht, setzt sich in ihnen fort; die Brückenköpfe, die schon König Ludwig XIV. und seine Generäle am Oberrhein anstrebten, von Freiburg bis Philippsburg kehren, zum System erhoben, auch in den Denkschriften der französischen Generäle des Weltkrieges wieder; und die Erinnerungen der napoleonischen Zeit übten einen unwiderstehlichen Anreiz aus, um alles das mit der Welt verbündet wiederzugewinnen, was man einst den siegreichen europäischen Mächten hatte herausgeben müssen. Vor allem hoffte man auf diese Weise, die preußische militärische Wacht am Rhein, die verhaßteste Erinnerung an den Wiener Kongreß, wieder zu beseitigen, und mit diesem Stoß gegen Preußen zugleich den bisherigen politischen Aufbau des Reiches über den Haufen zu werfen.

Als man von diesen großen Zielen in Versailles infolge des angelsächsischen Widerspruchs entfernt blieb, unternahm es die französische Politik - in der niemals zu sühnenden Geschichte von 1919 bis 1924 -, ihr Kriegsziel mitten im Frieden zu erreichen, und mit Hilfe der Besatzungen und der Reparationen, mit brutaler Gewalt und gemeiner Verlockung sich doch noch zum Herrn des Rheinlandes zu machen.

Schon im Juni 1922 glaubte Poincaré befriedigt feststellen zu können, daß man der dauernden Besetzung des linken Rheinufers entgegengehe: "Ich für mein Teil ziehe die Besetzung und die Eroberung den Reparationen vor. Das einzige Mittel, den Versailler Vertrag zu retten, besteht darin, es so zu arrangieren, daß unsere Gegner, die Besiegten, ihn nicht einhalten können." Für das Programm der Ruhrbesetzung von 1923 war es kennzeichnend, daß von diesen Positionen an Rhein und Ruhr aus der eigentliche Vorstoß auf das Ganze des deutschen Staates gerichtet war. Schon während des Einmarsches in den Ruhrbezirk schrieb die Action française am 9. Februar 1923:

      "Solange die Auflösung des deutschen Staates nicht in Berlin ausgesprochen ist, wird es schwer, wenn nicht unmöglich sein, im Rheinlande besonderes zu erreichen. Die Schwierigkeiten kommen daher, daß Deutschland noch eine Einheit ist und noch eine geord- [832] nete Regierung besitzt. Diese Regierung, diese Ordnung, dieses Gesetz, diese Einheit müssen zerschlagen werden."

Das war gewiß eine unsinnige Stimme der Leidenschaft, für die die Gesamtheit der Franzosen nicht verantwortlich zu machen ist; aber würde es in Frankreich eine Partei gegeben haben, die damals Kraft und Mut besessen hätte, sich diesem Vorgehen entgegenzuwerfen, wenn es sich ungestört durch Europa hätte verwirklichen lassen?

Im Vergleich mit Frankreich konnten Kriegsmotiv und Kriegsziel der Russen gegen Deutschland eine historische Begründung überhaupt nicht aufbringen. Denn wenn man die ganz vereinzelte Episode des siebenjährigen Krieges ausnimmt, waren russische und deutsche Fronten noch niemals feindlich aufeinandergestoßen; und auch in jenem Vorgang haftete die weltgeschichtliche Erinnerung nicht an dem Tage von Zorndorf, sondern an dem russischen Übertritt von der Großen Koalition zu Friedrich dem Großen, dem "miracle de la maison de Brandebourg". Es war das erste Vorspiel eines russisch-preußischen Zusammengehens, das damals für vier, fünf Generationen begründet wurde. Der Aufstieg des preußisch-deutschen Staates sollte sich geradezu unter der Rückendeckung der russischen Freundschaft vollziehen.

So war denn im Weltkrieg ein sachliches und unmittelbares Kriegsziel auf deutschem Boden nicht zu finden. Nur damit der russische Imperialismus die seiner Eroberung entgegenstehenden Hindernisse auf der Front von Galizien bis zu den Meerengen überrennen könnte, brachen die russischen Heere in Ostpreußen ein, sollte die deutsche Macht vernichtend getroffen werden: das Kriegsziel war die Zerstörung des deutschen Bundesgenossen Österreich-Ungarn. Daraus erklärt sich, daß die russischen Kriegsziele, soweit sie auf deutschen Boden gerichtet waren, einer innern Planmäßigkeit entbehrten: sie hatten mit dem politischen Lebenswillen der Großmacht nichts zu tun, sondern schleppten eher einige verblaßte dynastische Erinnerungen mit sich. Um so bezeichnender war es, daß gerade Sasonow bald nach dem Kriegsbeginn, unbekümmert um den Ausgang der Schlacht bei Tannenberg, die Kriegszieldebatte mit den Westmächten am 14. September 1914 zu eröffnen sich beeiferte.2 Es verstand sich, daß er das Niederbrechen der deutschen Macht als solcher als Hauptziel nahm und insofern allen westlichen Wünschen der Franzosen entgegenkam - die machtlose Mitte Europas war jetzt die stärkste Machtvoraussetzung, die Rußland glaubte auch für sich wünschen zu sollen. Darüber hinaus forderte Rußland das östliche Ostpreußen, und unter dem Decknamen Polen das östliche Posen, Schlesien, Galizien - was die Aufrollung des gesamtpolnischen Bereiches, aber auch alter deutscher historischer Kulturlandschaften bedeutet haben würde. Aber die russische Phantasie schweifte, augenscheinlich durch rein dynastische Motive angeregt, noch weiter; sie wünschte Schleswig-Holstein für Dänemark, [833] eine ansehnliche Vergrößerung Belgiens und die Wiederherstellung des Königreiches Hannover. Wenn der Franzose die Revision des Frankfurter Friedens von 1871 vornahm, mochte der Russe das Werk Bismarcks an zwei namhaften Errungenschaften von 1864 und 1866 wieder zu zerschlagen suchen. Daß man auch die Aufteilung der deutschen Kolonien unter England, Frankreich und Japan anregte, geschah wohl mehr, um hier die russische Enthaltsamkeit zu betonen. Sasonow besaß so viel Einsicht, daß er selbst seine Vorschläge als "Skizze eines Gemäldes, dessen Leinwand noch nicht gewebt sei", bezeichnete; aber man sieht den Zaren noch gegen Ende November 1914 mit den Umrissen dieses Planes eifrig beschäftigt. Da hat inzwischen Belgien in der Richtung auf Aachen eine bedeutende territoriale Vergrößerung erhalten, und es wird eine Stärkung des Friedens davon erwartet, "wenn wir Hannover neu erstehen lassen und einen kleinen Staat zwischen Rußland und den Westen (!) legen". Man könnte an eine Erneuerung der deutschen Grenzgestaltung an Nord- und Ostsee im Zeitalter von 1648 denken, wenn man nicht dem geographischen Vorstellungsvermögen des Zaren einiges zugute halten müßte. Jedenfalls haben wir hier noch nicht die letzte Spur der russischen Kriegsziele auf deutschem Boden, sie sind in dem Blut der russischen Niederlagen von 1915 zugrunde gegangen, aber sie werden trotzdem noch in den ersten Monaten des Jahres 1917 zwischen Frankreich und Rußland verhandelt, und sie würden ohne den revolutionären Zusammenbruch Rußlands ihre Rolle auf dem Friedenskongreß gespielt haben. Was davon erhalten bleibt, wird in dem polnischen Wiederherstellungsprogramm des Dreiverbandes wieder auftauchen.

Auch der deutsche und der englische Geschichtsverlauf hatten bisher weder ernste Reibung noch kriegerischen Gegensatz gekannt. Gerade in den neueren Jahrhunderten hatte vielmehr eine gewisse Gemeinschaft der politischen Interessen und der Gegensätze überwogen; in der ganzen Epoche, da der säkulare englisch-französische Gegensatz die Welt beherrschte, war zuerst das Haus Habsburg, dann der preußische Königsstaat oder auch beide die Verbündeten des Inselreiches gewesen. Eben diese Traditionen waren es gewesen, die besonders auf deutscher Seite fast eine Undenkbarkeit des Bruches erzeugten, und auch wenn man das Wort "Blut ist dicker als Wasser" drüben nicht so häufig wie bei uns im Munde führte, so wäre ein Krieg gegen Deutschland noch um 1900 in England als ein fremdartiger Gedanke verworfen worden. In der Vergangenheit fehlte es an jeder Anknüpfung.

Wenn man die englischen Kriegsziele mit denen der anderen Feinde vergleicht, so haben sie zwar den Vorteil, ihre Phantasie nicht so weitgehend mit deutschem Land und Leuten zu sättigen, sie beschäftigten sich höchstens mit Schleswig-Holstein und dem Nordostseekanal. Aber sie werden darum nicht minder mörderisch ausgreifen. Die Kriegführung brachte es mit sich, daß eine systematische [834] Ausrottung der deutschen Industrieausfuhr und des deutschen Überseehandels eingeleitet wurde. Und da England die öffentliche Meinung in der Welt am stärksten beherrschte, verfügte es gegenüber dem von dieser Welt völlig abgeschnittenen Deutschland über alle Mittel, den Gegner auch durch eine systematische Propaganda der deutschen Greuel moralisch zu diskreditieren und damit für die Nachkriegszeit wirtschaftlich-gesellschaftlich zu verfehmen und auszuschließen. Das Thema der kolonialen Greuel verfolgte dabei den besonders lohnenden Zweck, die Ausschließung der Deutschen aus ihrem kolonialen Besitz beizeiten, aber auch aus Gründen der Menschlichkeit und den Pflichten der kolonisierenden weißen Völker zu Liebe, restlos einzuleiten. So setzte dann alsbald die Eroberung des deutschen Kolonialbesitzes ein, sowohl soweit er aus der Periode Bismarcks stammte, als soweit er in der wilhelminischen Zeit hinzugewonnen war. England konnte vor allem in Südafrika, das man noch im Sommer 1914 mit den Deutschen hatte teilen wollen, an die Verwirklichung der imperialistischen Träume denken, die Cecil Rhodes einst erfüllt hatten. Im übrigen mochte das Inselreich sich bescheiden und damit rechnen, daß die deutschen Festlandsgegner ihre Ziele erreichen würden - wenn obendrein der Deutsche die gesamten Lasten des Krieges trug, dann war kaum zu erwarten, daß dieses, um die kontinentalen Kriegsziele verkleinerte und ausgepumpte Land, aus der See, den Kolonien, dem Weltwettbewerb gewaltsam hinausgetrieben, jemals wieder die Wege der englischen Weltmacht kreuzen würde.

Obgleich der Dreiverband der Welt schon beim Kriegsausbruch als die überlegene Partei erschien, hat er den Sieg nur dadurch davontragen können, daß er während des Kriegsverlaufes den weitaus größten Teil der neutralen Welt auf seine Seite hinüberzuziehen vermochte. Jenseits der militärischen Geschichte des Weltkriegs im engeren Sinne, in der es der Mitte Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei und Bulgarien gelingt, in einem weit hinaus geschobenen Umkreis sich militärisch zu behaupten, vollzieht sich, schließlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wie sie sich aus der Absperrung der Mitte von der übrigen Welt ergibt, der Anschluß von großen und kleinen Mächten an dasjenige Lager, dessen Endsieg als der wahrscheinlichere Ausgang angesehen wird, und damit werden auch die Kriegsziele, die gegen die Mitte gerichtet sind, in ununterbrochenem Wachstum bleiben, über alle ausbeutbaren Möglichkeiten der Befriedigung hinaus.

Gleich nach Kriegsausbruch hatte der Verbündete Englands, Japan, sich, wie zu erwarten war, der großen Angriffsfront angeschlossen. Sein begrenztes Kriegsziel war die - an sich auf ein deutsch-chinesisches Rechtsverhältnis gegründete - deutsche Position in Kiautschou und Schantung. Einst der Ausgangspunkt, von dem die Deutschen im Fernen Osten die Wege des Imperialismus beschritten hatten, vorbildlich und aussichtsreich, konnte sie sich in ihrer völligen [835] Isolierung nicht halten. Es ging dabei von vornherein nicht um die deutsche Stellung in Schantung allein, sondern um ihre ganze politisch-wirtschaftlich-kulturelle Einflußsphäre im Fernen Osten überhaupt. Um dieser auf weitere Sicht hin sich erstreckenden Ziele willen geschah es, daß die Entente im August 1917 auch das von schweren inneren Krisen heimgesuchte China trotz seines Widerstrebens zur Kriegserklärung gegen Deutschland nötigte.

Eine weitere Gruppe der Verstärkung des Feindverbandes ergab sich daraus, daß die beiden Glieder des Dreibundes, die das Bestehen der Bündnisverpflichtung für sich nicht anerkannt hatten, im weiteren Verlaufe allmählich auf die andere Seite hinübertraten: Italien und Rumänien. Nicht weil sie auf dieser andern Seite ein höheres Recht sahen. Italien hatte sogar nach den ersten Kriegswochen noch einmal geschwankt; als die Deutschen sich Paris näherten, hatte die italienische Politik sogar einen kurzen Anlauf genommen, eine gemeinsame italienisch-österreichische Aktion in Albanien einzuleiten und damit vorsichtig zum Bündnis zurückzukehren; erst als der Rückschlag der Marneschlacht erkennbar wurde, begann sie langsam, aber endgültig von dem alten Verbündeten abzuschwenken. Der alte König Karl von Rumänien konnte wenigstens, so lange er lebte, den Parteiwechsel vermeiden; erst sein Nachfolger vollzog ihn, als die Aussichten des Sieges sich ihm zu verschieben schienen. Schon ein Blick auf die Kriegskarte lehrt, daß der Hinzutritt Italiens und dann Rumäniens zu der russisch-serbischen Front gegen Österreich-Ungarn eine Verlängerung nach Westen wie nach Osten fügte, den ehernen Ring der Einkreisung um die von jetzt an um ihr Dasein kämpfende Donaumonarchie schloß. Die den neuen Fronten entsprechenden Kriegsziele liefen zunächst auf die Herauslösung der italienischen und rumänischen Bestandteile der Monarchie hinaus, indem sie sich mit dem russisch-serbischen Kriegsziel und den innerpolitischen Gegensätzen der Tschechen und Polen verbanden, mündeten sie in dem Endziel der nationalen Zerschlagung Österreich-Ungarns. Dabei stellte sich sofort heraus, daß der Vorstoß der Nationalitäten von allen Seiten sich nicht auf den diesen Nationalitäten eigentümlichen Boden beschränken würde, sondern alsbald, um nur für Italien und Rumänien die nächste Konsequenz zu nennen, mit Bozen und Hermannstadt in die alten historischen und kulturellen Sitze deutschen Volkstums erobernd einzubrechen bereit war.

Gewiß gab die Kriegslage noch lange Zeit solchen Hoffnungen keinen Raum, sondern schien sogar zu einem entgegengesetzten Ergebnis zu führen. Serbien und Rumänien wurden völlig von den siegreichen Mittelmächten überrannt, die Russen waren für immer weit hinter die polnisch-litauisch-baltische Front zurückgeschlagen, und die italienischen Isonzofronten begannen zu erstarren; rein militärisch gesehen, waren die Kriegsfronten Österreich-Ungarns zuletzt größtenteils entlastet. Aber jenseits dieser Kriegskarte lag noch eine Weltkarte, [836] auf der die Gestirne ungünstiger standen. Die Summe der nationalen Spannungen in der habsburgischen Monarchie - die zu den Russen desertierten tschechischen Legionen blieben ein düsteres Vorzeichen - kennzeichnete die Lebensgefahr, in der sie schwebte; und alle Gunst von Paris, London und bald auch Washington blieb ihren inneren und äußeren Gegnern zugewandt. Wenn der Ausgang des Weltkrieges gegen die Mittelmächte entschied, mußte man mit dem Ende Österreich-Ungarns rechnen.

Vom deutschen Standpunkt aber mußte man sich sagen, daß dieses Ergebnis eine doppelte Bedeutung hatte. Es vernichtete eine Großmacht, die der deutsche Bundesgenosse war, und traf insofern auch die deutsche großmächtliche Stellung. Aber sie löste zugleich ein ehrwürdiges historisches Gebilde auf, das ursprünglich aus dem deutschen Staatsleben hervorgewachsen, auch in seinen späteren Entwicklungsstadien der Träger einer deutschen Kulturmission gewesen war; und wenn auch bei einem Auseinanderbruch die Tschechen und Polen, Südslaven und Rumänen zunächst ihre nationalen Volksanteile aus dem Gesamtkörper herausreißen mochten, so ließ sich doch voraussagen, daß dieser Prozeß nicht ohne zahllose blutende Schnittflächen für den Leib des über Österreich und Ungarn hin sich erstreckenden deutschen Volkstums durchgeführt werden könne. Auch hier vereinigten sich alle Kräfte der Zerstörung gegen die deutsche Nation.

Eine besondere Rolle spielte unter diesen Nationalitätenfragen das polnische Problem, in das die Mittelmächte sich gleichsam mit dem Schwerte hineinerobert hatten, und dessen friedliche Lösung sie jetzt für spätere Zeiten vorbereiten mußten; zumal wenn sie den polnischen Boden, den sie militärisch beherrschten, und die polnische Bevölkerung für ihre Kriegszwecke organisieren wollten, konnten sie sich dieser Aufgabe nicht entziehen. So hatten sie die Wiederherstellung Polens auf ihr Programm geschrieben, in einer staatlichen Form und in einem Umfange, wie sie meinten, sie ungefährdet kontrollieren zu können. Das mochte als gewagtes Spiel erscheinen, aber das letzte Urteil darüber, ob es falsch oder richtig war, hing im Grunde von der Entscheidung Sieg oder Niederlage ab, in der alles andere aufging. Als aber die Westmächte auf das weit zurückgeworfene und von der Revolution ergriffene Rußland keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchten, konnten sie das mittelmächtliche Programm der Wiederherstellung Polens weit überbieten; wenn sie im Augenblick den Polen auch das Land ihrer Träume selbst nicht geben konnten, so konnten sie für die Zukunft, für den Fall des Sieges, mit den Grenzen von 1772 und noch mehr verschwenderisch locken.

Schon längst hatte sich eine russische Abart des polnischen Nationalismus entwickelt, die ihre Hoffnungen - ursprünglich im Rahmen des russischen Reiches, dann aber von ihm abgelöst - weit über das begrenzte Angebot der Mittelmächte schweifen ließ. Hier begnügte man sich nicht, die Gebiete aller [837] drei polnischen Teilungen - einschließlich der deutschen und der gemischten Bestandteile - zurückzuverlangen; man erhob Ansprüche auch da, wo der nationale Charakter oder die historische Vergangenheit eindeutig dagegen sprach. So scheute man sich nicht, die reindeutsche Stadt Danzig auf die Liste der Eroberung zu setzen und einen territorialen Eingang zur See zu fordern; man ging dazu über, seine Ansprüche auch auf die Landschaft Oberschlesien, die seit dem 11. Jahrhundert in keiner Beziehung zum polnischen Staate gestanden hatte, auf Grund der Sprachverhältnisse in der gemischten Bevölkerung auszudehnen; einmal auf diesem Wege, ergossen diese Rückforderungen sich hemmungslos über einen großen Teil des deutschen Kolonisationsgebietes vom 12. bis 14. Jahrhundert. Hinter diesem Kriegszielkomplex blieben die früheren russischen Pläne weit zurück. Was von den Deutschen einst zwischen Elbe und Weichsel besiedelt und kultiviert worden war, wurde von dieser Publizistik in Frage gestellt; und schon begannen sich auch die Tschechen (obgleich sie in Böhmen selbst einem Drittel deutscher geschlossener Bevölkerung gegenüberstanden) an diesen Streifzügen der historischen Phantasie zu beteiligen. Vor allem war es die französische Politik, die im Kampf gegen den "deutschen Drang nach dem Osten" das Erbe des Panslavismus übernahm und die Feindschaft zwischen "Germanentum und Slaventum" in den Dienst ihrer Vernichtungspolitik stellte - von dem Gesichtspunkt der französischen Rheinpolitik aus konnte auch Polen gar nicht groß genug wiederhergestellt werden. So sah der Deutsche angesichts dieser Eroberungsphantasie, die erst im Moment des Zusammenbruches ganz ungezügelt durchbrach, das Erbe von Jahrhunderten ins Wanken kommen.

In der Ausdehnung der Kriegsfronten war der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg die Entscheidung. Ein langer Weg hatte die letzte Großmacht der Erde, nach anfänglicher wohlwollender Neutralität für die Entente, zu einer praktisch weitreichenden finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen Unterstützung unserer Feinde geführt, und von dem schiedsrichterlichen Willen, der sich in dem Präsidenten Wilson zumal seit seiner Neuwahl mehr und mehr befestigte, war nicht zu erwarten, daß er unter günstigen Zeichen für die deutsche Seite stehen würde. Der deutsche Übergang zum Unterseebootkrieg, der den Eintritt Amerikas in den Krieg unabwendbar machte, soll hier nicht diskutiert werden; daß selbst eine Intervention Amerikas, die uns schwere Opfer auferlegt haben würde, gegenüber einer durch Amerika herbeigeführten Siegentscheidung weitaus das geringere Übel gewesen wäre, kann von keiner nüchternen politischen Erwägung geleugnet werden.

Die praktischen und moralischen Wirkungen der Kriegserklärung Amerikas trugen ein Risiko in sich, das auszugleichen jenseits aller Wahrscheinlichkeit lag. Sie half alle erschütterten Gegner über das Ausscheiden Rußlands infolge der Revolution hinweg, sie sicherte ihnen nun vollends den Menschenreichtum und [838] die Wirtschaftsmacht eines mächtigen Landes und erfüllte sie mit einem unzerstörbaren Kapital an Zuversicht, dem furchtbaren deutschen Gegner am letzten Ende überlegen zu bleiben.

Für Deutschland und seine Verbündeten schloß dieser Eintritt Amerikas in den Krieg die Welt vollends zu. Nur der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, daß auch fast alle mittelamerikanischen und eine Reihe von südamerikanischen Republiken dem Kriegsentschlusse der Union sich mehr oder minder freiwillig anschlossen - man hat nur die Namen derer, die sich heraushielten, und nicht derer, die mitgingen, im Gedächtnis behalten. Und es sei nicht verschwiegen, daß in jenem Prozeß der Wirtschaftszerstörung, der seit Jahren schon die deutsche Arbeit in einem großen Teile der Welt ausrottete, nunmehr noch weitere unabsehbare Kriegsschauplätze hinzugewonnen wurden. Dieses Gebiet einer fast die ganze Welt umfassenden Kriegführung wird in einer tiefen Herabdrückung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen des deutschen Volkes verewigt bleiben.

Freilich, diese amerikanische Welt verfolgte nicht ihr eigentümliche Kriegsziele. Präsident Wilson wollte ja weiter nichts, als die Welt zu einem sichern Heim der Demokratie machen - in jener merkwürdigen Mischung von ausgesprochenen Instinkten der Abneigung und Zuneigung, von gutem Glauben und persönlichem Ehrgeiz und von nackten Interessen, die seine unsicheren Schritte leitete. Wenn der Präsident in dem zweiten seiner 14 "Punkte" sich feierlich dafür einsetzte, daß "Völker und Provinzen nicht von einer Souveränität zur anderen verschachert werden dürfen, gerade als ob sie bloße Gegenstände oder Steine im Spiele wären", so hätte er im Kreise seiner Verbündeten Gelegenheit genug gehabt, ihre Absichten auf deutsches Land und Volkstum auszumerzen, aber es ist nicht bekannt, daß er bei seinem Eintritt in den Krieg eine Revision dieser Eroberungsprogramme sich ausbedungen hätte - für den Gesichtskreis eines amerikanischen Politikers lagen nun einmal solche Territorialfragen außerhalb der Sachkunde und des inneren Anteils. Letztlich wollte Amerika in den Kampf um eine neue Weltordnung so eingreifen, daß seine eigenen Interessen in der neuen Gruppierung irgendwie auf ihre Kosten kämen. So ließ sich der amerikanische bewaffnete Schiedsrichter in einen Krieg hineintreiben, den er als Letzter mit seinem Schwergewicht im Felde entscheiden konnte, aber zu einem wahrhaften Frieden zu gestalten außerstande war.

''The big three'', Clemenceau, Wilson, Lloyd George während
der Friedensverhandlungen in Paris 1919.
[832a]      "The big three", Clemenceau, Wilson, Lloyd George während der Friedensverhandlungen in Paris 1919.

Es konnte nicht anders sein, als daß der Gewaltfriede von Versailles hinter der Summe der Kriegsziele, die hier erläutert wurden, doch wesentlich zurückblieb; waren doch während des Weltkriegs Karten der Aufteilung Deutschlands vertrieben worden, bei denen vermöge der Ausplünderung von allen Seiten her nur in der innersten Mitte ein Rest oder gar nichts mehr übrig blieb. Und der Geist des Vernichtungswillens war allerdings nicht weit von [839] solchen Wünschen entfernt; glaubte man doch in Versailles den Unterlegenen so grenzenlos mit dem Ersatz für möglichst alle Kriegskosten belasten zu können, daß man schon nach einem Jahrzehnt selber einsehen mußte, wie man Gefahr lief, mit solchen Gewaltmitteln die Wirtschaftszerstörung der Welt zu verewigen. Diese Pläne verdienen dasselbe Urteil wie jene phantastischen Karten.

Wenn die Neuordnung von Versailles ihr Werk rechtfertigen wollte, berief sie sich darauf, daß sie an Stelle früherer Zeiten, in denen Blut und Eisen geherrscht hätten, nun die Gerechtigkeit als Norm einer geordneten Völkergesellschaft einführen wolle. So ließ man es sich angelegen sein, viele der Umgestaltungen mit dem Grundsatz einer Selbstbestimmung der Völker zu rechtfertigen. An der einen Stelle aber, wo dieses staatenbegründende Prinzip in seinen Folgen zu einer Verstärkung des deutschen nationalen Elementes hätte führen müssen, da wurde es in vollem Umfang verleugnet, ja unter Verbot gestellt: Der Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich, des Rumpfstaates, der nach Zerschlagung der Monarchie lebensunfähig in sich selber zurückgeblieben war, wurde an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, die einem Verbote gleichkamen. Und wiederum war es Frankreich, das als der herkömmliche Gegner der deutschen nationalstaatlichen Einigung auf einem Gebiete die Führung übernahm, auf dem ein rechtzeitiger Ausgleich, unmittelbar nach dem Abschluß des Weltkrieges vollzogen, viel zur Völkerversöhnung hätte beitragen können. Aber die Franzosen hatten alles daran gesetzt, in Versailles wie nachher, die deutsche staatliche Einheit, soweit es möglich war, zu zerstören, - wie hätten sie es zulassen sollen, daß sie sich vollende! So verhinderten sie den Anschluß auf die Gefahr, damit das hohe Prinzip der Selbstbestimmung der Völker an der bedeutsamsten Stelle zu durchbrechen. Aus demselben Grunde, aus dem man die Rheinlinie wollte und ein möglichst tief nach Deutschland hineingeschobenes Polen, aus demselben Grunde mußte man das verunglückte Experiment der Mainlinie wiederholen und einen Abgrund zwischen dem Deutschen Reiche und Deutsch-Österreich aufreißen. Wenn man den Bestand des Deutschen Reiches als solchen nicht von außen wesentlich antasten konnte, sollte er wenigstens von innen so vernichtend wie möglich gelähmt werden. Und so stoßen wir noch einmal auf den tiefsten Grund jener weit zurückreichenden historischen Rivalität, auf den eifersüchtigen und streitbaren nationalen Lebenswillen der Franzosen, der sich dem werdenden Nationalstaat des Deutschen Reiches in den Weg stellte und damit Auftakt und Richtung eines neuen Zeitalters bestimmte.

Aber wie es um die Friedensbestimmungen im einzelnen stehe, alles, was den Deutschen im Versailler Frieden genommen und ihnen auferlegt wurde, ist tödlich vergiftet worden durch den Vorwurf, daß sie mit dieser Sühne eine gerechte Strafe für eine schwere Schuld auf sich nähmen; für eine Allein- [840] schuld oder doch eine überwiegende Schuld an dem Weltkriege, an seinem Ausbruch oder an seiner Vorgeschichte oder an dem Geiste des Zeitalters, aus dem er hervorging, je nachdem die angeblich historisch beweisbare Anklage an dem äußerlichen Einzelvorgang haften sollte oder in dem Innersten des Volkstums verwurzelt wurde. Es war nichts anderes, als den Geist der antideutschen Vorkriegspublizistik und Kriegspropaganda, die immer nur die Stimme der Partei vertreten hatten, nunmehr in die höchste Instanz eines völkerrechtlich unfehlbaren Richterspruches zu erheben. Dabei handelte es sich nicht um eine schuldhafte Diplomatie etwa in den letzten acht Tagen vor Kriegsausbruch oder in den letzten Jahren der wachsenden Kriegsgefahr, sondern der Sinn dieser verächtlichen Kriegsschuldthese richtete sich gegen den ganzen Aufstieg des Deutschen Reiches im letzten Menschenalter, ja gegen unsere ganze geschichtliche Existenz in der europäischen Staatenentwicklung, gegen unser So-und-Nichtanderssein nach außen wie nach innen.

Es hat auch nicht an französischen Historikern gefehlt, die, das letzte Geheimnis heraussagend, dem Deutschen Reiche vorwarfen, daß es durch sein bloßes Emporkommen (seul en existant) zum Störenfried Europas geworden sei, so wie man den Reichsgründer beschuldigte, daß er erst die unheilvollen Methoden der Macht, die Politik des Blut und Eisen, in eine friedlich und ethisch gerichtete geordnete Staatengesellschaft eingeführt hätte. Der überhebliche Geist dieser Anklage ist auch in dem allmählichen Urteil eines englischen Staatsmannes von vorübergehendem Range zu Worte gekommen: Die deutsche Geschichte der letzten hundertundfünfzig Jahre sei überhaupt ein einziger Fehlgriff gewesen. Von hier gelangt man ohne Mühe zu den verzerrten Geschichtsbildern der finnischen Völker des Ostens, die den deutschen Besitz der Länder östlich der Oder oder gar der Elbe, als gewaltsamer Eroberung verdankt, am liebsten in einem Zuge bestreiten möchten.

Immer wieder kehren wir zu der Tatsache zurück, daß der "Vernichtungskrieg" nicht nur ein Wort, sondern buchstäblich gemeint war. Die Summe der Kriegsziele und Anforderungen steigerte sich so hoch, daß das Ganze der deutschen geschichtlichen Existenz darüber zertreten und zerstückelt wurde. Nicht nur das Deutschland Wilhelms II. und seine weitausgreifende Arbeit in der Welt, auch das Deutschland Wilhelms I. und Bismarcks, seine Macht und Sicherheit, die deutschen Positionen des 18. und 19. Jahrhunderts im Osten und Westen, das ganze geschichtliche Gebilde der deutschen Großmacht Österreich und ihrer kulturellen und staatlichen Mission im Südosten, ja ein guter Teil deutscher Kulturarbeit des Mittelalters sollte verschlungen werden. So daß man vor der Frage stand, ob nicht der ganze Ablauf der deutschen Geschichte seinen innersten Sinn damit verlieren sollte.

Niemals hat in älteren und neueren Zeiten ein Volk gegen eine so weither angelegte Verneinung seiner geschichtlichen Existenz, eine aus so vielen Quellen [841] sich nährende Verunglimpfung sich zu verwahren gehabt, wie sie in Versailles beschlossen wurde - beschlossen zu dem Zwecke, das Gewaltwerk dieses Friedens mit einem Schein des Rechtes zu umgeben. Die Kriegsschuldthese ist zwar langst in einem Verfall begriffen, wie andere Teile dieser Friedensakte sich auch als unausführbar erwiesen haben. Aber man täusche sich darüber nicht, daß sie nicht auf das einzelne geht, in dem sie zu widerlegen, zu diskutieren, zu "entscheiden" wäre. Sie geht gegen den geschichtlichen Anteil der Deutschen an der europäischen Staatenentwicklung.

Und so haben wir, auch wenn wir die einzelne Anklage aufnehmen und in sich auflösen, dem Geiste dieses Angriffs doch nur das ganze Bild unseres Seins entgegenzustellen, zu stolz, vor den anderen zu rechtfertigen, daß unsere Rolle in der Geschichte diese und keine andere gewesen sei und zu bleiben fortfahre. Denn in dem Besitze dieser Geschichte, dieses Aufsteigens und Niedergehens, dieses Tuns und Lassens, dieses Gebens und Nehmens, dieses Handelns und Leidens sind wir so unsterblich unter den Völkern dieser Erde, wie überhaupt von einer Unsterblichkeit der Völker gesprochen werden kann. In diesem ganzen Besitze aber, eingeschlossen die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen, auf die wir zurückblicken, sind wir uns bewußt, daß das Leben des deutschen Volkes so ungebrochen in seinen seelischen Energien und in seinem Glauben an sich selber ist wie je zuvor. Auch für die Gemeinschaft eines Volkes gilt, wie für das Leben des einzelnen: was Not und Leiden zerstörten, wird aufgewogen durch das, was Not und Leiden an neuen Kräften ins Leben rufen, zeugungskräftig und unwiderstehlich.


1 [1/830]Der französische Botschafter in Petersburg G. Louis gibt diese Formulierung im Jahre 1910. ...zurück...

2 [1/832]Mitgeteilt von Fr. Stieve, Berliner Monatshefte, 1927. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte