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[Bd. 3 S. 7]

1. Kapitel: Der Einbruch der Franzosen in das Ruhrgebiet.

  Kabinett Cuno  

Zwei Tage nach dem Rücktritt der Regierung Wirth beauftragte der Reichspräsident Dr. Cuno mit der Bildung des neuen Kabinetts. Dr. Cuno war Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie und stand im 46. Lebensjahre. Bereits unter der kaiserlichen Regierung war er im Reichsdienst tätig gewesen, und so war ihm das Gebiet der Politik aus eigenen Erfahrungen bekannt. Ohne der Deutschen Volkspartei anzugehören, sympathisierte er stark mit ihr und vertrat, besonders in wirtschaftlichen Fragen, ihre Ziele und Anschauungen. Cuno bildete ein Ministerium nicht nach den Parteigrundsätzen des parlamentarischen Systems, sondern nach dem Gesichtspunkte fachmännischer Befähigung. Sein Ziel war nicht eine Regierung der Parteien, sondern ein Kabinett der Arbeit, von dem man nach all den bisherigen Mißerfolgen endlich bessere Ergebnisse hoffte.

Für die Berufung Cunos waren lediglich außenpolitische Gesichtspunkte maßgebend gewesen. Als Leiter eines Weltverkehrsunternehmens genoß er besonders bei den angelsächsischen Staaten ein gewisses Ansehen, so daß er geeignet erschien, die äußeren Beziehungen des Reiches wieder zu ordnen, die infolge der durch den sozialistischen Erfüllungswillen heraufbeschworenen Inflation gründlich verfahren waren. Auf diesem Gebiete trat Cuno ein schweres Erbe an, um so schwerer, als in Frankreich ein Mann am Ruder saß, der schonungslos und ohne Nachsicht vorging. Im Innern hatte Cuno keineswegs sicheren Boden unter den Füßen. Die sozialistische Zersetzung war zu weit vorgeschritten, als daß die von einem Vertreter des Kapitals betriebene Politik eine breite Basis der Zustimmung und Unterstützung finden konnte. Noch waren die tiefen Wunden, die der Rathenaumord dem deutschen Volke geschlagen, zu frisch, als daß der hieraus sich ergebende und zerrüttende Zwiespalt über Nacht aus der Welt geschafft werden konnte. –

  Haltung der Parteien  

[8] So erhielt die deutsche Republik, als sie in das fünfte Jahr ihres Bestehens eingetreten war, die achte Regierung, welche zugleich das erste nachrevolutionäre fast ausschließlich aus Fachleuten zusammengesetzte Ministerium war. Am 22. November war die Regierungsbildung beendet, und trotzdem der überparteiliche Standpunkt stets betont worden war, hatte sich die Sozialdemokratie ferngehalten. Sie war der Ansicht gewesen, daß die Überparteilichkeit nur der Deckmantel für die Große Koalition sein sollte, welche die Deutsche Volkspartei zugleich mit der Sozialdemokratie zu gemeinsamer Tätigkeit vereinen sollte. So stand die Regierung Cuno lediglich auf der schmalen Basis von der Deutschen Volkspartei über Demokratie zum Zentrum, worin sie der Regierung Fehrenbach (vom Sommer 1920 bis Frühjahr 1921) glich. Damals schrieb die Kölnische Zeitung: "Es gilt, mit den sozialistischen Experimenten abzubauen, ohne gleichzeitig die Massen in innerpolitische Unruhen hineinlaufen zu lassen." Das war ein vorausschauender Ausspruch. Deutschland lehnte zukünftig in seiner Außenpolitik die sozialdemokratischen Utopien ab, die schon manche schwere Enttäuschung erleiden mußten.

Die neue Regierung hatte von Anfang an mit dem Widerstand der Sozialdemokratie und der Kommunisten zu rechnen. Die Kommunisten bezeichneten sie überhaupt nur als eine "kapitalistische Minderheitsregierung" und prophezeiten ihr eine kurze Lebensdauer. Der sozialdemokratische Abgeordnete Breitscheid bemerkte, es sei mit dem parlamentarischen System kaum vereinbar, daß ein Nichtparlamentarier mit der Regierungsbildung betraut worden sei, und betrachtete die Regierung Cuno lediglich als ein Übergangsstadium.

Dr. Wilhelm Cuno.
[Bd. 2 S. 192a]      Dr. Wilhelm Cuno.
Photo Scherl.

  Cunos Programm  

Am 24. November stellte Cuno seine Regierung dem Reichstag vor. Der Reichskanzler hielt eine längere Rede, worin er ausführte, daß seine Politik die Fortsetzung der Wirthschen sein würde, soweit sie unter der Losung stände: "Erst Brot, dann Reparationen!" Diese Politik sei die Politik der Selbsterhaltung der Nation, der Stärkung der deutschen Wirtschaft, indem man für die Alliierten bestmögliche Lei- [9] stungen aus den Überschüssen gewähren würde, die sich nach Stärkung des dringenden deutschen Bedarfs ergeben würden. Die neue Regierung stehe ohne Einschränkung auf dem Boden der Note, welche Wirth am 14. November den Alliierten habe übergeben lassen, und mache sich das Wort der Sachverständigen zu eigen: "Deutschland muß sich eine eigene, aufbauende Politik schaffen, auch wenn Gefahren damit verbunden sind." Diese aufbauende Politik bestehe aber in einer grundsätzlichen Politik der Wirtschaftsgesundung, die entschlossen sei zu allen technischen Maßnahmen der Währungsstützung, wie sie die Note vom 14. November ankündige. Insbesondere müsse Deutschland auf drei oder vier Jahre von sämtlichen Bar- und Sachleistungen aus dem Versailler Vertrage befreit sein, auch müsse ihm ein ausländischer Bankkredit in ausreichender Höhe zur Verfügung gestellt werden.

  Cunos Vorschlag  
an Bonar Law

Diese Gedanken entsprachen durchaus den Zielen der von Wirth bereits eingeleiteten Politik, und man konnte nicht sogleich von einer Kursänderung nach außen hin sprechen. In England war um die gleiche Zeit der liberale Lloyd George von dem konservativen Bonar Law in der Führung der Regierung abgelöst worden, doch auch hier trat in bezug auf die Reparationsfrage kein Systemwechsel ein, da Sir John Bradbury, englisches Mitglied der Reparationskommission, ebenso Bonar Laws vertrauter Ratgeber wurde wie er derjenige seines Vorgängers gewesen war. Als am 10. Dezember die alliierten Premierminister in London versammelt waren, beeilte sich Cuno, einen hohen Reichsbeamten als Kurier dorthin zu entsenden und ein Schreiben an Bonar Law überbringen zu lassen. Hierin wurde der englische Ministerpräsident gebeten, das Wiedergutmachungsproblem möglichst schnell auf der Grundlage der Note vom 14. November zu regeln. Die Mark sollte durch eine Auslandsanleihe stabilisiert werden, und die Reparationslasten der nächsten Jahre wolle man durch eine im In- und Auslande aufzulegende Goldanleihe tilgen. Für die Zeichnung der Goldanleihe war man zu großen Zugeständnissen an die deutschen Zeichner bereit. Man versprach 4 Prozent Zinsen, ½ Prozent Amortisation, Befreiung von der Erbschafts- und Kapitalertragssteuer und [10] Amnestie für Verstöße gegen die Kapitalfluchtgesetze. Dadurch hoffte man auf ein günstiges Ergebnis und Rückkehr des ins Ausland gebrachten deutschen Kapitals. Dafür aber beantragte Deutschland für zwei Jahre Befreiung von sämtlichen Bar- und Sachleistungen. Doch schon am gleichen Tage antwortete Bonar Law, daß der Plan zwar den in London versammelten alliierten Premierministern vorgelegt worden sei, aber nach ihrer Auffassung keine Lösung darstelle.

Es unterlag keinem Zweifel, daß die Verbandsmächte die von Deutschland vorgeschlagene Lösung nicht annehmen würden, und damit hatte sich jede weitere Erörterung über die Aufbaupläne des Herbstes 1922 erledigt. Andererseits rückte damit auch die Gefahr einer Ruhrbesetzung in immer größere Nähe, da ja Poincarés unnachgiebige und unerbittliche Weise gegenüber der deutschen Zahlungsunfähigkeit hinreichend bekannt war. Um dieser von Frankreichs Seite drohenden Möglichkeit beizeiten vorzubeugen, entschloß sich Cuno im Dezember 1922 dazu, zum ersten Male nach dem Weltkrieg die bedeutungsvolle Sicherheitsfrage anzuschneiden. Die Frage nach der europäischen Sicherheit war ja ursprünglich von Frankreich ausgegangen, das ständig in dem Wahne lebte, von Deutschland überfallen zu werden. Dieser französischen Sicherheit dienten nicht nur die militärischen Bündnisse mit Belgien, Polen und der Tschechoslowakei, sondern vor allem auch die Entwaffnung Deutschlands und insbesondere die Entmilitarisierung der Rheinzone, wie diese im Versailler Vertrage festgesetzt waren. Jetzt aber, im Dezember 1922, hatte ein größeres und unmittelbareres Interesse an der europäischen Sicherheit das deutsche Volk – jetzt, als infolge der Zuspitzung der Reparationsfrage die Ruhrbesetzung drohte.

Cunos
  Sicherheitsangebot  

Der Reichskanzler wies den deutschen Botschafter in Washington an, der Regierung der Vereinigten Staaten zu erklären, Deutschland erkenne die Sicherheitsfrage als ein politisches Problem für Frankreich an und sei bereit,

"wenn Regierung und Volk der Vereinigten Staaten zur Rettung Europas mit dem Vorschlag hervortreten sollten, daß die am Rhein interessierten Mächte, nämlich Frankreich, England, [11] Italien und Deutschland, sich gegenseitig zu treuen Händen der Regierung der Vereinigten Staaten feierlich verpflichten möchten, für ein Menschenalter ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung keinen Krieg gegeneinander zu führen, so würde Deutschland nicht zögern, eine solche Verpflichtung zu übernehmen."

Der amerikanische Staatssekretär Hughes übermittelte am 18. Dezember den deutschen Vorschlag dem französischen Botschafter Jusserand, der ihn nach Paris telegraphierte.

Poincaré jedoch, dieser Totengräber Europas, wie ihn seine Landsleute nannten, der weniger um seinem Vaterlande zu nützen als seine Vernichtungsgier zu befriedigen handelte, hatte anderes im Sinn. Die Sicherheitsfrage interessierte ihn gar nicht, denn er war entschlossen, das Reparationsproblem und das Problem der Rheinlande in seinem Sinne zu lösen, durch Besetzung des Ruhrgebietes und Trennung der Rheinlande vom Reich. Er lehnte also das "deutsche Manöver" schroff ab, da der Pakt ja doch nur auf ein Menschenalter, das heißt 30 Jahre, begrenzt sei und durch den Vorschlag der Volksabstimmung das Vorrecht des französischen Parlamentes, über Krieg und Frieden zu beschließen, beseitigt würde. Außerdem binde Artikel 10 des Versailler Vertrages bereits durch seine Nichtangriffsklausel Frankreich und ein dem Völkerbund beigetretenes Deutschland. Das dreißigjährige Versprechen des deutschen Vorschlages und die Instanz der Volksabstimmung würden sogar den Wert dieses Artikels verringern.

Der Reichskanzler erklärte zwar, daß sein Vorschlag lediglich als eine Grundlage für eine Erörterung zu betrachten sei und daß die deutsche Regierung bereit sei, auch über andere Formulierungen zu verhandeln. Dagegen hatte Poincaré einzuwenden, daß der deutsche Vorschlag Deutschland "die Freiheit geben würde, Polen und die Tschechoslowakei und sogar Neutrale anzugreifen, um die von Dänen und Polen bewohnten Gebiete wieder an sich zu reißen und mit der Vorbereitung seiner Vorherrschaft wieder zu beginnen". So war also auch dieser Versuch der Regierung Cuno, das deutsche Volk vor weiterem Unglück zu bewahren, gescheitert, [12] und furchtbare Gewitterwolken türmten sich über der unglücklichen Nation, als das Jahr 1922 seinem Ende entgegenging.

Feststellung des
  Wiedergutmachungsausschusses  

Am zweiten Weihnachtsfeiertage hielt der Wiedergutmachungsausschuß in Paris eine entscheidende Sitzung ab. Es wurde einstimmig festgestellt, daß Deutschland seine Holzlieferungen an Frankreich für 1922 nicht vollständig erfüllt habe gemäß Teil 8, Anhang 4 des Versailler Vertrages. Weiter wurde entschieden, daß diese Nichtausführung einen vorsätzlichen Verstoß Deutschlands gegen die Bestimmungen über seine Zahlungsverpflichtungen gemäß Anhang 2 § 17 darstelle. Bei der Abstimmung über die vorsätzliche Verfehlung stimmten der Franzose und der Belgier dafür,

  Deutschlands "Verfehlungen"  

während der Engländer John Bradbury seine Stimme dagegen abgab. Er bezeichnete das Versäumnis als "fast mikroskopisch klein" und warf den Franzosen vor, sie machten aus einem Maulwurfshügel einen Berg. Es fehlten nämlich nur 20 000 Kubikmeter Holz und 135 000 Telegraphenstangen sowie 2⅕ Millionen Tonnen Kohle an den aufgegebenen Lieferungen. Diese Rückstände hatten einen Wert von 24 Millionen Goldmark, während 1922 tatsächlich für 1480 Millionen Goldmark geliefert worden waren. "Diese lumpige Anklage", rief John Bradbury aus, "ist nur als Vorbereitung für eine Offensive auf anderem Gebiet vor die Kommission gebracht worden." Aber seine ruhigen und vernünftigen Einwendungen hatten keinen Erfolg, denn Frankreich und Belgien waren sich einig und gaben den Ausschlag. Es wurde beschlossen, die Entscheidung der Kommission unverzüglich den interessierten alliierten Regierungen Frankreichs, Belgiens, Italiens und Englands mitzuteilen.

Diese Feststellung des Reparationsausschusses war außerdem insofern vertragswidrig, weil er früher ausdrücklich der deutschen Regierung die Möglichkeit zugestanden hatte, als Ersatz Barzahlungen zu leisten, jetzt aber diese Barzahlungen ablehnte, als sich Deutschland bereit erklärte, sie zu erstatten. Deutlicher ließ es sich nicht begreiflich machen, daß Poincaré, der als treibende Kraft hinter der Reparationskommission [13] stand, wie schon 1914 so auch jetzt wieder den Krieg gegen Deutschland wollte, bis zu dessen vollständiger Vernichtung!

  Konferenz in Paris  

Noch einmal wurde versucht, das von Frankreich mit Belgiens Hilfe heraufbeschworene Verhängnis zu bannen, doch erfolglos. Vom 2. bis 4. Januar tagte in Paris unter Poincarés Vorsitz eine Reparationskonferenz, an welcher noch Bonar Law, della Torretta und Theunis teilnahmen. Es sollte entschieden werden, ob Deutschland am 15. Januar die Barzahlungen auf Reparationskonto wieder aufnehmen solle oder nicht und ob eine absichtliche Verfehlung Deutschlands vorliege, wenn es erkläre, daß es am 15. Januar nicht zahlen könne. Poincaré entwickelte seinen Plan. Man müsse sofort die Pfänder, Kohle und Holz, beschlagnahmen. Eine Interalliierte Kontrollkommission von Ingenieuren unter französischem Vorsitz solle nach Essen geschickt werden, um die Tätigkeit des Kohlensyndikates zu überwachen; die Rheinlandkommission solle die Befugnis haben, im Ruhrgebiet Ordonnanzen zu erlassen. Aber wenn sich die deutsche Regierung widersetze, dann sollen Essen, Bochum und Teile des Ruhrbeckens militärisch besetzt werden und eine Zollinie östlich um das gesamte besetzte Gebiet gezogen werden.

Jetzt legte Bonar Law seinen Plan vor. In Berlin sollte ein Finanzrat mit weitreichenden Vollmachten unter dem "ex officio"-Vorsitz des deutschen Finanzministers eingerichtet werden. Die Gesamtschuld Deutschlands sollte auf 50 Milliarden Goldmark endgültig festgesetzt werden, ferner würde man ein vollständiges Moratorium für die Dauer von vier Jahren gewähren und dann die jährlichen Gesamtleistungen staffelweise von zwei bis auf 3⅓ Milliarden erhöhen. Dafür sollte Deutschland zur Bedingung gemacht werden, die Mark zu stabilisieren. Von Seiten der Alliierten aber sollten alle Pläne aufgegeben werden, die sich auf Ergreifung von Pfändern und Anwendung von Sanktionen erstreckten.

Poincaré und Theunis waren über diese Vorschläge sehr enttäuscht. Besonders Poincaré lehnte sie schroff ab. Eine Verminderung der deutschen Gesamtschulden sei unzulässig, ein Moratorium ohne Pfänder biete keine Sicherheit, und der [14] Gedanke, an Stelle der Wiedergutmachungskommission mit ihrem französischen Vorsitzenden und dem Sitze in Paris einen internationalen Finanzrat unter deutschem Vorsitz in Berlin zu setzen, war für französische Gehirne ganz und gar unfaßbar. Belgien schloß sich diesem französischen Proteste an, aber Torretta konnte weder Bonar Law noch auch Poincaré zustimmen. Er schlug ein zweijähriges Moratorium vor, währenddem jedoch die Sachlieferungen fortzusetzen seien, Deutschland solle eine Auslandsanleihe von 3 Milliarden aufnehmen, um seine Währung zu festigen, doch sollten die Alliierten produktive Pfänder nehmen: die Kontrolle über Ein- und Ausfuhr, Rheinzollgrenze, die Kontrolle über Staatsgruben und ‑forsten und die Kontrolle der Staatsbergwerke an der Ruhr. Doch auch dieser unglückliche Kompromiß, der den Wünschen Frankreichs sehr weit entgegenkam, wurde von Poincaré abgelehnt. Bonar Law konnte nur noch erklären, daß Frankreichs Vorschläge unheilvolle Folgen für die wirtschaftliche Lage Europas haben würden. England könne sich ihnen nicht anschließen und müßte die Verantwortung dafür ablehnen. Als der englische Ministerpräsident am 4. Januar wieder nach Hause zurückkehrte, hatten sich die Wege Englands und Frankreichs getrennt, und Poincaré hatte freie Hand seine Pläne zu verwirklichen: Der Weg an die Ruhr war gebahnt.

Ankündigung
  der Ruhrbesetzung  

Das deutsche Volk wußte, was ihm bevorstand. Noch einmal versuchte die Reichsregierung, das Verhängnis abzuwenden. Sie bestritt energisch, sich absichtlich Verfehlungen zuschulden kommen haben zu lassen. Die Kohlenlieferungen seien zu 90 Prozent erfüllt, und der Fehlbetrag sei zum größten Teile zurückzuführen auf willkürliche Weigerungen Frankreichs bei der Abnahme wegen angeblicher Qualitätsmängel, auf Streik, Transportschwierigkeiten und höhere Gewalt, vor allem Frost. Auch betonte die Reichsregierung, daß der angekündigte Einbruch ins Ruhrgebiet die weitere Erfüllung des Friedensvertrages unmöglich machen werde. Nichts mehr vermochte den gefaßten Entschluß der Franzosen zu erschüttern. Am 9. Januar stellten das französische, belgische und italienische Mitglied des Wiedergutmachungsaus- [15] schusses gegen die Stimme des Engländers Deutschlands Verfehlungen hinsichtlich der Kohlenlieferungen fest, und am folgenden Tage beschloß der französische Ministerrat unter Poincarés Vorsitz, die "Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines" (Micum) nach Essen zu schicken und mit 40 000 Mann an der Ruhr einzufallen.

  Kriegserklärung Poincarés  

Eine in geschmeidigen Worten abgefaßte Kriegserklärung sandte Poincaré seinen Truppen voraus. Die französische Regierung denke gegenwärtig nicht daran, zu einer militärischen Operation oder zu einer Besetzung politischer Art zu schreiten. Sie entsende nur ins Ruhrgebiet eine Abordnung von Ingenieuren und Beamten, deren Aufgabe klar umschrieben sei. Sie müsse dafür sorgen, daß Deutschland die im Versailler Vertrag enthaltenen Verpflichtungen achte. Sie lasse ins Ruhrgebiet nur die zum Schutze der Abordnung und zur Sicherstellung der Ausführung ihres Auftrages erforderlichen Truppen einrücken. Es werde also keine Störung, keine Änderung des normalen Lebens der Bevölkerung eintreten. Sie könne in Ruhe und Ordnung weiterarbeiten. Die deutsche Regierung müsse das größte Interesse daran haben, daß die Arbeit der Abordnung erleichtert werde und die zu ihrem Schutze bestimmten Truppen sicher untergebracht würden. Die französische Regierung rechne auf den guten Willen der deutschen Regierung und sämtlicher Behörden. Den Ingenieuren, die mit größten Vollmachten auszustatten seien, sei überall der Zutritt zu gewähren. Das Personal und die Beamtenschaft in Handel und Industrie hätten sich vollständig der Abordnung zur Verfügung zu stellen. Diese Industriellen-Ruhr-Kommission hätte die vom Kohlensyndikat aufgestellten Verteilungspläne für Kohle und Koks zu prüfen und dürfe sie gegebenenfalls abändern. Sollten sich irgendwelche Widerstände zeigen, dann würde man unverzüglich schwerste Zwangs- und Strafmaßregeln ergreifen.

Protest der
  Reichsregierung  

Die deutsche Regierung erhob energischen Protest gegen diesen Bruch des Völkerrechts. Sie zog ihre Botschafter aus Paris und Brüssel zurück. Sir John Bradbury, englisches Mitglied des Wiedergutmachungsausschusses, erklärte, niemals seit den Tagen des trojanischen Pferdes sei Holz wieder zu einem [16] so bösartigen Zweck verwandt worden. Die Rechtsberater des englischen Kabinetts waren der Ansicht, das Recht zu Sanktionen könne nach dem Versailler Vertrag nur gemeinsam von den Alliierten ausgeübt werden, und Frankreich habe kein Recht, eigenmächtig vorzugehen. Die Vereinigten Staaten beantworteten den Bruch des Völkerrechts durch Frankreich, in dem sie unverzüglich ihre Besatzungstruppen aus der Koblenzer Zone abberiefen. Auch Italien war nicht wohl zumute, es stellte keine Truppen zum Einbruch ins Ruhrgebiet und zog auch bald seine Ingenieure wieder zurück. Nur Belgien leistete den Franzosen Unterstützung und Hilfe.

Noch nie ist in der europäischen Geschichte eine derartig brutale, durch nichts gerechtfertigte Gewalttat gegen ein hochstehendes Kulturvolk verübt worden wie im Januar 1923 gegen das deutsche! Noch nie hat ein europäisches Volk in einer ähnlichen Lage eine derart heldenhafte Selbstbeherrschung geübt, wie die Deutschen an der Ruhr, während der französisch-belgischen Gewaltherrschaft.

  Besetzung Essens  

Fünf Divisionen französischer Soldaten, darunter farbige Truppen, Hunderte von Flugzeugen, 75 Tanks, nicht mitgerechnet Kanonen und Maschinengewehre, wälzten sich heran. Am 11. Januar wurde Essen besetzt. Hauptbahnhof und Rathaus füllten sich mit Soldaten. Auch Gelsenkirchen wurde erobert. Das Kohlensyndikat hatte bereits vor der Ankunft der Feinde sich von Essen nach Hamburg begeben. Eine Lohe von Wut und Haß schlug den

  Vormarsch der Franzosen  

Eindringlingen entgegen, aber kein feuriger Brand, ein eisiges, finsteres Schweigen der Vernichtung. Die Kaufläden waren geschlossen, die Eisenbahnen standen still, die Telephonverbindungen waren unterbrochen, und der Telegraph war stumm. Deutschland aber brüllte auf wie ein gefesselter, wehrloser Löwe, dem meuchlings das Messer in die Flanke gestoßen wurde, und sein Schrei hallte über den Erdball und wurde gehört und erweckte ein lautes Echo. Alle Parteiunterschiede des Volkes waren im Augenblick des Ruhreinfalles vergessen, nur eine Kraft entflammte die Gemüter und führte sie zusammen: der Grimm über das Unrecht, welches dem Vaterlande zugefügt wurde.

Französische Dragoner in Essen.
[Bd. 3 S. 192b]      Ruhrgebiet 1923: Französische
Dragoner in Essen.
      Photo Scherl.
Franzosen in Straßen von Essen.
[Bd. 3 S. 208a]      1923: Franzosen
in Straßen von Essen.
      Photo Sennecke.

[17] Die deutsche Regierung erhob gegen die Gewalt, die einem wehrlosen Volke angetan wurde, vor der ganzen Welt feierlichen Protest. Sie könne sich gegen diese Gewalt nicht wehren, sei aber auch nicht bereit, sich dem Vertragsbruch zu fügen oder gar, wie ihr angesonnen werde, bei der Durchführung der französischen Absichten mitzuwirken. Sie weise diese Zumutung zurück. Die Verantwortung für alle entstehenden Folgen falle nur auf die Regierungen, die den Einmarsch vollzogen hätten. Solange der vertragswidrige Zustand, geschaffen durch einen gewaltsamen Eingriff ins Zentrum der deutschen Wirtschaft, andauere und seine tatsächlichen Folgen nicht beseitigt seien, sei Deutschland nicht in der Lage, Leistungen an diejenigen Mächte zu bewirken, die jenen Zustand herbeigeführt hätten. Auch der Reichstag erhob gegen den Rechts- und Vertragsbruch der gewaltsamen Besetzung des Ruhrgebietes feierlichen Protest, er werde die Regierung bei der Anwendung jeder zur entschlossenen Abwehr dieser Gewalttat zweckdienlichen Maßnahme mit allen Kräften unterstützen.

Um Mitte Januar hatten die französischen Truppen Bochum, Witten a. d. Ruhr, Herbede, Recklinghausen, Hattingen, Sewen und Crone besetzt. Das gesamte Kohlengebiet befand sich jetzt in ihren Händen. Es entspann sich ein Kampf, der nicht furchtbarer sein konnte, wenn er mit den Waffen geführt worden wäre. Die Mittel der Franzosen waren Verbrechen und Meuchelmord, denen die Deutschen nur zähneknirschend grimmiges Schweigen entgegenstellen konnten; ein Kampf der Geister, unerhört in seiner Erbitterung, wie ihn das deutsche Volk schon einmal, zur Zeit Napoleons, durchkämpfen mußte.

  Passiver Widerstand  

General Degoutte, der Oberstkommandierende der Franzosen, verkündete den Belagerungszustand. Er befahl den Ortsbehörden, ihre Anweisungen von den französischen Kommandostellen entgegenzunehmen. Sämtliche in Privathand befindlichen Waffen seien unverzüglich abzuliefern. Die Polizei blieb vorläufig unbehelligt, auch die Post, der Telephon- und Telegraphenverkehr sollten fürs erste nicht gemaßregelt werden. Auf jeden Sabotageakt, jede schriftliche oder [18] mündliche Anreizung zum Aufruhr und jeden Angriff auf die Ehre oder Sicherheit der Truppen wurden schwere kriegsgerichtliche Strafen gesetzt. Demgegenüber eröffneten nun die Beamten der Eisenbahn, der Post und Telegraphie auf Befehl der Reichsregierung den passiven Widerstand. Sie weigerten sich, feindliche Truppen zu befördern, feindliche Telegramme aufzunehmen. Schnell griff der passive Widerstand auf die anderen Betriebe über: die Bergarbeiter stellten die Arbeit ein, wenn Franzosen auf der Zeche erschienen, die Presse weigerte sich, Erklärungen und Verordnungen zu veröffentlichen, die Kaufleute gaben keine Waren heraus, die Bürgermeister beachteten nicht die Requisitionsbefehle, die Wasser- und Lichtleitungen wurden unterbrochen zu den von den Feinden besetzten Gebäuden. Zum ersten Male in der Weltgeschichte griff ein Volk, das zum aktiven Widerstand mit den Waffen unfähig war, zu diesem neuen, nicht minder heldenhaften Mittel des passiven Widerstandes.

  Blutvergießen in Bochum  

Am 15. Januar kam es zum ersten Blutvergießen. 500 Leute, meist Arbeiter und Angestellte, zogen durch die Königsallee von Bochum und sangen vaterländische Lieder: "Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen!" Als der Zug beinahe das mit französischem Militär belegte Gebäude der Reichsbahndirektion erreicht hatte, eröffneten die Franzosen ohne vorherige Ankündigung Maschinengewehrfeuer. Der Sohn eines Lokomotivführers wurde getötet, zwei andere Demonstranten wurden schwer verwundet. Der Mord blieb ungesühnt. Doch der Vorwärts schrieb: "Das französische Militär hat kein Recht, sich im Ruhrgebiet aufzuhalten und dort Menschen zu erschießen." Schon vier Tage später wurde ein Krankenwärter in Langendreer abends um halb zehn von hinten erschossen, als er ruhig seines Weges ging.

Beschlagnahme
  der Finanzen und Zölle  

Am 18. Januar erließ die Rheinlandkommission die Ordonnanz 133, welche die Beschlagnahme sämtlicher Zölle bei Ein- und Ausfuhr zwischen besetztem Gebiet und Ausland anordnete. Die Verwaltung der Finanzen und Zölle und die Grenzüberwachung übernahm die Rheinlandkommission. Ihrer Befehlsgewalt wurde das deutsche Zollpersonal und sämtliche Finanzbeamte unterstellt. Die Einnahmen aus den [19] Steuern, den Forsten, den Zöllen wurden kurzerhand annektiert. Um dies durchführen zu können, wurden zwei Tage später (Spezialordonnanz 135) leitende Komitees für Zölle, Ein- und Ausfuhrbewilligungen, Forsten, Kohlen und Bergwerke und ein Spezialkomitee für allgemeine Verrechnung geschaffen. Ein Strom französischer und belgischer Verwaltungsbeamter ergoß sich ins Land, um die Aufgaben dieser Komitees zu erfüllen. Die Eroberer behandelten Rhein- und Ruhrgebiet, als gehöre es bereits nicht mehr zum Deutschen Reiche, eine Tendenz, die besonders auch auf dem Gebiete der Rechtsprechung sogleich zum Ausdruck kam.

Verhaftung
  von Zechenbesitzern  

Mehrere Zechenbesitzer weigerten sich, Requisitionsbefehle auszuführen. Sie wurden am 20. Januar verhaftet, unter ihnen Fritz Thyssen, und unter militärischer Bedeckung nach Düsseldorf gebracht. Ihre Zechen und Bergwerke wurden von Soldaten besetzt. Die Belegschaften stellten die Arbeit ein, weil sich Degoutte weigerte, ihre Abordnung zu empfangen, die einen entschiedenen Protest gegen die Verhaftung der Zechenleiter vortragen wollte. Schon am 24. Januar verurteilte das französische Kriegsgericht in Mainz die Verhafteten wegen Verstoßes gegen einen Requisitionsbefehl unter Annahme mildernder Umstände zu Geldstrafen in doppelter Höhe der angeforderten Requisitionen. Thyssen mußte eine halbe Million Franken zahlen, die übrigen fünf Angeklagten zusammen mehr als 300 000 Franken. Die Verurteilten legten Berufung ein, die am 22. März vom Kassationshof in Paris verworfen wurde.

Französische Posten auf Ruhrzechen.
[Bd. 3 S. 208b]      1923: Französische Posten
auf Ruhrzechen.
      Photo Sennecke.
Abführung der verhafteten Grubendirektoren Tengelmann, Kesten, Wüstenhöfer und Thyssen.
[Bd. 3 S. 224a]      Ruhrgebiet 1923: Abführung der verhafteten Grubendirektoren Tengelmann, Kesten, Wüstenhöfer und Thyssen.
Photo Sennecke.

Ende Januar legten die Franzosen einen militärischen Gürtel um das Invasionsgebiet. So wurde es vollkommen vom übrigen Deutschland abgeschnitten, und Degoutte verhängte den verschärften Belagerungszustand. Jeder Sabotageakt gegen Eisenbahn, Telephon oder Telegraph sollte von den Truppen mit Waffengewalt unterdrückt werden. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens war jeder Verkauf auf der Straße verboten. Ansammlungen und Zusammenrottungen würden mit Waffengewalt gesprengt werden. Zu Versammlungen mußte die Genehmigung der Ortskommandanten eingeholt werden.

  Kohlensperre  

[20] Vom 1. Februar ab wurde jeder Kohlentransport aus dem Ruhrgebiet ins Reich gesperrt. Die Folge war, daß der deutsche Eisenbahnverkehr stark eingeschränkt werden mußte. Seit dem 30. Januar wurden die internationalen Schnellzüge Berlin–Köln–Paris, Berlin–Warschau, Berlin–Eydtkuhnen–Riga und Paris–München–Prag eingestellt. Vom 1. Februar ab wurde der deutsche Schnellzugsverkehr auf 60 Prozent eingeschränkt. Ein Fünftel aller Personenzüge fiel aus. Den Umstand, daß die internationalen Schnellzüge eingestellt wurden, benutzte Frankreich, um am 2. Februar Offenburg und Appenweier zu besetzen. Die Interalliierte Rheinlandkommission unterstellte diese Gebiete dem Brückenkopf Kehl, indem sie den Delegierten von Kehl mit entsprechenden Vollmachten ausrüstete. – Am 12. Februar wurde ein allgemeines Verbot der Warenausfuhr nach dem unbesetzten Deutschland erlassen.

Französische Kontrolle der Güterzüge.
[Bd. 3 S. 208a]      Ruhrgebiet 1923: Französische
Kontrolle der Güterzüge.
      Photo Sennecke.
Franzosen im Ruhrgebiet.
[Bd. 3 S. 208b]      1923: Franzosen
im Ruhrgebiet.
      Photo Scherl.

Aufforderung
der Reichsregierung
  zum passiven Widerstand  

Im Ruhrgebiet wurde die Lage immer unangenehmer. Der Reichsverkehrsminister hatte an sämtliche Reichsbahndirektionen an Rhein und Ruhr einen Erlaß herausgegeben, worin befohlen wurde, den Franzosen und Belgiern keinerlei Unterstützung zu gewähren und die von den Feinden gefahrenen Züge anzuhalten. "Sämtlichen Beamten und Arbeitern der Reichsbahnverwaltung wird hiermit ausdrücklich verboten, anderen Befehlen als denen der zuständigen deutschen Stellen Folge zu leisten." Die Bahnhöfe waren angefüllt mit Zügen, der Verkehr stockte, und nur die notwendigsten Beförderungen von Lebensmitteln wurden durchgeführt. Es gelang den Feinden nicht, deutsche Beamte und Arbeiter zu zwingen, ihre Züge zu fahren oder ihnen die Einrichtungen deutscher Lokomotiven zu erklären. Tagelang quälten sich die Franzosen und Belgier ab, ehe es ihnen gelang, die Kolosse deutscher Lokomotiven auch nur einen Meter von ihrer Stelle zu bewegen. In der komplizierten Mechanik der Stellwerke und Signale richteten sie greuliche Verwirrung an. Eisenbahnen prallten aufeinander und versperrten die Gleise, viele Güter wurden auf diese Weise vernichtet. Schwere Störungen und Unterbrechungen erlitt der feingegliederte Verkehrsorganismus des Ruhrgebietes.

[21] Je mehr die Franzosen erkannten, daß ihre Besetzung des Ruhrgebietes nicht ihren Erwartungen entsprach, um so grausamer wüteten sie gegen die Bevölkerung. Um diese besser in die Hand zu bekommen, wurden vor allem und zuerst die Beamten in leitenden Stellungen ausgewiesen. So mußten der Oberpräsident der Rheinprovinz, Fuchs, die Regierungspräsidenten, der deutsche Reichskommissar bei der Rheinlandkommission, Landräte und Bürgermeister das besetzte Gebiet verlassen. Bis Ende Januar waren etwa 300 führende Männer aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen worden. Dies wurde in der rücksichtslosesten Weise ausgeführt. Ohne sich von ihrer Familie verabschieden zu können, wurden die Ausgewiesenen in den Kraftwagen gestoßen und, sobald die militärische Grenze des besetzten Gebietes überschritten war, auf offener Landstraße abgesetzt. Es gab kein Erbarmen, keine Rücksicht auf kranke Familienangehörige. Frauen und Kinder mußten zurückgelassen werden in der Hand der zügellosen Horden.

  Französische Gewalttaten  

Haussuchungen wurden als Vorwand benutzt, um die tierischsten Begierden zu befriedigen. Ganze Trupps von Soldaten drangen in die Wohnungen verheirateter Beamter und Bergleute ein. Die Ehemänner wurden festgehalten, getreten und gepeitscht, während die Frauen, mitunter Mütter von neun Kindern, trotz verzweifelter Gegenwehr nacheinander von zwei, drei, vier und fünf Bestien vergewaltigt wurden. Auf der Straße wurden Frauen und Mädchen von der Seite des Mannes oder Bräutigams fortgerissen und geschändet, während die Männer unter irgendeinem Vorwande zur Wache geschleppt wurden. Für jede Frau oder jedes Mädchen war es eine Gefahr, allein in dunklen oder einsamen Straßen zu gehen.

  Not der Presse  

Meinungsfreiheit und Presse waren aufs schlimmste geknebelt. Von 66 Zeitungen des besetzten Ruhrgebietes wurden 53 teilweise oder ganz verboten. 15 Verleger und 22 Redakteure wurden für kurz oder lang ihrer Freiheit beraubt. Sechs Verleger-Redakteure wurden ausgewiesen. Dennoch ließ sich der Geist nicht töten. Zum größten Ärger der Franzosen wiesen die erscheinenden Zeitungen immer wieder Überschriften auf: die [22] Angst vor der Wahrheit, Willkür über Willkür, Übergriffe in Bochum und Herne, Schwarze im Ruhrgebiet, Verhaftungen, Ausweisungen und Übergriffe, verschärfte Maßnahmen, aber keine Kohle, genau wie im Kriege.

Unter ungeheuren Schwierigkeiten erzwangen sich die Zeitungen den Weg an die Öffentlichkeit. Der Bochumer Anzeiger war vom 10. Februar bis 5. November sechsmal für zusammen 73 Erscheinungstage verboten. Er war mehr als ein Viertel der Zeit am Erscheinen verhindert. Es wurden in dieser Zeit die verschiedensten Ersatzzeitungen herausgegeben. So wurde beim letzten und längsten Verbot die Wanne-Eickeler Zeitung als Ersatz geliefert. Ein Teil des Textes und der Anzeigen wurde in der eigenen Druckerei gesetzt, dann nach Herne zum Druck in der Herner Zeitung gebracht und schließlich mit der Wanne-Eickeler Zeitung, unter deren Kopf sie vertrieben wurde, an geheimen Plätzen, Lagerschuppen usw. den verteilenden Zeitungsboten übergeben. Da schließlich die Setzerei besetzt wurde, wurden die einzelnen Seiten der Ersatzzeitung in den verschiedensten Druckereien hergestellt. Daß hierdurch natürlich die Redaktion und der Umbruch der Zeitung äußerst schwierig war, liegt auf der Hand. Es gehörte eine kolossale Energie dazu, die Zeitung den Lesern immer richtig zuzustellen, ganz abgesehen davon, daß von den Franzosen Verhaftung und Bestrafung drohte, wenn sie dies entdeckten.

Auch auf eigene Faust versuchten die Franzosen, die Stimmung der Ruhrbevölkerung zu beeinflussen. In der Druckerei des Düsseldorfer Tageblattes, welche die Franzosen beschlagnahmt hatten, wurde der "Nachrichtendienst, herausgegeben durch den französischen Pressedienst Düsseldorf, Berichtigungs- und Informationsblatt für das besetzte Ruhrgebiet" hergestellt. An dieser Zeitung arbeiteten "deutsche Personen" mit, Subjekte, die wir in einem andern Kapitel näher kennenlernen werden und die anonym bleiben wollten. Es war eine Tageszeitung in deutscher Sprache, die von französischen Soldaten kostenlos auf der Straße verteilt wurde und in hoher Auflage weit ins Ruhrgebiet hinein Verbreitung fand, teils durch Agenten, teils durch die französischen [23] Buchhandlungen. Selbst der deutsche Straßenhandel wurde zeitweise zum Vertrieb gezwungen. Da sich viele Leute wegen der Inflation keine Zeitung mehr halten konnten, griffen sie zu diesem kostenlosen Blatt, und das war die Gefahr. Diese Zeitung wandte sich deshalb in erster Linie an die wirtschaftlich Notleidenden, den Mittelstand, die Arbeiter und die Erwerbslosen. Es war ein Organ französischer Kulturpropaganda, und viele deutsche Zeitungen wagten nicht, aus Furcht unterdrückt zu werden, den Lügen und Hetzereien entgegenzutreten. Alles, was Frankreich tat, wurde gerühmt, aber an den Maßnahmen Deutschlands wurde gehässigste Kritik geübt. Trotzdem aber vermochte auch der "Nachrichtendienst" nicht, den Geist der Ruhrbevölkerung zu beeinflussen, die gepeinigten Deutschen den Franzosen geneigt zu machen.

  Erschwerung des Unterrichts  

Der Unterricht erlitt schwere Schädigungen, da die Schulgebäude vielfach zu Kasernen umgewandelt wurden. So wurden im Regierungsbezirk Münster 39 Schulen mit 266 Klassen, im Regierungsbezirk Arnsberg 60 Schulen mit 323 Klassen, in der Stadt Essen 16 Volksschulen mit 156 Klassen besetzt. In Düsseldorf lagen in 327 Klassen Franzosen und Belgier, in Recklinghausen mußten von 4800 Schülern der Altstadt 3900, über 80 Prozent, ausquartiert werden. In manchen Gemeinden waren die Schulen vollständig belegt. Insgesamt wurden 2900 Schulen beschlagnahmt und 125 000 Kinder am Schulbesuch verhindert.

Grausamkeiten
  gegen Kranke usw.  

Grausam wurde mit den Kranken verfahren. Ende Januar mußten in Essen von tausend Betten der städtischen Krankenhäuser etwa dreihundert den Eindringlingen zur Verfügung gestellt werden. Ohne Rücksicht auf das Schicksal der darin untergebrachten Kinder mußte der Diphtheriepavillon geräumt werden, was den Tod vieler der unglücklichen Geschöpfe zur Folge hatte. Auch die Hautklinik mußte aufgelöst werden, ohne Rücksicht darauf, daß die Kranken, die in die Stadt zurückkehrten, die Gefahr einer Epidemie bedeuteten. Auch [24] die Stationen für Scharlach, Masern, Typhus und Keuchhusten verfielen diesem Schicksal. In Dortmund quartierten sich die Eroberer im Waisenhaus ein. Hunderte von unglücklichen Waisenkindern wurden frierend und hungernd auf die Straße gejagt.

  Raub und Mord  

Mord, Raub und Gewalttat regierte. Goldwaren, Spirituosen, Brieftaschen wurden geraubt, ja, unter Führung von Offizieren drangen die Soldaten in Lebensmittel- und Zuckerwarengeschäfte ein, um zu plündern. Es kamen an einem Tage Dutzende von Fällen vor, daß harmlose Fußgänger auf offener Straße durchgepeitscht und zu Boden getreten und gestoßen wurden. Als einmal zwei belgische Soldaten die Straßenbahn von Oberhausen nach Essen-Borbeck benutzten und keinen Fahrschein lösen wollten, ließ der Schaffner den Wagen halten. Darauf schossen die Belgier mit ihren Revolvern und töteten einen unbeteiligten Fahrgast, einen Schuhmacher, und verletzten den Wagenführer schwer. Am Nachmittage des 8. Februar stürmten ungefähr zwanzig französische Soldaten in Recklinghausen über die Dönhoffstraße in die Breite Straße. Ohne vorherige Aufforderung, die Straße zu räumen, stürzten sie sich auf die friedlich vorübergehenden Bürger und mißhandelten sie auf das schimpflichste. Selbst Frauen wurden von den Franzosen gepeitscht und getreten.

Vier Tage später hatten in Gelsenkirchen zwei französische Soldaten eine Schießerei mit vier deutschen Polizeibeamten provoziert, in deren Verlaufe ein deutscher Polizist so schwer verwundet wurde, daß er starb. Am folgenden Morgen unternahmen die Franzosen eine Strafexpedition nach der Stadt. Ein starkes Truppenaufgebot, bestehend aus Infanterie, Kavallerie, Artillerie, Maschinengewehren, Minenwerfern und Tanks, war herangerückt. Der Oberbürgermeister, sein Stellvertreter, der Polizeipräsident, der Kommandeur der Polizei und der Reichsbankdirektor wurden verhaftet. Die Stadt sollte eine Buße von hundert Millionen Mark zahlen. Auf den beiden Polizeiwachen wurden die Polizeibeamten entwaffnet, verhaftet und abgeführt, wobei die französischen Truppen auf der Hauptwache die gröbsten Ausschreitungen begingen. Die Wache wurde mit Infanterie, Kavallerie und Tanks umstellt, die [25] Infanterie gab eine Anzahl Schüsse ab und zertrümmerte sämtliche Fenster, dann drang sie, von drei bis vier Offizieren geführt, in das Gebäude und trieb die darin befindlichen 21 deutschen Beamten mit Kolbenstößen, Peitschenhieben, Fußtritten und Faustschlägen hinaus. Die Gefangenen, die zum Teil blutende Wunden hatten, mußten auf der Straße länger als tausend Meter Parademarsch ausführen, dann wurden sie über Buer nach Recklinghausen gebracht, wo sie auf dem nackten Fußboden schlafen mußten. Seit ihrer Verhaftung um zehn Uhr vormittags bis zum Mittag des nächsten Tages erhielten sie nichts zu essen und zu trinken. Erst am 15. Februar wurden sie entlassen bis auf sieben, welche verschleppt wurden.

  Qualen der Gefangenen  

Furchtbar war das Schicksal der Gefangenen. Sie wurden ihrer Wertsachen beraubt, die Kleidung wurde ihnen heruntergerissen; nachdem sie blutig gepeitscht waren, mußten sie stundenlang an einer Wand stillstehen und wurden mit dem Kolben geschlagen und gestoßen, wenn sie wankten. Sie wurden nicht anders als Boche und Cochon bezeichnet. In feuchte Kellerräume wurden sie des Nachts gesperrt, wo sie ohne Decken auf dem nackten Fußboden schlafen mußten. Sie erhielten nichts, um ihren Hunger zu stillen, und für den Durst bekamen sie schlechtes, übelriechendes Wasser. Vielen wurden die Zähne ausgeschlagen. Krankheit, Erschöpfung, geschwollene Beine und Knie waren die Folgen bei den erbarmungswürdigen Opfern der französischen Sadisten. Die Franzosen trachteten besonders danach, die Regierungsbeamten und Bürgermeister, die ihnen vor allem infolge ihres Einflusses unbequem waren, in ihre Hand zu bekommen. Bot sich kein unmittelbarer Grund zur Verhaftung, so befahl man seine Opfer unter dem Vorwand einer Unterredung zur Militärbehörde, verhaftete dann den Ahnungslosen und verschleppte ihn im Auto. Dieses Verfahren war sehr beliebt, so daß der Regierungspräsident Grützner von Düsseldorf schließlich dem General Denvignes mitteilte, in Zukunft würden die deutschen Beamten derartigen Befehlen nicht mehr nachkommen. Grützner war selbst am 18. Februar auf diese Weise verhaftet und ausgewiesen worden.

  Ausweisungen  

Bis Anfang März waren [26] folgende Beamtenausweisungen aus den besetzten Gebieten erfolgt: 55 Postbeamte, 71 Eisenbahnbeamte, 279 Finanzbeamte, 600 Beamte der preußischen Gemeindeverwaltungen, 700 Polizeibeamte. Häufig auch hatten die Franzosen irgendeinen Grund, um mißliebige Deutsche drakonisch zu bestrafen. So verurteilte das Kriegsgericht in Bredeney den Oberbürgermeister Havenstein von Oberhausen zu drei Jahren Gefängnis, weil er durch Verweigerung der Lichtabgabe an den Bahnhof Oberhausen die Sicherheit der Besatzungstruppen gefährdet haben sollte. Bürgermeister Schäfer von Essen, der sich weigerte, Requisitionsbefehle zur Lieferung von Automobilen und Kohlen auszuführen, erhielt zwei Jahre Gefängnis und zehn Millionen Mark Geldstrafe. Gleichzeitig, am 16. Februar, wurde das Polizeipräsidium in Essen besetzt und sämtliche Polizeibeamte wurden verhaftet. Auch in Düsseldorf verhaftete und verschleppte man den Oberbürgermeister Köttgen. In Bochum, wo bereits am 20. Februar das Landgerichtsgebäude besetzt und der Oberstaatsanwalt Eitendinger verhaftet und fortgeführt worden war, sprengten die Franzosen die Stadtverordnetenversammlung und verhafteten den Oberbürgermeister, vier besoldete Stadträte und 18 Stadtverordnete, die nicht Vertreter der Arbeitnehmer waren.

Absatzstockung im Steinkohlenbergwerk Rheinpreußen.
[Bd. 5 S. 224b]      Absatzstockung im Steinkohlenbergwerk Rheinpreußen:
Kohlenhalden im Hafengelände.
      Photo Scherl.

  Besetzung der Zechen  

Aber keine noch so brutale Maßnahme vermochte den Geist und den Willen der Bevölkerung zu erschüttern. Das empörte die Franzosen, und ihre Wut kannte keine Grenzen. Die gewaltigen Kohlenbestände auf den Halden der Zechen konnten sie zwar auf Waggons laden und nach Frankreich transportieren. Es gelang ihnen, auf diese Weise bis Mitte Februar zehn Waggons Koks wegzuschaffen, die kaum insgesamt 150 Tonnen entsprachen. Was war das gegen eine deutsche Monatslieferung von 200 000 Tonnen vor der Besetzung! Die Unkenntnis der deutschen Verkehrseinrichtungen und der passive Widerstand der Bevölkerung machten sich sehr empfindlich bemerkbar. Und so kam es besonders auf den Gruben oft zu Zusammenstößen. Eines Nachts um halb eins wollten fünf französische Soldaten auf Zeche "Prinzregent" in Dortmund Brennholz stehlen. Doch [27] die Belegschaft versperrte das Tor, worauf die Franzosen schossen. Ein fünfzehnjähriger Arbeiter war sofort tot, ein anderer wurde am Hals verwundet.

Kein Mittel ließen die Feinde unversucht, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Sie kauften sich elende Subjekte, die ihnen Spitzeldienste verrichteten, und besonders mit den Kommunisten suchten sie sich gutzustellen, in der Hoffnung, daß diese irgendwie einen Putsch inszenierten und Verwirrung anrichteten; vielleicht eignete sich das Mittel des Bürgerkrieges eher dazu, den passiven Widerstand zu brechen. In der Tat kam es Anfang Februar auf der Zeche "Dorstfeld" zu einem Putsch, der aber kläglich scheiterte, da die überwiegende Mehrzahl der Bergarbeiter dem abscheulichen Treiben der Verräter entgegentrat. Einem Betriebsratsmitgliede der Zeche "Prinzregent" in Dortmund wurde ein täglicher Verdienst von 20 000 Mark geboten, wenn er sich bereit erkläre, die ihm täglich gestellten Fragen zu beantworten. Mit Entrüstung wurde das schmierige Ansinnen der Ingenieurkommission abgewiesen.

Weitere Ausdehnung
  der militärischen Besetzung  

Die französische Armee eroberte aber immer weitere Orte des Ruhrgebietes und Rheinlandes. Nachdem am 2. Februar Vohwinkel und Bahnhof Sinsen durch Infanterie und Kavallerie besetzt worden war, bemächtigten sich die Belgier am 13. Februar, morgens sieben Uhr, der Häfen von Wesel und Emmerich und brachten die dortigen Zollämter in ihre Gewalt. Eine Woche später okkupierten die Franzosen militärisch eine Anzahl Hauptzollämter, Zollämter und Betriebsinspektionen; sie vertrieben mit Gewalt die Beamten des Reiches und verwehrten ihnen den Zutritt. Dies geschah bei den Hauptzollämtern und den ihnen nachgeordneten Dienststellen in Krefeld, Kaldenkirchen, Cleve, Bochum und im altbesetzten Gebiet: Neuß, Ludwigshafen, Landau, Kaiserslautern, Trier, Linden, Frankenthal, Wörth und Zweibrücken.

Französische Geschütze im Ruhrgebiet.
[Bd. 3 S. 240b]   1923: Französische Geschütze
im Ruhrgebiet.
      Photo Scherl.
Franzosen und Belgier im Ruhrgebiet.
[Bd. 3 S. 240b]   1923: Franzosen und Belgier
im Ruhrgebiet.
      Photo Scherl.

Am 24. Februar wurden die Bahnhöfe Recklinghausen-Süd, Wanne und Herne besetzt, bei der Station Frintop begnügte man sich, sie greulich zu verwüsten. An den beiden folgenden Tagen rückten die französischen Soldaten, auch viele schwarze, in die sogenannten Flaschenhälse zwischen Mainz, Koblenz und Köln ein. So fielen die Städte Königswinter, Caub, Lorch, [28] Lorchhausen, Nieder- und Oberdollendorf in Feindeshand. Diese Maßnahme sei nötig, um die Rheinzollkontrolle wirksam zu gestalten. Am 3. März erschienen die Franzosen in Hafen, Zoll- und Werftanlage von Mannheim, im Hafen von Karlsruhe und in den Eisenbahnwerkstätten und dem Elektrizitätswerk von Darmstadt. Als Vorwand für diese Besetzung wurde angegeben, daß sie erfolgt sei, weil der Rhein-Herne-Kanal aufs neue durch absichtlich versenkte Kähne gesperrt worden sei, nachdem die französischen und belgischen Behörden die bereits vorher zerstörten Schleusen in Ordnung gebracht hätten. Infolge der britischen Weigerung, sich an der französisch-belgischen Ruhraktion zu beteiligen, besetzten die Franzosen, um die Zollmauer zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet zu schließen, rundherum um den von den Engländern besetzten Kölner Brückenkopf eine zehn Kilometer breite Zone, in denen die Städte Obergruiten, Vohwinkel, Cronenberg, Remscheid, Lennep, Bergborn, Hückeswagen, Wipperführt, Gimborn, Ründeroth und Drabenderhöhe lagen. Ohne jeden weiteren Grund wurde schließlich Mitte Mai Limburg a. d. Lahn besetzt. Am gleichen Tage drangen die Franzosen in den Höchster Farbwerken und der Badischen Anilin- und Sodafabrik Ludwigshafen ein, wo sie versuchten, Werkspionage zu treiben.

  Eisenbahnregie  

Auch andere Freveltaten wurden ausgeführt, um die Bevölkerung zu drangsalieren. Eisenbahnlinien und Telegraphen wurden zerstört, um die Zufuhr von Lebensmitteln abzuschneiden. Eisenbahner wurden schonungslos mit ihren Familien von Haus und Hof vertrieben, weil sie sich weigerten, in den Dienst der Feinde zu treten. Auf Befehl des Reichsverkehrsministers waren die Wasser-, Licht- und Kraftleitungen zu sämtlichen von Franzosen und Belgiern besetzten Bahnhöfen unterbrochen worden. Die Rheinlandkommission gab als Antwort hierauf ihre Verordnung 147 heraus, in welcher unter Androhung der Todesstrafe die deutschen Eisenbahner in den Dienst der fremden Gewalthaber gepreßt werden sollten. Wer vorsätzlich oder durch Enthaltung einen Eisenbahntransport gefährde, sollte mit dem Tode bestraft werden. Wer den Eisenbahnverkehr in schwerer Weise oder für lange [29] Dauer unterbreche, solle mit lebenslänglichem Zuchthaus oder Gefängnis bestraft werden. Die Verurteilten durften sogar in französische Gefängnisse überführt, also deportiert werden.

Aus Ehrang vertriebene Eisenbahner.
[Bd. 3 S. 256a]      Ruhrgebiet 1923:
Aus Ehrang vertriebene Eisenbahner.

Photo Scherl.
500 ausgewiesene Eisenbahner von Gerolstein auf dem Abtransport von Remagen nach Köln.
[Bd. 3 S. 256a]      1923: 500 ausgewiesene Eisenbahner von Gerolstein auf dem Abtransport von Remagen nach Köln, 24. August.      Photo Scherl.

Die Eisenbahn bildetet die Hauptsorge der Franzosen. Solange sie, die einzige Lebensader alles Wirtschaftslebens und aller militärischen Operationen, nicht wiederhergestellt war, war jede Hoffnung auf Erfolg der Besetzung vergebens. Ja, es zeigte sich, daß hier und da plötzlich von unbekannter Hand Eisenbahnstrecken zerstört worden waren, welche die Franzosen zur Beförderung ihrer Truppen brauchten. General Laignelot in Recklinghausen sah sich infolgedessen genötigt, die deutschen Beamten dafür verantwortlich zu machen, daß keine Zerstörungen an Schienensträngen, Fernsprech- und Telegraphenleitungen stattfanden. Der Franzose erklärte den Deutschen, daß sie gewissermaßen Geiseln seien für die Erhaltung der Verkehrswege in ihren Bezirken! Aus dem Hauptbahnhof Essen führten die Feinde Anfang März das gesamte rollende Material fort.

  Massenausweisungen  

Die Franzosen und Belgier mußten schließlich erkennen, daß sie machtlos waren gegen den passiven Widerstand der Eisenbahner. So gingen sie denn Anfang März dazu über, den Eisenbahnbetrieb in eigene Regie zu übernehmen, und anderthalb Jahre blieben von nun an die deutschen Eisenbahnen im besetzten Gebiet in französisch-belgischer Verwaltung. Der Reichsverkehrsminister verbot aufs neue den deutschen Beamten jede Unterstützung der Feinde. Daher kamen fremde Eisenbahner aus Frankreich und Belgien ins Land. Um ihnen Wohnungen zu verschaffen, begannen um Ostern unerhörte Massenausweisungen. Am Ostersonntag, dem 1. April, klebte an allen Straßenecken ein Plakat des Generals Degoutte mit dem Befehl, daß die Eisenbahner sofort die Arbeit wieder aufzunehmen hätten. Es war dies der letzte Versuch der Franzosen vor entscheidenden Maßnahmen, von dessen Erfolg sie indessen selbst innerlich wenig überzeugt waren. Die Eisenbahner erhielten einen Zettel mit dem Befehl: "Der N. N. hat binnen 24 Stunden seine Arbeit aufzunehmen, widrigenfalls er augenblicklich mit seiner Familie aus seiner Wohnung vertrieben wird." Diese Aktion [30] erstreckte sich auf das Ruhrgebiet und sämtliche von Franzosen und Belgiern besetzten rheinischen Teile, in denen die Bevölkerung und die Eisenbahner ebenfalls im passiven Widerstand verharrten.

Die Eisenbahner lehnten nach den Weisungen der Regierung jede Arbeit ab. So wurde die sofortige Ausweisung befohlen. Die Quartiere mußten innerhalb längstens 24 Stunden geräumt werden. Am Osterdienstag morgens verließen lange, traurige Züge von Eisenbahnerfamilien wie Flüchtlinge im Kriege, die Wagen mit notdürftigstem Hausgerät bepackt, ihre kleinen Häuser, ihre sauberen Gärten, ihr Vieh, – alles, was sie in jahrelanger Liebe gepflegt und vermehrt hatten. Es war ein erschütterndes Ereignis: Tausende, aber Tausende, nein, viele Zehntausende begruben ihr Glück in ihrem Herzen, und in mancher einfachen Brust wuchs, geschmiedet in einer Weißglut von Haß und Rache, ein bitteres, gar zu bitteres Heldentum empor! Zähneknirschend, mit finsterem Schweigen trugen die Männer ihren Heroismus, Frauen schluchzten, Kinder schrien und jammerten.

Franzosen vertreiben Arbeiter aus 
Rhein-Metall, Düsseldorf.
[Bd. 3 S. 224b]      1923: Franzosen vertreiben Arbeiter aus Rhein-Metall, Düsseldorf.
Photo Scherl.
Französische Posten vor Werkseingang.
[Bd. 3 S. 224b]      Ruhrgebiet 1923:
Französische Posten vor Werkseingang.

Photo Scherl.

Hart und unerbittlich waren die Schergen Frankreichs. Hochschwangere Frauen wurden hinausgetrieben, Fieberkranke wankten aus ihren Betten, Gelähmte humpelten an ihren Krücken fort. Die ursprüngliche Frist von 24 Stunden wurde bald auf wenige Stunden verkürzt, so daß die Unglücklichen nichts von ihrer Habe mitnehmen konnten. Wilde und rohe Spahis waren mit der Aufsicht über die Räumung betraut, und mit grinsenden Teufelsfratzen weideten sie sich am Anblick des unsagbaren Elends und vermehrten es, indem sie wehrlosen Frauen und Kindern Gewalt antaten. Hausgerät, Hühner, Enten, Gänse, Ziegen, Kaninchen – alles blieb zurück.

Den ganzen April hindurch wurden die Ausweisungen fortgesetzt. Ihr letztes Stadium erreichten sie anfangs Mai. Da lautete der Befehl: "Hinaus in zehn Minuten! Sämtlicher Hausrat bleibt zurück!" Spahis sorgten mit grausamer Wollust für strikte Durchführung. Den Ausgewiesenen wurde nicht einmal gestattet, sich reisefertig umzuziehen. Die Frauen mußten fort, wie sie aus der Küche und vom Waschtrog kamen. [31] Kinder, die in der Schule waren, durften nicht zurückgerufen werden und mußten zurückbleiben. Transportunfähige Kranke mußten zurückgelassen werden. Die Unglücklichen wurden wie gehetztes Wild zum Bahnhof gejagt, in einem Eisenbahnzug zusammengepfercht und ohne jede Erfrischung unterwegs ins unbesetzte Deutschland abgeschoben. Herzzerreißende Szenen spielten sich ab, und wilde Flüche fuhren auf die französischen Peiniger herab. Über die zurückgelassenen Habseligkeiten aber fielen französische Weiber her, und französische Eisenbahner machten es sich in den verlassenen Wohnungen bequem. Während des passiven Widerstandes wurden 22 606 Eisenbahner ausgewiesen, mit Familienangehörigen 57 584, 10 000 hiervon entfallen auf das Ruhrgebiet, die übrigen auf das Rheinland. –

Bereits Anfang Februar verboten die Franzosen deutschen Ministern, ins Rheinland zu reisen. Da die deutsche Regierung erklärte, für sie bestehe ein solches Verbot nicht, erließ der General Degoutte einen Befehl, welcher die Polizei und öffentlichen Organe anwies, die Minister, welche das Ruhrgebiet betreten würden, zu verhaften und dem Militärgericht zuzuführen; geschähe dies nicht, würden Sanktionen in Kraft treten, Städte und Ortschaften bestraft werden.

  Beraubung von Banken  
und Bahnzügen

Um sich in den Besitz deutschen Geldes zu setzen, beraubten französische und belgische Soldaten auf höheren Befehl Eisenbahnzüge und Banken. So wurde am 24. Februar auf Bahnhof Hengstey aus dem Berlin–Kölner Schnellzug ein Geldtransport der Reichsbank, der für Köln bestimmt war, geraubt. Etwa 13 Milliarden Mark Banknoten und 370 Platten zur Herstellung weiterer Noten wurden geraubt. General Degoutte begründete diesen Straßenraub damit, daß Deutschland nicht die Markvorschüsse für die Besatzungstruppen gemäß dem Rheinlandabkommen gezahlt habe. Die Fälle wiederholten sich. Am 4. März wurde eine Milliarde Mark bei der Reichsbank in Duisburg geraubt. Mit Gewalt wurde dem Beamten der Tresorschlüssel weggenommen, sämtliche Kassen wurden entleert. Auf diese Weise eigneten sich die Franzosen bis Mitte Mai 30 Milliarden [32] Papiermark an. Die Raubzüge wurden im Juni und Juli fortgesetzt. In Essen wurden der Reichsbank am 26. Mai 92 Millionen weggenommen, der Reichsbank in Mettmann am 1. Juni 77 Millionen, in Dortmund am 11. Juni sogar 52 Milliarden. Hier ließen die Franzosen außerdem Banknoten über eine Milliarde Mark herstellen und nahmen sie mit, außerdem beraubten sie zwei leitende Beamte tagelang der Freiheit. In Traben-Trarbach wurden am 15. Juni 270 Millionen erbeutet. Einen Monat später wurden 80 Milliarden aus der Reichsbank in Barmen entwendet, und Anfang September erleichterte man die Reichsbank in Duisburg um 50 Milliarden. Den ganzen September hindurch ereigneten sich tagtäglich Raubüberfälle auf Reichsbankstellen in den verschiedensten Städten des Ruhrgebiets.

Essen ohne Polizei. Spielwinkel.
[Bd. 3 S. 224a]      1923: Essen ohne Polizei.
Spielwinkel.
      Photo Scherl.

  Auflösung  
der Polizei

Die Grausamkeit, mit der die wehrlose Bevölkerung behandelt wurde, nahm im Laufe der Zeit nicht ab, sondern zu. Ende Februar hatte General Degoutte die Auflösung der Polizei für Essen, Stadt und Land, angeordnet. Die Beamten aller Dienstgrade der aufgelösten Polizeiorganisation wurden ausgewiesen. Es sollte eine Gemeindepolizei von höchstens 600 Mann gebildet werden, die sich nur aus Einheimischen zusammensetzen dürfe. Die Vernichtung der Polizei lag den Franzosen besonders am Herzen. War doch die Polizei das Rückgrat des Staates, die letzte Stütze aller Ordnung, und mußte doch nach ihrem Verschwinden für die dunklen Kräfte des Aufruhrs, der Kommunisten und der Verbrecher, die Gelegenheit besonders günstig sein, ihr ekelhaftes Handwerk zu treiben. Das aber wollten ja die Franzosen! Die Bevölkerung sollte ihres Schutzes beraubt werden, es sollte zum Bürgerkrieg kommen, um diesen verhaßten passiven Widerstand zu brechen. Den Augenblick, wo das Chaos an der Ruhr ausbrechen würde – und die Wahrscheinlichkeit hierfür lag nach den Ereignissen der früheren Jahre immerhin nahe –, sehnten die Franzosen inbrünstig herbei. Warteten sie ja doch vor allem darauf, daß die Separatisten, die fieberhaft arbeiteten, losschlagen würden, das Ruhrgebiet von Preußen losreißen und die Flammen des Aufruhrs zu den [33] Welfen nach Hannover tragen! Der Bürgerkrieg im Ruhrgebiet unter französischer Besetzung bedeutete den Untergang Preußens, das war die felsenfeste Überzeugung der Franzosen, ihr Wunsch, ihre Hoffnung. Diesem Aufruhr wollten sie die Wege bahnen, indem sie die Polizei, die letzte Stütze des Staates nach der Ausweisung vieler Beamten, beseitigten, sowie sie ihn förderten, indem sie die Lebensmittelzufuhr durch Zerstörung der Bahnstrecken erschwerten oder unterbanden. Mit ausgesuchter satanischer Roheit wurden die verhafteten Polizeibeamten behandelt, geradezu zu Tode gequält.

Die Polizeitruppen wurden auch anderwärts aufgelöst. Der Auflösung der Essener Polizei am 27. Februar folgte am 2. März diejenige der Polizei von Gelsenkirchen. Militär rückte ein, entwaffnete die Beamten und verhaftete sie. Ohne jeden Grund wurden in den einzelnen Polizeirevieren von den Franzosen grauenhafte Verwüstungen angerichtet. Am Morgen des 8. März besetzte eine Militärabteilung Dortmund, eigens zu dem Zwecke, die Schupo aufzulösen und sämtliche Beamte abzuführen; als dies geschehen war, verschwanden mittags die Soldaten wieder.

Furchtbare Bluttaten begingen die französischen Truppen im März. Schweigen wir von dem schauderhaften Schicksal jenes unglücklichen Buchhalters in Bochum, der verhaftet und so lange gepeitscht wurde, bis er besinnungslos liegenblieb und ihm das Hemd am blutigen Rücken festklebte. In Buer waren am 10. März gegen zehn Uhr abends zwei französische Offiziere, anscheinend von französischen Alpenjägern, erschossen worden. Am nächsten Morgen wurde ein Kriminalbetriebsassistent Burghoff, der nicht im entferntesten an der Mordtat beteiligt war, sondern sich um jene Zeit eine Stunde entfernt vom Tatort aufgehalten hatte, verhaftet. Ein Pole, der von dem Kriminalbeamten einmal verhaftet worden war, hatte ihn denunziert. Burghoff war zu dem Elektromonteur Wittershagen geflüchtet, und so wurde auch dieser verhaftet, trotzdem er ebenfalls ganz unschuldig war. Die beiden Unglücklichen wurden stundenlang im Polizeigefängnis in bestialischer Weise gefoltert und mißhandelt. Stundenlang hörte man das Klatschen der Peitschenhiebe, das dumpfe Schlagen der Gewehr- [34] kolben, das Wehklagen der Gemarterten, bis zwei Schüsse dem Leben der unschuldig Gequälten ein Ende machten. Die Leichen der Verstümmelten waren kaum noch zu erkennen.

  Bluttaten in Buer  

Nun aber begann ein wütendes Toben gegen die Bürgerschaft der Stadt Buer. Es war Sonntag. Die Kirchgänger verließen das Gotteshaus, mit Reitpeitschen und Kolbenstößen wurden sie auseinandergetrieben. Der Küster wurde mit Peitsche und Kolben mißhandelt und dann im Quartier der Alpenjäger bis zur Besinnungslosigkeit gefoltert. Ein Arbeiter wurde auf offener Straße niedergeschossen. Gäste der Straßenbahn wurden durch Bajonettstiche schwer verletzt, daß sie ins Krankenhaus gebracht werden mußten. Abends wurde in die Fenster, in denen Licht brannte, hineingeschossen, trotzdem kein Verbot erlassen war. Der Oberbürgermeister und zwei andere angesehene Bürger wurden als Geiseln festgenommen, indem man ihnen eröffnete, daß sie ohne Urteil erschossen würden, wenn weitere Gewalttaten gegen Franzosen vorkämen. Am nächsten Montag, dem 12. März, fuhr ein bewaffneter Trupp vor dem Gymnasium vor. Die Schüler, die auf dem Hofe waren, wurden mit Peitschenhieben und Kolbenstößen ins Gebäude getrieben; die Lehrer mußten im Konferenzzimmer in Reih und Glied antreten. Ein Studienrat, der im Kriege das rechte Bein verloren hatte, wurde mit Kolbenstößen traktiert, ein anderer erhielt Schläge mit der Reitpeitsche. Der Direktor wurde verhaftet. Die unglücklichen Opfer wurden sang- und klanglos begraben – verscharrt, weil die Franzosen es so befahlen.

  Bluttaten in Essen  

In der Nacht vom 17. zum 18. März wurde in Essen ein französischer Koch in einem von französischen Truppen besetzten Hotel am Hauptbahnhof erschossen. Darauf wurden am 19. März, morgens zehn Uhr, ein Reichstagsabgeordneter, der Landgerichtspräsident, der Reichsbankdirektor und je ein Direktor der Essener Großbanken als Geiseln verhaftet. Jedoch zu den ruchlosesten Taten, welche die Franzosen im Ruhrgebiet begangen haben, gehört das Blutbad von Essen, am Ostersonnabend, dem 31. März. An diesem Tage, morgens um sieben Uhr, besetzten französische Militärabteilungen ohne vorhergehende Ankündigung in den Kruppschen Werken die [35] beiden Hallen der Last- und Personenkraftwagen. Die Halle der Lastwagen wurde bald geräumt, während bei den Personenwagen ein Kommando von einem Offizier und elf Mann verblieb, die auf höhere Weisung wegen der Beschlagnahme warteten. Nun hatten Direktion und Arbeiterschaft vereinbart, daß, sobald feindliches Militär das Werk besetze, die Sirenen gezogen werden sollten, das Zeichen und die Aufforderung zur Arbeitseinstellung. Anderthalb Stunden, von neun bis halb elf, heulten die Signale. Die Arbeiter verließen ihre Werkstätten und versammelten sich vor der Kraftwagenhalle. Der Betriebsrat beruhigte die erregten Arbeiter und versuchte, obgleich vergeblich, die Franzosen zum Abzug zu bewegen. Die Franzosen sahen mit zunehmender Angst die erregte Menge vor sich, aus welcher die berechtigten Rufe der Empörung laut wurden. Eine Lokomotive, die hinter dem Schuppen stand und ihre Dämpfe abließ, erhöhte ihre Furcht. Sie sahen sich schon im Geiste von Dämpfen verbrüht, mit Steinen beworfen und von Knüppeln niedergeschlagen. In ihrer überhitzten Phantasie sahen sie die Arbeiter, mit Revolvern bewaffnet, ihnen zu Leibe gehen. Plötzlich, ohne daß etwas von Seiten der Arbeiter erfolgt wäre oder daß der französische Offizier zum Auseinandergehen aufgefordert hätte, kurz nach elf Uhr, eröffneten die Franzosen Maschinengewehrfeuer. Die Menge stob auseinander, wurde aber noch auf der Flucht weiter beschossen. Ohne daß ihnen ein Haar gekrümmt worden wäre, verließen die Franzosen das Werk, aber elf Tote, zum Teil Familienväter, und 30 teilweise schwer Verwundete ließen sie zurück. Am gleichen Tage wurden drei Mitglieder des Direktoriums und ein Abteilungsleiter der Kruppwerke ins Zuchthaus nach Werden abgeführt, da man ihnen die Schuld an dem Blutbad vorwarf.

Dieses Ereignis empörte sogar die Kommunisten, die sich sonst den Franzosen gegenüber sehr zuvorkommend benahmen. Das kommunistische Ruhr-Echo brachte am 8. April einen Aufruf, der Proletariermord von Essen sei ein Werk des französischen Imperialismus; am Tage der Beisetzung müsse die Bevölkerung des gesamten Ruhrgebietes in einen 24stündigen Proteststreik eintreten. Eine furchtbare [36] Erregung rauschte durch das Volk, aber sie war gedämpft und verzehrte sich durch sich selbst, denn man war wehrlos und durfte nicht Rache nehmen! Von nah und fern strömten zahllose Menschen zusammen, und die Beisetzung der Toten war eine gewaltige Demonstration, eine furchtbare Anklage gegen Frankreich. Zu diesem Begräbnis begaben sich auch der ehemalige Reichspostminister Giesberts und der frühere Ministerpräsident Stegerwald von Preußen. Doch als sie am 9. April, abends um zehn Uhr, bei Scharnhorst das besetzte Gebiet erreichten, wurden sie aus dem Zuge heraus verhaftet und in der Nacht nach Castrop verbracht, wo sie auf Schulbänken den Morgen erwarten mußten. Dann wurden sie über die Grenze ins unbesetzte Gebiet abgeschoben. Ein Reichsstaatssekretär, der sich in ihrer Begleitung befand, wurde erst am Abend zurückbefördert.

Die rapide Entwertung der Mark und die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung erleichterten den Kommunisten die Wühlarbeit. Sie gründeten, wie um diese Zeit überall im unbesetzten Deutschland, auch im Ruhrgebiet Rote Hundertschaften, die sich mit Waffen unbekannter Herkunft versahen. Die zunehmende wirtschaftliche Not, die Hoffnungslosigkeit, daß man kein Ende dieser französischen Besetzung absehen konnte, führten den Kommunisten mehr und mehr Anhänger zu. Mit Vorbedacht wiesen sie immer und immer wieder auf die Ruhrindustriellen als die allein Schuldigen hin, die noch von der kapitalistischen Regierung Cuno auf Kosten des Proletariats unterstützt wurden. Wer zahle letzten Endes die Zeche? Nur das Proletariat, denn der Kapitalist wisse, wie er die Lasten auf den wehrlosen Proletarier abwälze. Das war die demagogische Logik jener Leute, welche den Kämpfern an der Ruhr in den Rücken fallen wollten. Beträchtliche Geldmittel flossen den Ruhrkommunisten aus dem Auslande zu. Moskau beteiligte sich mit einer außerordentlichen Spende von 220 000 Goldmark zur Förderung des Klassenkampfes im Ruhrrevier. Auch ging das Gerücht, daß die Franzosen den Kommunisten finanzielle Unterstützungen zuteil werden ließen, außer der schon

  Kommunistenaufstand  
in Mülheim a. Rh.

erwähnten politischen Begünstigung. Am 18. April kam ein kommunistischer Auf- [37] stand in Mülheim an der Ruhr zum Ausbruch. Kommunisten, Syndikalisten und Verbrecher hatten sich gefunden. Banden rotteten sich zusammen und waren mit Gewehren ausgerüstet. Sie besetzten die Straßen der Stadt, errichteten an verschiedenen Stellen Barrikaden und plünderten die Kaufläden. Es entwickelte sich ein starkes Feuergefecht, das auf beiden Seiten Tote und Verwundete kostete. Da die Polizei sehr schwach war, mußte sie die Innenstadt vollkommen den Händen der Aufrührer überlassen. Erst als in der Nacht vom 19. zum 20. April Verstärkungen der Polizei aus Oberhausen und Duisburg eingetroffen waren, konnte am Morgen des 20. April die Stadt aus den Händen der Aufrührer befreit werden. Die Kommunisten riefen den Generalstreik aus, der aber kläglich scheiterte. Die Mehrzahl der Bergarbeiter bewies ihnen, daß sie nichts gemein haben wollte mit den Vaterlandsverrätern.

Begünstigung
  durch die Franzosen  

Während des Aufstandes begünstigten die Franzosen mit sichtlichem Wohlwollen die Aufrührer. Es erhob sich keine französische Hand zur Abwehr, im Gegenteil, sie erschwerte der Polizei die Arbeit. General Degoutte hatte anfangs verboten, daß von Duisburg Polizei nach Mülheim zum Schutz gegen den Aufruhr abgehen durfte. Erst nach eindringlichen deutschen Vorstellungen nahm er sein Verbot zurück. War ja doch der Aufstand das Ziel, welches Frankreich ersehnte, und es wünschte, daß der Bürgerkrieg bald das ganze Ruhrgebiet erfasse. Derartige Unruheherde bestanden auch in anderen Städten, ohne daß es dort zu ernstlichen Ereignissen gekommen wäre. Unter der erschütternden Wucht der Pein und Qual gelang es den Kommunisten nicht, ein großes Heer von Anhängern zu gewinnen für ihre verbrecherische Sache, die lediglich den Franzosen genützt, den Deutschen jedoch sehr geschadet hätte. Die Front des passiven Widerstandes konnte nicht durchbrochen werden, weder von den Franzosen noch von den Kommunisten. Es war eine geistige, sittliche Front, an welcher alle materiellen Gelüste kraftlos zerschellten. Das Heldentum, das fest entschlossen war, Opfer zu bringen, konnte nicht durch zweifelhafte Versprechungen von Glück und Wohlbehagen bezwungen werden. Wie bereits 1807, [38] irrten sich auch diesmal wieder die Franzosen gründlich in der Beurteilung des deutschen Charakters: er war in der Hauptsache nicht käuflich. Und die Lumpe, die es erwiesenermaßen gab, waren derart in der Minderzahl und derart verkommen, daß sie als Maßstab des normal empfindenden Deutschen nicht in Frage kamen. Ende Mai gelang es, in Bochum das kommunistisch-syndikalistische Hauptquartier auszuheben. Damit war den kommunistischen Umtrieben im Ruhrgebiet die Führung genommen.

  Umfangreiche Requisitionen  

Als die ersten drei Monate der Ruhrbesetzung vergangen waren, ohne daß es den Franzosen gelungen wäre, Deutschland zur Erfüllung seiner Reparationsverpflichtungen zu zwingen, gingen die Eroberer dazu über, durch Beschlagnahmungen selbst auf Reparationskonto Gegenstände zu requirieren. Auf Befehl aus Paris gab der Oberkommandierende, General Degoutte, dementsprechende Verordnungen heraus. Danach wurden sämtliche Waren und Erzeugnisse beschlagnahmt, welche alliierte Regierungen oder alliierte Staatsangehörige oder die deutsche Regierung auf Verlangen der Alliierten bestellt hatten auf Grund der Reparationsvorschriften. Außerdem wurden Maschinen, Vieh usw. von dieser Maßnahme betroffen, welche in den Lagern der deutschen Regierung vorhanden und bestimmt waren, der Restitution, d. h. der Rückführung der während des Krieges aus Belgien und Frankreich weggeführten Gegenstände zu dienen. Die Franzosen und Belgier führten die Restitution auch in der Weise durch, daß sie alle Gegenstände, die den alliierten Regierungen oder Staatsangehörigen gehört hatten, mit Beschlag belegten, ohne Rücksicht darauf, in wessen Gewahrsam sie sich befanden. Auch sollten Gegenstände aller Art, die der deutschen Regierung gehörten, für Reparationszwecke requiriert werden. Vieh und Maschinen, Kohle und Holz und Eisenbahnmaterial wurden in langen Zügen nach Westen transportiert. Man drang in Fabriken und Bergwerke und Schlachtviehhöfe ein, holte heraus, was man brauchte, und schob es nach Brüssel oder Paris ab. Es war kein Schutz vor diesem habgierigen Zugreifen, und unter dem Vorwand, die Reparationsverpflichtungen zu erfüllen, war jeder Deutsche [39] der legalisierten Beraubung durch die Eroberer preisgegeben. Widerstand nützte nichts, denn er wurde mit Gewalt gebrochen.

  Kriegsgerichte: Krupp  

Grausam geradezu war die Rechtsprechung der französischen Kriegsgerichte. Im Anschluß an das Blutvergießen zu Essen am Ostersonnabend hatten die Franzosen eine Anzahl Angestellte der Krupp-Werke verhaftet. Diese wurden beschuldigt, dadurch, daß sie die Sirenensignale befohlen hatten, ein Komplott gegen die Besatzungstruppen begangen und die öffentliche Ruhe gestört zu haben. Am 8. Mai hatten sich deshalb Dr. Krupp von Bohlen und Halbach und seine Direktoren vor dem Kriegsgericht in Werden zu verantworten. Krupp wurde mit drei gegen zwei Stimmen zu 15 Jahren Gefängnis und 100 Millionen Mark Geldstrafe verurteilt. Die neun andern Angeklagten erhielten insgesamt 130 Jahre Gefängnis und 750 Millionen Mark Geldstrafe. Sieben von ihnen wurden einstimmig verurteilt, in schmachvoller Gefangenschaft mußten die Unglücklichen sechs Monate ihrer Strafe – Krupp bis Ende Oktober, die übrigen bis Ende November – verbüßen, nachdem das Düsseldorfer Revisionsgericht die Berufung am 18. Mai verworfen hatte. In feuchten, kalten und dunklen Zellen wurden sie gehalten wie schimpfliche Verbrecher. Es war ihnen verboten, Besuche zu empfangen, selbst nicht von den nächsten Angehörigen. Es war eine Demütigung, die nicht nur den Führern der Industrie, sondern dem gesamten deutschen Volke angedacht war. Lloyd George nannte das Urteil eine prahlerische Brutalität, die Frankreichs Rücksichtslosigkeit kennzeichne.

Krupp-Prozeß vor dem französischen Kriegsgericht.
[Bd. 3 S. 240a]      Ruhrgebiet 1923: Krupp-Prozeß vor dem französischen Kriegsgericht im Mai.
Photo Scherl.

  Kriegsgerichte: Schlageter  

Schon am folgenden Tage, dem 9. Mai, fällte das französische Kriegsgericht zu Düsseldorf ein Bluturteil. Albert Leo Schlageter, aus Lörrach in Baden gebürtig, war mit sechs anderen Deutschen angeklagt worden, im März und April im Ruhrgebiet Nachrichten, gesammelte Berichte und Schriftstücke an deutsche Behörden übermittelt, Anschläge gegen Personen der Besatzungstruppen, Beamte der Verbündeten oder von ihnen abhängige Personen verübt zu haben. Außerdem warf man Schlageter vor, im März die Bahn Hügel–Essen [40] und im April den Werden–Kettwiger Bahnkörper durch Sprengstoff zerstört, beschädigt oder zu beschädigen versucht zu haben. Schlageter war als Kriegsfreiwilliger ausgezogen und 1918 als Offizier zurückgekehrt. Er hatte dann im Baltikum und in Oberschlesien mitgefochten. Er war ein 28jähriger Mann, erfüllt von heißer Liebe zu seinem Vaterlande. Sein Innerstes bäumte sich auf gegen die zügellose und frevelhafte Willkür, welche die Franzosen an der Ruhr entfalteten. Ein mannhafter Wille beseelte ihn, lieber tot als Sklave zu sein. In seinem Bestreben, den passiven Widerstand in einen aktiven zu verwandeln, fand der Todesmutige opferbereite Kameraden und Schicksalsgefährten. Sie vereinigten sich, die Regiebahnstrecken durch Sprengung unbrauchbar zu machen, die Kanalschleusen durch Versenken von Kähnen zu sperren. Nichtswürdige Subjekte, die von den Franzosen gekauft waren, verrieten die tapferen Männer den Feinden, und so gerieten sie in die Gewalt der französischen Häscher. Unbeugsam und voll Würde erschienen Schlageter und seine Freunde vor ihren unbarmherzigen Richtern. Schlageter wurde zum Tode verurteilt, sein Kamerad Sadowski zu lebenslänglicher Zwangsarbeit, zwei andere erhielten 20 und 15 Jahre Zwangsarbeit, die drei übrigen Gefängnis von fünf bis zu zehn Jahren.

Das Todesurteil über Schlageter gehört zu den erschütterndsten Ereignissen der jüngsten deutschen Geschichte. Am Tage nach der Urteilsverkündung schrieb der Todgeweihte an seine Eltern:

      "Höret das letzte, aber wahre Wort Eures ungehorsamen und undankbaren Sohnes und Bruders. Seit 1914 bis heute habe ich aus Liebe und reiner Treue meine ganze Kraft und Arbeit meiner deutschen Heimat geopfert. Wo sie in Not war, zog es mich hin, um zu helfen. Das letztemal hat mir gestern mein Todesurteil gebracht. Mit Ruhe habe ich es vernommen, ruhig wird mich auch die Kugel treffen, hab' ich doch alles, was ich tat, nur in bester Absicht ausgeführt. Kein wildes Abenteurerleben war mein Verlangen, nicht Bandenführer war ich, sondern in stiller Arbeit suchte ich meinem Vaterlande zu helfen. Ein gemeines Verbrechen oder gar einen Mord habe ich nicht begangen. Wie alle anderen Leute auch [41] über mich urteilen mögen, denkt Ihr doch wenigstens nicht schlecht von mir. Bemühet wenigstens Ihr Euch, das Gute zu sehen, was ich gewollt habe. Denkt auch in Zukunft nur in Liebe an mich und haltet mir ein ehrenvolles Andenken. Das ist alles, was ich in diesem Leben noch verlange. Liebe Mutter! Lieber Vater! Das Herz droht zu brechen bei dem Gedanken, welch gewaltigen Schmerz und welch große Trauer Euch dieser Brief bringt. Werdet Ihr sie ertragen können? Meine größte Bitte wird bis zu meiner letzten Stunde die sein, daß unser lieber Gott Euch Kraft und Trost senden möge, daß er Euch stark erhält in diesen schweren Stunden. Wenn es Euch irgend möglich ist, bitte ich Euch, nur noch einige Zeilen zu schreiben. Sie werden mich stärken auf meinem letzten Gang. Ich lege heute gegen das Urteil Revision ein."

Das Düsseldorfer Revisionsgericht verwarf jedoch am 18. Mai die eingelegte Berufung. Noch in letzter Stunde, am 24. Mai, wandte sich die deutsche Regierung mit einer Protestnote nach Paris. Das Verfahren gegen Schlageter könne ebensowenig wie das Verfahren französischer Kriegsgerichte gegen andere Deutsche, Krupp und seine Direktoren, beanspruchen, als Rechtsverfahren zu gelten. "Französische Kriegsgerichte haben kein Recht, auf deutschem Boden, den sie widerrechtlich betreten haben, über die Freiheit oder gar über Leben und Tod von Deutschen zu befinden." Auch dieser Schritt blieb erfolglos.

  Schlageters Erschießung  

Der 26. Mai war angebrochen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht traf in Düsseldorf der Vollstreckungsbefehl ein. Um zwei Uhr rüttelt der französische Offizier den ahnungslosen Schlageter aus dem Schlafe und liest ihm den Befehl vor. Hart und bleich ist das Gesicht des Deutschen; seine Stimme zittert, als er bittet, seinen Eltern einen letzten Gruß schreiben zu dürfen. Doch seine Schriftzüge sind fest:

      "Liebe Eltern! Nun trete ich bald meinen letzten Gang an. Ich werde noch beichten und kommunizieren. Also dann auf ein frohes Wiedersehen im Jenseits. Nochmals Gruß an Euch alle."

Der Seelsorger kommt. Fünf karge Minuten sind für Beichte und Kommunion bewilligt. Der französische Exekutionsoffizier muß während dieser Zeit auf Schlageters Verlangen die Zelle [42] verlassen. In wenigen Minuten ist er wieder da. Er fragt nach dem letzten Wunsche des Verurteilten: eine Zigarette. Draußen steht das Auto. Es jagt durch das Dunkel der Nacht nach dem Norden der Stadt. Am Rande des Nordfriedhofs, auf der Golzheimer Heide, hat eine Kompanie Aufstellung genommen. Fahler Morgen dämmert. Blasses Morgenrot wandelt sich schnell in leuchtendes Purpur. Die milde Frühe eines Maimorgens zieht herauf. Am Rande eines Steinbruchs ist eine Grube aufgeworfen, vor ihr ist ein Pfahl in die Erde gerammt. Das Exekutionsaufgebot, bestehend aus mehreren Offizieren und einer Gruppe Infanterie, steht seitlich. Schlageter wird zum Pfahl geführt. Mit klarer Stimme ruft er seinen Verteidigern ein lautes "Auf Wiedersehen" zu. Die Hände werden ihm an den Pfahl gefesselt, ein brutaler Sergeant drückt dem Helden, der aufrecht stehend den Tod erleiden will, die Knie durch, daß er zu Boden sinkt. Trommeln wirbeln. Die Kompanie präsentiert. Straff bäumt sich Schlageter empor, bis er kniet. Das Kommando "Feuer!" ertönt. Ein Dutzend Kugeln haben den im Todeskampfe zuckenden Leib zerfetzt. Ein französischer Offizierstellvertreter durchbohrt mit einem Revolverschuß den Kopf des Gemordeten. – So starb dieser Mann, dessen Leib wohl zerstört, dessen Geist aber nicht vernichtet werden konnte! Sein Tod drückte dem Heldentum an der Ruhr den Stempel des Tieftragischen auf. Er war gestorben als ein ganzer Mann, tief im Herzen die Liebe zu seinem armen, gequälten Vaterlande. Durch Deutschland aber ging ein Aufschrei des Zornes und der Empörung über die französische Verwegenheit, Deutsche um ihrer Vaterlandsliebe willen hinzurichten. Das Schicksal der elf Schillschen Offiziere, die vor mehr denn hundert Jahren in Wesel von französischen Soldaten standrechtlich erschossen worden waren, hatte sich in Schlageter wiederholt.

Alle Versuche der Franzosen, durch Erschwerung des Wirtschaftslebens und durch Hunger die Bevölkerung zur Kapitulation zu zwingen, scheiterten. Die Zivilbevölkerung vermied es, soweit es irgend anging, die Strecken der Regiebahnen zu benutzen. So wurde befohlen, den Verkehr mit Lastkraftwagen aufs äußerste einzuschränken oder ganz ein- [43] zustellen. Franzosen und Belgier waren dem Eisenbahnverkehr in keiner Weise gewachsen, und so geschah es, daß viele Lebensmittel, die aus dem unbesetzten Gebiet herangeschafft wurden, verdarben und verfaulten, weil sie den Verbrauchern nicht zugeführt werden konnten. Die Nervosität der Besatzungstruppen wuchs von Tag zu Tage, und es gelang ihnen nicht, den Eisenbahnverkehr voll in ihre Gewalt zu bekommen, auch wenn sie immer neue Bahnhöfe besetzten, wie Herne, Wanne, Gelsenkirchen und Altenessen am 5. Juni.

  Bluttaten in Dortmund  

Da ereignete es sich, daß in der Nacht vom 9. zum 10. Juni in Dortmund bei einem Streit zwei französische Feldwebel erschossen wurden. Die Täter wurden nicht ermittelt, aber es wurde sofort der Belagerungszustand über die Stadt verhängt. Als Sühne für die beiden Ermordeten wurde am 10. Juni abends zwischen neun und zehn Uhr eine Razzia auf die Bevölkerung veranstaltet. Eine von einem Offizier geführte Kolonne von 50 Mann zog durch die Straßen. Entgegenkommende Zivilisten, darunter ein junges Mädchen von etwa 20 Jahren, wurden mißhandelt mit Reitpeitsche, Fußtritten und Kolbenstößen und in der Kolonne mitgeführt. Sechs andere Passanten, darunter ein Schweizer Bürger, wurden ohne Anruf und Veranlassung von dem Offizier durch Pistolenschüsse niedergestreckt. Die im Zuge mitgeführten Zivilisten mußten die Leichen mitschleppen und an der Stelle niederlegen, an der in der vorhergehenden Nacht die beiden Franzosen erschossen worden waren. Noch die Leichen wurden von den Soldaten mit Füßen getreten! –

  Mißerfolg der Micum  

Trotzdem im April verkündet worden war, daß die Franzosen und Belgier auf eigene Faust sich die Reparationslieferungen verschaffen würden, war die Mission interalliée (Micum) mit dem Ergebnis höchst unzufrieden. Der passive Widerstand der Bevölkerung und die Unfähigkeit der Franzosen und Belgier, den Verkehr auf dem deutschen Eisenbahnnetz zu bewältigen, zeigten doch, daß auch das anbefohlene Raubwesen nicht die erwarteten Erfolge brachte. General Degoutte verordnete deshalb am 19. Juni, daß die Berg- und Hüttenwerke von den Franzosen in Besitz genommen werden könnten, wenn die geforderten Gegenstände nicht [44] geliefert würden. Diese Werke könnten entweder von der französischen Besatzungsbehörde selbst betrieben oder auf dem Wege der Konzessionen an andere Unternehmer vergeben werden. Verweigerung der Lieferung sollte mit Gefängnis bis zu 15 Jahren und mit einer Geldstrafe bis zu 150 Millionen Mark bestraft werden. Sabotageakte wurden mit dem Tode bedroht, und Direktoren, welche diese nicht verhinderten, würden ebenfalls mit 15 Jahren Gefängnis und 150 Millionen Mark bestraft. Als Ergänzung hierzu kam vier Tage später eine Verordnung heraus, wonach sämtliche Kohlenlager im besetzten Gebiet, deren Ausnutzung die französisch-belgische Kontrollkommission für nötig erachtete, beschlagnahmt werden sollten. Aber auch dies half nicht viel. Denn es erwies sich, daß die Franzosen, die noch im Mai 5355 Tonnen Kohle und 7000 Tonnen Koks von den Ruhrhalden nach Frankreich verluden, im Juli nur noch 4365 Tonnen Kohle und 3500 Tonnen Koks verfrachten konnten. Welchen Mißerfolg hatte die Micum, da sie infolge des passiven Widerstandes kaum in der Lage war, den zwanzigsten Teil von den Mengen zu versenden, welche Deutschland aus den Ruhrzechen herausholte! Die französischen, von Degoutte im Juni gebilligten und angeordneten Bemühungen, selbst in die Schächte zu steigen und Kohlen zu fördern, schlugen fehl. –

Eine besondere Erschwerung für die Deutschen bestand noch darin, daß seit Mitte Juni nach einer Ordonnanz der Rheinlandkommission Einfuhrzölle und Gebühren im besetzten Gebiet nicht mehr in deutscher Mark, sondern in hochwertigen Devisen entrichtet werden mußten. Bei dem Tiefstand der deutschen Währung mußte diese Bestimmung geradezu ruinös auf das deutsche Wirtschaftsleben wirken. Viele deutsche Importeure suchten sich deshalb der Vorschrift zu entziehen, doch sie wurden mit drakonischen Strafen bedacht. Man drohte ihnen mit Strafen bis zu 10 000 Goldmark und Gefängnis bis zu fünf Jahren. Bei Zollhinterziehung mit einer Geldstrafe bis zu 20 000 Goldmark.

  Drakonische Verordnungen  

Das Verhalten der Franzosen war keineswegs geeignet, sich [45] die Sympathien der Bevölkerung zu erwerben, denn schon der geringste Anlaß genügte den Eroberern, drakonische Maßnahmen zu treffen. In der Nacht des 30. Juni überfuhr ein mit belgischen Soldaten besetzter Personenzug die Brücke zwischen Duisburg und Rheinhausen. Plötzlich explodierte in einem Abteil ein Sprengkörper, und außer großem Sachschaden gab es neun Tote und etwa 40 bis 50 Verwundete. Sofort sperrte die Rheinlandkommission den gesamten Verkehr zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet bis 16. Juli mitternachts. Die Sperre wurde nachträglich noch um zehn Tage verlängert. Die Stadt Duisburg hatte außerdem 30 Milliarden zu zahlen. Auch später, am 3. September, wurde nochmals aus einem anderen nichtigen Anlaß eine Verkehrssperre verhängt.

  Überfall auf Barmen  

Im Juli hatten französische Zollbeamte und Soldaten die Grenze des besetzten Ruhrgebietes überschritten, versehentlich, wie sie behaupteten, und waren dabei an deutsche Polizisten geraten. Hierbei ergab sich ein kleiner Konflikt, den die Franzosen benutzten, um in der Frühe des 13. Juli mit Panzerwagen und Maschinengewehren in Barmen einzurücken, das Rathaus, die Post, die Reichsbank und die Handelskammer zu besetzen, 80 Milliarden aus der Reichsbank und die Akten der Düsseldorfer Regierung aus dem Rathaus zu rauben und schließlich den Reichsbankdirektor und eine Polizeihundertschaft zu verhaften. Nachdem dies geschehen war, verließen sie die Stadt mittags wieder. Im übrigen hatten es die Franzosen seit dem Juli darauf abgesehen, durch die Besetzung industrieller Werke (Bochumer Verein 10. Juli, Phönixwerke in Duisburg 4. September) und durch Ausrauben der Reichsbankstellen (Duisburg, Essen, Dortmund, Neuwied usw.) sich möglichst für den Ausfall der deutschen Reparationen zu entschädigen.

So vergingen acht Monate, ohne daß einer der Kriegführenden an der Ruhr einen endgültigen und unbestrittenen Sieg verzeichnen konnte. Wohl erkannten die Franzosen, daß sie, wie auch im Weltkrieg, einen militärischen Erfolg nicht zu verzeichnen hatten. All ihre Mittel der Grausamkeit und Bestechung waren unzulänglich, die heroische Standhaftigkeit [46] der Bevölkerung zu erschüttern. Sie wußten, daß es ihnen nicht gelungen war, acht Monate hindurch unter Anwendung schlimmster und fürchterlichster Mittel den passiven Widerstand zu brechen. Sie wußten, daß es ihnen nie gelingen würde, in absehbarer Zeit aus eigener Kraft Reparationsleistungen zu erbeuten und die deutschen Eisenbahnen zu beherrschen. Und weil all dies so war, hatten sie auch keinen militärischen Sieg zu erwarten. Dennoch aber waren sie voll Zuversicht auf ihren schließlichen Erfolg. Sie erhofften ihn nicht von ihren Waffen, sie erhofften ihn von der Politik, von ihrer eigenen, und vor allem von der deutschen! Wie schon einmal fünf Jahre vorher, so ereignete sich

Aufgabe des
  passiven Widerstandes  

auch wieder im Herbst 1923 jene erschütternde Tragik: das deutsche Volk, durch Waffen nicht bezwungen, brach in sich zusammen. Müde und ausgehungert war Deutschland, und aus dem Zusammenbruch der Nerven, unterstützt durch die kleinliche Angst vor dem Anschwellen der nationalen Idee, entwickelte sich der Zwist und Hader der Parteien, der den Blick auf das große Ziel verdüsterte, Deutschland taumelte und kapitulierte. Die drosselnde Not des wirtschaftlichen Unterganges saß ihm an der Kehle, und so geschah es, daß am 26. September die Reichsregierung zur Einstellung des passiven Widerstandes aufrief. Die Bevölkerung des besetzten Gebietes habe namenloses Leiden erduldet, das Wirtschaftsleben im besetzten und unbesetzten Deutschland sei zerrüttet, es sei Zeit, den Kampf zu beenden.

So kam es, daß, während die Franzosen noch bis an die Zähne bewaffnet an der Ruhr standen, die Deutschen die Demütigung auf sich nahmen, unter der Herrschaft und Aufsicht der Feinde zu arbeiten. Der Kampf war zu Ende, der 121 deutschen Männern und Frauen das Leben, 180 000 Deutschen aber Haus und Hof und Heimat gekostet hatte. Und dennoch war es ein Pyrrhussieg für Poincaré. War es denn nur die Absicht gewesen, Deutschland für nicht gelieferte Reparationsleistungen zu bestrafen, als die Armee der Französischen Republik in das Ruhrgebiet einfiel? Thukydides unterscheidet in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges zwischen den tieferen, [47] unsichtbaren, gewissermaßen geistig-sittlichen Ursachen, und dem äußeren Anlaß der großen geschichtlichen Ereignisse. Für Poincaré waren die sogenannten deutschen "Verfehlungen" nur der äußere, willkommene Anlaß für den Krieg an der Ruhr gewesen. Die tieferen, unsichtbaren, geistigen Ursachen waren ganz andere: es war der Wille Frankreichs, das verhaßte Deutsche Reich durch Abschnüren seiner Hauptwirtschaftsader in den politischen Zerfall, die Auflösung in territoriale Atome herbeizuführen. Fieberhaft schürte die französische Propaganda im Jahre 1923 die separatistische Bewegung am Rheine, sie streckte ihre habgierigen Finger nach Bayern aus und hoffte auf die Welfen in Hannover. Mit Genugtuung verfolgte man in Paris die Zerfleischung der deutschen Parteien untereinander. Von Monat zu Monat erwartete man sehnlichst das Ende des verhaßten Reiches, es stehe ganz nahe vor dem Zusammenbruch, nur noch ein kleines Weilchen Geduld!

Es war also nicht bloß ein Kampf der Wirtschaft und der Soldaten, der sich an der Ruhr abspielte, es war vielmehr ein Kampf der Geister. Es war vielleicht einer der gewaltigsten geistigen Kämpfe, die je in der Welt mit politischen Mitteln ausgetragen worden sind und der schließlich doch mit dem Siege desjenigen Gegners endete, der einer stark bewaffneten militärischen Übermacht nicht einen einzigen Soldaten entgegenstellte! In unbezwingbarer Treue stand das Volk an Rhein und Ruhr zu seinem Vaterlande, zu seinem Reiche. Es scheute nicht die schrecklichsten Opfer an Gut und Blut, um sich den Stolz und die Freiheit des Geistes zu bewahren. Es ließ sich quälen, knechten, demütigen, foltern, – bezwingen ließ es sich nicht. Und deshalb empfand Poincaré seinen politischen Sieg nur als einen unvollkommenen, unbefriedigenden. Denn das Deutsche Reich war ihm durch die Kapitulation zuvorgekommen. Als das Gebäude des Reiches unter den Stößen der schweren wirtschaftlichen Not zu wanken begann, als im besetzten und unbesetzten Deutschland Kräfte zu wirken begannen, welche ein Chaos herbeizuführen drohten, da kapitulierte die Regierung. Indem sie den kleinen Kriegsschauplatz an Rhein und Ruhr preisgab, siegte sie auf dem [48] großen des gesamten Reiches, sie setzte den zerstörenden Kräften aufbauende, gestaltende gegenüber und rettete die unversehrte Einheit Deutschlands.

Deutschland unterlag 1918, als es einer Welt von Waffen gegenübergestanden hatte, es siegte 1923, als es ohne Wehr und Waffen den Franzosen gegenüberstand. Bei der Beurteilung der Kapitulation vom 26. September müssen nicht nur die äußeren militärischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte berücksichtigt werden, sondern vor allem die inneren politischen und geistigen. Frankreich verzeichnete einen augenblicklichen Scheinerfolg, der dauernde Sieg war auf Deutschlands Seite, nicht zuletzt durch die unerschrockene Standhaftigkeit von dreizehn Millionen Deutschen an Rhein und Ruhr.

Der Ruhrkampf
  im Urteil des Auslandes  

Alle Welt war davon überzeugt, daß Frankreich in der unwürdigsten Weise gehandelt hatte, als es gegen Deutschland marschierte. Dennoch fand Deutschland nicht einen Bundesgenossen, der es tatkräftig verteidigt, beschützt hätte, es stand ganz allein auf sich. Die englische Regierung richtete am 11. August an Frankreich und Belgien eine Note, worin sie den französischen Rechtsbruch geißelte und den passiven Widerstand der deutschen Bevölkerung anerkannte.

      "Die höchsten juristischen Autoritäten in Großbritannien haben S. M. Regierung davon unterrichtet, daß die Einwendungen der deutschen Regierung wohlbegründet sind. S. M. Regierung hat niemals ihre Ansicht verhehlt, daß die französisch-belgische Aktion der Ruhrbesetzung, ganz abgesehen von der Frage der Zweckmäßigkeit, keine durch den Vertrag selbst gerechtfertigte Sanktion war."

Selbst die Besetzung von Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort, an der sich auch England vorübergehend beteiligte, sei nicht durch den Versailler Vertrag gerechtfertigt. Es sei vielmehr eine gemeinsame Bedrohung Deutschlands durch die Alliierten gewesen, ebenso, wie sie es auch mit Erneuerung des Krieges hätten bedrohen können. Es sei auch nicht zulässig, daß Frankreich sich auf § 18 der Anlage II zu Teil VIII des Versailler Vertrages stütze. Über die militärische Besetzung spreche sich lediglich Teil XIV des Vertrages aus, der sich mit den Bürgschaften befasse. Artikel 430, [49] der im Falle der Nichterfüllung durch Deutschland eine Wiederbesetzung etwa schon geräumten Gebietes vorsehe, würde vollkommen überflüssig sein, wenn die Verbündeten schon aus einer weiteren Klausel des Vertrages ein unbeschränktes Recht hätten, deutsches Gebiet zu besetzen. – Auch Lloyd George, der mächtigste Mann Europas bis zu seinem Sturze, sprach sich in zahlreichen Aufsätzen scharf gegen die französische Ruhrbesetzung aus. So schrieb er am 11. September 1923, Frankreich habe mit Gewalt Gebiete seines Nachbars besetzt, im direkten Gegensatz zu den Bestimmungen des Versailler Vertrages. Die Sieger seien ängstlich bemüht, ihre eigene Urkunde in Mißkredit zu bringen.

Amerika protestierte offiziell gegen die Ruhrinvasion, indem es noch im Januar seine Truppen aus Koblenz zurückzog und seine Besatzungszone den Franzosen überließ. Wilson, der einst für Frankreich den Krieg gegen Deutschland erklärt hatte, meinte (11. November 1923), Frankreich und Belgien seien dahin gekommen, den Versailler Vertrag als einen Fetzen Papier zu betrachten. Kurz vor seinem Tode erklärte er: "Ich möchte es brennend gern sehen, wenn Deutschland Frankreich ausrottete, und würde gern Jusserand, dem französischen Botschafter, begegnen, um ihm dies ins Gesicht zu sagen."

Nitti, dessen wir schon öfter gedachten, schrieb in seiner Tragödie Europas, der Einbruch in das Ruhrgebiet sei die ungeheuerlichste Verletzung des Völkerrechts und der größte internationale Raubakt, dessen die Geschichte gedenke. Erschütternd ist die kurze Schilderung über die Franzosen an der Ruhr, und sie sei, als Urteil eines ehemals führenden italienischen Staatsmannes, hier wiedergegeben:

      "Gewalt und Tod ergossen sich vom ersten Tage an wie ein Bergstrom über das Ruhrgebiet. Frankreich scheute sich nicht, ebenso wie in das hochgebildete Rheinland, auch in dieses Industriegebiet, das die erlesensten Techniker der Welt sein eigen nennt, die Söhne der afrikanischen Kannibalen als Vertreter der neuesten Kultur Versailles' zu schicken. Die von den französischen Besatzungsbehörden erlassenen Verordnungen bilden ein Denkmal der Gewalt, das in der modernen Geschichte Europas ohne Beispiel ist.
[50]     Edle deutsche Patrioten, Männer in hoher Stellung, wurden mit solcher Brutalität behandelt, daß sie oft dem Tode nahe waren; in die Gefängnisse geworfen und mit Vagabunden zusammengesperrt, blieben sie ohne Pflege und ärztliche Behandlung. Und unter ihnen waren Bürgermeister großer Städte und Männer höchster sozialer Stellung. Mit den Arbeitermassen sprang man mit maßloser Grausamkeit wie mit wilden Tieren um. Nichts war mehr heilig, weder öffentliche Gebäude noch Privathäuser, nicht einmal Armenasyle und Hospitäler. Was nur irgendeinen Wert hatte, fiel der Beschlagnahme oder der Verwüstung anheim.
      Von einem Skandinavier und einem Amerikaner, die sich auf den neuesten französisch-belgischen Kriegsschauplatz begeben hatten, sind mir Sammlungen und Photographien zur Verfügung gestellt worden, die Beispiele scheußlicher Entartung geben und mich mit Ekel und Schauder erfüllt haben. Männer wurden gepeitscht, Kinder totgeschlagen, Häuser und Büros geplündert – Szenen, wie sie nur der wildeste Sadismus sich vorzustellen imstande ist. Ohne Zweifel sollte hier das infame Wort Clemenceaus, daß in Deutschland zwanzig Millionen Menschen zuviel seien, seine erste Anwendung finden. Aber das wahre Ziel war doch, die deutsche Produktion und damit das Gesamtleben Deutschlands bis zu dem Grade zu zerrütten, daß die soziale und politische Auflösung des Reiches sich automatisch daraus ergeben mußte."

  Die politische Karikatur  

Aber nicht nur die führenden Staatsmänner des Auslandes, auch sämtliche Völker Europas gaben ihr Urteil ab über die Gewalttaten der Franzosen an der Ruhr. Die Sprache der Völker ist die Presse, aber tausendmal wirksamer als lange Abhandlungen und Erörterungen ist die Zeichnung, die Karikatur. Und so finden sich in den Zeitungen jener Zeit zahlreiche Karikaturen auf Poincaré und die Franzosen.

In Deutschland karikierten besonders der Kladderadatsch und der Simplizissimus die Politik Poincarés. Hier wird der französische Premierminister als Gefängniswärter, dort als Einbrecher mit Blendlaterne und Dietrich abgebildet. Auf einer anderen Zeichnung wird er als Sisyphus dargestellt. Auch die Rolle des Xerxes wird ihm zugelegt: "Wie er auch peitscht, [51] der ekelhafte Hasser, all seine Wut bleibt doch ein Schlag ins Wasser." Auch Degoutte, der Kommunisten- und Einbrechergeneral, der napoleonische Herostrat, und seine Soldaten geben dankbare Bilder ab.

War in Deutschland besonders die rechtsgerichtete Presse fruchtbar in der Karikatur auf den Ruhrkampf, so waren es in Frankreich die kommunistischen und sozialistischen Blätter: "Ere nouvelle", "L'Oeuvre", "L'Humanité", "Progrès civique", "Le Peuble". Jedoch die eiserne Faust Poincarés verhinderte hier, daß jene Deutlichkeit wie in Deutschland zum Durchbruch kam. Die Zeichnungen sind wesentlich zahmer.

Auch England sparte nicht mit Spott, besonders über die französische Habgier, die nie genug Reparationen bekommen kann. Auf einer Zeichnung des John Bull in London ist ein Felsblock mit der Inschrift "Ruhr" dargestellt. Auf ihm steht Poincaré mit der Trikolore und ruft: "Hier bin ich, hier bleib' ich!" Um den Felsblock herum breitet sich ein Meer, das als Weltmeinung gekennzeichnet ist, und in einem Kahn fährt John Bull davon, der nach rückwärts gewendet Poincaré zuruft: "Gib aber acht auf die Flut!" In den Niederlanden, in der Schweiz, in Schweden, in Italien und Rußland, überall tauchten Bilder in den Zeitungen auf, welche Poincaré als brutalen Mars verspotteten. Nie hat sich die politische Karikatur so ausgiebig auf Frankreichs Kosten betätigt, wie im Jahre 1923, da Poincaré als moderner Don Quichotte eine Armee gegen Windmühlenflügel kämpfen ließ. –



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra