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[Bd. 4 S. 24]
Paul de Lagarde, 1827 - 1891, von Mario Krammer

Paul de Lagarde.
Paul de Lagarde.
[Nach wikipedia.org.]
Mancherlei Züge vereinen sich zu dem Bilde Paul de Lagardes. Wer die klingenden und ergreifenden Stellen seiner Schriften vor Augen hat, dem erscheint er wie einer der versonnenen Söhne des Mittelalters, in deren Zelle und Herz das ewige Licht hineinleuchtete. Wen daneben die Fülle des Herben und Scharfen bei ihm berührt, der sieht einen Preußen vor sich, einen kritischen Protestanten. Fra Angelico ist in ihm mit dem Ritter Bayard verbunden, dem Streiter ohne Furcht und Tadel. Bald schaut er uns an mit den Augen eines Kindes, bald reitet er, eine Dürersche Gestalt, in eiserner Rüstung gegen Tod und Teufel.

Als ein Sohn des alten Berlin, in den stillen Tagen der späten Romantik, in der Biedermeierzeit Friedrich Wilhelms III., am Tage Allerseelen, dem 2. November 1827, im Hause Kochstraße 27, wurde Paul Anton Boetticher oder, wie er seit 1854 hieß, Paul de Lagarde geboren. Sein Vater Wilhelm Boetticher war Professor am benachbarten Friedrich-Wilhelm-Gymnasium. Die Familie war in Berlin nicht heimisch. Sie entstammt dem alten Deutschland westlich der Elbe. Durch die Großmutter de Lagarde, deren Name im Enkel noch einmal aufleuchtete und erlosch, die aus einem Geschlecht lothringischer Refugiés kam, war etwas von der herben Art der Hugenotten in sein Blut gelangt. Auf diese Herkunft von alten Niedersachsen und Glaubensflüchtlingen ist Lagarde immer stolz gewesen. Doch hat er in manchem, wie seiner Sprechweise, seiner Vorliebe für Fontane und die Vossische Zeitung auch den "echten Berliner" nicht verleugnet.

Rang und Ruhm Berlins liegen darin, daß es seit dem achtzehnten Jahrhundert die Deutschen zur geistigen Klarheit geführt hat. Aber auch das Meer der Seele schlug hier seine dunklen Wellen. Sogar in der Friedrichsstadt konnte man sich träumend ins Innere versenken. In Lagardes Jugend war es dort anders als jetzt: "unendlich still, Gärten an Gärten voll Baumblüte und Vogelsang im Frühlinge, voll Trauben, Äpfeln, Birnen im Herbste, und nachmittags voller Kinder, welche das Wiesel mitten in der Stadt jagten und nie ein Bedürfnis fühlten, frische Luft außerhalb der Stadtmauern zu suchen." Im Sommer wohnte die Familie am Kreuzberg. Von der späteren Königgrätzer Straße tönte an lauen Abenden das Quaken der Frösche herüber. "Da war", so schreibt er, "das Hauptquartier meiner Freuden. Guter Gesellen gab es da genug und neben ihnen die tiefe Einsamkeit märkischen Sandes und der Bäume des dusteren Kellers. Damals sangen die Lerchen über mir an Stellen, wo jetzt längst Haus an Haus steht." [25] Glockenübertönt war die Stadt voll "Poesie", eine wahre Heimat. In ihr lebte das Kind wie eine Pflanze, wie später lechzend nach Einsamkeit. Seinem inneren Blick erschloß sich eine höhere Welt. "Ich hatte", sagt er, "die Zinnen der ewigen Stadt früh von ferne gesehen und wollte mir den Weg hinauf schon erfechten, als meine Altersgenossen noch auf Steckenpferden ritten." Der Wille zum Guten, die Ahnung Gottes regte sich in ihm.

Er bedurfte jener Feiertagsstimmung, wie sie ihm hernach auf hohen Bergen oder am Meer zuteil wurde, wo der "Glockenton durch die große Natur weht". Bei Eichendorff und bei seinem Lehrer Rückert in Neuses hatte er später das Bewußtsein, in einer "besseren Welt zu leben". "Da ist", sagt er, "ewiger Sonntag; die Sonne scheint so warm, und die Tauben gurren auf dem Dache. Unten aber wandelt ein froh-ernster Mensch." Er fand in Rückert eine "schöne Wärme des freiesten Glaubens". Ein Leben in Gott gab es während seiner Jugend in Berlin nur da und dort in stillen Kammern, "die Stadt als solche kannte es nicht." Von Lagardes Vaterhaus waren es nur wenige Schritte durch die Mauerstraße zum Pfarrhaus der Dreifaltigkeitskirche, wo Schleiermacher wohnte. Er war Philosoph und Theologe, er vereinigte Frömmigkeit mit scharfem Denken. Lagarde hat als Kind mehr als einmal auf des beweglichen, kleinen Mannes Schoß gesessen, der ihm "Sandtorte und Graves" von seinem Frühstückstisch abgab – "sein Leibwein war eigentlich Chambertin" –; es gehörte zum guten Ton, seine Predigt zu hören, aber eine rechte Gemeinde erzog er nicht. Dem Kinde kam seine Art sonderbar, fast närrisch vor. Auch die anderen "Gottesmänner" der Stadt scheinen keinen dauernden Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Nur die alte, kultische Feier der Christmette in St. Nikolai goß ihm heilige Schauer übers Herz: "Wachslichter an Wachslichtern leuchteten vor den Bänken, der schon Sitzende ließ den Späterkommenden an seiner Kerze anzünden, in die dunklen, hohen Wölbungen flackerte der matte Schein hinauf, die Orgel brauste durch den gewaltigen Raum und man saß da, Ahnungen der ewigen Welt und Hoffnung auf die grüne Tanne der nächsten Stunde in dem jungen Herzen. Einmal im Jahr."

In dieser Zeit, 1834, starb Schleiermacher, und sein orthodoxer Gegner Hengstenberg, "ein gemüt- und kenntnisloser Herr", gewann in Berlin an Boden. Der Aufschwung der Romantik war erlahmt. Die Menschen spürten den Wiederaufstieg des ungläubigen Geistes der Vernunft, besonders nach der Pariser Revolution von 1830. Aber statt das seelenweckende Werk Goethes und seiner Zeit weiterzuführen, klammerten sich die christlich Gesinnten an den Wortlaut der Bibel und Lehre. Ihr eifriger Anhänger wurde Lagardes Vater. Vielleicht erschüttert durch das frühe Hinscheiden seiner ersten jugendlichen Frau, der Mutter Pauls, die wenige Tage nach seiner Geburt starb, suchte er seinen Halt in strenger "pietistischer" Gläubigkeit, die sich in zahlreichen, wunderlichen Traktaten äußerte, und umgab sich mit Gleichgesinnten, deren Frömmigkeit schon seinen Kindern nicht immer echt vorkam. Hengstenberg und die Seinen bemühten sich, "recht [26] in altem Sinne fromm und gläubig zu sein", aber es war ein Zwang, den sie sich und anderen antaten. Gerade als eine schöpferisch-religiöse Natur lehnte Lagarde sich gegen den tyrannischen Vater innerlich auf, dessen Einfluß nur hinreichte, ihn jahrelang zu hemmen, so daß er sich "krumm gewachsen" nannte und mit Grauen jede Erinnerung an diese Seite seiner Jugend zurückwies. Weil er ein Heiliges gegen seine Umwelt zu hüten hatte, wurde er ein Kämpfer. Mangelndes Verständnis und äußere Entbehrungen, denen beiden er auch hernach ausgesetzt war, haben ihn gestählt, aber auch verbittert und gereizt.

Wie Sokrates stand er den Altgläubigen und den Sophisten einer großen Stadt gegenüber. Um den Gott, der aus ihm sprach, zu verteidigen, bedurfte er des Rüstzeuges der Kritik und Dialektik, der Geschichte und Sprachenkunde, klaren Denkens und reichen Wissens. Aus jeder seiner Schriften treten diese beiden Züge hervor. Wie ein Fechter oder Feldherr treibt er den Gegner mit dem Degen seiner Schlüsse zurück, bewirft er seine Stellung mit der Fülle urkundlicher Zeugnisse. Er war ein begabter, gut beobachtender, arbeitskräftiger und mutiger Mensch, er wuchs in einem gelehrten Kreise auf, und was ihm das Haus an geistiger Nahrung weigerte, gab ihm die Stadt, gab ihm das Land.

Die Orthodoxen sahen nach der Weise des Altprotestantismus in der Lutherschen Bibel schlechthin Gottes Wort und verwarfen jede Kritik an ihrem Text als Hochmut. Der junge Lagarde stieß darüber hinaus ins Freie vor, in die neuerschlossene Welt des Mittelalters, der großartigen, römischen Kirche mit ihren Heiligen, Denkern und Domen, mit Meßopfer und Marienkult, die beide einem echten religiösen Bedürfnis entsprachen; er ging zurück bis zu den Vätern der Kirche, den Urformen des Evangelismus. In den dreißiger Jahren erhellten die Arbeiten von Wilhelm Vatke, Ferd. Christian Baur und David Friedrich Strauß die geschichtliche Entstehung des Christentums. Vergleichende Sprachwissenschaft, wie sie Franz Bopp in Berlin lehrte, gewährte Einblicke in die ältesten religiösen Vorstellungen der Völker. Jacob Grimm, "der Vater des Vaterlandes", gab uns in seiner Deutschen Mythologie (1842) die gestürzten, aber heimlich weiterlebenden Götter der Ahnen zurück. Religion erwies sich als ein Urerlebnis der Menschheit. "Mir widersteht", schrieb Lagarde, "der Glaube, daß Kinder Gottes nicht auch am Ganges und Hoangho gelebt haben sollten." Es kam nicht so sehr auf Lutherbibel und Katechismus an, auch nicht darauf, die kirchliche Lehre mit modernem Denken auszusöhnen, wie die einflußreiche, vermittelnde Richtung der Theologie wollte; wichtiger war, möglichst viele, echte und alte Urkunden zur Geschichte des "Reiches Gottes" bei allen Völkern und aus allen Zeiten zu sammeln, zu verbreiten und auszulegen. Darin hat denn auch ein großer Teil seines Lebenswerkes bestanden. Er hat zahllose semitische und indogermanische Sprachen gelernt – schon als Kind begann er damit – und Texte in ihnen mit Untersuchungen herausgegeben. Das Verzeichnis seiner Werke umfaßt beinahe dreihundert Nummern. Durch alle Übermalungen späterer Zeit wollte er zur Schau des Wirklichen der [27=Faksimile] [28] Religion vordringen; er blieb nicht stehen bei den Autoritäten des Protestantismus, weder bei Paulus noch gar bei Luther, den er für "grob, keifend und beschränkt" hielt. Einer seiner letzten Pläne war, die Evangelien neu für das Volk zu übersetzen. In dem Dialekt eines syrischen Textes glaubte er das Aramäische zu vernehmen, das Jesus gesprochen hatte. Als Forscher und als Dichter wollte er diese Gestalt wieder zum Leben erwecken.

Dies Bemühen diente nicht nur der Erkenntnis, sondern dem Leben, der Erneuerung der Nation. Aus dem Werkeltag der Städte, aus der Enge der Schulen und Stuben mußten wir wieder hinauf ins "hohe einsame Gebirge, wo wir nicht Erben sind, sondern Ahnen". Das Christentum sollte wieder "Erdgeruch" bekommen, "den unbeschreiblich lieblichen Duft des im Frühsommer oder Herbst unter lauem Himmel beregneten Ackers". Statt in künstlicher Atmosphäre sollten wir "auf freiem Land, in Gottes bald rauher, bald milder Luft" aufwachsen. Wie einst die Propheten sollte uns Stille der Wüste, reiner Atem der Höhe umgeben, in der unser stumpfer Sinn den ewigen Stimmen wieder geöffnet wurde.

Im inneren Erlebnis des einzelnen wie der Völker lag der einzige Beweis für das Dasein Gottes. Ihm, Lagarde, war dies Erlebnis zuteil geworden, und darum lag, wie Franz Xaver Kraus fand, "der Widerschein des ewigen Lichts auf der Stirn dieses Fremdlings in dieser Welt". Er hatte Brüder nur in mythischer Vergangenheit, in ferner Zukunft. Er war sich dessen bewußt, von einer höheren Macht nach einem Plane – der dann und wann sichtbar wurde im Leben – gelenkt zu werden. Sie näherte ihn auf nicht immer bequemen Pfaden dem Bilde eines höheren Wesens. Als irdischer Mensch war er gleichsam Rohstoff für den Meißel eines göttlichen Meisters, der aus ihm eine Geistesgestalt schuf für das himmlische Reich. Sie war nichts anderes als die ursprüngliche, gottgewollte, auf Erden nur verdunkelte und gehemmte Persönlichkeit, die erst im Jenseits zu ihrer Freiheit und Reife gelangte.

Von daher ergab sich Lagardes Haltung zum Staat. "Außer Beseeltem erkenne ich nichts an", hat er einmal gesagt. Gibt es außer der Seele nichts, was seinen Wert in sich trüge, so ist der Staat nur Diener, nicht Selbstzweck. Zumal bei den Deutschen. Denn für sie in ihren guten Zeiten war nach dem Zeugnis Fichtes und der Frau von Staël immer dies bezeichnend gewesen: der Glaube an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres Geschlechtes, ferner die Unabhängigkeit des Geistes, die Liebe zur Einsamkeit, die Eigenartigkeit jedes einzelnen. Germanische Art war es immer gewesen, wohl mit Liebe an Stamm und Stadt, an Stand, Genossenschaft und Geschlecht, auch an dem die Vielfalt der kleinen Lebenskreise krönenden Reich, nie aber an einem alles eigenständige Leben erstickenden Staat zu hängen. Ihn hatte das alte Rom geschaffen, ihn in neuerer Zeit vor allem Frankreich wiederbelebt. Von da aus war zu uns dieser artfremde Staats-Gedanke im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert gekommen und hatte in den deutschen Ländern, vorab in Preußen, seine Verwirklichung gefunden.

[29] Lagarde verkannte nicht, daß durch die von diesem Staat geforderte und erreichte Zusammenfassung und Unterordnung deutsches Wesen gegen den Andrang der feindlichen Nachbarn geschützt und selber zu Zucht, Entsagung und Eintracht erzogen war. Die Idealität, die namentlich in den Familien der Beamten und Offiziere herrschte, hat er als verwandten Zug begrüßt, weil sie Auftrieb zum Guten, Vorstufe der Frömmigkeit war. Er stand diesen Kreisen von Jugend auf nahe. Ist er doch unter lauter Männern der Befreiungskriege aufgewachsen, war doch der Kriegsminister Boyen ein Freund seiner Familie, wurde doch ein Bruder von ihm als Offizier bei Königgrätz verwundet! Er war der Sohn eines höheren Beamten, der Schwiegersohn eines Majors, später Geheimrat und Schwager zweier "Exzellenzen", in der guten Gesellschaft Berlins zu Hause, sogar mit dem Königtum durch persönliche Beziehungen verbunden. Ein de Lagarde war der Nachbar des Alten Fritzen gewesen, der seinen kalvinistischen Fleiß gerühmt hatte; bei Pauls Urgroßvater Jean de Lagarde hatte Friedrich Wilhelm IV. im Kriegsjahr 1806 einmal übernachtet und sich daran noch spät erinnert. Der Erzieher des Königs, Ancillon, war ein Verwandter Lagardes, der ihn freilich nicht mochte. Als Aristokrat, der er war, freute er sich der Zugehörigkeit zu einer tüchtigen Oberschicht. Sein schwankendes Selbstgefühl ließ es ihm als ein Glück erscheinen, "als Edelmann geboren zu werden und sich zu fühlen", denn "sich zu fühlen, ist die springende Feder des Lebens".

Weil er einen Halt im äußeren Leben, gleichsam einen Rahmen um seine Persönlichkeit brauchte, ließ er sich 1854 von seiner verehrten Großtante und Pflegemutter Ernestine de Lagarde als Sohn annehmen. Dadurch tauschte er den Namen des ungeliebten Vaters gegen den klingenden einer alten Hugenottenfamilie ein, die sogar mit dem abenteuerlichen Baron Neuhof, dem "König von Korsika", verwandt sein wollte. Familiensinn regte ihn zu Forschungen über den Ursprung seiner Eltern an und gab ihm – da er kinderlos blieb – den Gedanken jener seinen Namen erhaltenden Stiftung ein, die bei der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften besteht. In der Familie sah er ein "Hauptbollwerk" des "Ethos" gegen "Natur und Sünde" und die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft. Wie in England – dessen Zustände in den fünfziger Jahren er aus eigener Anschauung kannte und schätzte – sollte auch bei uns ein nach oben hin freier, nach unten hin offener Adel dem Volke führend vorangehen. Einer "Reform des Adels" sind manche Seiten seiner Werke gewidmet.

Preußen war nicht ganz so, aber ähnlich wie Österreich, eine Vielfalt von Ländern, zusammengeschweißt durch die Dynastie. Es gab wohl einen preußischen Menschen, auch einen preußischen Stil, der ihn selbst mitgeprägt hat, aber keine preußische, nur eine deutsche Nation. Sie hatte sich im achtzehnten Jahrhundert offenbart, zunächst als geistige Wesenheit, in den Werken Goethes, Kleists, Hölderlins, Glucks, Mozarts, Runges u. a. m. Von unten war der nationale Geist heraufgekommen, nicht von oben, aus der freien Kraft adelig-bürgerlicher Menschen, vom Staate gefördert, aber auch gehemmt. In ihrem Sinne hatten [30] Herder und die romantische Wissenschaft gelehrt, daß Kunst, Dichtung, Forschung aus dem Schoße der Nation geboren werden. Jahn prägte den Begriff des "Volkstums". Die Nation erschien als ein schwer zu umschreibendes und doch höchst reales Wesen, als eine Atmosphäre, die jeden von uns umgibt, den Höchsten wie den Geringsten. Niemand kann sich ihrem Einfluß entziehen, niemand von ihr wie von Gott sagen: "ich glaub sie" oder "ich glaub sie nicht, die Allumfasserin, die Allerhalterin". Gewoben aus allen Erfahrungen, Erlebnissen und Träumen des Volkes, erwachte damals bei uns der Mythos der Nation, der bis dahin mehr unbewußt gewirkt hatte. Von ihm, der in jedem Lande ein anderer war, getragen, waren die "Machtstaaten" der Neuzeit erwachsen. Die sogenannte "Staatsräson" war nur Dienerin eines religiösen Antriebes gewesen.

Nach dem Zusammenbruch des friderizianischen Staates im Jahre 1806 schufen Stein und seine Helfer Preußen aus einem "Räderwerk" zu einem Lebewesen um. Jenes war beim ersten Anstoß von außen zerbrochen, dies verbürgte ewiges Dasein. Die bis dahin gebundenen persönlichen und gesellschaftlichen Kräfte wurden entfesselt. Indem man an Stelle der Beamten und Söldner die opferwillige Mitarbeit aller Persönlichkeiten, Stände, Landschaften aufrief, gelang es, den Staat mit neuem Leben zu durchtränken, die napoleonische Fremdherrschaft zu zerstören. Die Nation konnte als göttliches Wesen wie jede einzelne Seele nur in "Gottes freier Luft" gedeihen, nicht in den Mauern eines rationalen westlichen Weltreichs. Ihre wunderwirkende Kraft war durch die Befreiungskriege von 1813 bis 1815 erwiesen. Aus ihnen, so hoffte man, sollte der schöne Bau eines erneuerten Deutschen Reiches hervorgehen, "von der Etsch bis an den Belt." Doch die Sorge der Fürsten, zu viel von ihrer "Souveränität" einzubüßen, ließ zur schmerzlichen Enttäuschung vieler 1815 nur einen losen "Bund" zu.

Inmitten dieser Kämpfe wuchs Lagarde auf, wie schon gesagt, unter den Männern von Anno dreizehn. Er lebte in der politischen Luft der Romantik, mit Eichendorff, Arnim, Jean Paul – als dessen wahlverwandter Fortsetzer er später Wilhelm Raabe empfunden hat; er war eine reizbare, subjektive, lyrisch-musikalische Natur. Wir besitzen Gedichte von ihm, wir bewundern den Schwung, zu dem sich seine Schriften immer wieder steigern und der manches Kleinliche und Peinliche in ihnen vergessen läßt. Er war Musiker und verstand hinreißend zu phantasieren. "Im Himmel", sagte er, "bin ich Kapellmeister." Mit Bach, Beethoven, Mozart war er vertraut. Neben ihnen verehrte er die "Helden der Forschung", auch sie "Söhne der Romantik", wie Niebuhr, Savigny, Grimm, Rückert u. a. Dogmen lernte man von ihnen nicht, darauf kam es niemals an, aber jeder wuchs, wurde besser, der sich dem Anhauch ihrer schöpferischen Persönlichkeiten hingab. Sie brauchten wir, sie gaben der Seele ihr Brot.

Ein Sohn der Erde war jeder Mensch, ein Kind seiner Eltern und seines Volkes. Von den Banden des Fleisches und Blutes konnte und sollte sich niemand lösen. Aber hinter der Natur und Nation ahnte die Seele das Antlitz eines Gottes. Von [31] Gott ging über Natur und Nation der Wechselstrom des Lebens zu jedem Menschen hin und wieder zurück. Aus diesem gemeinsamen Mittelpunkt ergab sich die freischwebende harmonische Gemeinschaft, in welcher der einzelne Mensch mit seinen Volksgenossen und weiterhin mit allen Geschöpfen seiner Art lebte. Jede Seele gedieh nur im Zusammenleben mit anderen Seelen, in einem "Reich"; jede Nation lernte von und an der anderen. Am Ende der Zeiten stand die symphonische Gemeinschaft der Völker, der Gottesfriede auf Erden.

Persönlichkeit war in Lagardes Sinn also nur denkbar auf dem Grunde der gottähnlichen Nation und ihrer Gliederungen. Davon losgelöst, verlor sie jede Berechtigung. Wenn er schon früh gelehrt hat, daß "wahre und treue Ausbildung der eigenen Persönlichkeit die einzige Pflicht des Menschen ist", so fordert er gleichzeitig von ihm, daß er sich dabei lenken läßt von der leisen aber unüberhörbaren Stimme Gottes, verkörpert vor allem in seinen edelsten Söhnen und Töchtern. Durch diese Arbeit an sich bereichert jeder das Ganze, und so war Pflege der Persönlichkeiten die Aufgabe des Staates. Ihr kam der preußische Staat seiner Zeit nicht nach, besonders nicht unter Friedrich Wilhelm III.

Lagarde hat diesen König, dessen gerader, gerechter Stil bei unabhängigen Beobachtern wie Constantin Frantz, Karl Immermann, Theodor Fontane soviel Verehrung erweckt hat, einen der verhängnisvollsten deutschen Herrscher genannt. Mißtrauisch gegen alle schöpferischen Menschen, ließ er sie, wenn sie im Sinne Steins eine Durchdringung des Staates mit nationalem Geist erstrebten, als "Hochverräter" verfolgen. Neugründer Preußens wie Humboldt, Gneisenau, Arndt hat er mit Undank belohnt. An die Stelle freier Entfaltung persönlichen und ständischen Lebens trat wieder das alte Beamten- und Kabinettsregiment. Hegels Philosophie erklärte im Geist der Antike und Napoleons den Staat für das "Göttliche" auf Erden.

In der Ablehnung dieser "Reaktion" waren sich sogar Schleiermacher und Hengstenberg eins. Dann machte sein Sohn Friedrich Wilhelm IV. manches Unrecht gut und stellte sich etwas spät an die Spitze der nationalen Bewegung. Aber er war kein Führer, ebensowenig wie die anderen Romantiker. Sie hatten sich von jüngeren "Politikern" beiseitedrängen lassen, die nun kämpferischer gegen die Souveränität der Fürsten und für ein einheitliches Deutsches Reich auftraten.

Lagarde hat die "Liberalen" nie geliebt. Schon deshalb nicht, weil sie von Allerweltstheorien statt von der Wirklichkeit des Deutschtums ausgingen und ihnen daher die religiöse Wärme, Tiefe und Begeisterung abging. Als die inneren Gegensätze in Preußen zur Berliner Revolution 1848 führten, wandte er sich, diesmal im Einklang mit seinem Vater, widerwillig von der entfesselten Masse ab. Er ergriff die schwarz-weiße Fahne des Königtums. Doch als bald darauf die, auch echtes nationales Leben mit verlogenen Maßnahmen zurückdrängende, [32] Reaktionspolitik wieder einsetzte, sah er ein, daß jetzt sein Augenblick gekommen war. Oberhalb der Parteien und tiefer blickend als sie alle, begann er, auf sich gestellt, seine Vorschläge einer Neugestaltung Deutschlands zu entwerfen, die die Entfaltung der von Gott kommenden Nation zum Ziel hatten und daher einerseits konservativer, andererseits umstürzlerischer waren als alles, was die Zeit sonst an politischen Programmen bot.

Damals stand Lagarde im frohen Aufschwung seiner Kräfte. Der Tod seines Vaters hatte ihn von einem Druck erlöst. Er schien auf dem besten Wege, ein angesehener Gelehrter zu werden. Seit seinem neunzehnten Jahre hatte er Beiträge zur indogermanisch-semitischen Sprachwissenschaft veröffentlicht. Die Umrisse eines Lebenswerks stiegen vor ihm auf, eine Ausgabe des Neuen Testaments, und später, als diese nicht durchführbar war, die der griechischen Übersetzung des Alten, der sogenannten Septuaginta, von der aus man Rückschlüsse auf den hebräischen Urtext ziehen konnte, eine Aufgabe freilich, die selbst seine Arbeitskraft überstieg. Auf dem Orientalistenkongreß zu Göttingen wurde er von den älteren Fachgenossen anerkennend begrüßt, wenn auch manche ihm sein Draufgängertum verübelten. Ihm war der "Gestank der Zunft" schon damals peinlich. Mit Hilfe eines Berliner Stipendiums habilitierte er sich in Halle. Zu einer Professur kam es nicht, dafür erhielt er die Mittel zu einer Studienreise nach London und Paris. Er schrieb in den Bibliotheken zahlreiche griechische, koptische, syrische und arabische Handschriften ab. Exakt und genial zugleich war er voll weitgreifender Pläne. Er wollte eine Geschichte des Untergangs der Alten Welt schreiben. Damals wie zu seiner Zeit lebten die Menschen in einem Herbst. Eine Sintflut gleich dem Islam schien bevorzustehen. Also, meint er, müssen wir die Gesetze des Vergehens studieren und den Keim frischen Lebens schon sehen, wenn er noch unter der Erde schwillt. Das Christentum verfiel, aber die neue "Religion des Geistes" war im Werden.

Stammbuchblatt.
[27]      Stammbuchblatt des 24jährigen Paul de Largarde für seine Schwester,
noch mit seinem eigentlichen Namen Paul Boetticher unterschrieben.
Göttingen, Lagarde-Stiftung.      [Vergrößern]

In England – wo er beim Gesandten Bunsen lebte und durch ihn Eingang fand in die vornehme Welt, in der er auch als kleiner Gelehrter sich mit anständiger Sicherheit bewegte – erlebte er die Wirklichkeit einer Gesellschaft, die in ihrer gewachsenen, gelockerten und doch adeligen Art ihm vorbildlich erschien. Dort schrieb er seinen ältesten erhaltenen Traktat Konservativ?, dem in gleichen Jahre (1853) ein zweiter Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik folgte. Ihn hat er, zurückgekehrt, auch in Halle in einer Versammlung vorgetragen. Wie es scheint, wollte er Abgeordneter werden.

Immer wieder wurde sein Fortgang durch Rückschläge gehemmt. Für eine Kraft wie ihn war kein Lehrstuhl frei. Zunftmeister wie Brugsch und A. Weber ließen ihn nicht aufkommen, und die Regierung stützte sich wie immer auf das Urteil der "Sachverständigen". Er galt als "schwarzes Schaf" und mußte, mittellos, im Frühjahr 1854 in den Schuldienst der Stadt Berlin treten. Gleichzeitig verheiratete er sich mit Anna Berger, der Tochter eines früheren Offiziers, die ihm [33] eine treue und hilfreiche Lebensgefährtin wurde.

Gleich seinem verehrten Jean Paul und wie alle schöpferischen Menschen war Lagarde ein ausgezeichneter Lehrer, ein wahrer Kinderfreund. Im Kinde fand er sich selber wieder. Auch war es ihm wertvoll, unser Schulwesen aus eigener Anschauung kennenzulernen, freilich nur, um nachher desto gründlicher darüber abzuurteilen. Wenn ihm als "Gentleman" anfangs die Wirksamkeit neben "Perücken und Unteroffizieren" sauer genug wurde, so hat er dann auch unter den Kollegen Freunde gefunden. Das alles war es nicht. Aber er ertrug es auf die Dauer schwer, vor überfüllten mittleren Klassen über Dinge zu sprechen, die ihm ferner lagen. Das Lehramt auf der Oberstufe eines Gymnasiums wurde ihm verweigert. Der Referent im Ministerium Ludwig Wiese hielt nichts von ihm. Nebenstunden raubten ihm noch mehr von seiner kostbaren Zeit, deren karger Rest der Fortsetzung seiner gelehrten Arbeiten gewidmet war. In den zwölf Jahren seines Lehrerdienstes hat er zwei Programme und sechzehn Bücher herausgebracht, zum großen Teil auf eigene Kosten. Einmal half ihm ein Maurerpolier Knak aus. Dann sah er, daß es auf diesem Wege nicht weiterging. Er wandte sich unmittelbar an den König selbst und erhielt einen dreijährigen Urlaub bewilligt. Die Zeit begann sich zu wenden. 1869 wurde er als ordentlicher Professor der orientalischen Sprachen nach Göttingen berufen. Hier hat er bis zu seinem vorzeitigen Tode, am 22. Dezember 1891, gewirkt. Sein Grab – das er sich einst auf hohen Bergen gewünscht hatte – trägt die Inschrift: Via crucis est via salutis.

In derselben Zeit, in der Nietzsche seine Unzeitgemäßen Betrachtungen anfing, nahm Lagarde die lange unterbrochene Reihe seiner "theologisch-politischen Traktate" wieder auf (1872). Er begann mit der Schrift Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion. Sie wurde wie die weiteren Schriften Lagardes in der Öffentlichkeit meist mit Stillschweigen übergangen. Nur wenige horchten auf. Unter ihnen war Friedrich Nietzsche, der am 31. Januar 1873 an Rohde schrieb: "Eine kleine höchst auffallende Schrift, die funfzig Dinge falsch, aber funfzig Dinge wahr und richtig sagt, also eine sehr gute Schrift; versäume nicht, sie zu lesen." Lagarde knüpfte hier an frühere Gedanken an. Die Zeit zu reden war gekommen, die Tage des Liberalismus neigten sich ihrem baldigen Ende zu.

Wohl hat Lagarde die Siege unseres Heeres in den Jahren 1864 bis 1871 und den Aufbau des Bismarckschen Reiches mit Freude begrüßt. Aber Bismarck hatte ihm zu viel mit äußeren Machtmitteln gearbeitet und tat es noch. Der Staat als Selbstzweck, als Widergott, saß fester im Sattel denn je. Grundsätzlich waren damit die Liberalen nicht einverstandener als die Konservativen. Die Selbstherrlichkeit des Beamtentums war gestiegen. Der "Untertan" überließ ihnen die Sorge für die öffentlichen Dinge oder betätigte sich allenfalls im Rahmen der Parteien, von denen die Liberalen im Bunde Bismarcks das Reich gegründet hatten und seit 1867 die Führung besaßen. Freilich um sie nicht lange zu behalten. [34] Seit 1878 sank ihr Einfluß unaufhaltsam. Schöpferische Menschen waren unter ihnen kaum vorhanden, eigentlich waren sie "langweilig". Das Bürgertum hat in dieser seiner Schicksalsstunde versagt. Es brachte einen neuen Typ herauf, der vorwiegend auf Pflege ererbter Bildung, wirtschaftlichen Reichtum, Titel und Orden bedacht war. In Lagardes Jugend war es anders, besser gewesen. Als ungeschliffener, aber eigenwüchsiger Mensch hatte der Deutsche in aller Welt Freunde gehabt, statt wie jetzt beargwöhnt und bespöttelt zu werden. An die Stelle des Schwärmers war der Streber und Spießer getreten. Materialismus als Lebenshaltung und Weltanschauung verdrängte unsere alte Idealität. So sah Lagarde die Zeit nach 1871, und gute Beobachter wie Raabe und Fontane haben dies Urteil bestätigt. Keine Periode war den übernatürlichen Ursprüngen des Lebens ferner als diese. Darum hat Nietzsche ihr widersprochen. Der Krieg von 1870 war kein Kreuzzug gewesen im Sinne von Anno dreizehn; er hatte, wie später auch Stefan George fand, kein Wunder einer nationalen Wiedergeburt bewirkt. War ihm folgte, war die "Gründerzeit". Ein Gefühl der Unzufriedenheit und Unsicherheit durchzog die weitesten Kreise, das ferne Wittern einer Weltkatastrophe. Die Reichsgründung war "ein End' und ein Beginn", und darum rief sie den Wächter auf die Zinne.

Paul de Lagarde.
[16b]      Paul de Lagarde.
Photographie, um 1870.
Lagarde wollte den schöpferischen Deutschen wecken. Wir brauchten ihn um so dringender, als dies Reich nur ein "Provisorium" und seine äußere Existenz keineswegs gesichert war. Im trügerischen Gefühl, hinter seinen Festungen und Armeekorps für immer geborgen zu sein, glaubten die Deutschen in verantwortungsloser Schwelgerei oder bestenfalls in der Übung spezialisierter Wissenschaften und schulmäßiger Künste weiterleben zu können. Der Sieg im Felde schien auch die Überlegenheit unserer Schulmeister und Schriftsteller bewiesen zu haben. In seiner wachen Sorge um das Reich begegnete sich Lagarde mit Bismarck und dessen vorsichtiger Außenpolitik. Er sah freilich in der Loslösung Deutschlands von Österreich, mit dem es bis dahin immer verbunden gewesen war, den schwersten politischen Fehler des Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den meisten liberalen Historikern und Politikern war Lagarde "großdeutsch" gesinnt. Die Kaiser des Mittelalters hatten das Richtige erkannt. Sie hatten den Kern der deutschen Nation mit einem Kranz schirmender Marken umgeben. Fürsten, Bürger, Bauern waren ihnen in diesem Bemühen gefolgt. Damals hatten Lothringen und Burgund, die Alpen- und Donauländer bis zur Lombardei, Weichselgebiet und Baltikum, die Ost- und Nordsee mit Schleswig und Niederland unter deutscher Herrschaft oder deutschem Einfluß gestanden. Jetzt waren wir zusammengepreßt unter dem Druck der französischen und russischen Großmacht. Italien war mit preußischer Hilfe frei geworden. Im Donauraum erhoben Tschechen und Magyaren unter dem Schutz der Habsburger sich gegen unsere Brüder. Die Nation in diesem weiten Sinne zu schirmen und zu verteidigen, lag Bismarck fern. Er empfand mehr staatlich als national.

[35] Wenn wir als freie Nation leben wollten, mußten wir den mitteleuropäischen Raum auf irgendeine Weise durchdringen. Das ist auch das Ziel der wilhelmischen Orientpolitik gewesen. Schon Lagarde hatte Hoffnungen auf die deutschen Dynastien in Rumänien und Bulgarien gesetzt. Er hat immer wieder gemahnt, im Osten zu kolonisieren, das Donau- und Weichselland einzudeutschen, wie Welfen und Askanier, Maria Theresia und Friedrich der Große gezeigt hatten. Dabei sollten wir die slawisch-magyarischen Bewohner nicht etwa austilgen, sondern unser Blut mit ihnen mischen. Unser weiches Wesen braucht die Legierung durch härteres Metall. Waren doch ohnehin die Alemannen und Bayern mit keltisch-römischem Volkstum durchsetzt! Viele Tausende von Volksgenossen würden durch diese Besiedlung des Ostens der seelenmordenden Arbeit in Fabriken und Büros entzogen werden und als Herren eigener Scholle wieder aufatmen in Gottes Luft. Deutschland erhielt so erst sichere Grenzen, es konnte sich selbst ernähren und brauchte nicht Brotkorn, Vieh, Rohstoffe einzuführen, es konnte nie ausgehungert werden. Auch die Gründung der überseeischen Kolonien Deutschlands in den achtziger Jahren hat Lagarde begrüßt, weil sie Siedlungsland abgeben konnten.

Wir sollten in den weiten Gefilden Mitteleuropas, erlöst von der Unrast unserer Städte, in einem gleichschwebenden, nicht mehr von Presselärm und anderen Sensationen gestörten Dasein zu neuen Menschen werden. Das Bild eines Lebens steigt auf, wie es Rilke gezeichnet hat mit den Worten:

    Alles wird wieder groß sein und gewaltig,
    die Lande einfach und die Wasser faltig,
    die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;
    und in den Tälern stark und vielgestaltig
    ein Volk von Hirten und von Ackerbauern.

Mit diesem Reich der Zukunft erhielt die deutsche Seele ihren Leib. Der Druck der Überfremdung wurde in jedem Sinne von uns genommen. Seit tausend Jahren waren wir nicht zur rechten Entfaltung unseres Selbst gelangt, weder als einzelne noch als Nation. Immer hatte sich, wie Lagarde zeigt, fremder Stoff an uns herangedrängt.

Vom griechischen Altertum hatten wir den Gedanken einer Vergottung des großen Menschen übernommen. Von den Römern waren die "Anstalten" des Staates und der Kirche zu uns gelangt, die den Anspruch erhoben, selbst Götter zu sein. Neben sie war als neuer Götze die "Wirtschaft" getreten, die von sich sagte, sie sei das Schicksal. Sie erforderte und erzog den genormten Menschen, wie ihn heute Amerika und Sowjetrußland zur Anschauung bringen. Auch der Zwang der "allgemeinen Bildung" – wie sie auf höheren und hohen Schulen gelehrt wurde – verlangte, außer dem selbstverständlich notwendigen Fachwissen zum Beispiel eines Arztes, daß jeder gewisse Dinge gelernt und bereit [36] habe, wie Griechisch, Latein oder Französisch, wie Kunstgeschichte, Philosophie, Naturkunde und anderes, deren Summe den "humanen", überall gleichartigen Menschen ergab. Von diesem gleichfalls normenden Bildungsschema hatten weder die alten Griechen noch die Germanen etwas gewußt. Als Erzeugnis der Spätantike hatte es das Mittelalter, dann in gewandelter Form die Renaissance beherrscht und war in seiner nunmehrigen Gestalt von den Humanisten wie Melanchthon und später Humboldt bei uns eingeführt worden. Zeitweise war fast unser ganzes Leben lateinisch oder ausländisch maskiert gewesen. Unser altes Deutsches Reich hieß bis 1806 das "Römische", und das Recht, das im Corpus iuris niedergelegt war, galt als das "gemeine" Recht der Deutschen, die sich darin gefielen, ihre Behörden Konsuln, Senate, Magistrate zu nennen. Friedrich der Große hatte Französisch, aber nicht Deutsch gekonnt. "Feine Kreise" lasen noch um 1870 eher französische als deutsche Literatur. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde es zeitgemäß, in Sprache und Lebenshaltung die Engländer und Amerikaner nachzuahmen. Allzu weich, schweifend, "faustisch" waren wir dem Zugriff dieser gehärteten, scharf umrissenen Menschen und Mächte der Zivilisation immer wieder erlegen. Zu ihnen gehörte das weltgewandte, diesseitsgläubige, dogmatisch und dialektisch geformte Judentum, das Lagarde als wesensfremd insbesondere wegen seines "Gemüts" abgelehnt hat. Er trat für die Abwanderung der Juden nach Palästina ein, wo sie gleich den Deutschen als Bauern, Handwerker, Soldaten erst einmal anfangen sollte, eine Nation zu bilden.

Durch alle diese Einflüsse seit Jahrhunderten unserm Selbst entfremdet, fühlten wir uns meistens nicht wohl und sicher in unserer Haut, waren wir bald anmaßend, bald zaghaft, boten wir oft keinen erfreulichen Anblick. Deshalb mußten wir heraus aus dieser antikisch-romanisch-semitischen Fremdwelt der Götzen des Staates, der Kirche, der Wirtschaft und Bildung. Sie machten uns nicht satt, weil unsere Seele gleich der der alten Völker nicht verlernt hatte, dem wahren Gott in innerem Erleben und Erlauschen zu dienen. Darin waren wir dem Ursprung des Menschen näher als die übrigen. Wir hatten die goldenen Zeiten noch nicht vergessen, da wir Menschen auf Erden an den Tischen der Götter gesessen hatten. Viele Sagen deuteten auf einen solchen "paradiesischen" Urzustand hin. Auch wir waren dann mit den anderen aufgebrochen, um das Menschenreich der Kultur zu erbauen. Aber jede völlige Hingabe daran, jede Loslösung des irdischen Daseins vom Goldgrund erschien uns als "Sünde". Für die Verehrung von Heroen oder Halbgöttern wie Napoleon, die nur Seelen zerschlagen hatten und deren Menschlichkeit oft unerbaulich war, ist Lagarde nie zu haben gewesen. Der natürliche Mensch und ebenso das natürliche Volk waren für ihn ein Tier, im besten Falle ein schönes Tier, und der Sünde verfallen.

Wir mußten endlich einmal zu uns selbst kommen, eintauchen in das Innere unseres seelischen Lebens und, wenn auch nicht wahllos, heraufsteigen lassen, [37] was dort verschüttet und verdrängt lag. Wir ahnten nicht, wieviel verborgene Kraft ungenutzt in uns ruhte. In der schweren Krise der Nachkriegszeit, da es schien, als seien wir endgültig dem westlichen oder östlichen Vernunftdienst ausgeliefert, hat sich die Nation entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. Darin ist sie dieser Mahnung Lagardes gefolgt, dessen Lehren nach dem Zerfall von Reich, Bildung, Wirtschaft immer empfänglichere Ohren bei der Jugend in den zwanziger Jahren gefunden haben und der heute unser getreuer Eckart ist, warnend vor erneuter Erstarrung des Deutschen in den Zwängen der übersteigerten "Organisation".

Zu uns selbst kamen wir nicht nur durch Abtragung des fremden Stoffes, der sich über uns gelagert hatte, sondern vor allem durch neuen Aufbau. Lagarde wünschte, daß die Bauern und Handwerker seines Reichs in den natürlichen Gliederungen der Gesellschaft leben sollten, wie sie dem Mittelalter sein Gepräge gegeben hatten. Die Familie, die Sippe, das Geschlecht sollten als Urzellen der Gemeinschaft zu neuem Leben erwachen, ein sich erneuernder Ring edler, bewährter Geschlechter führen. Wir sind heute auf dem Wege, solche Gedanken zu verwirklichen. Der Stand, die Zunft im guten Sinne, wie wir sie jetzt wieder schätzen, als schützender und erziehender Kreis um den einzelnen, der Gau, die Stadt sollten jedem Rechte und Pflichten der sachgemäßen Mitarbeit am Ganzen übertragen, wie das schon die – nur teilweise verwirklichte – Absicht des Freiherrn vom Stein gewesen ist. Aus den berufenen Leitern der kleinen landschaftlichen und gesellschaftlichen Kreise sollten sich die Reichsstände zusammensetzen und das Ganze gekrönt werden durch das Führertum eines wahrhaften Königs, der wie ein "Vater, Arzt, Seelsorger, Meister" der Nation "vorleben", durch sein bloßes Dasein aufrichtend wirken sollte.

Überhaupt möglichst viele Persönlichkeiten, möglichst viele Meister! Nur an ihnen lernte, nur durch sie wurde man was. Die Jungen sollten von Meistern auf ländlichen "Fachschulen" in dem unterwiesen werden, was sie in ihrer künftigen Welt brauchten, sollten durch Anschauung, Erfahrung und Übung ihre Umwelt kennenlernen, der spätere Staatsmann ebenso wie der Bauer die seine. Das ergab vielleicht einseitige, aber an der Wirklichkeit geschulte, echte, ehrliche Menschen, deren "Sachlichkeit" sich wohl zu tieferer Schau oder reinerer Form wie im alten Handwerk erheben konnte. Vollends die Frau, meinte Lagarde, lernt etwas Rechtes nur vom Manne, vom Vater, Lehrer oder Freund.

Die Norm, an der diese Persönlichkeiten und damit die Nation sich bilden sollten, war das reine, nicht das lutherische Evangelium, war die Stimme Jesu selbst als die eines religiösen Genius – dessen irdische Herkunft uns nichts anging –, vermehrt um die Stimmen aller wahren Bekenner Gottes, chinesischen, indischen, iranischen, semitischen, hellenischen und nordischen Geblütes. Lagarde hat sich selber mit Stolz einen "Heiden" genannt. Nur wenn und weil bei uns im Volk eine ferne Erinnerung lebendig war an Wodan und Frau Holle, weil [38] wir Feste des Jahres feierten und Lieder sangen an Sonne, Mond und Sterne, waren wir für den religiösen Gehalt des Evangeliums empfänglich, das sich an alle Menschen wandte. Wir sollten nicht, wie die Orthodoxen wollten, die Kreuzigung Christi, des Gottessohnes, als ein geschichtliches Ereignis, das sich vor zweitausend Jahren in einem fernen Lande abgespielt hatte, für wahr halten, sondern uns vom überzeitlichen Gehalt der Worte Jesu entzünden und wandeln lassen, so daß sie sich unserer nationalen Sonderart einimpften und wir zu einer "deutschen Gestalt" des Evangeliums gelangten. In diesem Sinne waren Meister Eckhard, Jakob Böhme, Angelus Silesius, Novalis, Schleiermacher deutsche Bekenner Jesu gewesen. Ebenso haben Winckelmann, Goethe, Hölderlin, Nietzsche das Griechentum eingedeutscht, "romantisiert" und in dieser Form ist es unser eigen geworden. Auch diese höchsten Gedanken Lagardes bewegen mannigfach unsere Zeit.

Wie der einzelne wurde so auch die Nation im unmittelbaren Anhauch des Göttlichen "wiedergeboren". Erst erweckte der Geist einige, und diese dienten den Brüdern. Deshalb gewann der Gott nur in der Gemeinschaft eines Reiches Gestalt. Aus dem Naturzustand der Sünde erhob sich die Nation in den der "Gnade", wenn sie immer mehr bestrebt war, das Gute in sich, das Gottesbild ihrer einmaligen Persönlichkeit herauszuarbeiten. Von ihr flog der Funke über und entzündete die Nachbarvölker, so daß eine Nation von der anderen lernte und ihre Gegensätze sich allmählich ausglichen in der gottgewollten Harmonie alles persönlichen und nationalen Lebens und die Menschheit schließlich wieder als eine Familie an der Tafel der Himmlischen saß.

Das Bleibende und Große der geschichtlichen Wirkung Lagardes liegt darin begründet, daß er ein Realist war. Er war Schüler und Genosse der Grimm, Uhland, Ranke und anderer, die vom ersten Ahnen der Umrisse vergangenen Lebens zu seiner tieferen urkundlichen Erfassung, zur wahren Einwanderung in die Vorzeit übergingen. Als Realist war er ein Sohn des neunzehnten Jahrhunderts, im ersten Jahrzehnt seines Lebens begann unsere Dichtung sich der Wirklichkeit zu nähern. Was er über das gleichbleibende Gesetz unserer mitteleuropäischen Lage gesagt hat, was er dem Leben und der Dichtung an Wesenszügen des deutschen Menschen in alter und neuer Zeit abgelauscht hat, alles das wird immer gelten. Seine Wirklichkeit, zu der er von der Romantik herkam, war freilich nicht die des Sinnen- und Vernunftmenschen, sie war transparent, durchleuchtet vom jenseitigen Schein. Er ging tiefer ins Wirkliche hinein als die anderen, und darum stieß er dort auf die Realität Gottes. Für diese seine Enthüllungen des Kerns der Welt hat erst die Nachkriegszeit Verständnis gewonnen. Wir sind durch ihn erbaut und aufgebaut, wir danken ihm und denen, die er geweckt hat, unsere Vita nuova. "Nehmt diese Menschen aus der Welt, so ist alles dunkel in ihr!"




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz