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[Bd. 2 S. 375]
Jean Paul Friedrich Richter, 1763 - 1825, von Fritz Klatt

Jean Paul. Gemälde von Friedrich Meyer, 1810.
[368b]      Jean Paul.
Gemälde von Friedrich Meyer, 1810.
Hamburg, Privatbesitz.
Jean Pauls Leben und Werk gehören so eng zusammen wie nur selten bei einem ganz Großen im Geist. Ehrlich und echt ist alles an ihm. Nichts ist gemacht oder theaterhaft nach außen hin gesteigert, um die Wirkung zu erhöhen. Jean Paul ist in jeder Minute des Lebens erfüllt vom Leben. Diesen Haupteindruck hat, wer sich heute, über hundert Jahre nach seinem Tode, mit seinen Werken näher beschäftigt, wie ihn die Menschen hatten, die ihn noch kannten und ihn uns in Briefen und Tagebuchblättern schildern.

Die alte Frau Dorothea Rollwenzel in dem Gasthaus am Fuß der Eremitage, zu dem er zwanzig Jahre lang fast täglich von Bayreuth aus hinlief, mit dem Knotenstock in der Hand, mit Manuskripten und Büchern im Ranzen, ein paar Flaschen Wein in den Rocktaschen und seinem Pudel Ponto an der Seite, um dort, von ihr verpflegt, den Tag zu arbeiten, sagte kurz nach seinem Begräbnis von ihm: "Gott hab' ihn selig! Er war's hier schon. Eine Blume konnte ihn selig machen über und über, oder ein Vögelchen, und immer, wenn er kam, standen Blumen auf seinem Tisch, und alle Tage steckte ich ihm einen Strauß ins Knopfloch. Es ist nun wohl ein Jahr, da blieb er weg und kam nicht wieder. Ich besuchte ihn drinnen in der Stadt, noch ein paar Wochen vor seinem Tode; da mußte ich mich ans Bett zu ihm setzen, und er frug mich, wie es mir ginge: 'Schlecht, Herr Legationsrat', antwortete ich, 'bis Sie mich wieder beehren.' Aber ich wußt' es wohl, daß er nicht wiederkommen würde, und als ich erfuhr, daß seine Kanarienvögel gestorben wären, da dacht' ich: er wird auch bald nachsterben. Sein Pudel überlebt ihn auch nicht lange, ich hab' ihn neulich gesehen, das Tier ist nicht mehr zu kennen."

Das Gasthaus der Frau Rollwenzel bei Bayreuth.
[377]      Das Gasthaus der Frau Rollwenzel
bei Bayreuth.
Nach einem alten Stich.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
Dieser Bericht kurz nach seinem Tod von der "gescheitesten Frau von ganz Baireuth", wie er die alte Rollwenzel nannte, deckt sich mit Berichten aus seinem ganzen zweiundsechzigjährigen Leben. Immer ist dies Leben gedrängt voll Stoff und Erlebnis gewesen, überquellend fast genau so, wie in seinen Büchern der Stoff überquillt und die klare Form von Roman, Novelle oder Aufsatz sprengt und auseinanderreißt, weil ihm immer noch Wichtigeres einfällt, was er in einem Einschiebsel, in Anmerkung oder Anhang noch mitteilen muß.

Dies Dem-Leben-ausgeliefert-Sein hätte diesen Menschen früh vernichtet, wenn nicht seine Natur dafür gesorgt hätte, daß er sehr spät und langsam reifte. Erst 1790, als Siebenundzwanzigjähriger, beginnt er sein eigentliches Leben: [376] "Verhaltenheit wäre das Gesetz dieser Jugend gewesen, und in der Tat, wenn auch Jean Paul seit der Knabenzeit immerzu sprach und schrieb: das Innere war dabei sprachlos geblieben!... Doch nein: Verhaltenheit teilt er mit vielen. Das Seltsamere, das er (in seinen eigenen Kindheitsschilderungen) nicht erklärt, ist die Maske. Warum macht er seinen Antritt mit Satiren, die so schlecht sind und ihm so schlecht stehen, nicht weil sie etwas wegtäuschen: das Mitgefühl eines jedem Leben freundlichen Gemüts, sondern weil sie etwas vortäuschen: Überlegenheit."

So ist es. Seine ersten literarischen Versuche sind so zwanghaft-intellektuell, würden wir heute sagen, so voll kaltem und erdachtem Witz, daß sie für heutige Leser, wie auch damals schon, ungenießbar sind. Diese Starrheit kalter Satiren war eine Schutzhülle einer erst später sich ergießenden elementaren Lebensfülle, die der Jüngling nicht ertragen hätte.

Unter diesem Zeichen einer großen Starrheit, eines wilden Lernens von Begriffen, einer ameisenhaft fleißigen Aneignung fremder Lebensdeutung steht der ganze erste Teil seines Lebens. Karoline Herder, die Frau des von ihm am allermeisten verehrten Zeitgenossen, hat Jean Paul einmal in diesem Sinn ganz tief gedeutet: "Sein Geist ist seinem Lebensalter vorangesprungen und hat die edle Lebenskraft im Hirn konzentriert. Daher sieht er denn so – einigermaßen – manchmal – einem jungen Greis ähnlich."

Denkmal für Jean Paul Richter in Wunsiedel.
Denkmal für Jean Paul Richter
in Wunsiedel.
[Nach kathpedia.com.]
Jean Paul ist am 21. März 1763 in Wunsiedel im Fichtelgebirge geboren. Seine Mutter, der er zeitlebens tiefe Worte der Verehrung widmete, war eine fleißige, stille Frau. Er erzählte einmal als alter Mann den Kindern einer befreundeten Familie von seiner Mutter. Sie hatte ihm ihr Spinnbuch vermacht, in dem sie alles, was sie in ihrem Leben ersponnen hatte, eingetragen hatte, und Jean Paul fügte hinzu, das sei für ihn ersponnen gewesen. Er hat es nie vergessen und sich nicht verziehen, daß er ihr nicht hat die Augen zudrücken dürfen. Zu der Zeit ihres Todes – 1796 – war er – ein schon berühmter Mann – in Weimar, umschwärmt von Frauen, während seine Mutter einsam starb.

Sein Vater, Pfarrer erst in Wunsiedel, dann bald, von Jean Pauls drittem Lebensjahr an, in Joditz, zwei Meilen von Hof, später in Schwarzenbach an der Saale, hat ihn sehr streng und pedantisch erzogen, noch weit starrsinniger, als der Rat Goethe seinen Sohn in Frankfurt erzog. Er mußte Sprüche und lateinische Worte lernen und den Katechismus, auch an den schönsten Sommertagen, während der Vater über Land ging. Sein ungeheurer Wissensdurst wurde dabei nicht befriedigt. Erst in Schwarzenbach bekam er regelmäßigen Schulunterricht und stürzte sich auf das Lernen. Seine Lesewut kannte keine Grenzen. Er las zunächst Robinsonaden und Romane, später alles, was ihm in die Finger kam. Schon seit dem fünfzehnten Lebensjahr machte er sich Auszüge aus den verschiedensten Büchern. Diese Gewohnheit begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Fast jeder seiner Besucher in Bayreuth erwähnt die in seinem Arbeitszimmer bis an die [377] Decke aufgestapelten Exzerpte, die er überall in seinen Werken als Einschiebsel benutzte.

Ostern 1779 kam er auf das Gymnasium zu Hof. Bald darauf starb sein Vater, und die ganze Familie geriet in die bitterste Armut. Ein zehnjähriger Kampf mit Hunger und Kälte begann für den Jüngling. Das harte Leben ließ es nicht dazu kommen, daß er in der Blütezeit seines Lebens schon zu sich selbst kam. Schon in seiner Gymnasialzeit und später dann von 1781 an, wo er als Student nach Leipzig ging, lernte er das vornehme und reiche Leben von außen kennen. Bei Adolf Lorenz von Oertel, seinem schwärmerisch geliebten Jugendfreund, dem Sohn eines reichen, geadelten Kaufherrn, wurde ihm der Luxus begüterter Kreise vertraut. Später, als er in diesem Hause eine Hauslehrerstelle innehatte, um das Notdürftigste während des Studiums zu verdienen, starb – in seiner Gegenwart – der Freund. Erst Jahrzehnte später, in seinen Büchern, kommt dieser Eindruck heraus. Damals, in seinen ersten satirischen Schriften, klingt nichts von dem Empfindungsübermaß jenes Jugendschmerzes an.

Zum Schreiben ward er durch die bittere Not gebracht. Sein erstes Werk, die "Grönländischen Prozesse", blieb lange ungedruckt. Dann kam 1783 plötzlich der Brief des Verlegers Voß in seine ungeheizte Stube, in dem dieser ihm ein beträchtliches Honorar anbot. Um dieses "seltensten Augenblickes" willen, den er nie vergessen hat in seiner ganzen Glücksfülle, will er seine Selbstbiographie schreiben. Das Buch war "kein Erfolg". Der Verleger zog sich zurück. Jean Paul [378] kam in neue Schulden. Er berichtet von einer abenteuerlichen Flucht aus Leipzig vor den Gläubigern. Bei dieser Flucht legte er sich einen falschen Namen zu. Und während er sonst durch seine besondere Kleidung, das Hemd an der Brust offen, ohne Zopf und Puder, überall – durch dieses Kleidermärtyrertum, wie er es selbst nannte – öffentlich auffiel, verbarg er sich hier auf der Flucht vor seinen Gläubigern durch die allgemein übliche Tracht. Erst zu Ende jener Jugendperiode, mit siebenundzwanzig Jahren, schaffte er seine geniale Tracht ab und ging nun wie alle mit dem üblichen Zopf.

Damals war in Schwarzenbach, wo er Hauslehrer war, ein geistiger Kreis um den jungen Jean Paul, der hier kurz vor Beginn seines dichterischen Aufbruchs stand. Auch hier schon war, wie immer in seinem Leben, ein Kreis für ihn schwärmender junger Mädchen, mit denen er auch in Briefwechsel stand, um ihn. Im übrigen gab er sich mit letztem Eifer seiner pädagogischen Tätigkeit hin. Das kleinste Geschehen im Leben der Kinder sah er in dieser Erziehungsarbeit für wichtig und mit höchstem Ernst an. Seine große Erziehungslehre "Levana" ist nur möglich auf Grund unendlich vieler praktischer Erfahrungen und Beobachtungen. Hier am Ende seiner im Kampf mit der Lebensnot verbrachten Jugend erfuhr er, was in vielen seiner Bücher eine entscheidende Rolle spielt: den pädagogischen Eros, das Aufgehen der jugendlichen Seele vor dem Anblick des leise und höchst vorsichtig führenden Älteren. Der Jüngling und der führende Ältere sind in der "Unsichtbaren Loge", im "Hesperus", im "Titan" die Hauptgestalten. Jean Pauls pädagogische Veranlagung schlägt in allen seinen Werken, die nun in seiner reifen Zeit folgen, durch, auch noch in einem anderen als gegenständlichen Sinne. Er will seinen Leser belehren und führen. Weil er selbst so überwältigt ist von der Schönheit und Fülle und der Größe und Güte, aber auch von dem Schmerz und der Trauer des Lebens, weil er selbst das Wahre und Gute so sicher weiß, darum sieht er seine dichterische Gestaltung als Dienst an den Menschen an. Immer wieder wird es durch Gespräche und Briefstellen bezeugt, wie dieser Dichter seine Arbeit als Dienst an den Menschen seines Volkes auffaßte. Er ist davon überzeugt, daß ihn die Menschen lesen müssen, damit sie die Dinge besser und richtiger sehen und dadurch sinnvoller leben können. Was er in seiner ersten Jugend mit der Satire und mit beißender Ironie versuchte, weil ihm die Fülle des Erlebten noch fehlte, das gelang ihm in seiner reifen Zeit durch die übervolle Erzählungsweise seiner in jener Zeit von jedem gebildeten Deutschen gelesenen Romane. Kaum ein Dichter der Zeit wurde so viel gelesen wie Jean Paul. Die männliche Jugend und die Frauenwelt der Jahrhundertwende bildete sich an seinen Gestalten.

Seine Arbeitskraft ist bis ein Jahr vor seinem Tode unerschöpflich gewesen. Er arbeitete systematisch. Viele begeisterte jüngere Besucher schildern das in Briefen. Dabei mußten, um seine körperliche Müdigkeit zu überwinden, Kaffee und Wein und vor allem das Bayreuther Bier, um dessen Güte willen er sich nicht entschließen konnte, aus Bayreuth zu ziehen, herhalten. Immer nur eine ganz [379] bestimmte Zeit des Tages widmete er der Familie und den Besuchern. Es wird verschiedentlich geschildert, wie er plötzlich mitten im Gespräch das Zimmer ohne Gruß verließ, in dem ein Gast saß, um weiterzuarbeiten. Diese grußlose Form des Abschieds war bekannt. Andererseits entsprach es der Lebensfülle dieses Mannes nicht, daß er in einem allzu mechanischen Schema Leben und Arbeit getrennt hätte. Ernestine Mahlmann erzählt in einem Brief 1803: "Sowie er aufgestanden ist, geht er hinauf und trinkt seinen Kaffee während der Arbeit. In der übrigen Zeit des Tages bleibt dennoch ein ständiger Verkehr zwischen Mann, Frau und Kind. Alle Augenblicke kommt er einmal herunter und spielt mit dem Kind, oder die Mutter geht mit dem Kind herauf."

Er konnte nicht zwischen Arbeit und Leben trennen. Niemals hätte er es über sich gewonnen, das Erleben zu beschneiden oder zu rationieren um der Arbeit willen. Denn alles, was er erlebte, ging ja direkt und restlos als neue Beobachtung und Erfahrung in seine Bücher auf, war ihm unendlich wichtig, nicht bloß als Erlebnis, sondern zugleich als Baustein für die Welt seiner dichterischen Gestalten. Jean Paul hat niemals einen historischen Roman geschrieben. All sein Interesse war auf die Gegenwart gerichtet, auf dieses Leben der Gesellschaft um 1800; dieser bürgerlichen Gesellschaft mit ihren hohen Idealen und mit ihren seltsamen und höchst komischen Verschrobenheiten an den kleinen Höfen der Duodezfürsten des zerstückelten heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in seiner Endphase, bevor die Napoleonischen Kriege den Grund zu einer neuen Einheit legten.

Mit dieser leidenschaftlichen Liebe zu Zeit und Gegenwart steht Jean Paul als Sondererscheinung höchst bedeutsam zwischen den klassischen Dichtern von Weimar, die das deutsche Wesen in seinem ewigen, der Antike verwandten Sinn suchten und fanden, und der jüngeren romantischen Generation von Tieck und Wackenroder, die das deutsche Mittelalter wieder aufsuchten und verlebendigten. Jean Paul ist den großen klassischen und romantischen Zeitgenossen gegenüber Realist und aus diesem Grund der große deutsche Humorist geworden. Und er wird aus diesem Grund in der dritten Periode seines Lebens in seinem Alter politischer Schriftsteller, wovon noch besonders die Rede sein wird. Er ist aus diesem Grunde auch immer reiner Prosaist gewesen. Kein Gedicht, kein dramatischer Versuch ist von ihm bekannt, nur Erzählungen, in denen die Menschen seiner Zeit eine Rolle spielen, und Abhandlungen, die politisch oder pädagogisch in die Zeit eingreifen wollen, füllen die sechzig Bände seines schriftstellerischen Lebenswerkes.

Er sprach, wie er schrieb. Das ist das übereinstimmende Urteil aus vielen Zeugnissen der Zeitgenossen. Varnhagen berichtet 1808: "Seine Sprache ist schnell und daher bisweilen etwas stolpernd, nicht ohne einigen Dialekt, der ein Gemisch von Fränkischem und Sächsischem sein mag, natürlich doch ganz in der Gewalt der Schriftsprache festgehalten." Fünfzehn Jahre später, kurz vor seinem Tode, berichtet ein junger Besucher, Franz von Elsholtz, über seine Redeform, "die der Schreibart sehr gleich kam, wobei die Besonnenheit nicht genug zu bewundern war, [380] womit er, nach mannigfachen Parenthesen und Einschiebseln, den Hauptfaden immer wieder ergriff und ohne Nachteil für den Periodenbau glücklich fortwebte". Aus allem, was wir von Jean Paul wissen, läßt sich immer wieder das eine Wesentliche feststellen: er lebte so völlig hingegeben an die Gegenwart, daß ihm das Leben in seiner Einmaligkeit unermeßlich und köstlich erschien und er es deswegen auch unermüdlich in seiner ganzen Realität, in seinen tieftraurigen und verzweifelten und in seinen komischen Situationen den Zeitgenossen darstellte.

Als solch unermüdlicher Realist wurde er, vom Publikum zwar vergöttert, von den zeitgenössischen Dichtern nicht ganz für voll genommen, wie er selbst gerade gegenüber den großen klassischen und romantischen Dichterkollegen ebenfalls ein Abstandsgefühl hatte. Goethe hat ihn immer als "kraus und wirr" abgelehnt. Anfangs, als Jean Paul im Jahre 1796 zum ersten Male nach Weimar kam, hoffte Goethe noch auf ihn. An Heinrich Meyer schreibt er – und jedes Wort ist in dieser Briefstelle bedeutsam –: "Richter aus Hof, der allzu bekannte Verfasser des Hesperus, ist hier. Er ist ein sehr guter und vorzüglicher Mensch, dem eine frühere Ausbildung wäre zu wünschen gewesen. Ich müßte mich sehr irren, wenn er nicht noch könnte zu den Unsrigen gerechnet werden." Bald danach schreibt er schon an Schiller über ihn: "Hier scheint es ihm übrigens wie seinen Schriften zu gehen, man schätzt ihn bald zu hoch, bald zu tief, und niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen." Es wird in einer zwei Jahre späteren Briefstelle an Schiller deutlich, worin Goethe den tiefen und unüberwindlichen Gegensatz sah: Jean Paul habe ihm gesagt, daß es mit der "Stimmung" Narrenspossen sei, er brauche nur Kaffee zu trinken, um so gerade von heiler Haut Sachen zu schreiben, worüber die ganze Christenheit sich entzücke. Dieses und seine fernere Versicherung, daß alles körperlich sei, gibt ihm dann die Gelegenheit, höchst bissig und ironisch zu schließen.

So ist das endgültige Urteil der beiden Großen von Weimar in den "Genien" so formuliert:

      Hieltest du deinen Reichtum nur halb so zu Rate wie jener
(gemeint ist Wieland)
      Seine Armut, du wärst unsrer Bewunderung wert.

Aber Jean Paul hat eben seinen Reichtum niemals zu Rate gehalten. Er hat es weder gekonnt noch gewollt sein Leben lang.

Jean Paul selbst hat bei Goethe zunächst, als er ihn damals kennenlernte, sein "Vorurteil für große Autoren, als wären es andere Leute" gründlich verloren. Er schildert ihn "als kalten, einsilbigen, akzentlosen Gott, den erst der Champagner warm macht". Ebenso abfällig schildert er den "felsigen Schiller, an dem wie an einer Klippe alle Fremden zurückspringen", während ihn mit Herder charakteristischerweise von Anfang an und über den Tod Herders hinaus die innigsten Beziehungen verbanden. Schiller blieb ihm stets unverständlich. So berichtet Karoline [381] an August Wilhelm von Schlegel von einer Aufführung von "Wallensteins Lager", wie Jean Paul mitten aus dem Stück herausgelaufen wäre und gerufen hätte: "Ach, was ist das für barbarisches Zeug!"

Zu Schiller wie auch zu Fichte war von dem Realisten Jean Paul überhaupt keine Verbindung möglich. Das zeigt sich auch in seinem politischen Schrifttum, von dem noch die Rede sein wird. Dagegen hat Jean Paul zu Goethe in seinem späteren Leben eine sehr ehrfürchtige Stellung eingenommen. So sagte er 1801 zu Karl Friedrich Kinz: "Das ist das einzige, was ich vor dem großen Manne voraushabe, daß ich seine Schriften richtiger und würdiger aufzufassen verstehe als er die meinigen."

Ebenso wie der Fichtesche Idealismus war ihm die romantische Vorliebe für "Mittelalter" und "Waldeinsamkeit" zuwider. Jean Paul war durch und durch Humorist. So stellt er in seinen Erzählungen die Schilderungen von Traumgesichten, die zu dem Großartigsten gehören, was die deutsche Prosa hervorgebracht hat – Stefan George hat sie in seinem Jean-Paul-Band gesammelt –, übergangslos und beziehungslos neben höchst komisch geschilderte realistische Stellen, so wie das wirkliche Leben eben das Komische und Erhabene durcheinandermischt. Das scheidet ihn grundsätzlich von der tragisch-ironischen Weltauffassung der Romantiker. "Tieck schien geneigt, weil er die Liebe zu seiner 'Waldeinsamkeit' und das mystische Versteckspiel der Natur nicht teilt, ihm den Dichterberuf abzusprechen", so berichtet Otto Spazier zusammenfassend von einer Begegnung Tiecks und Jean Pauls.

Jean Paul steht in dieser realistischen Leidenschaft zu Gegenwart und Zeitgenossen allein in der klassisch-romantischen Zeit um 1800. Er ist damit Vorfahre der realistischen Anfangsperiode des neunzehnten Jahrhunderts, dessen tiefster und innigster Dichter Adalbert Stifter in seiner Jugend auch sein bedeutendster Schüler ist.

Nach den "Grönländischen Prozessen" und der "Auswahl aus des Teufels Papieren" erscheint 1790 das "Leben des vergnügten Schulmeisterleins Wuz in Auental". Diese erzählungsfreudige, noch heute besonders gut lesbare Idylle zeigt zuerst den neuen Stil Jean Pauls, der sich in der "Unsichtbaren Loge" dann vertieft und verdunkelt. Der Dichter nennt dies Buch selbst "eine geborene Ruine". Das Buch blieb unvollendet, weil er während des Schreibens über die darin geschilderten Charaktere hinauswuchs. Die Gegengestalten, Dr. Funk und Ottomar, kehren unter anderen Namen in späteren Romanen wieder und bezeichnen die Spannungspunkte der Jean Paulschen Doppelnatur, scharfen Witz und schwärmendes Gefühl. Das Freimaurertum, das vielen zeitgenössischen Romanen wie Schillers "Geisterseher" und Goethes "Wilhelm Meister" zugrunde lag, spielt auch in diesem ersten großen Roman Jean Pauls eine entscheidende Rolle. Das Thema ist die Not der Einsamkeit und die Rettung durch das Erscheinen des reinen Menschen. Wie der zehn Jahre unter der Erde von seinen [382] Herrnhuter Erziehern, abgeschlossen von der bekannten Welt erzogene Knabe aus seiner unterirdischen Welt zu Tag und Licht hinaufsteigt, gibt erste Gelegenheit zu den großen Traumgesichten Jean Pauls. Die "Unsichtbare Loge" bringt dem Dichter seinen ersten großen Ruhm. Moritz, der Verfasser des "Anton Reiser", der von dem Manuskript sagt, "es sei noch über Goethe", findet einen Verleger für ihn, und er erhält hundert Dukaten Honorar.

"Hesperus" ist die erste geschlossene Romangestaltung Jean Pauls. Seine Erzählungsweise kommt hier über die Satire hinweg zum echten Humor, der auch die in der "Unsichtbaren Loge" noch kalt verachtete Hofwelt des kleinen Fürstentums, in dem auch dieser Roman spielt, durchwärmt. Das kleine Fürstentum Flachsenfingen ist trotz seiner Lächerlichkeit von dem Dichter geliebt und mit allem Prunk in seiner rokokohaften Spielfreude geschildert. Das Thema ist: Viktor in der Spannung zwischen Flammin und Klotilde, zwischen Freundschaft und Liebe. Das Thema steigert sich in der Leidenschaftlichkeit der Freundschaft wie in der Inbrunst der Liebe ins Heroische. Die mächtige Gestalt des großen Lehrers Dahore steht als formende und führende Kraft hinter allen Ereignissen. Gegenüber dem wirklichen Leben in Flachsenfingen werden die Menschen dieser Erzählung in dem erdichteten Maiental unter anderem Namen zu höherer Wirklichkeit versammelt. Hier in der Schilderung der vier Frühlingsnächte im Maiental erhebt sich diese Dichtung zu einer letzten Höhe deutscher Sprachkraft, zu dem, was Kommerell in einem der Kapitel seines Jean-Paul-Buches als "singende Prosa" beschreibt. Hier wird deutlich, warum Stefan George mit seinem für uns Heutige gültigen Urteil Jean Paul als "die größte dichterische Kraft der Deutschen" gerühmt hat.

In "Quintus Fixlein" wird die idyllische Schilderung des Dorfschulmeisterdaseins, das schon in seinem Wuz gestaltet war, weitergeführt. Es ist die Linie, die dann im Siebenkäs sich zu der höchsten Kraft steigert und dann endigt in des Feldpredigers Schmelzle Reise und Doktor Katzenbergers Badereise: die Rühmung des Kleinen, Alltäglichen in seiner göttlichen Armut. Das Fragment mit dem seltsamen Titel "Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin" ist der erste Versuch, der dann im "Titan" so weit vollendet wird, wie es Jean Paul in seinem von der Fülle bedrängten Leben möglich war: der Versuch zu einer Erzählung, die klar und überschaubar Personen, Gedanken und Handlung in eine große Einheit bringt.

Der "Siebenkäs" steigert sich über die Idylle und die groteske Schilderung der Zopfwirklichkeit zur Schilderung der großen und nun männlich-herben Freundschaft von Siebenkäs und Leibgeber. Das Zusammenstoßen von Erhabenheit und Lächerlichkeit ist in keinem Werke Jean Pauls so bis an die äußerste Grenze getrieben. Die Kapitel des Romans, die den Scheintod des armen Advokaten Siebenkäs und den endgültigen Abschied von seinem Freund Leibgeber schildern, sind ganz groß in dem Aufeinanderprallen von geschmackloser und [383] abstoßender Groteske mit der Schilderung der erhabenen Menschlichkeit und echtem Weltschmerz. Das fühlbare Wissen von der unabwendbaren Einsamkeit des Menschen, die auch durch die glühende Freundschaft und Liebe nicht aufgehoben werden kann, steht als tiefe und letzte schmerzvolle Erfahrung Jean Pauls hinter der Narrenhaftigkeit des Siebenkäs. Die "Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei", zeigt an den tiefsten Stellen dieses Romans seinen furchtbaren Ernst.

Der "Titan" ist Jean Pauls klassisches Werk. Er ist in Weimar gewesen, bevor er es schrieb. Seine ureigene, die krause Wirklichkeit des Alltags und letzte Glaubenskräfte verbindende dichterische Kraft hat, soweit das irgend möglich ist, hier die klare und ordnende Kraft Goethes und Schillers in ihrer klassischen Freundschaftszeit aufgenommen. In Albano, dem Helden des "Titan", ist der deutsche Jüngling wirklich Gestalt geworden, der in dem Gustav und Viktor der "Unsichtbaren Loge" und des "Hesperus" noch als Idol einer in seiner eigenen Seele empfundenen Möglichkeit umschwärmt wird. Aus der dunklen Höhlenlandschaft der "Unsichtbaren Loge" und dem Maiental des "Hesperus" wird nun die klar geschilderte südliche Landschaft des Lago Maggiore, auf deren ganz realistische Schilderung Jean Paul, obgleich er niemals im Süden war, besonders stolz gewesen ist. "Der Titan" ist ein Erziehungsroman, die Geschichte der Entwicklung eines edlen Jünglings, der zur Herrschaft bestimmt ist. Die pädagogische Uranlage Jean Pauls findet hier in gestalteter Form ihre höchste Ausprägung, wie sie später dann in der "Levana" theoretisch ergänzt wurde. Es ist die Geschichte der Entwicklung des königlichen Jünglings, der geeignet ist, das Reich zu schaffen, das seiner würdig ist.

Höchst charakteristisch ist, daß im "Titan" der Freund, der in den früheren Romanen Jean Pauls als die große Ergänzung geschildert wurde, besonders in dem Freundespaar Leibgeber und Siebenkäs, für Albano letzten Endes nicht mehr nötig ist und zum großen Feind umschlägt. Roquairol ist das Symbol der heißen Feindschaft des großen Menschen. Auch die Frauenliebe des Albano, die von der Liebe zu Liane bis in die Liebe zu der stolzen Frau Linda de Romeiro sich spannt, enthält, ins Reale gesteigert, alles, was Jean Paul erlebt, nicht nur, was er erträumt hat. Auch der "Titan" zeigt mit seinem Abschluß, der dunkel bleibt und nicht zu einer klassischen Lösung kommt, die Doppelwelt Jean Pauls in ihrer ganzen Zwiegespaltenheit. Nur die ersten beiden Bände stehen unter dem Einfluß Weimars. In den beiden letzten Bänden, in denen die humoristische Gestalt Schoppes dominierend wird, wird die Einheit des Romans wieder aufgehoben. In der Geschichte des Luftschiffers Gianozzo, die in dem "komischen Anhang" dem "Titan" folgt, wird in der gewaltigen Schilderung der Luftfahrt, die mit Gewittersturm und Sturz in die Tiefe endet, eine letzte symbolische Überhöhung dieses großen Romans der im deutschen Wesen liegenden Tragödie der Willensüberspannung gegeben.

[384] Nach dem Abschluß des "Titan" in Berlin 1801 hat sich Jean Paul verheiratet. Es beginnt die dritte Lebensepoche Jean Pauls, in der der geniale Dichter des "Hesperus" und des "Titan" zum Familienvater und guten Ehemann wird und, in seine Heimat zurückgekehrt, seßhaft wird und schließlich in Bayreuth um des guten Bieres willen wohnen bleibt. Aus dem hageren Jüngling wurde damals der starke Mann, den die Zeitgenossen bald unter dem Bild eines biederen Pächters oder gar eines Bierbrauers beschreiben.

Jean Paul in der Gartenlaube des Kammerrats Miedel in Bayreuth, dichtend.
[384a]      Jean Paul in der Gartenlaube des Kammerrats Miedel in Bayreuth, dichtend.
Zeichnung von seinem Schwager Ernst Förster. Berlin, Sammlung Lipperheide.

In den Beginn dieser nachweimarischen Zeit fällt das letzte Werk dieser mittleren, also der eigentlich dichterischen Periode seines Lebens: die "Flegeljahre". Auch in diesem Roman ist der Held wieder wie Albano der Jüngling in seinem Jugendwollen. Aber es ist nicht mehr der fürstliche Jüngling, sondern Walt, der Held der "Flegeljahre", ist der junge Mensch im Kreis der täglichen kleinen Umwelt jener Zeit. Der Humor ist in diesem Werk nicht mehr an einen einzelnen Träger wie etwa im "Titan" an Schoppe gebunden, sondern er durchwogt das ganze Werk, die Beziehungen aller Personen zueinander. Die komisch-heilige Beziehung des jungen Walt zu allem, was in dieser seltsamen Welt geschieht, zu zeigen, ist das Thema des Romans. Das Zusammenfinden mit seinem Zwillingsbruder, dem Flöte blasenden Vult, und schließlich die erneute Trennung von ihm ist der Gegenstand der Erzählung, die meisterhaft und viel verhaltener als früher, nicht mehr schwärmend, sondern objektiv berichtend vergeht. Die Streckverse, die "Urform" Jean Pauls, wie Bertram sie bezeichnet, bilden in diesem Roman die Höhenstellen, wie in den früheren Romanen die Träume und großen Phantasiegesichte. In diesen Gebilden kommt Jean Paul zu einer in jedem Wort beseelten schwingenden Kürze.

Jean Paul hat nach Abschluß der "Flegeljahre" in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens nur verhältnismäßig wenig größere erzählende Werke geschrieben. Theoretische und politische Schriften beanspruchen das Wesentliche seiner dritten Schaffensperiode, die zusammenfällt mit der großen Periode der Napoleonischen Kriege, die Deutschland und Europa äußerlich und innerlich völlig umwandelten. In dieser Zeit brachte er zunächst seine dichterische Werkerfahrung mit der "Vorschule der Ästhetik" unter Dach und Fach. In diesem Buch, das nicht Begriffe, sondern das Wesentliche des Dichterischen darstellt, sind besonders und bis auf heute entscheidend wichtig die Kapitel über das Lächerliche. Die Weltweite dessen, was Humor im Deutschen bedeutet, wird hier klar. Wenn in der "Ästhetik" die Form seines Sprachwerkes zum Gegenstand der Betrachtung wird, so in der "Levana oder Erziehlehre" der wesentliche Inhalt all seiner bisherigen Romane, die Erziehung zum Menschen. Die "Levana" ist eines der lebendigsten pädagogischen Bücher nach Pestalozzi und eine Fundgrube für tiefste pädagogische Einsichten.

Einen sehr großen Raum nehmen in diesen zwei Jahrzehnten die politischen Schriften Jean Pauls ein. Früher war ihm Vaterlandsliebe nur "eine eingeschränkte Menschenliebe" gewesen. Nach 1783 hält er von der "Liebe zum Vater- [385] lande nicht viel", und er konnte dem "Zufall der Geburt" nicht "so viel Wichtigkeit beimessen". Obgleich ihn der Krieg von 1806/07 eigentlich auch nur, wie er sagt, "von der Weltbürgerseite traf", wird damals doch eine Beschränkung seiner aufs Allgemein-Menschliche gerichteten Empfindung bemerkbar. "Für die Menschheit gäbe er zwar die Deutschheit gern her", so bemerkt Plank in seinem Buch über 'Jean Pauls Dichtung im Lichte unserer nationalen Entwicklung', "sobald aber beide einen gemeinsamen Feind haben, so wendet er seine Augen von diesem."

Dieser Gedanke der Abwehr der Feinde ist in der Zeit des preußischen Zusammenbruches so stark in dem Dichter geworden, daß er seinen Sohn damals zum Soldaten erziehen wollte, damit er später bei dem Werk der Befreiung mit Hand anlegen könnte. Er hoffte wie damals die meisten Vaterlandsfreunde auf Preußens Zukunft. "Immer heller wird jetzt der preußische Staat, der letzte deutsche", sagte er. Der Abwehr nach außen entsprechend, fühlt er zugleich die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses im Innern des Landes. Die Gleichgesinnten sollten sich "aneinanderdrängen... um einen festen Lebenskern zu bewahren".

Als ihn Perthes 1805 aufgefordert hatte, "zur Rettung des nationalen Bestandes" einem heimlichen Bunde beizutreten, der "ein Verständnis deutscher Männer untereinander" bezweckte, hatte Jean Paul geantwortet: "Taug' ich in Ihren Bund, so will ich gern ein Dorn, ein Stiel, ein Blatt in diesem Kranze sein... alle Ihre patriotische Glut teil' ich, und knirsche so oft mit den Zähnen als irgendein Deutscher." Trotz allem aber warf er den einschränkenden Gedanken in die bejahende Antwort hinein: "Ein Dichter als solcher wirkt freilich auf den Weltkreis." Jean Paul wußte sehr wohl, wie köstlich es ist, entschieden "Partei zu nehmen", "wie dann alles leicht wird, die Flamme dafür hoch und frei aufgeht". "Aber kann ich?" fragt er zuletzt immer zweifelnd. Er meint dies im Sinne des "darf". Die spannungsreiche, jeder Starrheit ausweichende Seele dieser "größten dichterischen Kraft der Deutschen", dem auch Moeller van den Bruck in seiner "Deutschen Menschengeschichte" einen großen Raum widmet, ist kein "Patriot" im Sinne Arndts oder auch Fichtes, mit dem er viele Auseinandersetzungen hatte.

Varnhagen hatte 1809 eine längere Unterredung mit Jean Paul, aus der man jenes weltoffene Vaterlandsgefühl Jean Pauls gut heraushören kann. Sein Gesamteindruck ist dieser: Was Jean Paul sagte, war tief, verständig, herzlich, tapfer, deutsch bis in die kleinste Faser hinein. Aber dennoch: "Fichtes Reden an die deutsche Nation, gehalten unter dem Geräusch französischer Trommeln, waren und blieben ihm unheimlich; die Entschiedenheit dieser Kraft ängstete ihn." In einer Besprechung der Fichteschen Reden nimmt Jean Paul im gleichen Sinne Stellung. "Obwohl im Streite über das Mehr oder Weniger", ist er mit Fichte doch einverstanden in der Richtung seines Werkes, "welche den echt-deutschen Geist, nicht den unecht-deutschen Geist anregt, begeistert und bekörpert, einen Geist, den wir weniger gegen die Feinde als gegen die Zeit zu retten haben". Hier treffen [386] sich seine Gedanken mit denen Herders, dem er zeitlebens unbedingt folgte. Herder, dieser "Gesichtsmaler der Völker und Landschaftsmaler der Zeiten", scheint ihm "voller und lebendiger", "Völker und Zeiten als Ganzes erfaßt" zu haben, das Übermaß und die Einseitigkeit der "Fichtisten" sucht er stets ins Herdersche abzudämpfen.

Im Geiste Herders sah Jean Paul in seiner "Friedenspredigt" 1808 "ein weltseitiges Deutschland" als das letzte politische Ziel. Seine politischen Schriften von 1808 und 1809, insbesondere die Friedenspredigt und die "Kriegserklärung gegen den Krieg" in den "Dämmerungen" sind voll von diesen Gedanken "der Allseitigkeit, des Weltsinnes und des Kosmopolitismus der Deutschen". Deutschland ist für ihn "mehr Idee als Land". Sein Blut als des "Herzens Europas" muß in den fernsten und fremdesten Teilen der Welt umgetrieben werden. Das Wissen von dieser Lockerheit und doch kraftvollen Großsinnigkeit im Bau der deutschen Seele bezeugt er sehr eindringlich in einem Bilde: "Deutschland gleicht seinem Münsterturme, welcher vielfach und durchbrochen und zartzweigig, doch stammfest vor den Zeiten steht." Den Hang zur Ferne und zum Fremden sieht er in einem tief bejahenden Sinne: "Im Gegensatz zu anderen Völkern, denen Fremder und Feind gleichklang, ist dem Deutschen Fremder und Freund sinnverwandt."

Diese weitfassende Erkenntnis deutschen Wesens gibt ihm eine Zuversicht in die deutsche Zukunft. Die Geschichte hat bestätigt, was er gläubig in der "Friedenspredigt" 1808 verkündigt. "Nur Einseitigkeit kann am Entgegengesetzten sich brechen, ja sich in diesem verlieren. Aber wir weltseitigen Deutschen sind nicht auszulöschen." Jean Pauls politische Gedanken über die Zeit sind nicht beiläufig gedacht, vielmehr von dem ernsten Willen getragen, die allgemeine Verwirrung schlichten zu helfen. Jean Paul gibt es selbst klar kund, und es klingt uns wie heute geschrieben: "In der jetzigen Zeit nicht der Völkerwanderung nach außen, sondern der Völkererregung nach innen, wo Weltteile einander bewegen und ein Land um das andere zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und am Ende so begeistert, daß ihm Zeitungen so viel gelten wie Dichtungen, wenigstens das Herz will mitschlagen helfen..."

Diesem großen politischen Gedanken brachte Jean Paul in seiner letzten Lebensperiode sein eigenes Werk zum Opfer. Den ganzen Bau seiner Dichtungen hat er stehengelassen und hat diese zwei Jahrzehnte sein Teil beigetragen, die Deutschen politisch schulen zu helfen. Damit ist er, nachdem er seine dichterische Laufbahn mit den "Flegeljahren" nahezu vollendet hatte, zum Propheten und Lehrmeister der Deutschen geworden. Seine Wirkung war nun eine unmittelbare, nicht entfernt zu messen an dem, was er geschrieben hat. Nur so ist es zu begreifen, daß ihn seine Zeit so überschwenglich verehrte und die Folgezeit ihn so ungerecht vergaß und verwarf.

Gegen das Jahr 1805 fällt für Jean Paul die Entscheidung zum Opfer seines bisherigen Werkes. Seine langausgedehnte Jugend ist abgeschlossen. Er hat sich [387] verheiratet, hat Kinder und Hausstand. Er sieht alle Dinge realistisch und mit einem immer tieferen Humor. Seine großen Romandichtungen, die Behälter seiner hohen Träume und Sehnsüchte: "Hesperus", "Fixlein", "Siebenkäs", "Titan", "Flegeljahre", drängen sich in dies vergangene Jahrzehnt 1795 bis 1805. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er dann eigentlich nur noch ein großes Dichtwerk, den "Komet" vollendet. Tatsächlich hat er nach 1805 den größten Teil seiner dichterischen Kräfte der Zeit und dem Tage aufgeopfert. Zu den politischen Schriften, die seine eigene Aufzählung schon enthalten, kommt noch eine Fülle von Aufsätzen und Fragmenten, die dann nach seinem Tode Förster als "Politische Nachklänge von Jean Paul" im Jahre 1832 herausgab.

Der Fülle seines dichterischen Jahrzehnts steht diese Fülle des Tagesschrifttums in den beiden letzten Jahrzehnten gegenüber. Was dies Gegenüber eigentlich bedeutet, ist von den Biographen Jean Pauls oft nicht genügend herausgebracht worden. Sie nennen es "Nachlassen seiner dichterischen Kraft". Aber vielleicht sehen sie nicht genug: daß dies Zerspringen seiner großen Dichtersehnsucht in wirksame kleine Tagesschriften das Opfer bedeutet, welches er der unruhigen Zeit darbrachte, ein Opfer, das wir heute, in unserer Zeit, so gut verstehen können.

Man muß wissen, was für Leiden dies den Dichter kostete, wie er sich oft aufgezehrt und abgemüdet von diesem Tagesdienst fühlte. Er ist froh, wenn es ihm einmal gelingt, "seiner politischen Gemütsverfassung mit keinem Wort zu gedenken", so schreibt er an Jacobi. Oftmals ist ihm wie einem Verdammten zumute: "starr, trocken und kalt." "Der Frühling und alle Sternenhimmel haben ihm nichts an." Er muß "starr-kalt bleiben, bis das große Welt-(Europa-)Spiel gewonnen ist". Wie seltsam modern muten solche Worte an. Noch an seinem Sterbetage, so berichtet Otto Spazier, beschäftigte er sich mit dem Schicksal von Deutschland-Europa, "mit Wünschen, Erwartungen, Hoffnungen von der Zukunft der Völker".

Die Wirkung einer mehr als zehnjährigen politisch-lehrenden Tätigkeit ist tief. Der Dank der Zeitgenossen ist groß und voll Verständnis für die geistige Tat dieser politischen Schriften, die lehren, das "Menschheitliche nicht zu verlieren". So schreibt Varnhagen nach Empfang der "Dämmerungen", und es klingt der ganze Stolz des Zeitgenossen aus seinen Worten: "Wie glänzend wird nicht unsere Zeit den Nachkommen erscheinen, wenn sie unsere Bücher, dies Buch betrachten." Die Menschen von damals hörten in Jean Paul etwas wie die unfehlbare Stimme ihres eigenen Gewissens. Er war ein notwendiger Teil in ihrer aller Wesen geworden. "Sein Jean Paul, sein Freund und seine Geliebte", so sagte man damals, sind die "schönsten Besitztümer" jedes Menschen. So gilt der alte Jean Paul, zu dessen Arbeitszimmer in Bayreuth und in der Rollwenzelei man pilgerte, als ein "alter Tribun der neuen, jugendlichen Zeit".




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz