SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[Bd. 3 S. 151]
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770 - 1831, von Friedrich Brunstäd

Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
[160a]      Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
Gemälde von Jacob Schlesinger.
Berlin, Nationalgalerie.
"So ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt." "Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." Mit diesen Sätzen aus der berühmten Vorrede zu seinem letzten Hauptwerk, zur Philosophie des Rechts, hat Hegel von seinem eigenen Philosophieren Zeugnis abgelegt. Alles, was in den beiden Menschenaltern um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts auf deutschem Boden, im Gesamtbereiche deutscher Wirklichkeit gelebt und gestaltet, erkämpft und durchlitten worden ist, ist in diesem System "erfaßt" worden. Und dieses System steht am Ende des Zeitalters, an der Grenze seiner Möglichkeiten, die es in sich abschließt, es ist das letzte Wort dieser Geschichte, die zeitlich nahezu mit den Lebensjahren Hegels (1770–1831) abzugrenzen ist. Es ist so zu verstehen, sowohl daß dieses Gedankengebilde in der Zeit seiner vollen Reife und Ausbildung zu einer Geltung und Anerkennung, zu einer Geistesmacht gelangt ist, die kein philosophisches System in Deutschland vorher oder nachher gewonnen hat, als auch daß schnell und jäh ein Abbruch geschah, als eine neue Zeit heraufkam, daß alles "Epochenressentiment" der neuen Geschlechter aus den beiden Menschenaltern, die wir das eigentliche neunzehnte Jahrhundert zu nennen haben, sich auf die Hegelsche Philosophie richtete und der stärksten Wirkung und Anerkennung lange Jahrzehnte der Geringschätzung, ja der Vergessenheit folgten und die Überlieferung Hegelschen Denkens in Deutschland geradezu erstarb. So gewiß freilich jedes Geschlecht, mag es das wollen und wissen oder nicht, aller Gegensätzlichkeit zum Trotz von und mit dem Ertrage des vorangegangenen lebt und dieses Erbe im Negativen und Positiven Voraussetzung seines Daseins ist, wie eigenwillig auch immer es selbst seiner Wege geht, so hat auch der Ertrag, der in Hegels System "in Gedanken erfaßt" und geformt war, weitergewirkt, losgelöst aus dem Formzusammenhang des Systems, auch da, wo er in solcher Loslösung sich entleerte und verkehrte. Und als abermals, um wieder mit Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie zu reden, "eine Gestalt des Lebens alt geworden war", eine geschichtliche Stunde zu Ende ging und ein Schicksal heraufzog und sich entlud, in dem sich mit neuer Gestalt und Gewalt Notwendigkeiten wiederholten, um die einst jene Wendezeit aus ursprünglicher Ahnung und Strebung sich bemüht hatte, da traten in solcher Erschütterung und Bewegtheit Antriebe und Fragen hervor, die zu Hegel hindrängten und für Hegels Philosophieren aufschlössen. Die Gegensätzlichkeit gegen das "neunzehnte Jahrhundert", das von Hegel und seiner [152] Denkart nichts wissen wollte und konnte und sich zu ihm so gegensätzlich stellte, führte dazu, dort anzusetzen, wo einst so jäh abgebrochen worden war. Man kann geradezu von Neuhegelianismus reden. Je stärker und eigener, je tiefer und umfassender diese neue Wende und dieser neue Ansatz erfahren und gewagt wird, desto weniger wird man nur Hegels geschichtliche Gestaltung wiedergeben oder nachbilden, desto mehr wird man auf der Bahn, die er vorgezeichnet und betreten hatte, über die Grenze hinausdrängen, die ihm gesetzt war. Weil geschichtliche Bedrohung und geistige Not durch den Ausgang, den das neunzehnte Jahrhundert genommen hat, bis in die Wurzel und Quelle der Lebenswirklichkeit vordringen, können nun Gegebenheiten durchbrochen werden, die für Hegel noch bestanden und Grenze seiner geschichtlichen Möglichkeiten waren.


Die klassische deutsche Kulturschöpfung unserer großen Dichtung und der idealistischen Philosophie, des neuen Geschichtsdenkens und der entstehenden Geisteswissenschaften setzt sich entschieden ab von dem Zeitalter des "Rationalismus", der "Aufklärung", des "natürlichen Systems" oder des "Systems der Natur". Man muß diesen Gegensatz zu fassen versuchen, wenn man den Ansatz des Denkerlebens Hegels, die Art seines Einsatzes innerhalb seiner geistigen Welt und den Antrieb seiner Systembildung verstehen will.

Die Jugend unserer abendländischen Kultur ist wie alle junge Kultur religiöse Einheitskultur. Die christliche Kirche nach der Gestaltung, die sie in der ausgehenden Antike gewonnen hatte, bietet den jungen Völkern eine festgeprägte Lebens- und Lehrordnung dar, welche die mittelalterliche Kultur- und Sozialverfassung formt, und vermittelt in dem von ihr bewahrten Erbe der Antike auslösende und bildende Kräfte kulturellen Wachstums. Die ganze Lebensgestaltung ist religiös begründet und geleitet. Die kulturellen Wertarten und Wertgebiete, Wissenschaft, Kunst, Ethos, Staat, Recht und Wirtschaft, sind in der Gärung des Entstehens vom religiösen Wertgrunde umschlossen. Die Menschen der jungen Kultur sind in typischen Urformen des Lebens gehalten, gebändigt in ihrem Lebensdrang und ihrer Lebensnot, gegen Gesamtheit und Gemeinschaft, Überlieferung und Sitte nicht verselbständigt, von einfachen Grundantrieben, die Inhalt des Gemeinlebens sind, fraglos geleitet in dunkler Bindung an eine überwältigende Wertwirklichkeit, deren sie inne sind. Die mittelalterliche Lebensordnung wird gesprengt einerseits durch die kirchliche Bewegung, durch die Reformation, in der sich das Evangelium aus der Gestaltung, Entstellung und Verkehrung durch die Mittel antiker Kultur und Religion losringt, andererseits durch das kulturelle Wachstum selbst, indem die innere Fruchtbarkeit die keimhafte Hülle durchbricht und große Bewegungen auf Sonderung und Gliederung drängen, in welcher die einzelnen Kulturwerte sich nach und nach zu Eigenständigkeit und Eigengestaltigkeit durchbilden. Wir nennen dieses Wachstum die Verweltlichung der Kultur. Solches Wachstum und [153] solche Ausgliederung finden wir auch in dem Drängen der Menschen auf Selbständigkeit, auf Entscheidung aus eigener Innerlichkeit, auf Individualisierung und Persönlichkeitsbildung. Im Glaubenszeugnis der Reformation wird das eine wie das andere bestätigt. Renaissance und Humanismus lösen das antike Erbe aus der kirchlichen Überlieferung, es mit eindringendem Verständnisse in immer weiterem Umfange erschließend. Das "natürliche" Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit stellt sich her in Erneuerung seiner typischen Gestaltung in der griechischen Philosophie. In den konfessionellen Kämpfen und den Religionskriegen erschöpfen sich die Kräfte des Glaubens. Ihre Gestaltungsfähigkeit wirkt sich in der festgeprägten Bildung der Konfessionskirchen aus, mit einer neuen Scholastik, die einerseits den katholischen Lehrbestand abschließt, andererseits das reformatorische Zeugnis in dem Lehrsystem der altprotestantischen Orthodoxie mit notdürftiger Strenge bewahrt. Ein neues Staatensystem, in dem die Wirklichkeit des Volkstums in neuzeitlichem Sinne sich ankündigt, bildet sich aus. Deutschland und das Reich ist das Trümmerfeld dieser Kämpfe, auf dem nur abgesonderte Bildungen mit eng umgrenzter Festigkeit sich behaupten, während die Randstaaten Europas den politischen und kulturellen Vorsprung gewinnen und in jedem Sinne die neuentdeckte Welt in Besitz nehmen.

Aus diesem vielgestaltigen Geschehen geht die "Aufklärung" hervor. Bei den anderen Völkern Europas setzt sie sich geradlinig bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein fort, wenn auch in mannigfacher Abwandlung, unter mannigfachen Gegenwirkungen und Rückschlägen, wenn auch immer umgrenzt und berichtigt und an entscheidenden Punkten geradezu aufgehoben durch die Wirklichkeit des Lebens, die hier in unangefochtener Beständigkeit wachsen und sich erhalten konnte. In Deutschland wird die Aufklärung unterbrochen. Weil hier keine fraglose Lebenswirklichkeit widersteht, wird die Aufklärung eine lebenbedrohende Frage, die geistige Gegenbewegung auslöst, wo und wie immer man der Bedrohung innewird. Aufklärung ist die Fortführung der Verweltlichung der Kultur zur Diesseitskultur. Die Wertarten und die Kulturgebilde, in denen ihre Eigengestaltigkeit Bestand gewinnt, erscheinen als etwas Letztgültiges, Absolutes. Sie werden damit aus ihrem begründenden Ursprunge gelöst und verlieren darüber auch den tragenden Zusammenhang untereinander. Sie werden "verabsolutiert".

Die Bezeichnung Aufklärung hat einen doppelten Grund. Es handelt sich um einen Auflösungs- und Zersetzungsvorgang, wie wir sagen, daß wir einen verwickelten Zusammenhang aufklären, wenn wir ihn in seine Momente und Teile zerlegen und seine Zusammensetzung aus solchen Teilen aufzeigen. Und das Erkennen, das theoretische Verhalten, die ratio geht dabei voran und gewinnt die Herrschaft über das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen, auch über die anderen Wertfunktionen. Die Verabsolutierung des theoretischen Wertes, der Wissenschaft, ergibt den Rationalismus. Das Ganze und die Mannigfaltigkeit des kulturellen Lebens wird [154] von dem verabsolutierten Teilgebiet aus gesehen und der Vorherrschaft der so verabsolutierten Teilfunktion unterworfen. Die Verabsolutierung des ethischen Wertes ergibt den Moralismus, die des ästhetischen Wertes, der Kunst, den Ästhetizismus, die des Lebens den Eudämonismus, die der Wirtschaft den Ökonomismus oder Mammonismus, dazwischen steht der Militarismus. Es gibt auch eine Verabsolutierung des Staates, die sich in der Lehre von der Staatsräson anbahnt.

Diese Verabsolutierungen sind samt und sonders Vergewaltigungen und Zerstörungen der Lebenswirklichkeit und haben auch die Verfälschung und Zerstörung der verabsolutierten Teilfunktion selbst zur Folge, wie eine ausgeführte Kulturphilosophie dartun kann. Wo der Hergang bis in alle Folgerichtigkeit sich vollziehen kann, führt er in Wertzerfall und Kulturkrisis hinein. Bei den Menschen entspricht diesem Geschehen die Herausstellung des absoluten Individuums, des losgelösten selbstherrlichen Einzelnen. In der aufklärerischen Kultur gehen alle jene Ismen durcheinander, und sie wird beherrscht von diesem Individualismus. Religion in dann Vor- oder Unkultur, ein Stück primitiver Vorzeit, im Ganzen und Eigentlichen durch die Kultur abgelöst. Ihr Wahrheitsmoment wird herausgearbeitet, indem sie auf eine Kulturfunktion zurückgeführt wird, als metaphysische Weltanschauung, als eine Art Moral, als ästhetische Weltverklärung, als gesteigertes oder verdrängtes Lebensverlangen und so weiter. Oder sie wird als eine Art menschlicher Lebensbewegung wie ein anderes Gebiet der Kultur eingegliedert, als eine Lebensäußerung der Menschennatur, die bei entsprechend veranlagten Einzelnen besonders hervortritt.

Die Grundhaltung der Aufklärung ist der Rationalismus. Auch wo etwa auf dem Wege des Ästhetizismus und des Eudämonismus Irrationalismus entsteht, bleibt er im Banne der Grundvoraussetzung als vergeblicher Versuch, ihr in bloßer Verneinung zu entfliehen, eine Krisenerscheinung. Das theoretische Verhalten bestimmt das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen überhaupt, das so "natürlich" und selbstverständlich erscheint. Was man so Rationalismus nennt, ist das gegenständliche Denken. Darin ist das Urphänomen wirksam, daß der Mensch der Wirklichkeit durch erfahrenen Widerstand innewird, als eines Etwas, das unabhängig von ihm ist und ihm entgegensteht. Wirklichkeit ist demgemäß Gegenstand, Ding, als für sich Bestehendes, Beharrendes, dann Substanz, die identisch ist, ein Absolutes, eine absolute Dinghaftigkeit oder Realität. Diese ist gegenüber aller Mannigfaltigkeit und aller Veränderung das Wahre, das Wesen. Der Mensch, das Subjekt, steht diesem Gegenstande gegenüber. Erkennen ist Beziehung auf den Gegenstand, Übereinstimmung mit ihm, Wiedergabe, Abbildung des Gegenstandes durch die "Eindrücke", die er bewirkt. Gültigkeit, Wahrheit im Erkennen ist Gegenständlichkeit, "Objektivität".

Die griechische Philosophie ist die folgerichtige Entfaltung dieses Grundgedankens. Das Denken der Wirklichkeit als absolute Realität ist Metaphysik. Die Arten der Metaphysik unterscheiden sich darin, wie man meint, diese Gegenständlichkeit, das Ding an sich, bestimmen zu [155] können. Die atomistische Materie ist der einfachste Ausdruck dieses Substanzprinzips. Die Ideenlehre behauptet, das an sich Seiende, für sich Bestehende sei das begriffliche Wesen, immaterielle Substanz, sie ist Begriffsrealismus oder objektiver Idealismus. Der Begriff hat deswegen Gültigkeit, weil das in ihm Gedachte das absolut Reale ist. Es kann auch ein bestimmungsloses ureines Sein gesetzt werden, als absolute Identität oder Indifferenz, ein indifferentes, unterschiedloses Absolutes und eine absolute Indifferenz, das Ursein in allem Seienden, das nur in Negationen alles Bestimmten und Konkreten durch die Nichtigkeit aller Mannigfaltigkeit und Vielheit erreichbar ist.

Der Metaphysik folgt als ihr Schatten die Skepsis. Ist Wahrheit und Erkenntnis Abbilden einer absoluten Realität, dann ist sie unmöglich. Das Ding an sich ist unerkennbar, ich kann es immer nur erkennen, wie es nach den durch meine Beschaffenheit mitbedingten Eindrücken mir erscheint, der Phänomenalismus. Wir sind auf das Gegebene unserer Vorstellungen eingeschränkt und können immer nur gemäß der Bedingtheit dieser unserer Beschaffenheit und Lage urteilen, der Positivismus und Relativismus.

Wenn wir uns so der Wirklichkeit als Gegenständlichkeit gegenüberstellen, dann ist unsere Beziehung zu ihr auf das theoretische Verhalten begründet. Der Mensch trennt sich bei dieser Gegenüberstellung in der Reflexion, der Zurückbeziehung auf sich selber, von der Wirklichkeit. Reflexion kann der Name für gegenständliches Denken werden, auch in der Weise, daß darin die Wirklichkeit gemäß der Zurückführung auf absolute Realität in Elemente zerlegt wird, aus denen sie sich zusammensetzt und deren Verbindung und Trennung durch räumliche Bewegung alles Geschehen ausmacht (mechanische Erklärungsart). Der Mensch, nach gegenständlichem Denken wie ein Ding dem Dinge gegenüberstehend, wird selbst ein Objektausschnitt seines eigenen Denkens. Wirklichkeit als Gegenständlichkeit ist "Natur". Um der vermeintlichen "Objektivität" willen wird alles in Natur verwandelt, auf Gegenständlichkeit und gegenständliche Verhältnisbestimmungen zurückgeführt. Die Wirklichkeit ist ein System der Natur, ein natürliches System.

Die vorkantische neuzeitliche Philosophie ist die Erneuerung und Entfaltung dieses gegenständlichen Denkens als des "objektiven" Verhaltens zur Wirklichkeit. Man setzt materielle und immaterielle Substanzen nebeneinander (Descartes) oder eine absolute Substanz mit den Attributen Ausdehnung und Denken (Spinoza) oder nur immaterielle Substanzen, substantielle Formen, "Seelen", "Monaden" (Leibniz). Die phänomenalistischen, positivistischen, skeptischen Folgerungen ergeben sich alsbald unvermeidlich. Sie werden in der englischen Philosophie (Locke, Hume) herausgestellt. Im Zusammenhang mit der neuen mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft erneuert sich der atomistische Materialismus, obwohl in ihren Prinzipien ganz andere Gedanken sich schon ankündigen, im Begriff des Naturgesetzes, der Kausalität, der Funktion, der Kraft, der Gravitation. Das folgerichtige gegenständliche Denken bedroht von der Skepsis her gerade diese [156] Prinzipien der Naturwissenschaft, Kritik des Substanz- und Kausalbegriffs. Die Auseinandersetzung mit der kirchlichen Verkündigung und Lehre erfolgt in der sogenannten natürlichen Theologie: Gott ist das allerrealste Wesen, das höchste Wesen, die höchste Monade; die Seele ist die einfache immaterielle Substanz, darin unzerstörbar, unsterblich und unabhängig, frei. Diese ihre Unabhängigkeit und Unberührbarkeit ist Tugend. Gott, Freiheit, Tugend, Unsterblichkeit ist die natürliche Religion, Religion auf gegenständliches Denken, auf Metaphysik zurückgeführt. Natürliche Moral ergibt sich als Durchführung dieser Unabhängigkeit und Unantastbarkeit in wechselseitiger Achtung. Naturrecht ist die Vorbedingung, in der solche wechselseitige Achtung sichergestellt wird. Oder man erforscht die Menschennatur, Psychologie als Behandlung des Objektausschnittes Mensch, wobei die "Seele" in ihre Elemente zergliedert und aus Zusammensetzung dieser Elemente hergeleitet wird (Vermögens- und Assoziationspsychologie).

Das Gemeinleben wird von den absoluten Individuen, die seine substantiellen Elemente sind, abgeleitet. Der Inbegriff dieser Individuen und ihr Beieinander ist die Gesellschaft. In Anziehung und Abstoßung nach den Bedingungen ihrer Natur und den darin angelegten mannigfachen Bedürfnissen bringen die Individuen die mannigfachen Verbände hervor, die Formen der Gesellschaft sind, "Assoziationen": Ehe und Familie, wirtschaftlicher Verkehr, Staaten, kulturelle Vereinigungen. Grundform des Gemeinlebens ist der Vertrag und Grundbedingung der Gesellschaft ist, daß Verträge gehalten werden. Der Staat sorgt mit seinem Recht für die Erhaltung dieser Grundbedingung des Verkehrs und befördert mit seiner Verwaltung seine ungestörte Abwicklung. Das wohlverstandene Interesse der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung treibt die Menschen zu solchen Verbindungen. Es ergibt sich eine eudämonistische, utilitaristische Ethik mit dem Ziel des höchsten Glücks der größten Zahl auf Grund der Gleichheit aller, der Sozialeudämonismus. Der Gedanke der Entwicklung kündigt sich an als der eines Hervorgehens immer verwickelterer Gebilde aus der sich steigernden Zusammensetzung einfacher Elemente. Er kann das Stichwort des gegenständlichen Denkens werden. Vernunft ist dieses gegenständliche Denken. Alles an der Wirklichkeit, was nicht so gegenständlich faßbar und ableitbar ist, wird weggedeutet oder für Trug und Schein erklärt.

Die klassische deutsche Kulturschöpfung wächst aus der geistigen Welt der Aufklärung heraus und ist in allem der Widerspruch zu ihr. Die Frage ist, wieweit ist dieser Widerspruch noch Gegensatz auf derselben Grundlage, gleichsam Kehrseite, und wieweit ist er radikale Umkehr, Gewinnung einer neuen Grundvoraussetzung überhaupt, wieweit ist er bloße Gegenwirkung, wieweit wirkliche Überwindung. Daß ein letzter Durchbruch nicht gelingt, ist die Grenze dieser geschichtlichen Gestaltung. Und darum hat sich auch im neunzehnten Jahrhundert die Aufklärung wiederhergestellt, wenn auch aufnehmend und auswertend, was in unserer klassischen Zeit erkannt und gewirkt wurde.

[157] Die entscheidende Wendung des Denkens, die Kritik der Vernunft selbst bleibt in solcher Zweideutigkeit stecken. Kant redet, weil sein Denken aus der Selbstzersetzung der Metaphysik hervorgeht, weithin die Sprache des Phänomenalismus, aber seine kritische Frage: was ist gegenständliche Beziehung überhaupt, prüft den Grundansatz, setzt ihn nicht ungeprüft fraglos voraus, sondern stellt ihn in Frage, und die Antwort, die er gibt, ist in der Tat eine "kopernikanische Wendung". Gegenständliche Beziehung ist Synthesis a priori, notwendige Verknüpfung aus ursprünglicher Einheit. Erfahrener Widerstand, durch den der Mensch der Wirklichkeit innewird, bekundet gesetzliche Verknüpfung, geregelte Ordnung, in die ich eingefügt bin und der ich mich einzuordnen habe. Gegenständlichkeit ist Anzeichen, Wahrzeichen von Notwendigkeit. Wirklichkeit ist nicht in absolute Realität zu zersplittern, sondern ist als Wirkungszusammenhang ein lebendiges Ganzes. Indem Kant die Naturwissenschaft gegen die skeptische Bedrohung sicherstellen will, findet er ein neues Prinzip des Wirklichkeitsdenkens überhaupt, einen neuen Wahrheits- und Erkenntnisbegriff. Synthesis a priori besagt eine ursprüngliche, nicht aus nachträglicher Zusammensetzung abgeleitete Einheit, in der Mannigfaltiges, Verschiedenes gerade durch seine Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit verbunden ist, was der Organismus als Urphänomen aufweist. Die konkrete Einheit, die solche Verbundenheit ist, wird der abstrakten Identität, die losgelöste Selbigkeit ist, gegenübergestellt. In der transzendentalen Einheit der Apperzeption, des Hinzudurchgreifens, in der sich alle notwendige Verknüpfung der Teile untereinander begründet, wird Subjektivität erfaßt, die Eigenart des Bewußtseins verstanden, die Personwirklichkeit zum Unterschied vom Dinge entdeckt.

Solche transzendentale Einheit ist unbedingt, nicht dinghaft, nicht auf Dinge zurückzuführen. Sie ist Verbundenheit aus einer Anforderung, einem Sollen, unbedingte Verbindlichkeit. Vernunft ist dann das Vermögen des Unbedingten, richtiger aus dem Unbedingten, das "Vernehmen" unbedingter Anforderung, das Stehen in unbedingter Verbindlichkeit und das Aufnehmen und Zusammenfassen alles Gegebenen auf diese Unbedingtheit hin. Dieses "Auf hin", diese Unbedingtheitsbeziehung ist die Idee. Die gesetzliche Verknüpfung, die wechselseitige Beziehung der Teile untereinander, in der sich aus Unbedingtheitsbeziehung ein Ganzes konstituiert, deren Form die Kategorien, insbesondere die Kausalität, sind, verfolgt exakt, diskursiv, induktiv der Verstand. Die Verknüpfung der Erscheinungen, soweit sie notwendig ist, ist Erfahrung. Alle Vernunft ist auf Erfahrung bezogen, wenn auch nicht aus ihr abgeleitet. Erkennen ist Synthesis a priori in Apperzeption, das heißt, Zusammenfassung der Wirklichkeit durch notwendige gesetzliche Verknüpfung der Teile in einem lebendigen Ganzen aus, zu und in unbedingter Personhaftigkeit. Das Urphänomen der Person ist die Verantwortlichkeit aus unbedingter Verbindlichkeit.

Die praktische Vernunft hat den Primat, sie begründet durch die Apperzeption das Erkennen. Der Mensch, das Subjekt steht der Wirklichkeit nicht mehr sie betrachtend und nachbildend gegenüber, [158] sondern wächst beteiligt aus ihr heraus, in ihm wird Wirklichkeit zum Unbedingten zusammengefaßt. Nicht ein Absolutes als Gegenstand des Erkennens ist zu setzen, sondern ein Unbedingtes als Voraussetzung und Ursprung des Erkennens. Alle Objekte des Erkennens sind relativ, stehen in durchgängiger Bezogenheit aus dem Unbedingten. Die phänomenalistisch scheinende Beschränkung des Erkennens auf Erscheinungen gewinnt einen positiven Sinn: was wir erkennen, sind Erscheinungen, das heißt durchgängig verknüpfte Wirklichkeit. Zwar bleibt die transzendentale Dialektik und die Auflösung der metaphysischen Psychologie, Kosmologie und Theologie im Negativen stecken, aber der positive Sinn wird erkennbar. Die Seele ist nicht einfache immaterielle Substanz, sondern Personwerdung durch Apperzeption in leibhafter Lebendigkeit aus unbedingter Verbindlichkeit. Die Welt ist nicht eine Anhäufung von absoluter Realität, sondern ein Wirkungszusammenhang von Erscheinungen in formaler Zweckmäßigkeit. Formale oder innere Zweckmäßigkeit ist die Zuordnung der Teile zueinander aus Ganzheitsbeziehung jeden Teiles, welche das regulative und heuristische Prinzip der Erschließung synthetischer Verknüpfung ist. Zweck und Kausalität fordern sich gegenseitig, wie sich ein Ganzes in Wechselbeziehung der Teile konstituiert. Gott ist nicht das ens realissimum, die absolute Substanz, sondern die unbedingte Person. Das Gottespostulat der praktischen Vernunft wird recht verstanden als die Frage nach Gott, die sich in der unwidersprechlichen Unbedingtheit des sittlichen Sollens eindringlich und unabweisbar stellt.

Ein dynamisch-organisches Wirklichkeitsverständnis nach innerer Zweckmäßigkeit bahnt sich an, und darin erschließt sich auch die Eigenart und Wirklichkeitsmacht des Schönen. Die reine Vernunft wird mit der praktischen und der Urteilskraft zu einem System der Idee oder, wie wir heute sagen, des Wertes zusammengefaßt, zu einem Lebensganzen, das sich in dem konstitutiven Akt der Person begründet. Der Mensch ist nicht mehr der Objektausschnitt seines eigenen Erkennens, sondern wirklich Subjekt und das Erkennen eine Lebensfunktion seiner Subjektivität in der exakten, diskursiven Verfolgung der notwendigen Verknüpfung der Teile untereinander, worin das Wirkliche Bestand hat. Die Kritik der Vernunft zerstört den Absolutheitswahn und wird folgerichtig Gültigkeitsbegründung der Ideen und Werte aus der unbedingten Verbindlichkeit, aus der wir Person sind. Die Personwerdung aus unbedingter Verbindlichkeit in unbedingter Entschiedenheit vollzieht sich im Glauben, der Vernunftglaube ist, weil nicht Meinung oder Vermutung, unsicheres Wissen, sondern Vernehmen, Empfangen unbedingter Personhaftigkeit im Gewissen. Nicht absolute Realität, "Natur", sondern unbedingte Personhaftigkeit, Geist wird Prinzip des Wirklichkeitsdenkens. Das alles ist das Umdenken, das aus den skeptischen Folgerungen des gegenständlichen Denkens zurechtbringt, der letzte Sinn, den die "kopernikanische Wendung" folgerichtig empfängt.

Was in der Kritik der Vernunft als verborgene Zielsetzung wirksam ist und sich mühselig als positiver Sinn aus dem phänomenalistischen Ansatze losringt, das [159] wird in dem Lebensgefühl und der Weltanschauung der großen Dichtung und der Geistigkeit, die zu ihr gehört, mit unbefangener Frische und Selbstverständlichkeit ausgesprochen, freilich nicht in kritischer Überwindung des gegenständlichen Denkens, sondern eben nur in deutlichem und entschlossenem Gegensatz, der das andere beiseite schiebt. Das graue tote "System der Natur" wird abgelehnt. Wirklichkeit ist ein dynamisch-organisches Ganzes, Leben. Der Mensch steht mitten in ihr, mit allen Kräften in ihr wurzelnd, in seinem Erleben erschließt sich ihr Sinn, öffnet sich ihr Geheimnis, das der gegenständlichen Analyse unzugänglich bleibt und von dem die Reflexion sich absperrt. Das eigentliche Wirklichkeitsorgan ist die Erlebniskraft künstlerischer Anschauung und Gestaltung, die "Einbildungskraft", Sinne und Geist. Entsprechend wird der Mensch nicht mehr als bloßes Verstandeswesen bestimmt, sondern in der Fülle wirklichkeitsverflochtener Lebendigkeit als konkrete Individualität erfaßt, der ein Bild dessen eingestiftet ist, das sie werden soll, und die in solcher Anforderung und Aufgabe Person wird.

Aus diesem Streben nach Vollmenschentum entsteht der neue Humanismus, der zum Unterschied von dem älteren ausgesprochen griechische Prägung empfängt. Der griechische Mensch wird zur Urgestalt des Vollmenschentums. Indem man Wirklichkeit beteiligt, tätig als Aufgabe lebt, erfaßt man die eindeutige Richtung und die Entscheidungsschwere des Geschehens, versteht man Wirklichkeit als Geschichte. Der geschichtliche Sinn für konkrete Individualität menschlichen Lebens in seinem Wirklichkeitsverhältnis entsteht. In der Geschichte geht es um die Gestaltung eines Wirklichen aus einem Sollen, aus einer Wertanforderung, darin ist sie Geist und Kultur. Der Mensch in seiner Geschichtlichkeit ist nie der isolierte Einzelne, das absolute Individuum, sondern steht in Wirklichkeitszusammenhängen, durch die er ist, was er ist. Man entdeckt neu die Wirklichkeit des Volkstums, die dem Einzelnen vorausgegebene und ihn tragende Gemeinschaft, die Lebenseinheit in Abstammung und Art. So wird in der Sprache der wachstumshaft lebendige Geist und die darin bedingte Gemeinschaftsfunktion erkannt. Man hört die "Stimmen der Völker" und erfaßt ihre eigentümliche Lebendigkeit als "Volksgeist", versteht darin auch Staat und Recht als Gestaltung volkstümlichen Lebens im Ringen um Kraft und Echtheit, die Aufgabe der Nation. Die gewaltigen geschichtlichen Vorgänge, deren Zeuge man leidend und handelnd wird, die Französische Revolution, die Napoleonische Eroberung, der deutsche Befreiungskampf, die Neuordnung Europas drängen das neue Geschichtsdenken zu stärkster Bewegung und geben ihm gegenwärtige Spannungshöhe.

Die krisenhaften Wirkungen der Aufklärung waren auf dem Gebiete des theoretischen und ethischen Wertes hervorgetreten. Kant hatte sich gegen die Verzweiflung an aller Möglichkeit des Erkennens, die sich aus dem Fehlansatz des gegenständlichen Denkens und der daraus folgenden Unhaltbarkeit der Metaphysik ergibt, gegen die Verleugnung aller Wahrheit, mit der die Skepsis endet, und gegen die Verfälschung des Sittlichen in der natürlichen Moral, die zu einer [160] Nützlichkeit und Wohlfahrtsethik führt, erhoben. Die Kritik der Vernunft war ihrer eigentlichen Zielsetzung nach Gültigkeitsbegründung der kulturellen Werte, sollen sie nicht in ihrer Verabsolutierung zunichte werden, aus ihrem Ursprung, der sich dem Glauben im konstitutiven Akte der Person erschließt. Die klassische deutsche Kulturschöpfung drängt auf Neubegründung der kulturellen Werte und darin auf eine neue Einheitskultur. Die "Verweltlichung" als exakte Gliederung und Sonderung wird bejaht, aber die aufklärerische Verabsolutierung, der Zerfall und die Auflösung wird bekämpft. In diesem Streben zur Wertursprünglichkeit entsteht die Frage nach Gottes schöpferischer Wirklichkeit, die religiöse Wendung, die zu neuer Begegnung mit dem Evangelium führt. Die Romantiker wollen gar zurück zum Mittelalter und zu der Geschlossenheit seiner Einheitskultur, zu der religiös-kirchlichen Ordnung, die sie bestimmt. Aber eine vergangene Gestalt des Lebens läßt sich nicht wiederherstellen. Es gibt da kein Zurück, sondern nur ein Hindurch, kein Zurück zu der keimhaften, ungegliederten Geschlossenheit der jungen Kultur, nur ein Hindurch gegenüber der Zerrissenheit und Zerbrochenheit, in der die Aufklärung endet, zu dem gegliederten Zusammenhang, in welchem sich gerade durch die Mannigfaltigkeit und Eigengestaltigkeit der Teilgebiete ein Ganzes aus unbedingter Ursprünglichkeit bildet.

Diese Ganzheit hat auf jedem Wertgebiete ihre besondere Art, auf dem Gebiete des Lebens reden wir von Seele, auf dem der Kunst von Stil, auf dem des Erkennens von System, auf dem des Sittlichen von Gemeinschaft. Wo Aufklärung sich in Kulturkrisis und Wertzerfall auszuwirken vermag, da wird das Leben entseelt, die Kunst stillos, die Erkenntnis systemlos, die Gemeinschaft zersetzt und der Mensch gemeinschaftsunfähig. Die klassische deutsche Kulturschöpfung ist erste Gegenwehr gegen diese heraufziehende Gefahr und darin positiv suchendes strebendes Gestalten von Seele, Stil, System und Gemeinschaft. Weil die Gefahr nur erst in den Bezirken des Erkennens und des Ethos sich ankündigt, aber noch nicht den ganzen kulturellen Lebensbestand von Grund auf erschüttert und bedroht, darum dringt auch die Gegenwirkung noch nicht bis in den letzten Ort der Entscheidung vor, bleibt die religiöse Wendung in romantischer Ideologie stecken oder bereitet sie sich in den Formen vor, in denen die Aufklärung selbst ein positives Verhältnis zur Religion gewinnen kann, in der Art der Herausarbeitung eines Wahrheitsgehaltes oder der Anerkennung der Religion als einer arteigenen Funktion menschlicher Lebensbewegung. Noch ist die Breite und Tiefe des Volkslebens nicht in die aufklärerische Zersetzung hineingezogen. In der Lebenseinheit des Volkes, die sich im nationalen Staate gestalten will, findet man die zusammenfassende Ganzheit und den Halt der Kultur.


Hegels Leben und Denken entsteht, wächst, erfüllt und erschöpft sich mit und in dieser Gesamtbewegung nach Zeit und Verlauf, nach Gehalt und Ende. Er kommt, am 27. August 1770 als Sohn eines herzoglichen Rentkammersekretärs [161] in Stuttgart geboren, aus der strengen Form altlutherischer volkstümlicher Sitte und Ehrbarkeit, wächst in engen, aber geordneten und gediegenen Verhältnissen heran und hat das Gepräge dieser Art sein Leben lang bewahrt, unter den hochgestimmten, genialischen und problematischen Genossen der Romantik nüchtern, trocken, hausbacken erscheinend. Lernen, Sammeln, Aneignen, Wirklichkeit Erfassen und Durchdringen, ihre Fülle Umgreifen ist Art und Antrieb seiner Jugend. In diesem gleichsam bedingungslosen Lernhunger lebt der große starke Sachernst, der Hegel auszeichnet, und ein Denkwille von höchster Spannkraft.

Die Universitätsstudien (1788–1793) haben dem Tübinger Stiftler offensichtlich nicht viel bedeutet, sie werden ihn mit dem Stand der Dinge in der Übergangszeit vor Einsetzen der neuen geistigen Bewegung bekannt gemacht haben. Um so lebendiger und selbständiger geht er seinen Weg weiter, angetrieben und bereichert durch die Freundschaft mit Hölderlin und Schelling, alles aufnehmend, durchdenkend und verarbeitend, was nun von Jahr zu Jahr in der wachsenden Bewegtheit der Geister entsteht. Von 1793–1800 ist er Hauslehrer gewesen, zuerst in Bern, dann in Frankfurt am Main. In einsamer Arbeit bilden sich die Grundlagen seines Denksystems. Sein philosophisches Denken entzündet sich an der Bemühung, die ihn unzweifelhaft zunächst antrieb, einen geschichtlichen Vorgang, ein Stück geistesgeschichtlicher Wirklichkeit nach innerem Zusammenhang zu erfassen und dieses Verständnis wissenschaftlich zu formulieren. Er sucht nach der inneren Notwendigkeit, welche geschichtliche Lebendigkeit bildet und bestimmt und welche herauszuarbeiten das Verständnis des Gegebenen aufschließt. Ein solches Gefüge geistiger Notwendigkeit, die als Problem in aller Wirklichkeit der Geschichte treibt, findet er in dem Kantischen Vernunftsystem. Die geschichtlichen Wirklichkeiten, um die es ihm ging, sind die Antike, das Griechentum und das Christentum. Indem er sie von Kant her zu erfassen sich bemüht, formt sich zugleich sein Kantverständnis unter Abstoßen der phänomenalistischen Einkleidung und unter Ausdeutung im Sinne des objektiven Idealismus, des Plato und des Aristoteles. Er will ergründen, wie das Christentum eine statutarische oder positive Religion geworden sei, im Sinne des Verständnisses der Offenbarung als übernatürlicher Wissensmitteilung und einer gesetzlichen Moral. Er sucht lebendige Religion und stellt als solche das Evangelium Jesu dem Judentum und seiner Gesetzlichkeit entgegen. Er sucht lebendige Volkskultur, und dafür ist ihm das Griechentum Vorbild. In der Französischen Revolution meinen die Jünglinge eine Bewegung auf echte Volkslebendigkeit hin zu erkennen, und noch in späteren Äußerungen Hegels klingt nach, was ihn damals mitlebend an diesem Geschehen bewegt hat.

In den Fragmenten, die als Theologische Jugendschriften herausgegeben worden sind, bilden sich in der Deutung des Christentums und seines Schicksals Begriffe, in denen sich das werdende System ankündigt. Es sind Urworte gleichsam Hegelschen Denkens: Leben, Schicksal, Liebe, Geist. Leben ist ursprüngliche, nicht abgeleitete Einheit und Ganzheit an der Wirklichkeit. Kants Grundbegriff [162] von der Synthesis a priori ist von früh an der Angelpunkt Hegelschen Denkens gewesen. Wenn die vorausgegebene und tragende Einheit des Lebens, wodurch alles Bestand hat, weswegen Hegel sie auch mißverständlich substantielle Einheit nennt, in der Reflexion verleugnet und in eigenwilliger Absonderung verletzt wird, dann behauptet sie sich in negierender Gegenwirkung als Schicksal gegen die Zersetzung und Zersplitterung, das Endliche vernichtigend und der Notwendigkeit unterwerfend. Liebe aber ist versöhntes Schicksal, wiederhergestelltes, erfülltes Leben, die Einheit, in der das Endliche und Teilhafte ein Recht auf sich und seine Besonderheit gewinnt aus dem Ganzen, dem es angehört, durch die Bindung in diesem Ganzen. Liebe ist Einheit gerade durch den und in dem Unterschied, bei der die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit gerade um der Einheit willen gefordert ist. Liebe ist erfülltes Leben als der Vollzug ursprünglicher Einheit in aller Besonderheit. Aus ihr lebendig zu werden ist personhafte Geistigkeit. Der Geist ist "des Lebens Leben", das Schöpferische. Das Innesein der schöpferischen Liebe als des Geistes, der lebendig macht, ist Religion. So deutet Hegel das Evangelium Jesu als Versöhnung aus schöpferischer Liebe durch den Geist. So drängt Hegel auf echte Religion. Die Grundgedanken Kants

Seite aus Hegels Handschrift ‘'Deutschland kein Staat mehr'‘.
[163]      Aus Hegels Handschrift
"Deutschland kein Staat mehr".

1802 unter dem Titel "Die Verfassung Deutschlands" erschienen.
Berlin, Staatsbibliothek.    [Vergrößern]
gewinnen stärkste innere Lebendigkeit. Wie er immer wieder um lebendige Staatlichkeit sich müht, zeigt der am Ende dieser Jahre niedergeschriebene Entwurf über die "Verfassung Deutschlands", ein Denkmal seines historisch-politischen Urteils. Mit scharfem, sicherem Blick stellt er fest, daß Deutschland kein Staat mehr ist, und was erforderlich sei, daß es wieder ein Staat werde. Die Anlage des werdenden Systems, das er nun umreißt, ist die aus der Antike überlieferte Anordnung Dialektik, Physik und Ethik, die er auch in der fertigen Gestalt des Systems beibehält: Logik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie.

Der Tod des Vaters bringt ihm ein kleines Erbe und macht ihn frei für die Universität. Er habilitiert sich 1801 in Jena. Er schließt sich eng mit Schelling zusammen, gibt mit ihm das Kritische Journal der Philosophie heraus. Hegels Beiträge sowie seine erste selbständige Druckschrift (Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, 1801) dienen der Auseinandersetzung mit der von Kant ausgehenden philosophischen Bewegung, mit der "Reflexionsphilosophie", wie er die phänomenalistische und subjektiv-idealistische Deutung Kants nennt, mit dem unüberwundenen Rest des gegenständlichen Denkens. Freilich auch Hegel durchbricht nicht vollends den Fehlansatz des gegenständlichen Denkens und setzt nicht den letzten Sinn der kopernikanischen Wendung Kants positiv heraus. Er stellt der phänomenalistischen Art dieses Restes die objektiv-idealistische, begriffs-realistische entgegen. Hier ist nur Kehrseite und noch nicht Überwindung. Das Eigentliche des kritischen Idealismus wird bei ihm ebenso durch den objektiv-idealistischen Rest verdunkelt, wie es in der Reflexionsphilosophie durch den Phänomenalismus entstellt war. Hegel nähert sich der Identitätsphilosophie Schellings, die schließlich nur ein erneuerter, durch Antriebe der neuen Geistigkeit [163=Faksimile] [164] belebter und erfüllter Spinozismus war, mit den beiden Reihen Natur und Geist, die zur Identität in dem indifferenten Absoluten und der absoluten Indifferenz gelangen.

Schelling geht 1803 nach Würzburg. Hegel versinkt aufs neue in einsame gesammelte Arbeit. Sein erstes großes Buch entsteht: die Phänomenologie des Geistes (1807), die nun auch die Absage an Schelling enthält. Inzwischen muß Hegel Jena infolge der Zerrüttung der Universität durch den Krieg verlassen. Er wird Schriftleiter einer Zeitung in Bamberg, dann Rektor

Hegel in seinem Berliner Arbeitszimmer.
[165]      Hegel in seinem
Berliner Arbeitszimmer.

Nach einer Lithographie von 1828.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
des Gymnasiums in Nürnberg. Hier erscheint sein zweites Hauptwerk: die Wissenschaft der Logik (zwei Teile, 1812–1816). 1816 kehrt Hegel, nach Heidelberg berufen, zur Universität und zum philosophischen Lehramt zurück. Er gibt in Heidelberg 1817 sein drittes Hauptwerk heraus: die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, die Darstellung des gesamten Systems als Handbuch für Vorlesungen.

1818 erhält Hegel die schon länger schwebende Berufung nach Berlin auf den noch unbesetzten Lehrstuhl Fichtes. Er gelangt nun auf die Höhe des Lebens und der Wirkung. 1821 erscheint das vierte Hauptwerk: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Die Enzyklopädie (18272, 18303) und den ersten Band der Logik hat er neu herausgegeben. Die zweite Auflage der Phänomenologie und eine Schrift über die "Beweise für das Dasein Gottes" hat er noch begonnen. Aber seine ganze Kraft gehört nun den Vorlesungen, die sich über alle Gebiete des Systems erstrecken und einen unerhörten Einfluß üben.

Hegel bei der Vorlesung in der Berliner Universität.
[160b]      Hegel bei der Vorlesung in der Berliner Universität.
Lithographie von Franz Kugler, 1828.

Die Cholera rafft ihn am 14. November 1831 jäh hinweg. Der Ertrag seiner Vorlesungen ist von Schülern und Freunden gesammelt worden, zum Teil in Zusätzen zu den entsprechenden Abschnitten der Enzyklopädie, so bei der Logik, Naturphilosophie und Lehre vom subjektiven Geist, oder zur Rechtsphilosophie bei der Lehre vom objektiven Geist, zum Teil in selbständiger Verarbeitung des Vorlesungsmaterials zum Buche, so bei der Geschichtsphilosophie, der Ästhetik, der Religionsphilosophie und der Geschichte der Philosophie. Auch die für den Nürnberger Unterricht ausgearbeitete "Philosophische Propädeutik" hat man in dieser Gesamtausgabe abgedruckt, die Abhandlungen gesammelt. Eine Sammlung der Briefe Hegels und eine Biographie, die Rosenkranz verfaßt hat, ist der Gesamtausgabe der Werke angefügt worden.

In der Phänomenologie des Geistes trägt Hegel die Gedanken seiner Jugend an breiter geschichtlicher Wirklichkeit systematisch durchgebildet vor. Sie ist Einleitung oder Propädeutik seines Systems. So tritt an ihre Stelle in dem Abriß des Gesamtsystems, in der Enzyklopädie, der Abschnitt über die "Stellungen des Geistes zur Objektivität". Das seltsame Buch, schwierig, dunkel, voll großer geschichtlicher Anschauungskraft und grübelnden Scharfsinns ist nicht in eine Wissenschaftsgattung einzureihen. Es ist Erkenntnislehre, verstehende Psychologie und Geschichtsphilosophie zugleich. Es soll den Weg vom "erscheinenden Wissen", von dem urtümlichen Wirklichkeitsverhältnis des Menschen, das auf den Ansatz des gegenständlichen Denkens führt, zum kritisch-idealistischen Erkenntnis- und [165] Wahrheitsbegriff, zum "reinen Wissen" aufzeigen, durch alle Problematik des Menschendaseins hindurch, in der sich das Subjekt zum Unbedingten bildet, dadurch, daß es dialektisch von Frage zu Frage weitergetrieben wird. Daß wir Person im Wirklichkeitsganzen sind und was das heißt, ist, in unserer Sprache geredet, das eigentliche Thema. Die Phänomenologie ist umfassende Besinnung im Streben nach der Wahrheit, nach dem Logos, mit der die Philosophie anhebt. Das "reine Wissen", dem sie zustrebt, ist auch hier wieder religiös begründet und vermittelt. Die Vorrede zur Phänomenologie bringt die Absage an Schelling, an das Prinzip der absoluten Indifferenz und des indifferenten Absoluten und die intellektuelle Anschauung, in der sich objektiv-idealistische Wesensschau mit romantischem Intuitionismus und Ästhetizismus verbindet. Gegen die unterschiedslose Identität wird die konkrete Einheit, die Synthesis a priori, die Einheit in Unterschied gesetzt und darin auch das bedingte Recht der Reflexion vertreten. Das Wahre ist Subjekt. Substanz ist nicht das Beharren der absoluten Identität, sondern die Beständigkeit eines konstituierten Ganzen. An die Stelle der intellektuellen Anschauung tritt die Dialektik.

Das reine Wissen als die Form der Wahrheit und gültigen Erkenntnis ist das Prinzip der Logik. Die Logik ist die Grundwissenschaft des Systems, sie handelt vom Logos, von der Gültigkeitsbegründung überhaupt, in der sich schöpferischer Geist erschließt. Sie ist die Neubildung, die durch die Kantische Umwälzung des Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffes notwendig und möglich geworden ist. Sie ersetzt sowohl die alte Metaphysik wie die formale Logik. Sie ist transzendentale [166] Logik, das heißt Logik, die Zusammenhänge erfaßt und begründet, in welchen sich Gegenständlichkeit konstituiert. Begriffsbildung ist nicht Abstraktion, Heraushebung eines identischen, konstanten oder gleichen Teilinhaltes nach dem Ding-Eigenschaftsverhältnis und Hypostasierung abstrahierter Gemeinsamkeiten, sondern Induktion und Konstruktion, Erschließung der notwendigen Beziehungen aller Inhalte in einem Ganzen, Feststellung der Abhängigkeitsverhältnisse des Gesamtinhaltes. Erklärungswert und Gültigkeit der Begriffe bestehen in den gesetzlichen Zusammenhängen, welche sie aufschließen und begründen. So kann Hegel mit Recht sagen, der Begriff sei die Sache selbst, die Sache in ihrer Dynamik oder, wie Hegel sagt, in ihrer Selbstbewegung.

Hegel teilt in objektive und subjektive Logik. Jene stellt die Kategorien dar, die gegenständlichen Beziehungen, die Verknüpfung der Teile untereinander, was Kant im engeren Sinne die synthetische Einheit nannte, diese die Ganzheitsbeziehung, welche Kant die systematische Einheit nannte, in der sich die Zuordnung der Teile zueinander begründet, die Ideen. Die objektive Logik gliedert sich in Sein und Wesen. Jenes umfaßt Qualität, Quantität und Maß, dieses die "Reflexionsbestimmungen". Reflexion ist nun die mittelbare, durch den Unterschied hindurchgehende Einheit. So werden hier die alten Denkgesetze als Setzen, Unterscheiden und Begründen, die Arten des Unterschiedes behandelt, dann Substantialität, Kausalität und die Konstituierung eines Ganzen in wechselseitiger Beziehung von Teilen, die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die subjektive Logik stellt in drei Abschnitten die Subjektivität, die Objektivität und die Idee dar. Die "Subjektivität" ist Begriff, Urteil und Schluß als Apperzeption, als die aus Gegebenheit in Notwendigkeit sich vollziehende ganzheitbegründende Einheit. Wir erkennen in Begriffen, weil wir selbst Begriff, Apperzeption sind. Begriff, Urteil, Schluß sind Lebendigkeit und Aktualität des Subjektes selbst. Der Abschnitt über die "Objektivität" ist die Wissenschaftslehre, die Arten der Objektivität sind die Sachgebiete der Wissenschaften, die aus den Bedingungen der Wirklichkeitserkenntnis konstituiert werden, die Gliederung der Gesamtwissenschaft. Der dritte Abschnitt über die Idee faßt das Erkennen, das Wahre mit dem Leben und dem von ihm umschlossenen Schönen und dem Guten zu einem System der Idee oder, wie wir heute sagen würden, des Wertes zusammen und richtet es zur "absoluten Idee", zur Wirklichkeit des Heiligen, zum Geiste aus. Die Logik ist das Einordnen des Erkennens nach seiner Notwendigkeit in das Wertsystem, das sich durch diese Eingliederung in Gültigkeit kritisch durchgestaltet.

Was Hegel Dialektik und Konstruktion a priori nennt, ist von dem kritisch-idealistischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff aus zu verstehen, und zwar von der Erfassung des Gegensatzes und Widerstreites aus, die durch den Kantischen Begriff der Synthesis a priori erst möglich geworden ist. Gegensatz und Widerstreit sind die Synthesis a priori in actu, werdende oder zerbrechende Einheit, Einheit [167] im Unterschiede. Das bloß Verschiedene, das Disparate widerstreitet nicht. Damit Gegensatz und Widerstreit möglich wird, muß eine Einheitsbeziehung herangetragen werden oder zugrunde liegen. Gegensatz ist polarer, gliedhafter, gebundener Unterschied. Widerstreit ist zur Entscheidung drängender Gegensatz. Die "Negativität" der Dialektik ist die Verneinung der Absolutheit, des Fürsichbestehens, die Sprengung der Absonderung und Absperrung. Alles Erkennen als Synthesis a priori in Apperzeption geht durch Gegensätzlichkeit hindurch, ist werdende Einheit, zu der das Besondere herangeführt, induziert wird. Konstruktion a priori ist die Zusammenrichtung zu ursprünglicher Einheit durch Induktion gesetzlicher Verknüpfungen. Eine gründliche Theorie der Induktion führt auf Hegelsche Bahn. Dialektik und Konstruktion sind die Gestalt des kritisch-idealistischen Wahrheitsbegriffes.

Von größter grundsätzlicher Bedeutung ist die Lehre von der Individualität, die sich aus der Hegelschen Logik ergibt. Das Allgemeine ist nicht die auszusondernde gleiche Inhaltlichkeit, sondern das am Besonderen und Verschiedenen Verbindende, nicht abstrakte Identität, sondern synthetische Einheit, das Universale im strengen Sinne des Wortes der Richtung, des Gerichtetseins auf das Eine oder auf den Einen. Das Allgemeine ist das Individualitätbildende, als so das Besondere zusammenschließend. Das Individuelle ist das durch die Einheitsbeziehung erfaßte und gestaltete Besondere, die an dem Besonderen und Teilhaften wirksame Ganzheit. Das Individuelle ist Ganzheit am Teil aus ursprünglicher Einheit und Setzung. Es ist nicht das Zufällige, sondern Ort und Gestalt des Unbedingten. Das Individuelle ist analytisch nicht zu erfassen, weil es das ist, was aus aller analysierbaren Besonderheit eine Einheit, ein Ganzes bildet, das mehr ist als die Summe der Teile und darum auch nicht aus diesen abzuleiten ist. Das logische Erfassen des Individuellen ist das Verstehen. Wir können Individuelles erfassen in dem Maße, in dem wir selbst ins Unbedingte wachsen. Im Allerindividuellsten, in der Ichheit, stehen wir im Unbedingten, nicht gleich, aber eins, einig. Verschieden sind wir der Besonderheit, der Inhaltlichkeit unserer Individualität nach, als Selbste. Ichheit ist die an diesem Selbst sich vollziehende unbedingte Verbindlichkeit, in der wir verantwortlich Person werden.

Das Problem des Allgemeinen und des Individuellen wird ganz einsichtig und eindeutig in der so verstandenen Ichheit oder Subjektivität. Durch die Ichheit stehen wir mit unserem Selbst in unbedingter Personhaftigkeit. Ichheit ist immer Persongemeinschaft. Dieses Personbildende ist der Logos. Geist ist die alle Wirklichkeit schöpferisch begründende, umfassende und durchdringende unbedingte Person, deren Gemeinschaft teilhaftig zu sein uns zum Geiste bildet. So wird der Sinn für historische Individualität logisch erschlossen und begründet. Der Entscheidungscharakter der Geschichte wird darin verstanden als Heraustreten aus der Scheidung in dem Betroffensein und Ergriffensein durch unbedingte Verbindlichkeit, in dem wir Person sind. Diese Entschiedenheit ist Freiheit. Sie ist nicht [168] bloße Unabhängigkeit in Absonderung und Absolutheit, sondern Verantwortung aus und vor unbedingter Verbindlichkeit, auf die hin alle gesetzliche Verknüpfung der Wirklichkeit, alle Notwendigkeit begründend zusammengefaßt wird, wie sich ein Ganzes in Wechselbeziehung seiner Teile konstituiert. Das Wort Freiheit hängt sprachlich mit Liebe zusammen. Freiheit ist Liebe als unbedingte Verbindlichkeit, an der wir Organ werden, die bejahte Besonderheit, die aus der Einheit als synthetischer ein Recht auf sich gewinnt, indem sie an ihr Glied wird.

Die Naturphilosophie Hegels ist viel angefochten als gegensätzlich zu der exakten mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft. Der Gegensatz betrifft in Wahrheit die unzulängliche und schlechte Philosophie, mit der sich die Naturwissenschaft verbindet oder zu der sie sich ausweitet. Hegel entwickelt in den drei Teilen der Naturphilosophie, Mechanik, Physik, Organik, eine insgesamt dynamisch-organische Naturerklärung, deren sachlicher Ertrag von heutigen Fragestellungen aus neu durchforscht werden muß. Die Naturphilosophie bestimmt den Naturwissenschaften erkenntniskritisch ihren Gegenstand, die Körperwelt. Die großen Naturgebilde Licht, Wärme, Schall, Magnetismus, Elektrizität, Chemismus müssen, wie auch immer die Naturwissenschaft ihre gesetzlichen Beziehungen nach Maß und Zahl verfolgen mag, in ihrer Eigenart, wodurch sie sind, was sie sind, von den Voraussetzungen aller Wirklichkeitserfassung aus verstanden werden. Alles, was wir heute strukturelle und morphologische Probleme nennen, gehört hierher, und von hier aus kann und muß das jahrzehntelange Ressentiment ausgeräumt werden.

Mit der Geistesphilosophie tritt man auf den eigentlichsten Boden Hegels. Er baut die Lehre vom Geist in drei Teilen auf: Subjektiver, objektiver und absoluter Geist. Im ersten Teil behandelt er das Subjekt als Person in leibhafter Lebendigkeit. Das Verständnis der Seele wird befreit von den gegenständlichen, dinghaften Schematen und Denkmitteln. Hegel gliedert in drei Abschnitte: "Anthropologie" (Seele im engeren Sinne als Entelechie des Leibes), deren Probleme wir heute in der Rassenlehre und der Charakterologie neu sehen; "Phänomenologie" (Bewußtsein), die Darstellung der Funktionen, in denen sich die Seele in der Richtung gleichsam nach innen und oben, in ihrem Fürsichsein von den Nachbarteilen, der Umwelt heraushebt und abgrenzt, woraus der Schein des gegenständlichen Gegenüber von Objekt und Subjekt entsteht, die Reflexion; "Psychologie" (Geist), die nachweist, wie sich in diesen Funktionen die Person bildet, als Vernunft und Wille, Vernunft als Vernehmen unbedingter Verbindlichkeit, Wille als Zusammengefaßtheit in dieser Verbindlichkeit zu tätiger Anspannung, der vernünftige Wille als die Freiheit in dem bezeichneten Sinne konkreter individueller Ichheit.

Die Lehre vom objektiven Geist geht von dieser Personwirklichkeit aus, die Prinzip des Rechtes ist, zeigt dann, wie das Innere dieser Personwirklichkeit sich als Moralität heraussetzt, immer in der Gefahr der Absonderung der Person [169] gerade in diesem ihrem Fürsichsein, im Gewissen und der Lösung aus der Einheit des Lebens, immer in der Gefahr der Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit. Personwerdung und Gemeinschaftsbildung ist aber ein und derselbe Vorgang aus unbedingter Verbindlichkeit. Hier kommt zur Geltung, was Hegel am echtesten und tiefsten erfahren hat, wofür ihm das antike Gemeinwesen, die Polis Vorbild war und was ihn am Geiste des Preußentums so wahlverwandt anzog. Das absolute Individuum wird hier verneint als ein Wahn, der das Leben zerstört. Die Person ist Glied, Organ an unbedingter Verbindlichkeit vorausgegebener Gemeinschaft, aus der sie erwächst. Diese vorausgegebene Gemeinschaft, in der wir Person werden, ist der eigentliche objektive Geist, Sittlichkeit von Hegel genannt. Als solches den Einzelnen vorausgegebenes und ihn tragendes Lebensganzes erkennt er die Familie, die Blutsverwandtschaft und das im Staat rechtlich geeinte Volk. Dazwischen steht die Gesellschaft, nun nicht mehr die Summe der absoluten Individuen, sondern der Inbegriff der besonderen Lebenskreise, die sich aus der Gliederung der Aufgaben und Funktionen innerhalb des Ganzen bilden, der Inbegriff der Stände und Korporationen. Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der Freiheit als Dienst an der Gerechtigkeit, der ringende Wertwille im Widerstreite der Welt, der diesen Widerstreit zur Ordnung gespannter Kraft im Rechte bindet. Was der Wille für den Einzelnen ist, das ist für ein Volk sein Staat. Wie der Einzelne seine Individualität tätig zur Person gestalten soll, so bildet und entfaltet sich ein Volk in seinem Staate zur Nation, indem es die Aufgaben erfüllt, die ihm nach seinen Anlagen und seiner geschichtlichen Stellung eingestiftet und gewiesen sind. Es entsteht der Gedanke des nationalen Kulturstaates, der Machtstaat ist. Nation ist die Kulturgemeinschaft des Volkes, die Gestaltung des Volkes aus dem ihm eingeborenen Sollen zu seiner Echtheit, wofür alles einzusetzen Machtübung ist.

Volkstum ist die eigentliche Wirklichkeit und Lebendigkeit der Geschichte. Ein Volk wird geschichtsfähig durch Staatsbildung. Im Staat faßt das Volk sein Leben auf unbedingte Anforderung hin zusammen. Geschichte steht als Übergang zwischen objektivem und absolutem Geist. Geschichte ist die immer neue Entscheidung in das Leben aus dem Unbedingten, in das Leben aus und mit Gott hinein. Hegel sagt, die Geschichte sei der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, das heißt, die Zusammenfassung und Erhebung unserer Existenz zu der Wirklichkeit Gottes. Die Geschichtsphilosophie stellt die großen Völkerkulturen dar, in denen die Menschheit um ihre ewige Berufung ringt. Die Geschichte ist ein universaler Zusammenhang durch die Einheitlichkeit der Aufgabe in der Berufung zum Unbedingten, eine Fülle eigenartigen Lebens, das sich aus innerem Zuge (Apperzeption) auf das Unbedingte hin in aller konkreten Besonderheit gestaltet und so einen Zusammenhang bildet, den wir Entwicklung, das heißt Entfaltung einer Innerlichkeit, nennen. Hegel vermag von seinem Verständnis des Gegensatzes und Widerstreites aus das Kampfgesetz der Geschichte mit allem, was es [170] einschließt, als die Herausarbeitung der unbedingten Einheit zu fassen, der erhabenen "vernünftigen" Notwendigkeit, die durch alle Geschichte sich vollzieht.

Das Ziel, um das es in der Geschichte geht, wird als "absoluter Geist" dargestellt, und zwar in dreifacher Richtung: Kunst, Religion und Philosophie, wobei das Ganze des "absoluten Geistes" auch Religion genannt wird. Hegel hat, das gesamte Kunstdenken seiner Zeit aufnehmend, eine ausgeführte Ästhetik vorgetragen, die in drei Bänden der Werke vorliegt. In der Kunst erschließt sich die Schöpfungstiefe, die Urständigkeit und Echtheit der Wirklichkeit über allen Widerstreit und alle Gebrochenheit dieser Welt hinweg. Das Grundproblem der Religion ist der Urwiderstreit, der das Menschenleben ist, der in die schweren dunklen Worte Tod und Sünde zusammengefaßt wird, der Widerstreit von Sollen und Sein, Wert und Dasein und das Verlangen nach seiner Überwindung aus unbedingter Wertwirklichkeit, die Versöhnung und Vollendung ist, Heil.

Hegel macht in seiner Religionsphilosophie den Versuch, die ganze Fülle der Religionen der Menschheit von dem Grundproblem aus als eine große Lebensbewegung aufzuzeigen, er stellt das Christentum mitten in diese Religionsgeschichte hinein und hebt es zugleich als deren Wende, als die "absolute Religion" heraus. Er unternimmt es, das Dogma der christlichen Kirche mit den Denkmitteln seiner Philosophie in seiner Wahrheit zu erschließen und darzustellen, alles, was die "natürliche Theologie" je vorgebracht hat, weit hinter sich lassend.

Auch die Geschichte der Philosophie, die Hegel vorgetragen hat, ist problem- und geistesgeschichtlich angelegt. Hier hat er diese ihm eigentümliche Methode am straffsten durchführen können und zu fruchtbar fortwirkender Geltung gebracht. Die philosophischen Systeme erscheinen in ihrer Lehrbildung als ein folgerichtiger Zusammenhang, in dem unser denkendes Verhältnis zur Wirklichkeit, die "Stellungen des Geistes zur Objektivität" nach allen Beweggründen entwickelt werden. Die vorkantische Metaphysik wird in ihren Möglichkeiten von dem Neuansatz Kants in der Kritik der Vernunft her, der zur Hegelschen Logik führt, verstanden.

In dem Verhältnis von Religion und Philosophie wirkt sich vollends die Problematik aus, in der Hegel vom objektiven Idealismus her steckenblieb. Es kommt nicht zu scharfer Klarheit, ist das Christentum absolute Religion, weil es in der Form der "Vorstellung" die Wahrheit vorwegnimmt, welche die Philosophie in der eigentlichen Gestalt des Begriffs ausspricht, also Höchstform menschlicher Religion, deren Wahrheitsgehalt durch die Philosophie herausgearbeitet wird, oder wird es aus der Religionsgeschichte herausgehoben, weil es Glaube an das Evangelium, an die Offenbarung des lebendigen Gottes ist, deren Wahrheit sich in der durch den Glauben begründeten Erkenntnis erweist und zur Lehre gestaltet, der philosophischen Frage die entscheidende Antwort gebend. Der aufklärerische Ansatz ist nicht völlig durchbrochen, der eigentliche Sinn der kopernikanischen Wendung, der hier heraustreten müßte, ist nicht in aller Schärfe als Umkehr ergriffen. Hier ist die Grenze der Hegelschen Philosophie.




Alphabetische Inhaltsübersicht
Johann Peter Hebel Johann Peter Hebel Johann Peter Hebel alphabetische Inhaltsübersicht der Biographien Heinrich I. Heinrich I. Heinrich I.


Chronologische Inhaltsübersicht
Friedrich Hölderlin Friedrich Hölderlin Friedrich Hölderlin chronologische Inhaltsübersicht der Biographien Ludwig van Beethoven Ludwig van Beethoven Ludwig van Beethoven


Originalgetreue Inhaltsübersicht
Karl Friedrich Schinkel Karl Friedrich Schinkel Karl Friedrich Schinkel Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Alexander von Humboldt Alexander von Humboldt Alexander von Humboldt





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz