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[Bd. 2 S. 218]
Christoph Willibald Ritter von Gluck, 1714 - 1787, von Richard Benz

Christoph Willibald Ritter von Gluck.
[224a]      Christoph Willibald
Ritter von Gluck.
  [farbig]
Gemälde von Joseph Sifrede Duplessis, 1775.
Wien, Gemäldegalerie.
"Ich bin der Ritter Gluck" – wem sind nicht schon diese Schlußworte von E. T. A. Hoffmanns phantastischer Novelle zum erregenden Erlebnis geworden, zum Einzigen vielleicht, was ihn von diesem großen Genius der Musik berührte! Gluck – ein abgeschiedener Geist, der zum wiederkehrenden Geist nur beschworen wird durch das seltene Wunder einsam-nächtlicher Versenkung am Klavier – ist er nicht damit als das geschaut, was er uns Deutschen war und heute noch ist: einer, der nach dem Tod die Ruhe nicht findet, weil seine Offenbarung nicht die rechten Menschen fand? "Ich verriet Unheiligen das Heilige" – so muß er sprechen, der sein hohes Werk dem Theater anvertraute, das doch nach unserm Begriff und Gebrauch die Stätte heiliger Feier nicht sein kann, zu der er es ausersah.

Das ist die Tragik, in die dieser Tragiker selber verstrickt ward: daß alles, was in ihm war an Musik, einzig zur lebendigen Bühne drängte und nur für sie gestaltet ward: und daß doch gerade diese Bühne, die er bei Lebzeiten eroberte und beherrschte, ihm in der Folge sich verschloß, ihm so gut wie verschlossen blieb bis auf den heutigen Tag. Denn anderes hatte er nicht, womit er zu den Menschen hätte dringen können – Lied und Symphonie, Kirchen- und Haus- und Kammermusik, wodurch noch jeder andere große Meister mindestens nebenher die Herzen gewann: das alles war von seinem reinen Willen zur Tragödie verzehrt und ganz darin aufgegangen.

So ward uns unsrer Größten einer stumm, lebt wahrhaft uns als abgeschiedener Geist: Klang eines Namens nur, der eine höchste versäumte Möglichkeit bedeutet. Oder wird er uns noch wiederkehren, wenn späte Erkenntnis sein einzigartiges priesterliches Amt erfaßt?

Man ahnt etwas von der Notwendigkeit, mit der sich einstweilen dieses Schicksal vollzog, wenn man das Werk der beiden deutschen Meister betrachtet, die vor ihm sind: Bach und Händel schufen ihre Seelen-Dramen für eine unsichtbare Bühne; denn seit dem Mittelalter gab es keine wirklich-schaubare Bühne für die heilige Handlung mehr. So wird in Bachs Passion die christliche Tragödie nur innerlich, in mystischer Versenkung, geschaut; aber auch Händels Oratorium, obgleich dem kirchlichen Kulte nicht mehr zugehörig, hat schließlich die äußere Szene verschmäht. Dies letztere ist von um so größerer Bedeutung, als Händel durch die Schule der Oper hindurchging und ein halbes Leben italienische Opern schrieb; denn eben damit schien bewiesen, daß selbst der größten dramatischen Kraft der Verzicht auf [219] theatralische Darstellung bei uns das Natürliche und eine tief im nordischen Wesen liegende Notwendigkeit sei.

Wer war dieser Gluck, der es wagte, die Händelsche Erfahrung zu widerlegen; der sich zutraute, zu erweisen, daß einem Deutschen dennoch die wirkliche tragische Bühne erreichbar sei? War es der klassische Stoff, der ihm dies einzig ermöglichte? Unterlag er dem modischen Zauber eines fremden Ideals, um eben darum seinen Glanz zu verlieren, als dieser Zauber uns verflog? Aber Händel hat, wie Gluck, in vierzig Opern klassisch-antike Stoffe behandelt; und selbst als er sein Oratorium gegründet hatte, blieb als der einzige andere Stoff neben dem biblischen die griechische Dichtung und Mythologie. Es ist auch nicht die Zeit allein, die hier trennt: daß Gluck ein ganzes Menschenalter später als Bach und Händel hervortrat; wenngleich allerdings zu seiner Zeit schon nicht mehr die Überlieferung der nordischen Polyphonie und Kontrapunktik gilt, aus der Bach ganz noch lebte und die auch Händel noch meisterte.

Aber da wir von "nordischer" Überlieferung sprechen, da haben wir schon den wahren Unterschied, der Gluck eine andre und neue Sendung ermöglichte: er ist der erste Süddeutsche und der erste Katholik in der weltgültigen deutschen Musik.

Bach und Händel waren Protestanten; als Thüringer nicht nur von der norddeutschen Organistenschule, wie sie in Hamburg und Lübeck ihren Hauptsitz hatte, gebildet: sie waren zugleich durch ihre konfessionelle Herkunft wie vorbestimmt, einer geistigen Welt Jenseits aller Gestalt das Leben zu geben – sie sind die wahren Erben Luthers, der die Bild- und Gestaltenwelt der Gotik verwarf, um im Glauben an das reine Wort seinen einzigen Halt zu finden. Seine Religion wird eine Religion ohne Gestalt: der Protestantismus hat nirgends mehr eine bildende Kunst als kirchliche Kunst erzeugt, hat keine eigene Baukunst, keinen alles bildenden Lebensstil aus sich hervorgetrieben. Im Weltlichen führt sein Wesen zum Begriff, zur bloßen Denkbarkeit der Idee, zur reinen und praktischen Vernunft, die das Leben immer tiefer entsinnlicht und entformt; im Religiösen aber wächst aus dem heiligen Wort der heilige Ton, die Musik der Fuge und des Chorals – Bach und Händel sind mit ihren freien Werken, die sie neben Passionen, Kantaten, Oratorien schaffen, die Begründer der absoluten Musik des Instruments, der Orgel-, Klavier- und Kammermusik.

Aber der Protestantismus ist nicht die einzig bestimmende geistige Macht der modernen Welt, auch der deutschen Welt, gewesen; wie es uns wohl scheint, wenn wir die Künste des Wortes allein: Literatur und Philosophie und Dichtung befragen. In der Musik, ja in allem eigentlich bildenden Bereich wirklicher Kultur hat das ganze Deutschtum sich verwirklicht und nicht zuletzt der katholisch gebliebene Teil unsres Volks. Es gibt kein falscheres Urteil über das achtzehnte Jahrhundert als das aus einseitig protestantischer Sicht: daß es einzig das Zeitalter der Aufklärung und der "klassischen" Philosophie und Dichtung war – es war [220] viel mehr und viel tiefer und reicher und weiter wirkend die Zeit von Barock und Musik.

Es sind im Grunde zwei Kulturen, die sich damals gegenüberstehen: bis in die Mitte des Jahrhunderts fast schroff getrennt, in der Folge sich mannigfach berührend, befruchtend, schließlich vermischend: die Kultur des Schlosses und die Kultur der Stadt: das Schloß der geistlichen und weltlichen Fürsten, vom Barock erbaut, von südlicher Musik erfüllt, einer streng abgeschlossenen adligen Gesellschaft vorbehalten; die Stadt noch älteren, fast mittelalterlichen Stils, erfüllt von nordisch protestantischer Musik, die von der Bürgerschaft gepflegt und getragen wird und in der Kirche noch ihre umfassende kulturelle Heimat findet, wie einst – seltsamste Wiederkehr – in den mittelalterlichen Städten die gotische Kunst. Bach hat zeitlebens nach den Freien Städten des Nordens, nach Hamburg und Lübeck, getrachtet und schließlich im "Kirchen-Staat" Leipzig, wie eine Gottesdienstordnung der Stadt von 1710 es nennt, als städtischer Kantor sein Werk vollbracht. Händel ist ins städtisch-demokratische England entwandert, das die Vielfalt der barocken Höfe nicht kannte und ihm für seine freie protestantische Kunst die einzig mögliche Stätte gab. Gluck aber ist schon hineingeboren in die süddeutsche Landschaft des Barock, in die geistliche und höfische Kultur von Palast und Park und Schloß, die fremderen bunteren Stoff in deutsches Leben zu wandeln hatte, die aber auch noch stärkere bildende Kräfte besaß, und, wie sie den gestalthaften Kult des Katholizismus wahrt, auch allem Schaubaren weltlicher Art offener ist und also auch noch die Wirklichkeit der Bühne in sich trägt und die Möglichkeit ihrer plastisch-musikalischen Vollendung.

Der Vater Alexander Gluck ist Förster und Jäger des Klosters Seligenporten zu Erasbach, und dort wird Christoph Willibald Gluck am 2. Juli 1714 ihm geboren. Das Geburtsdorf gehört zum Kreise Neumarkt in der Oberpfalz, zwischen Nürnberg und Regensburg, näher nach Nürnberg zu gelegen – es ist die fränkische Landschaft, die oben im Norden von berühmtesten Bauten des Barock: den Klöstern Banz und Vierzehnheiligen begrenzt wird, die damals von Johann Dientzenhofer und Balthasar Neumann gerade errichtet werden. Aber nur drei Jahre seiner Kindheit hat Gluck in seinem deutschen Geburtsort zugebracht – 1717 schon geht sein Vater in böhmische Dienste über: ist nacheinander beim Grafen Kaunitz, beim Grafen Kinsky, beim Fürsten Lobkowitz in kleinen Städten wie Kamnitz, Leipa, Eisenberg als Forstmeister. Und so verlebt Gluck seine Kindheit und bewußte Jugend bis in sein zweiundzwanzigstes Jahr in Böhmen, das er auch später noch als seine eigentliche Heimat betrachtet, dessen Hochadel er als seinen Erwecker und Förderer verehrt.

Wie so mancher unsrer größten Meister, wie Haydn und Schubert auch, wächst er auf von fremder Musik umklungen. In Böhmen war ja die Mischung zwischen Deutschem und Slawischem, die der Musik so besonders günstig ist. Böhmische Volksmusik aber ist vorwiegend instrumental: Streich- und Blasmusik, die Lied [221] und Tanz begleitet, und in den Holzbläsern selbständig singt – wir gehen nicht fehl, wenn wir in Glucks vollkommen melodischer und homophoner Haltung später die bestimmenden Eindrücke der Kindheit wiederfinden. Denn so vieles, was wir als süddeutsch-volksliedhaft empfinden, ist auch bei den andern Klassikern böhmisches Gut, dem unseren verwandt und nah genug, daß es der fremderen italienischen Arie die volkhafte Form geben konnte; aber auch die Vorliebe für Bläser im Orchester, deren Verwendung bei Gluck den Zeitgenossen auffiel, deutet auf diesen Ursprung hin. Es kommt hinzu die allgemeinere und geistigere Bestimmung durch katholische Kirchenmusik, die dem Knaben zum andern frühesten Eindruck wird: auch sie nicht nordisch-kontrapunktische Kunst mit dem schlichten Choral als tragender Mitte, sondern schon italienisch-liedhafte Schönheit, begleitet von Geigen, Pauken und Trompeten, die sich kaum mehr von der herrschenden Oper unterscheidet. Auch diese Kunstmusik steht in Böhmen damals in hoher Vollendung; und rechnet man hinzu, daß zur gleichen Zeit von Böhmen ein Johann Stamitz ausgeht, der Begründer der modernen Orchestertechnik und Symphonik (er ist nur drei Jahre jünger als Gluck und stirbt schon zu der Zeit, da Haydn seine ersten Symphonien schreibt), so ist der Umfang musikalischen Reichtums, der in Böhmen zu gewinnen war, umschrieben.

Diese Umwelt hat sicherlich lösend auf Glucks Talent gewirkt; es wäre sonst vielleicht geheim und unbeachtet geblieben, wie bei seinen Vorfahren, von denen keinerlei musikalische Ausübung berichtet ist und wo doch solche Begabung vermutet werden muß, da das Genie in dieser Kunst selten oder nie ganz unvorbereitet erscheint. Auch hat die väterliche Erziehung, die sonst streng, ja hart gewesen ist, der Neigung zur Musik wohl keinen Widerstand entgegengesetzt: schon ehe der Knabe aufs Gymnasium kommt, lernt er vom Blatt singen, lernt er Geige spielen und Violoncell. Und mit dem zwölften Jahr wird er vom elterlichen Wohnort Eisenberg weg auf das Jesuiten-Seminar zu Komotau getan, wo er doch nicht nur eine höhere Bildung erhielt, sondern den Quellen musikalischer Kunst und Ausübung am schnellsten nahe kam. Er ist achtzehn Jahr, als er nach Prag gelangt, um die musikalischen und wissenschaftlichen Studien fortzusetzen: hier wird er Schüler eines damals bekannten Komponisten und Organisten, der auch in Italien war, Czernohorsky. Aber um selber weiterzulernen, muß er schon Stunden geben: sein Fach ist bezeichnenderweise Gesang und Cellospiel – Stimme und Nachahmung der Stimme lassen den Menschen-Gestalter ahnen; während eigentliche Klavierkomposition und Neigung zu abstrakt-absoluter Musik ihm immer fremd bleiben wird. In den Ferien aber zieht er auf die Dörfer, zu singen und zum Tanze aufzuspielen – als "Prager Student" legt er den Grund zu freier Erfindung und Improvisation, und bald kann er sich auch in den Städten und beim Adel hören lassen. Der Brotgeber seines Vaters, Fürst Lobkowitz, wie alle böhmischen Großen auf die Anwerbung von Talenten für ihre Privatkapellen bedacht, ist so von ihm eingenommen, daß er ihn nach Wien bringt. In seinem [222] Hause lernt ihn der lombardische Fürst Melzi kennen und nimmt ihn noch im gleichen Jahre, 1736, mit nach Mailand; und hier eröffnet sich ihm endlich seine Laufbahn.

Wir wissen nicht, ob sichrer eigner Wille ihn zur Oper drängt oder die Entscheidung seines Mäzens – aus späteren Zügen seines Charakters, der unter aristokratischer Haltung und Zurückhaltung eine eiserne Energie mit großem diplomatischem Geschick verband, ist wohl zu schließen, daß er seine eigenen Wünsche anzudeuten und unmerklich durchzusetzen wußte. Vier Jahre Studium bei Sammartini haben ihn jedenfalls in klarer Richtung zur Beherrschung des Instrumentalsatzes, der Opernpraxis und des Dirigierens geführt; und so tritt er denn im Jahre 1741 als Siebenundzwanzigjähriger mit seiner ersten Oper, einem "Artaserse", auf Text von Metastasio, hervor. Die Oper ist ein voller Erfolg und die Ebenbürtigkeit mit den italienischen Musikern ist erbracht – in den fünf Jahren bis 1745 gehen insgesamt schon acht große Opern, nicht nur in Mailand, sondern auch in Venedig, Cremona, Turin über die Bühne. Er hat schon europäischen Ruf, als man ihn nach London, ans Haymarkettheater, beruft. Seine Oper "La caduta de' giganti" hat zwar nicht den erwarteten Erfolg. Dafür aber erfährt er Eindrücke, die noch spät in ihm nachwirken sollten, wenn er sie auch jetzt noch scheinbar ohne unmittelbare Anwendung still in sich bewahrt: auf der Reise nach London hört er in Paris Rameaus Opern, die in ihrer dramatischen Wucht und zusammengedrängten rhythmischen Deklamation ihm einen Stil verkünden, dem er später selber ähnlich nachstrebt; und in London erlebt er Händels Werke, die ihn Größe und Einfachheit lehren – es ist bereits der Händel des chorischen Oratoriums, der seit 1740 von der Oper sich zurückgezogen hat, hinter dem schon die gewaltige Schöpfung des "Messias" liegt und der jetzt am "Judas Maccabäus" arbeitet. Ob die beiden wirklich in einem Konzert zusammen auftraten, ob sie sich persönlich gegenübertraten: der Zweiunddreißigjährige dem Zweiundsechzigjährigen, ist ungewiß – es gehört wohl ins Reich der Anekdote, daß Händel ihm Rat für "schlagende" Wirkungen gab, wie man sie in England benötige; während seine abfälligen Urteile über Glucks Mangel an Kontrapunktik schon wahrscheinlicher klingen. Aber die Verehrung auf Seiten Glucks ist gewiß: noch als Greis erfüllt sie ihn, und er deutet voll Ehrfurcht auf Händels Bildnis, das in seinem Schlafzimmer, ihm immer gegenwärtig, sich befindet; und dem Engländer Burney, der ihn 1772 in Wien besucht, wird er nicht nur aus Höflichkeit gestanden haben, daß Händels Eindruck und der englische Aufenthalt überhaupt ihn dazu gebracht habe, "nur dem Studium der Natur zu folgen".

Indes ist hiervon – im Sinn seiner späteren Reform – noch wenig in der nun folgenden Schaffenszeit zu spüren: von 1747, da er über Hamburg nach Deutschland zurückkehrt, bis fast 1762, dem Jahr des "Orpheus", ist er noch vollkommen der Vertreter der italienischen Schule, zu deren zweitem deutschen Haupt und Führer er neben dem großen "Sachsen" Hasse allmählich heranwächst. Man muß sich vorstellen, was dies allein schon für einen Deutschen bedeuten [223] mußte: den Italienern es gleich zu tun, ja, ihnen bald Vorbild und Muster zu sein. Auch das war beinahe schon eine nationale Tat; denn vor Hasse und Gluck waren es ausschließlich Italiener, die an den deutschen Höfen herrschten. Was konnte es auch für einen deutschen Musiker, der aus den ärmlichsten Verhältnissen von der Gunst und Gnade fürstlicher Gönner emporgehoben, durchaus von ihnen und ihrem Geschmack abhängig blieb, anderes geben als diesen Dienst, der ihm den einzig möglichen Lebensunterhalt bedeutete, ja Ruhm und Ehren auf ihn häufte, zugleich aber auch in dauerndem Schaffen für den Augenblick mit Komponieren, Einstudieren, Dirigieren ihn so vollkommen in Anspruch nahm, daß Besinnung, ja Entwicklung in unserm Sinn nicht eigentlich möglich war! Kam dazu noch ausgesprochener Sinn für Erwerb und Festigung der Lebensverhältnisse und der unbedingte Wille, sich durchzusetzen, so war es wohl begreiflich, wenn der Künstler sein Bestes in sich zurückdrängte: von dessen revolutionierender, aber auch zerstörender, ihn selbst und seinen Erfolg gefährdender Macht er eine Ahnung haben mochte. Um so geheimnisvoller und wunderbarer erscheint aber dann dieser Mensch, der so zu warten verstand, bis er seiner sicher war und mit seiner Tat nichts mehr zu wagen und zu verlieren, aber alles zu gewinnen hatte.

So ist denn die musikalische Kunst zu jener Zeit nicht, wie wir seit Beethoven es uns vorzustellen pflegen, einsam heranreifendes Werk, sondern ganz und gar für den Augenblick, die Gelegenheit, erforderte schnelle Leistung. Und der Musiker ist noch tief verflochten ins wirkliche Leben der Zeit, ja empfängt von ihr noch hinzu, was man dem schriftlich Überlieferten allein nicht ansieht. Er ist nicht nur der Verfasser der Opern, die vor der Fastenzeit in den großen Theatern regelmäßig in stetem Wettkampf gegeben werden; er ist auch der Gestalter der höfischen Feste, denen er mit Balletten, Pantomimen, Serenaden, Festspielen aller Art den eigentlich beseelenden Gehalt schafft. So sehen wir Gluck gleich 1747 am Dresdner Hof, in der Operntruppe des Italieners Mingotti, um eine prinzliche Vermählung zu verherrlichen: im Park des königlichen Lustschlosses Pillnitz an der Elbe wird von ihm ein solches Festspiel aufgeführt: die "Nozze d'Ercole e d'Elbe". In Wien darf er im folgenden Jahr – nachdem er kurz in Böhmen war, ein Anwesen seines verstorbenen Vaters zu veräußern – anläßlich des Geburtstags der Maria Theresia eine neue Oper "Semiramide riconosciuta" am kaiserlichen Hofe geben; und im gleichen und nächsten Jahr treffen wir ihn wieder bei der Truppe Mingotti, diesmal am dänischen Hof in Kopenhagen, um ein Festspiel auf Text von Metastasio beim ersten Ausgang der Königin nach einer Niederkunft zu dirigieren und darnach seine sämtlichen Opern vorzuführen. Der ausführlichste Bericht über ein solches Hoffest ist uns für eins seiner späteren Werke, die "Cinesi" von 1754, erhalten. Er ist damals herzoglicher Kapellmeister beim Prinzen von Sachsen-Hildburghausen in Wien, der auf seinem Gut Schloßhof unweit der ungarischen Grenze die kaiserlichen Majestäten prunkvoll bewirten will. Unter Glucks Rat und Leitung wird das Fest monatelang vorbereitet; es umfaßt die verschiedensten [224] Musiken, Überraschungen, Schaustellungen: Schiffsspiele auf der March, Treibjagden, wo man das Wild durchs Wasser hetzt, allegorische Darstellungen auf schwimmenden Inseln, Serenaden, Singspiele; und der Höhepunkt ist eben das von Metastasio gedichtete, von Gluck komponierte chinesische Drama, auf einer Bühne in chinesischem Geschmack und Kostüm, über welcher zwischen den Säulen das kerzendurchleuchtete Farbenspiel zahlloser prismatischer Stäbchen prangt, die in den Glashütten Böhmens geschliffen waren. Dittersdorf nennt die "göttliche Musik von Gluck" ein Zauberwerk – mit Glöckchen, Triangeln, Handpauken, Schellen reißt ihre "Sinfonia" (die Ouvertüre) schon vorm Aufgehen des Vorhangs die Zuhörer zum Entzücken hin.

Dergleichen Feste machen deutlich, wie sehr das ganze Barock Szene war, und nicht nur seine Oper – ungeheure Veranstaltung zu einer Wunderschau erhöhten Lebens, in der schließlich die Veranstalter selber: Fürsten, Adel, Künstlerschaft, mitspielten. Aber sie machen noch etwas anderes deutlich: wie stark und ganz bestimmend das Bildnerische war. Diese Menschen waren Augen-Menschen und sinnlich-Hörende zugleich und überall: die Lust der Schau, ihr ewiger Wechsel in wahrhaft lebendem Bild, in einer Welt des sprechenden Ornaments, der musizierenden Materie, sei sie Baukunst oder Maschinerie, der singenden Gestalt – das alles hat gesamtsinnliche Bereitschaft und Empfängnis gebildet, wie es sie vorher und nachher nicht gab: es war das Gesamtkunstwerk des Lebens, dem das der eigentlichen Kunst nur logisch folgte und entsprach. Hier war auch für den Größten nichts abtrennbar, nichts in bloßes Denken und Dichten zu zerlösen, wie "reiner Geist" im Protestantismus es versuchte; hier war ein höchst vergeistigtes und stilisiertes leibliches Leben zur Bedingung auch der unirdischsten Erhebung gemacht. Selbst die körperlose Kunst, die Musik, war noch in Körper gebannt; die allerdings oft, um die übermenschliche Schönheit des Gesanges darzustellen, ihre Natur zum Opfer brachten – im Kastratentum, das uns so anstößig ist, liegt eine letzte Hingabe beschlossen, wie sie keine Religion des Abendlands ihren Gläubigen zugemutet hat; eine Kunstverehrung, die dies fordert und bewilligt, ist Religion: blutiger Urkult gleichsam einer erstmalig brandenden dionysischen Berauschung, vor der man die Gestalt nur durchs Opfer ihrer Natur schützen kann: denn die Kastratenstimme bleibt organischer Ausdruck der Gestalt, trotz ihrer Erhöhung zum neutralen Instrument. In dieser Behauptung des Stils, der etwa der Zähmung und Verkrüppelung der pflanzlichen Natur im Park entspricht, lebt etwas vom plastischen Sinn, dem die Oper ihren Ursprung verdankt, noch in den Erscheinungen ihres Niedergangs – sowenig die Oper des Barock, wie Gluck sie vorfand und wie er ihr selbst zwei Drittel seines Kunstschaffens weihte, auf den ersten Blick mit der Wiedererweckung der griechischen Tragödie und ihres orphischen Sinns zu tun hat, von der sie um 1600 ausging, so hat es doch nur einer kleinen Verrückung ihres Schwergewichts bedurft, um diesen Ursinn wiederherzustellen; freilich jenes entscheidenden kleinsten Anstoßes, der nur vom größten Genius [225] ausgehen kann. Hatten Handlung und Musik in Rezitativ und Arie das unteilbare Gesamtkunstwerk gleichsam in Stücke gerissen, so daß das Rezitativ nur dem nüchtern-kausalen Zusammenhang, die Arie der Schaustellung des Sängers diente: so mußte nur die Handlung wieder der Musik und die schöne Musik der Handlung verwoben werden, um aus Stückwerk wieder ganze Gestalt zu fügen. Aber der Genius tastet sich selbst noch an veredeltem Stückwerk hin: sucht hier ein Rezitativ durch volle seelenhafte Instrumentalbegleitung zu wirklichem Ausdruck zu steigern, strebt dort in einer Arie geistigen Sinn zu entwickeln, der dem Ganzen gilt – schon kommt er dem Ziele in Einzelheiten so nah, daß er später fertige Arien, Ouvertüren, Tänze in seine großen Werke übernehmen kann.

Der Michaelerplatz in Wien mit dem alten Burgtheater.
[225]      Der Michaelerplatz in Wien
mit dem alten Burgtheater (ganz rechts).

Nach einem Stich von Carl Schütz.

[Bildquelle: Georg Massias, Berlin.]
Seit den Fahrten mit Mingotti ist Gluck von 1750 an ganz in Wien heimisch geworden, das er nun, außer für Kunstreisen, wenn auch entscheidendste, nicht mehr verläßt. Er verheiratet sich dort mit Marianne Perg, der Tochter eines reichen Bankiers, in diesem Jahre. Von ihrem Vater wird sie ihm anfänglich verweigert; aber dieser stirbt plötzlich, während Gluck in Rom eine Oper inszeniert. Er eilt heim, seine Werbung zu erneuen, und begründet ein dauerndes ungetrübtes Glück, das bis zu seinem Tode währt. Er macht – ein seltner Fall bei unsern Musikern – ein großes Haus in Wien, das allen Künstlern und Gelehrten offensteht; er ist ein zufriedener und gefeierter Mann, dem sich scheinbar nichts an äußeren Ehren und Erfolg versagt. Seine Frau begleitet ihn jetzt auf seinen ruhmreichen Kunstreisen: schon 1751 geht er mit ihr nach Neapel, die "Clemenza di Tito" aufzuführen; und [226] dort ist es, wo der verwöhnte und reiche Kastrat Caffarelli, entgegen aller Übung, sich bequemen muß, ihm den ersten Besuch zu

Standbild Glucks neben der Karlskirche in Wien.
Standbild Glucks
neben der Karlskirche in Wien.
[Nach wikipedia.org.]
machen – aus solchen Kleinigkeiten ersehen wir, wie sein gewandtes und verbindliches Wesen im rechten Augenblick mit unbeugsamem Stolz sich durchsetzen kann. Das Jahr 1754 sieht ihn, nach den Erfolgen auf Schloßhof, in Rom, wo er für die Oper "Antigono" vom Papst den Orden vom goldenen Sporen erhält: er hat nun den Rang eines Comes Palatii Romani und schreibt sich fortan "Ritter von Gluck".

Inzwischen ist in Wien der Graf Jakob von Durazzo zum Oberleiter der Hoftheater ernannt worden, und für die Dauer dieser Leitung (bis 1764) wird Gluck als Opernkapellmeister verpflichtet. Durazzo ist ein hochgebildeter Mann; er verfolgt nicht nur die Fortschritte der Musik (1758 führt er Traëttas "Ifigenia in Aulide", 1761 dessen "Armida" auf), sondern er bereitet auch der französischen Tragödie in Wien den Weg: bis 1762 kann man dort die Dramen von Corneille und Racine, Crébillon und Voltaire von einer französischen Truppe im Originale hören – Bereicherungen des Begriffs der Tragödie, die auf Gluck nicht ohne Einfluß waren. Durazzo ist es auch, der sich von Favart in Paris französische Vaudeville- und Operetten-Texte verschreibt und Gluck zur Komposition und Bearbeitung anregt. Damit wendet sich Gluck seit 1759 vorübergehend dem Lustspiel zu und schreibt so lebendige und erfolgreiche Stücke wie "L'arbre enchanté", "Le cadi dupé" und noch 1764 "La rencontre imprévue", das bekannt geworden ist in der deutschen Fassung "Die Pilgrime von Mekka", aus welcher Mozart das Thema "Unser dummer Popel meint, daß wir strenge leben" zu seinen herrlichen Variationen entlehnt, ja der er unmittelbar die Anregung zur "Entführung" verdankt: denn es ist fast der gleiche Stoff und hat schon seinen "Osmin" und eine Weinszene, wo Bacchus gegen den Propheten ausgespielt wird.

Durazzo schließlich ist es, der Gluck seinen künftigen Textdichter zuführt: 1761 bringt er ihn mit Ranieri Calzabigi zusammen, der lange in Paris gelebt hat und dort eine Ausgabe der Werke Metastasios besorgte, die ihn auf das Problem der Oper führte. Er ist eine etwas abenteuerliche Gestalt, in manchem Casanova verwandt, mit dem er ja in Paris zusammen eine bedenkliche Lotterie gegründet hatte – er wird später Wien wegen eines Liebeshandels mit einer Sängerin verlassen müssen. Man hat lange Zeit in ihm den eigentlichen Urheber der Opernreform gesehen, weil er später in einer Verteidigungsschrift dieses Verdienst ausdrücklich in Anspruch nahm und Gluck nur gerade zum Komponieren zugezogen haben will. Aber seine Schrift enthält so viele nachweisliche Unwahrheiten, etwa daß Gluck des Italienischen nicht mächtig gewesen sei, daß wir uns auch durch Glucks eigene bescheidene Darstellung nicht irremachen lassen dürfen, sondern ganz abgesehen von seiner Musik auch seinem unfehlbaren Theater-Instinkt einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Textes zuschreiben müssen. Dafür spricht nicht zuletzt auch, daß Gluck Calzabigi später fallen läßt, als die dritte Reform-Oper "Paris und Helena" wegen ersichtlicher Textmängel erfolglos bleibt, und nach [227] andern Gedichten greift.

Öfter haben damals Männer wie Durazzo, Gluck und Calzabigi zusammengesessen und über die so dringlich notwendig gewordene Reinigung der Oper beraten. In Parma hat Traëtta, der große Italiener, französische Reformideen vertreten; in Rom hat der andere bedeutendste Opernkomponist neben Traëtta und Gluck, Jomelli, dem Kreise des Kardinals Albani angehört, der Winckelmanns Gönner war, und mit ihm dem Gedanken eines zweiten Risorgimento gelebt. In Wien begann es scheinbar nur mit einer Kritik an den Texten Metastasios, mit denen dieser gekrönte kaiserliche Poet von 1730 bis 1780 die Opernbühne fast ausschließlich beherrschte. Auch er war ursprünglich vom antiken Ideale ausgegangen, wie er ja auch seinen italienischen Namen Trapassi ins Griechische geändert hatte; aber er war nicht der "Sophokles", als der er ernstlich seinen Zeitgenossen galt, obgleich er sich für den eigentlichen Schöpfer der Musikdramen und den Musiker nur für einen Illustrator zweiten Ranges hielt. Wohltätig war seine Vorherrschaft darin, daß Stoff und Wort den Zuhörern so völlig vertraut waren wie den Griechen ihr Mythos, so daß bei den ewig wiederkehrenden gleichen antiken Vorwürfen das ganze Augenmerk gerade auf die jeweils neue Musik sich richten konnte – allein Hasse hat sämtliche Texte Metastasios, viele zweimal, komponiert, und auch Gluck kam lange Zeit nicht von ihm los. Aber Metastasio war es auch, der die Liebesintrigen und die schmachtende Galanterie in die antiken Stoffe einführte, jede Handlung in die immer gleichen gefühlvollen Arientexte auflöste, und nebenher (im Secco-Rezitativ) die konventionelle, wohlanständige, aber fast gleichgültige Verknüpfung des Geschehens gab, so daß eben die Schaustellung der Sängerkunst alles ernsthafte Drama-Interesse überwuchern mußte. Von der französischen Schule kommt damals eine Hilfe mit der Forderung eines wirklichen dichterischen Zusammenhangs; der Graf Algarotti faßt diese Ideen ein erstes Mal zusammen; auch Rousseaus Ruf nach Natur wird lebhaft aufgenommen. Und in der Tat unterscheiden sich Calzabigis Texte von denen Metastasios durch Einfachheit und Einheit der Handlung, durch Reinigung von allem Beiwerk an Intrige und unzugehöriger Verwicklung.

Aber wie akademisch und theoretisch mutet das alles an, selbst die klare Führung der Handlung im fertigen Text, gegenüber der wirklichen Tat Glucks, die im "Orpheus" plötzlich wie aus dem Nichts heraufzustoßen scheint. Gewiß, historisch betrachtet mag es auf gleicher Linie liegen wie Winckelmanns Geschichte der Kunst, die zwei Jahre nach dem "Orpheus", 1764, erscheint: eine zweite Renaissance scheint begründet, die im achtzehnten Jahrhundert nun Klassik heißen wird und vermeint, zu dem allgemeinmenschlichen und natürlichen Vorbild der Antike vorzudringen. Aber was besagt die antiquarische "Einfalt und stille Größe", die Winckelmann entdeckt, mit der Goethe sein Titanisches beruhigt, gegen die religiöse Leidenschaft, mit welcher Gluck einen scheinbar verschollenen und zum artistischen Spiel herabgewürdigten Mythos ernst nimmt? Hier hat dasselbe rätselhafte Überströmen echten antiken Geistes stattgefunden, das einst das christliche Mysterium [228] des Nordens begründete: der "Orpheus" ist wirklich erobertes und wiedergewonnenes Eleusis, empfangener Klang einer unvergänglichen Welt, die deshalb so erschütternd auf uns wirkt, weil sie die ewige Gleichheit alles Höchsten bezeugt: denn sie ist nicht anders als mit den ebenbürtigen Farben christlicher Religion gemalt.

Was im geschichtlichen Bild Europas ein logisch bedingter Schritt scheint, von Theoretikern ersonnen, von Praktikern für eine einzelne Kunst begrüßt, das bekommt plötzlich im Lichte des deutschen Geistesschicksals einen umwälzenden und offenbarenden Sinn: in diesem Musiker Gluck ist ein Verkünder neuen Weltglaubens auferstanden, der dem letzten Verkünder des alten Jenseitsglaubens, Bach, die Waage hält – die einfachen großen Tatsachen von Leben und Tod, Liebe und Opfer, Untergang und Auferstehung werden so stark in einem rein menschlichen Bilde fern aller dogmatischen Bindung erlebt, daß Seligkeit einer neuen Offenbarung uns überflutet. Die Klänge des Elysiums wölben einen neuen Himmel über dieser alten Erde, der nur durch die Schau des musikalischen Dichter-Genius da ist: der dadurch, daß er Schein ist, den ersten wunderbaren Kunst-Trost für eine aufgeklärte, illusionslos gewordene Menschheit errichtet, und einer noch nicht gefaßten, bis heute noch nicht begriffnen tragischen Religion die Grundlage stiftet, für welche wir außer Gluck und seiner Nachfolge in der Musik nur die Namen Hölderlin und Nietzsche beschwören können.

Dieser Durchbruch des Priesters und Gottes-Künders Gluck gehört zu den einmaligen und unerklärlichen Tatsachen der Kunst. Hier ist er plötzlich da, in seinem achtundvierzigsten Jahr, bis zu diesem Augenblick ein bloßer Künstler, den rein im Musikalischen schon mancher reichere Klang Jomellis und Traëttas übertraf. Dieses Wunder gesellt ihn selbst zu den orphischen Mächten, die in Jahrhunderten, Jahrtausenden geheim verborgen harren, um dann plötzlich in einem Irdischen hervorzutreten und Gestalt zu werden – alles, was man rein künstlerisch erklärend hier beibringen könnte, versagt, so wie alles Persönliche, trotz eines berühmten gesuchten geselligen Daseins, für dieses Letzte sich in undurchdringliches Dunkel hüllt. Es ist der Blitz von Damaskus, der hier aus Händen eines unbekannten Gottes niederfährt – die Oper verflammt, verbrennt; das orphische Geheimnis besteht und wird in alle Ewigkeit bestehen – vielleicht war alles Opernwesen der Jahrhunderte nur da für diesen einen erreichten Augenblick.

Notenblatt aus Alceste.
Beginn der Arie "Misero e che farò"
aus Alceste.

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Was Gluck aus diesem verzehrenden Erlebnis mitbrachte, von dem es keine andre Kunde als seine Töne selber gibt, das hat er später mit Kunstverstand und riesenhaftem Willen sich zum bewußten Ideal und Maßstab gesetzt; erreicht hat er es so kein zweites Mal, wenn er auch ein unbegreiflich reines und reiches Werk darauf errichtete, das in seiner Gesamtheit erst die tragisch-feierliche Bühne uns begründen könnte, auf der ein einzelnes Werk zum unwirksamen Experiment verurteilt ist. Es ist bezeichnend, daß erst das zweite Drama ihn vermochte, in einer Vorrede den Sinn dieses unfaßbaren Geschehens als einen wohlgeordneten [229] Reformgedanken darzulegen. Und doch ist die "Alceste", die 1767 für Wien, italienisch und wie "Orfeo" auf Calzabigis Text, geschrieben wurde, vielleicht sein geschlossenstes Mysterium, in dem noch einmal in großen, einfachen Gestalten Tod und Leben miteinander kämpfen – hier klingt im Tempel schon der Priesterton der "Zauberflöte", tönt aus dem Jenseits die dunkle Stimme wie im Komtur des "Don Juan". Aber eine vom Meister selbst verschuldete Tragik ward hier zur tragischen Ironie: daß die für Pariser Unverständnis verstümmelte und verwässerte französische Bearbeitung allein auch für die deutsche Bühne sich erhielt und unsern Begriff vom ursprünglichen Werk vollkommen verfälscht.

Denn allerdings ist auch das französische Erlebnis für Gluck zuletzt eine Enttäuschung gewesen, so wie die Aufnahme in Deutschland ihn nicht befriedigen konnte. Was hier außerhalb Wiens damals geschah, wird an der Münchner Aufführung des Orpheus von 1773 deutlich: die Oper ist zu "ernst", sie bedrückt, gehöre eher in die Karwoche als in die Fastnacht, zudem ist sie nicht abendfüllend: und so wird sie mit allerhand Einlagen in den Stil der Opera seria zurückbearbeitet; man bringt sie bloß, weil für das Publikum Neuigkeiten wie die Furienchöre aufregend sind. Gluck selbst hat nach dem Mißerfolg von "Paris und Helena" für Wien nichts in dem neuen hohen Stil mehr geschrieben – er schafft verachtungsvoll und unbekümmert in seiner früheren italienischen Art, wenn hier noch etwas von ihm verlangt wird. Aber er richtet dafür sein Augenmerk nach Paris; und solange er noch nicht selber dort ist, kann er an eine ideale Aufnahme glauben, da der Stil der französischen Tragödie doch seiner Auffassung vorgearbeitet haben muß. So entsteht die "Iphigénie en Aulide" noch in Wien, auf den französischen Text des Le Blanc du Roullet, der in Wien französischer Gesandschaftsattaché ist und ihm das Drama Racines bearbeitet. Die Aufführung ist zunächst nicht einmal leicht durchzusetzen: es bedarf des Befehls der Tochter Maria Theresias, Marie Antoinettes, die eben als Braut nach Paris geht, damit die Dinge in Fluß kommen.

Anfang 1774 geht Gluck selbst nach Paris und muß zuerst über die Schwierigkeiten erschrecken, die der Stand von Gesang und Instrumentalspiel ihm bietet; aber seiner persönlichen Leitung und unermüdlichen Arbeit gelingt es schließlich, Darsteller und Orchester zu einer starken Leistung hinzureißen. Der lebendige Geist der Franzosen zollt ihm ebensoviel Anerkennung als Widerspruch. Den letzteren hofft Gluck durch Entgegenkommen zu besiegen: er gesteht eine Umarbeitung des "Orpheus" zu, der ja sowieso der Änderung bedurfte, da die Hauptrolle für Tenor geschrieben werden mußte statt für Alt, weil es in Paris keine Kastratensänger gab. Er hat 1775 damit Erfolg, und willigt so in die verhängnisvolle Verunstaltung der "Alceste", die trotzdem noch zu viel von der Schlichtheit des Mysteriums bewahrt, um den Franzosen zu gefallen – die Aufführung, zu der er sich 1776 zum zweitenmal nach Paris begibt, wird förmlich ausgezischt. Die Schwierigkeiten häufen sich: den Stoff einer neuen Oper "Roland", die er übernommen hatte, wird einem neueintreffenden Italiener, Piccini, zur Komposition [230] übergeben; Gluck wirft die begonnene Partitur ins Feuer und wendet sich zur Arbeit an der "Armida". Aber nun ist der große literarische Streit zwischen italienischer Oper und Gluckscher Oper ausgebrochen, der die ganze gebildete Welt in Atem hält, und auch die Aufführung der "Armida" 1777 entscheidet ihn noch nicht; er wird von Gluck erst mit der "Iphigenie in Tauris" gewonnen, die mit gewaltigem Erfolg im März 1779 selbst die Gegner zur Begeisterung hinreißt. Sein alter Feind, der Baron Grimm, muß ausrufen: "Ich weiß nicht, ob das, was wir hörten, Gesang ist. Vielleicht ist es noch etwas weit Besseres; ich vergesse die Oper und finde mich in einer griechischen Tragödie."

Gluck war fünfundsechzig Jahre, als er seinen großen letzten Sieg errang. Fünf Jahre hatte er in Paris gekämpft, als schaffender Künstler und als klärender und verteidigender Schriftsteller. Die ewigen Anstrengungen hatten ihm zuletzt sogar einen Schlaganfall zugezogen; er ist des Streites müde, er geht nicht mehr nach Paris; nicht nur weil eine aus persönlich-konventionellen Gründen übernommene Arbeit, für den "Echo et Narcisse" eines Baron Tschudi Musik zu schreiben und zusammenzustellen, keinen großen Eindruck mehr macht. Schon vorher schreibt er seinem Freunde Kruthoffer nach Paris: "Daß ich aber selber wiederumb auf Paris kommen sollte, da wird nichts daraus, solang man annoch die Wörter 'Piccinist, Gluckist' wird in Gebrauch haben, dann ich bin Gott sey Dank anjetzo gesund, ich mag keine Galle mehr in Paris speyen." Großes hatte er dennoch dort erlebt: er hatte doch Anteil entfesselt, Stellungnahme; man hatte sich doch dort über Geistiges noch erregt – wieder hatte, wie schon in Händels Fall, eine deutsche Geistesschlacht in der Fremde sich entscheiden müssen, wieder war der Ruhm des Siegers aus fremdem Land auf seine Heimat zurückgestrahlt, die selber stumm und teilsnahmlos lag. Aber auch Schweres hatte ihm Paris gebracht: in dem Unglücksjahr 1776, da die "Alceste" in Paris scheitert, erreicht ihn fast auf den gleichen Tag die Kunde vom Tod seiner Nichte Mariane, die er, selber kinderlos, als Tochter angenommen hatte. Ihr hatte er, der Jugendlichen, sein Herz und seine künstlerische Fürsorge geschenkt, sie hatte seine Lieder wunderbar gesungen und war zu hoher Leistung ausersehen; und jeder, der sie sah, war von ihrer zarten Erscheinung ergriffen. Klopstock hatte sie auf Glucks Rückreise von Paris 1775 in Straßburg und in Rastatt seine Oden in des Meisters Komposition vortragen hören und war von ihr bezaubert. Von Wieland ist uns ein rührender Brief auf ihren Tod erhalten: er möchte etwas hervorbringen, "das des entflohenen Engels und Ihres Schmerzes und Ihres Genius würdig sei", er gesteht, daß er das nicht vermag; aber er ist zu Goethe gegangen, hat ihm Glucks Brief gezeigt, und schon am folgenden Tag ist Goethe "mit einer großen Idee erfüllt", mit der er das Andenken der Nichte "heiligen" will. – Wir wissen nicht, was hieraus ward. Aber uns sind diese engen Beziehungen denkwürdig, die, ein seltenes Mal in deutscher Geschichte, zwischen den Genien der Dichtung und Musik sich bezeugen; und wir denken einer anderen seltsamen Fügung nach: daß Goethe im Jahr der [231] Pariser Aufführung der Taurischen Iphigenie 1779 die erste Fassung seiner "Iphigenie in Tauris" niederschreibt.

Sonst wissen wir wenig genug von Glucks Verhältnis zu anderen Menschen – war er zu selbstverständlich groß, als daß uns dauernde Nachrichten überliefert wurden, oder war die Scheidewand zwischen dem musikalischen Wien und dem literarisch-protestantischen Deutschland sonst noch zu dicht, als daß man viel von ihm sprach? Von manchen Besuchen Fremder wird uns aus den letzten Jahren gemeldet. Mozarts "Entführung" hat er noch erlebt und hat den jungen Meister immer wieder gelobt und zu sich geladen. "Meine Oper", schreibt Mozart am 7. August 1782, "ist gestern wieder (und zwar auf Begehren des Glucks) gegeben worden; Gluck hat mir viele Komplimente darüber gemacht. Morgen speise ich bei ihm." Und noch im März 1783 über ein Konzert: "Gluck hatte die Loge neben der Langischen, worin auch meine Frau war. Er konnte die Sinfonie und die aria nicht genug loben und lud uns auf künftigen Sonntag alle vier zum Speisen ein." Und einmal knüpft er an seinen Bericht die Betrachtung: "Sie wissen wohl, daß fast in allen Künsten immer die Teutschen diejenigen waren, welche excellirten – wo fanden sie aber ihr Glück, wo ihren Ruhm? in Teutschland gewiß nicht! Selbst Gluck – hat ihn Teutschland zu diesem großen Mann gemacht? Leider nicht!"

Gluck hat ebenso vaterländisch gedacht und ein großes deutsches Festspiel im Sinn getragen (wie er selbst schon an die Verdeutschung seiner "Iphigenie" dachte): Klopstocks "Hermannsschlacht" hatte ihn schon längst und nun ausschließlich in seinen letzten Lebensjahren beschäftigt. Klopstock selber und manchem Besucher hat er Stücke daraus vorgespielt und ‑gesungen. Wenn Klopstock auf die Vollendung drängte, pflegte er zu antworten, er müsse noch ganz neue Instrumente dafür erfinden, die jetzigen reichten nicht aus. In Wahrheit war er, wie Mozart, unvermögend, etwas niederzuschreiben, ehe es nicht als Ganzes bis in die geringste Besetzung vor seinem inneren Auge stand und fertig war. Und so hat er auch dieses Geheimnis mit sich genommen, als er am 15. November 1787 starb. Nichts bezeugt seine Sehnsucht nach geistigem Deutschtum wie dieses letzte geplante Werk – nicht die Jugend in Böhmen, nicht die Erfolge in Italien und Frankreich, nicht die notwendig internationale Stellung des Musikers in seiner Zeit (auch seine Kunstschriften sind italienisch oder französisch verfaßt) haben diesen Willen zum Deutschen in ihm brechen können, der ja ungewußt und schicksalsnotwendig seine großen Werke erfüllte, der sie ermöglichte: denn nur in ihm ward Klassik je völlig verdeutscht. Er erscheint nicht als Vorläufer, sondern als Vollender dessen, was Goethe mit seinem klassischen Streben suchte. Das Barock hat ihn, wie im Grunde auch Goethe, zu der plastischen Gestalt gereift, die bildende Kräfte noch auf uns strömt – das Barock, das immerhin noch den Kunst-Ernst hatte, seine Tragödie aufzuführen, während das nachfolgende bürgerliche und unheroische Theater um jeden Preis Unterhaltung forderte und seine Unbedingtheit und Reinheit nicht mehr ertrug.

Gipsbüste von Jean-Antoine Houdon, 1775.
Christoph Willibald Ritter von Gluck.
Gipsbüste von Jean-Antoine Houdon, 1775.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 184.]
Er war Aristokrat: man schildert seinen hohen Wuchs, seine [232] herbverschlossene Haltung; und Heutige haben mit Recht in ihm den reinsten nordischen Typus unter unseren Schöpfern erkannt. Und doch, wie ist dieser Stolze, Strenge bis zur Gefährdung der inneren Vision hingegeben! Er arbeitet schwer und langsam in seiner höchsten Zeit; innerlich vielleicht, wir wissen es nicht, auf dieses Ziel sein ganzes Leben – "wie ein Bildhauer" hat einer seiner Biographen von ihm gesagt. "Bin ich einmal mit der Komposition des Ganzen", sagt er selber "und den Charakteren der Hauptpersonen im reinen, so betrachte ich die Oper als fertig, obgleich ich noch keine Note niedergeschrieben habe. Diese Vorbereitung kostet mich auch gewöhnlich ein ganzes Jahr und zieht mir nicht selten eine schwere Krankheit zu." Und dieser in aller Äußerung des Gefühls so Keusche, auf Wahrung seiner Würde so Bedachte, vergißt sich, wenn er dirigiert – ein Zeitgenosse, der ihn am Klavier (wie damals üblich) seine Oper leiten sah, berichtet: "Kein Fortissimo kann ihm an gewissen Stellen stark und kein Pianissimo schwach genug sein. Dabei ist es ganz originell, wie jede Stelle des Affekts, des wilden, sanften, traurigen sich am Klavier in allen seinen Mienen und Gebärden malt. Er lebt und stirbt mit seinen Helden, wütet mit dem Achill, weint mit der Iphigenia, in der Sterbe-Arie der Alceste sinkt er ordentlich zurück und wird mit ihr beinahe zur Leiche."

So hat ihn doch der Dichter in seiner Phantasie richtig geschaut; und so sehen ihn ewig wir: hingegeben-selbstvergessen am Klavier die Seele herausmusizierend: das Höchste und Erschütterndste, selbst ganz erschüttert, von den großen Lebensmächten kündend: einsam, allein inmitten großer und fremder Welt. Ein abgeschiedener Geist. Ein wiederkehrender Geist?




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz