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VII. Die großdeutsche Kultureinheit   (Forts.)

 
Die großdeutsche Kultureinheit in der Literatur
Privatdozent Dr. Friedrich Kainz (Wien)

Die stammliche Strukturierung des deutschen Volkes • Österreich kein selbständig kulturell schaffendes "Volk" • Die Wesensbesonderheiten der Deutschösterreicher • Nur ein Teil Österreichs ist Kolonialgebiet • Die Sprach- und Dialektentwicklung in Österreich • Die althochdeutschen Denkmäler • Die frühmittelhochdeutsche Periode in Österreich • Geistliche Dichtung • Minnesang • Walter von der Vogelweide • Volks- und Heldenepos • Höfische Epik • Das Drama • Renaissance • Humanismus • Reformation und Gegenreformation • Barockdichtung • Barock die literarische Hochleistung des bayrischen Stammes • Klassizismus • Die Gegenreformation hat nicht die Einheit des deutschen Literaturgebietes zerschlagen • Alpenländische geistliche Volksdramatik • Das Wiener Burgtheater • Die Aufklärung • Romantik • Vaterländische Dichtung • Raimund • Bauernfeld • Postl-Sealsfield • Lenau • Anastasius Grün • Politische Lyrik in Österreich • Hamerling • Der Naturalismus • Symbolistisch-neuromantische Dichtung • "Heimatkunst" • Expressionismus • "Neue Sachlichkeit" • Restlose Einheit des gesamtdeutschen Volks- und Kulturgebietes.

I.

Die innerhalb der deutschösterreichischen Staatsgrenzen wohnende Bevölkerung bildet einen Teil des deutschen Volkes; in Sprache, Stammesart, Brauchtum, Lebensform, Sitte und Kultur hat sie durchaus teil am Besitztum der deutschen Gesamtnation. Wenn wir es unternehmen, diese engste Gemeinschaft, ja Einheit, für ein bestimmtes Gebiet der geistigen Kultur, des dichterischen und literarischen Schaffens, zu erweisen, haben wir folgende einleitende Erwägung voranzustellen: Das deutsche Volk bildet in seinen kulturellen Hervorbringungen eine organische Einheit, die freilich von einer zentralistisch bestimmten, starren, "monarchischen" Einheitlichkeit weit entfernt ist, vielmehr einen, bei durchgehender Wesensgleichheit der einzelnen Stämme, doch mannigfach und bunt gegliederten reichstrukturierten Organismus darstellt. Für den deutschen Volksorganismus ist also von vornherein eine reiche stammheitliche Durchgliederung und Strukturierung kennzeichnend. Manchmal geht sie bis zur partikularistischen Betonung des Sondernden, ohne aber jemals die übergreifende Einheit der Volkspersönlichkeit aufzuheben. Gleichwohl muß sie stets berücksichtigt werden, wenn es gilt, die kulturellen Leistungen eines bestimmten Stammes zu würdigen, weil man sonst Gefahr läuft, seine Sonderstruktur, die aber durchaus im [257] Rahmen des der deutschen Volkspersönlichkeit Möglichen verharrt, als fremdtümliche Andersartung aufzufassen. Von dieser Tatsache der starken stammheitlichen Strukturierung aus konnte J. Nadler mit gutem Recht eine Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften schreiben, ohne die Einheit des deutschen Volkes und seiner kulturellen Schöpfungen dadurch letzten Endes in Frage zu stellen. Innerhalb der kulturellen Aufgaben des Gesamtvolkes hat jeder einzelne Stamm seine Spezialmission. Dabei treten die verschiedenen Stämme zu verschiedenen Zeiten schöpferisch hervor, während sie sich in anderen Epochen rezeptiv verhalten. Ein Wort Schillers variierend, könnte man sagen: Jedem Stamme des Volkes glänzt einst sein Tag in der Geschichte. So etwa dem schwäbischen Altstamm zur Zeit des Minnesanges, des Klassizismus usw., Schlesien und den östlichen Neustämmen zur Zeit der Opitzschen Literaturreform, in der Romantik, im Naturalismus, dem bajuvarisch-österreichischen Stamm zur Zeit des mittelalterlichen Heldensanges, des Barocks, des Impressionismus.

Österreich kann weder in anthropologischer und folkloristischer noch in sprachlich-literarhistorischer Hinsicht als ein selbständig existierendes, selbständig kulturell produzierendes Volk angesehen werden; es ist vielmehr ein Teil des deutschen Volkes in weit nach Südosten vorgeschobener Vorpostenstellung mit selbständiger politischer Vergangenheit. Daraus ergeben sich gewisse eigenartige Modifikationen des allgemeinen deutschen Volkscharakters in Österreich. Gleichwohl, trotz diesen Modifikationen, ist und bleibt Österreich ein echter Teil des deutschen Volkes; es ist das Land einer älteren Form der deutschen Kultur. Das wird auf dem Gebiete des literarischen Schaffens besonders klar. Die eigene Note des deutschen Südoststammes in Österreich, die diesem wie jedem anderen deutschen Stamme zukommt, nuanciert jedoch die Wesensmelodie des deutschen Volkstums gewissermaßen nur klangfarblich, bildet aber durchaus keine andersartige Melodie. Die Prädikate und Stammbegriffe einer Phänomenologie des österreichischen Wesens passen zum maßgebenden Teil auf süddeutsches Wesen überhaupt. Österreich geht literarisch im wesentlichen mit dem bayrischen Stamm, wenngleich natürlich auch hier gewisse Differenzen gegenüber dem Altbayerntum bleiben. Aber das Gemeinsame, Verbindende, einheitlich Hindurchgehende ist in jedem Falle wesenhafter und wichtiger als das Unterscheidende. Sicherlich hat es Zeiten der Trübung dieser Ein- [258] heit und der Lockerung dieses engen Zusammenhanges gegeben, aber die hiemit gesetzten Differenzen kamen den Miterlebenden vielleicht bedeutsamer vor, als es berechtigt war, als sie dem Auge des Historikers erscheinen, der zu gewissen ephemeren Erscheinungen Distanz gewonnen hat und den Gesamtzustand erfaßt. Was ferner zu bestimmten Zeiten und für bestimmte politisch-historische Standpunkte zu einer Überschätzung des Trennenden führte, sind einige politische Ereignisse, die eine gewisse Entfremdung bewirken, die jedoch dem faktischen national-kulturellen Einheitszustand in keiner Weise entspricht. Keinesfalls dürfen Auswirkungen dieser politisch herbeigeführten, gelegentlich auch von oben künstlich und absichtlich gehegten Entfremdung als Beweismomente für eine kulturelle Heterogeneität Österreichs gewertet werden. Niemals darf man die außerordentliche Kraft und Zähigkeit vergessen, mit der der bayrische Altstamm, der das österreichische Gebiet in mehreren Anläufen besiedelte, sich stets aufs neue durchzusetzen, alles Fremde anzugleichen oder auszuscheiden wußte und so trotz aller Bedrohungen eine ungebrochene deutsche Tradition durch all die Jahrhunderte bewahrte. So kommt es im österreichischen Stamm, in dem das bayrische Grundelement eigenartig modifiziert erscheint, zu einer eigenartigen Abwandlung des deutschen Wesens überhaupt, die den Umkreis von dessen Möglichkeiten bereichert, die kulturelle Ausschwingungsweite erweitert und manche komplementäre Ergänzung bringt. Man stelle die Dichterpersönlichkeiten Kleists und Grillparzers nebeneinander, um die durch die Stammescharaktere gesetzte Spannungsweite der literarischen Pole zu erfassen, diese großartige Polarität deutscher Wesensart, die von jeher die Mutter "antithetischer Dioskuren" war. – So schafft sich, wie Walther Brecht in einem schönen Vortrage betont,1 der bayrisch-österreichische Stamm eine merkwürdig reiche und gleichberechtigte Literatur neben der der anderen Stämme. Das ist im Sinne jener prätendierten Kultureinheit zu verstehen: Die auf dem Boden Deutschösterreichs entstandenen Literaturschöpfungen sind durchaus ein Bestandteil des gesamtdeutschen Literaturgutes. "Österreich ist nicht nur unser ältestes Kulturland, wenn wir vom Oberrhein absehen, es ist ein herrliches und großes [259] Hauptland deutscher Poesie"; so Walther Brecht in dem genannten Vortrag.

In kulturell-literarischer Hinsicht findet die kleindeutsche Geschichtsauffassung wenig Stützpunkte an den Tatsachen. Hier ist Österreich echter und wertvoller Bestandteil des geistigen Deutschen Reiches, der deutschen Kultureinheit, die unbekümmert um Staatsgrenzen vorhanden ist: das Kulturprofil der deutschen Geistigkeit ist durch Österreichs Anteil wesentlich mitbestimmt. – Es hat eine Zeit gegeben, in der die unter viele Fürstenhäuser verzettelten deutschen Gebiete nur durch Sprache, Kultur und Kunst zu einer Nation geeinigt wurden, wo "Deutschland" lediglich eine ideale, geistige, aber keine empirisch-politische Existenz hatte. Und doch bestand Deutschland auch damals, weil Volks- und Kultureinheit bestand. An diesem einheitlichen Kulturbesitz hat auch das politisch vom Gesamtvolk abgesonderte Österreich vollen Anteil, so zwar, daß seine Leistungen und Beiträge aus dem Gesamtbild der deutschen Literatur nicht wegzudenken sind. Auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Literaturgeschichtschreibung übrigens ist die gesamtdeutsche Kultureinheit kaum ein Problem, zumindest kein prinzipielles. Keine geschichtliche Darstellung der deutschen Literatur und des deutschen Theaters kann umhin, österreichisches Schaffen nicht nur öfters zu erwähnen, sondern auch in den Vordergrund zu stellen. Daß zahlreiche österreichische Dichter aller Zeiten und Stilperioden zum besten Besitz der deutschen Poesie gehören, kann nicht bestritten werden. Oftmals sind Quelle und Gestaltung bedeutender Literaturwerke, Anregung und Ausführung, Stoff und Kunstwerk, künstlerische Traditionen usw. so eng verschlungen und kompliziert zwischen dem "Reich" und Österreich aufgeteilt, daß eine Trennung dieses eng verwachsenen Ganzen nur mit Gewaltsamkeit möglich wäre. Man denke z. B. an die Heldenepik des Mittelalters, wo gesamtdeutsches Sagengut in Österreich seine Gestaltung empfing, an die zahlreichen "reichsdeutschen" Dichter, die in Österreich ihre menschliche und künstlerische Heimat fanden, und umgekehrt, in denen sich also Abstammung und Wirkungsgebiet kreuzen usw. All das zeigt uns, daß eine Aufteilung in ein deutsches und ein österreichisches Schrifttum nicht möglich ist, da es sich hier um ein einheitliches Kulturgebiet handelt. Der Begriff einer "österreichischen Literatur in deutscher Sprache" (man denke hier an Gottscheds Aufsatz über einige "österreichische Dichter, die in deutscher Sprache gedichtet haben") ist unhaltbar oder vielmehr nur in der von Castle vor- [260] geschlagenen Fassung möglich, daß darunter die literarische Produktion der Intelligenz der nichtdeutschen Nationalitäten Österreichs verstanden wird, die sich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts und länger der deutschen Sprache bedienen und auch gelegentlich in ihr dichten.

Daß das österreichische Schrifttum zufolge seiner Wesensgleichheit ein Teil des gesamtdeutschen ist, ist die einfache Auswirkung der elementaren Tatsache, daß das in Österreich lebende Volk, rassenmäßig-anthropologisch betrachtet, in den Bereich der deutschen Rassetypik hineingehört. In Österreich wie in Bayern lebt eine vorwiegend nordisch-dinarische Bevölkerung. Differenzen sind natürlich da, aber diese Differenzen, die sich anthropologisch nachweisen lassen, haben keinerlei kulturschöpferische Bedeutung. Maßgebende Anthropologen und Rassekundler haben sich um den Nachweis bemüht, daß nordisches Blut in reichem Ausmaß auch in der Bevölkerung Österreichs vorhanden sei.2 Dieser Nachweis wird auch literarhistorisch insofern wichtig, als sich von hier aus die innere kulturelle Einheit des deutschen Volkes verstehen läßt. Nur zufolge des gemeinsamen Blutes ist es möglich, daß eine gemeinsame Zielrichtung auf homogene Kulturideale wirksam bleibt. In den großen Dichtern des bayrisch-österreichischen Stammesgebietes ist neben dem starken dinarischen Einschlag auch ein beträchtliches nordisches Element vorhanden. Zwei Tatsachen vor allem müssen hier festgehalten werden. Zunächst: Die Rassestruktur der österreichischen Bevölkerung ist im wesentlichen mit der bajuvarischen identisch und überschreitet nirgends den Rahmenspielraum des in sich reich differenzierten deutschen Volkstums. Denn was an außerdeutschen Einflüssen vorhanden war – und solchen Einflüssen war Österreich zufolge seiner Grenzmarkstellung weit stärker ausgesetzt als das Binnendeutschtum –, wurde im Laufe der Jahrhunderte vollständig eingedeutscht, ja bajuvarisiert oder zumindest jeder kulturschöpferischen Relevanz entkleidet, neutralisiert, wenn schon nicht völlig assimiliert.

An dieser Stelle sei ein Irrtum berichtigt, der sich auch in manchen literaturgeschichtlichen Werken findet. Man pflegt das Gebiet des heutigen Österreich, also Ostalpen und Alpenvorland, als bayrisches Kolonisationsgebiet hinzustellen, was nur für einen Teil Österreichs richtig ist. Denn das Land westlich der Enns ist altbayrisches Sied- [261] lungsgebiet, das seit der die Grenzen der bajuvarischen Stammesniederlassung bestimmenden Landnahme in festem bayrischem Besitz war. Nur das Land östlich der Enns ist bayrisches Kolonisationsgebiet, das jedoch auch starke fränkische Zuzüge erlebte. Das westliche Österreich ist schon im 6. Jahrhundert in der Hand des bayrischen Stammes. Das östliche Gebiet wird dann durch die Karolingische Kolonisation der bayrischen Besiedlung eröffnet, die in genauer Analogie zum altbajuvarischen Siedlungsland erfolgte.

Ungleich wichtiger als die Sondereinflüsse, denen der österreichische Deutsche ausgesetzt war, ist die Tatsache, daß das österreichische Gebiet von kerndeutschen Stämmen besiedelt worden war (Bajuvaren und Franken), die sich in jeder Hinsicht zu behaupten wußten und auch in späteren Jahrhunderten noch kräftige Besiedlungsnachschübe sandten, sowie die enge räumliche Berührung mit dem bayrischen Gebiet. So ist Österreich ein Teil des süddeutschen Kulturkreises geblieben. Daß Österreich trotz seiner Vorpostenstellung inmitten eines bunten Gemisches außerdeutscher Nationalitäten seine deutsche Wesensart rein erhalten konnte, ist zwei Fähigkeiten zu verdanken: einer beträchtlichen Assimilationsfähigkeit und einem starken konservierenden Zug. Diese Fähigkeit des bayrisch-österreichischen Stammes, fremde Einflüsse dem deutschen Wesen anzugleichen, verschafft ihm eine Sondermission für das gesamte Deutschtum, das dadurch manche Anregung erhält. Dem konservierenden Zug, der ein für die österreichische Geistesart sehr charakteristisches Strukturmoment darstellt, werden wir im Verlauf unserer speziellen Erörterung des zweiten Teiles immer wieder in seinen literarischen Auswirkungen begegnen. – Es ist nun ohne weiteres möglich, im literarischen und künstlerischen Schaffen Österreichs einen bestimmten "Stammesstil" aufzuweisen. Der Österreicher ist – was eine Folge der dinarischen Blutzumischung ist – wärmer, weicher, lebhafter, unmittelbarer und weniger straff als der Norddeutsche. Österreich ist das Land der gelösteren, leichteren Form gegenüber der schweren, gehalteneren norddeutschen, das Land der natürlichen Ausdrucksform; kontemplative Gefühlsvitalität tritt an die Stelle der aktivistischeren Willensvitalität des protestantischen Nordens. Freude am Sinnfälligen, Schaubaren, Farbigen, Sinn für das Äußere des Lebens, Abkehr von abstrakter Geistigkeit, betonte Lust an Schwank, Spaß und Parodie – all das sind Wesenszüge des österreichischen Stammesstils, dessen man deutlich inne wird, wenn man öster- [262] reichische Erzähler mit ihrem leichtflüssig-unbeschwerten, behaglich-stimmungsvollen Fabulieren der blasseren, aber gedankenkräftigeren Bedachtsamkeit norddeutscher Prosaepik gegenüberhält. Das sind Unterschiede, gewiß. Aber sind sie eine undeutsche Besonderheit? Gelten die meisten dieser Strukturmomente nicht für süddeutsches Wesen überhaupt? Und so kommen wir auch hier wieder zu unserer immer wieder bewährten Behauptung: Der österreichische Stammesstil bleibt durchaus im Rahmen der deutschen Wesensmöglichkeiten.

Zum Abschluß dieses ersten Teiles noch einiges über das Sprachliche, das ja mit dem Schrifttum aufs engste zusammenhängt. Die in Österreich herrschende Mundart ist – abgesehen vom alemannischen Vorarlberg – das Bayrische. Das bayrisch-österreichische Gebiet bildet einen zusammengehörigen und einheitlichen Mundartbereich. Hinsichtlich der Hochsprache folgt Österreich dem gesamtdeutschen Vorbild, obgleich Partikularismen und Idiotismen zu Zeiten stark hervortreten. Im Schrifttum des Hochmittelalters herrscht die mittelhochdeutsche Literatursprache. Als dann im Ausgange des Mittelalters die Dialekte stärker in den Vordergrund drängen, machen sich auch in Österreich dialektliche Sonderungen geltend. Eine Zeitlang schreibt man mit bewußtem Partikularismus "österreichisch-teutsch", aber schon im ausgehenden 16. Jahrhundert stand die österreichische Gemeinsprache auf schwachen Füßen und gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte das "Österreichisch-Teutsch" seine bescheidene Rolle als Literatursprache völlig ausgespielt.3 In seinen Bemühungen um die deutsche Hauptsprache im 18. Jahrhundert zeigt Österreich dann betonten Verzicht auf allen sprachlichen Partikularismus. Ohne sich auf mundartliche Sonderwünsche zu versteifen, was die Schweiz tat, leistet man zukunftsvollen Spracheinigungsbestrebungen Gefolgschaft, da man das Gemeinsame ungleich wichtiger empfand als die Differenzen. Leibniz hatte Wien, wo er eine Reichsakademie plante, eine Führerrolle in sprachlichen Dingen zugedacht, Ähnliches wollte Heräus. Österreich verzichtete jedoch auf diese Führerstellung und schloß sich an die Sprachbestrebungen Gottscheds an, die in Wien viel Widerhall fanden. Österreichische Grammatiker (Antesperg) und Dichter (Scheyb) unterwerfen ihre Werke Gottschedscher Korrektur; man ist bemüht, oberdeutsche Idiotismen auszumerzen, um dem Ideal einer Gemeinsprache [263] nahezukommen. Wenn sich gelegentlich in Österreich ein mundartlicher Partikularismus zu Wort meldet, so ist das keine österreichische Besonderheit, sondern eine bei allen anderen Stämmen anzutreffende Erscheinung und geht lange nicht so weit, als die immer wiederholten Bestrebungen der Niedersachsen, ihr Plattdeutsch zur Literatursprache zu erheben.


 
II.

In den Gebieten Österreichs, die zum ursprünglichen bayrischen Stammesbereich gehören, setzt die literarische Betätigung zur selben Zeit ein (Ende 8. Jahrhundert) wie auf dem anderen deutschen Gebiet und zeigt den nämlichen Charakter. Träger dieser frühesten literarischen Betätigung sind in beiden Fällen die Geistlichen. Was die österreichischen Klosterschreibstuben abschreiben, ist das gemeinsame Literaturgut der althochdeutschen Periode; was hier gedichtet wird, bewegt sich in den nämlichen Bahnen. Aus der Schreibstube der Bischofsstadt Salzburg stammt die durch ihre gotischen Bruchstücke interessante Alkuinhandschrift. Die Fragmenta theodisca (803 bis 816) aus dem Kloster Monsee sind inhaltlich bedeutsam als Zeugnisse für die Auswirkung karolingischer Kulturbestrebungen in Österreich, formal als Beleg für die glossographische Tätigkeit, die in österreichischen Klöstern genau so wie in den übrigen geübt wurde. Was uns sonst an althochdeutschen Denkmälern überliefert ist, sind Zufallsreste, die sich jedoch kennzeichnenderweise mit den sonstigen althochdeutschen Hervorbringungen durchaus decken. So finden wir die auf urgermanisch-heidnisches Brauchtum zurückgehenden Zaubersprüche, die dann, wie so viele heidnische Relikte, eine christianisierende Umformung erfahren hatten, auch in Österreich. Zeugnisse sind der "Wiener Hundesegen" und der nach Analogie der Merseburger Zaubersprüche gebaute "Millstätter Blutsegen". Die "Literatur der illiterarischen Kreise" muß für das damalige Gesamtdeutschgebiet aus Rückschlüssen rekonstruiert werden. Gerade das geht auf österreichischem Gebiet leichter als anderswo, da sich in diesem Land der Überlieferung der gesamtdeutsche Volkslieder-, Märchen- und Sagenbesitz reiner und länger erhalten als in den anderen Stammesgebieten. Österreichisches Brauchtum und Volkskunst sind stärker mit Altertümlichem durchsetzt. Darum ist der österreichische Stamm vor anderen bestimmt gewesen, der deutschen Gesamtheit das wert- [264] volle Gut der Heldensage zu bewahren. In althochdeutscher Zeit lebt auf österreichischem Boden die germanische Heldensage (vor allem des gotischen und fränkischen Sagenkreises) in volkstümlichen Urballaden: so eine Ermanrich-Ballade, eine solche vom jungen Siegfried, von Siegfrieds Tod u. a. – all das urdeutsches Sagenbesitztum aus der Völkerwanderungszeit, balladisch geformt etwa nach Art des Hildebrandsliedes. Aber es war in Österreich nicht nur zur Zeit seiner Entstehung lebendig, sondern wurde lange Jahrhunderte hindurch treu bewahrt, bis es im Hochmittelalter durch Spielleute bleibende literarische Gestaltung erfuhr. Daß das gerade auf österreichischem Boden geschah, daß gerade hier urdeutscher Gesamtbesitz so zähe konserviert wird, machen volkskundliche und stammespsychologische Erwägungen klar. Denn mehr vielleicht als ein anderer deutscher Stamm zieht der österreichische "bis auf den heutigen Tag Nahrung und Erquickung aus dem angestammten geistigen Überlieferungsbesitz volkstümlicher Prägung".4 Auch was Österreich an Volksliedern besitzt, stammt zum wesentlichen Teil aus dem allgemeindeutschen Volksliederschatz, den der so sangesfreudige und sangestüchtige österreichische Stamm aus eigenem beträchtlich vermehrte. Ebenso zeigen volkstümliche Spruchpoesie sowie Sage und Märchen engsten Zusammenhang mit dem allgemeinen deutschen Volksgut.

Wie in der althochdeutschen, so zeigt auch in der frühmittelhochdeutschen Periode die österreichische Dichtung das nämliche Gepräge wie die der anderen damals literarisch tätigen Stämme. Die gesamte deutsche Geisteskultur dieses Zeitabschnittes steht unter Einfluß religiöser Bewegungen (Kluniazenser); im Gefolge dieser Bestrebungen erwächst in Österreich eine sehr rege geistliche Dichtung. Große geistliche Sammelhandschriften (Millstätter und Vorauer Handschrift) zeigen die Vertrautheit österreichischer Klöster mit dem geistlichen Literaturgut der anderen Gebiete. Heiligensage (Legende), Marienlyrik und geistliche Leseepik werden besonders gepflegt. Die "Wiener Genesis" und der "Exodus" erzählen die betreffenden Geschehnisse der Bibel vom Blickpunkt einer deutsch-ritterlichen Einstellung, zeigen also eine ähnliche Automorphie, wie sie – allerdings kühner und konsequenter – im altsächsischen "Heliand" geübt ist. Auf österreichischem Boden erwächst die erste in deutscher Sprache dichtende [265] Frau – die Göttweiger Klausnerin Frau Ava. Geistige Strömungen, die damals das gesamte Deutschgebiet bewegen, finden in Österreich ihren prägnantesten dichterischen Ausdruck. So die düster-depressive Memento-mori- und Contemptus-mundi-Stimmung, die seit dem 11. Jahrhundert ganz Deutschland ergriffen hat, durch Heinrich v. Melks pessimistisch-satirische Ermahnungsdichtung "Tôdes gehugede" (um 1160). Damit wird er der bedeutendste Exponent jener Bußpredigten und Sündenklagen, wie sie sich damals im gesamten Deutschgebiet finden. Und wie im übrigen Deutschgebiet geht neben dieser vorwiegend von Geistlichen bestrittenen theologischen Literatur eine weltliche Dichtung einher, deren Träger zunächst Spielleute sind. Im nächsten Entwicklungsabschnitt siegt auch in Österreich die weltfreudige Poesie über die weltabgekehrte: In allen deutschen Landen ergreift alsbald das Rittertum die literarische Führung.

Noch in die frühmittelhochdeutsche Zeit fällt die erste Ausbildung zweier Gattungen, die für die Folgezeit von höchster Wichtigkeit werden sollten und für deren Ausgestaltung Österreich von größter Bedeutung war: ritterliche Minnelyrik und Heldenepik. In Österreich finden wir die ältesten Anfänge des ritterlichen Minnesanges durchaus auf deutsch-heimischer und volkstümlicher Grundlage erwachsen. Auch damals war Österreich das Land, wo echte Volkverbundenheit und traditionelle Wahrung altüberlieferten Volksgutes bis in die höchsten Kreise hinaufreichen. Diese Anlehnung an den alten Volksgesang, der hier ritterlich-höfische Umgestaltung erfährt, schwindet auch dann nicht völlig, als nach dem Vorbild der westdeutschen höfischen Lyrik die provenzalischen Modeeinflüsse aufgegriffen werden. Die Weise des ältesten nachweisbaren Minnesängers, des österreichischen Ritters von Kürenberg, zeigt die Form der Nibelungenstrophe, die altheimisches Gut ist. Bei Dietmar v. Aist, dem Dichter des ältesten deutschen Tageliedes, melden sich die neuen romanischen Kunsteinflüsse stärker zu Wort, ohne daß deswegen die volkstümliche Grundlage völlig aufgegeben wäre. Hier findet sich ein Grundzug der österreichischen Literatur wieder: Aufgeschlossenheit für Neues, vor allem die Hervorbringungen der anderen Stämme, das dann in heimisch-volksmäßiger Weise umgestaltet wird. – Auch die Heldenepik setzt in Österreich früh ein; nunmehr tritt sie ins Licht der Geschichte. Um 1160 haben wir ein Zeugnis über ein vielgenanntes Gedicht, das den Nibelungenstoff behandelt. Es ist vom Standpunkt der am altererbten Besitz an Sprache, [266] Brauchtum und Sage zäh festhaltenden Stammesart des Österreichers aus ganz verständlich, daß der ritterliche Adel der Ostmark sich noch so spät am Sagenbesitz des Heldenzeitalters der Vorfahren, der Völkerwanderungszeit erfreute. Diese Geistesart ist es, die den österreichischen Stamm zum Ausgestalten der Heldenepik und zum Bewahrer des alten Sagengutes macht.

Im beginnenden Hochmittelalter verpflanzt der aus dem elsässischen Hagenau stammende Reinmar, der 1190 bis 1210 am Babenbergerhof als Hofdichter wirkt, den romanisierenden westdeutschen Minnesang nach Wien. Sein Wirken ist ein schönes Symbol der Vereinigung west- und südostdeutschen Stammestums. Der Elsässer introzipiert österreichische Art und vermag eine Wiener Schule höfischer Lyrik zu gründen, aus der dann Walthers große Dichterpersönlichkeit hervorgeht. Die Dichtung der mittelhochdeutschen Blütezeit ist zum wesentlichen Teil auf österreichischem Boden entstanden. Der "wünneclîche hof ze Wienne" wird das wichtigste lyrische Zentrum der mittelhochdeutschen Blütezeit und damit ein Gegenstück zu dem Zentrum höfischer Epik, das in Mitteldeutschland am Thüringer Hof bestand. In der literarisch so sehr interessierten Umgebung des Wiener Hofes wächst Walther von der Vogelweide auf. Es ist nicht so wichtig, ob er ein Österreicher war, was ja sehr unsicher ist; viel wichtiger und unbestritten ist, daß er sich selbst als geistigen Sproß Österreichs fühlt und zur Wiener Schule und Kunsttradition bekennt (ze Ôsterriche lernt ich singen unde sagen). Hier findet er seine geistige Heimat, nach der es ihn immer wieder zieht; hier, bei höfischem Festanlaß in Wien, trägt er sein Preislied auf Deutschland vor. Sein Schaffen ist prototypischer Musterbeleg für die beste österreichische Poesie mit ihrer Natürlichkeit, Frische und Volksnähe bei betonter und hoher Kunst. Die höfisch-modischen Fiktionen und konventionellen Schemata der Troubadourkunst werden bei ihm völlig eingedeutscht durch bruchlose Verbindung mit heimisch-volksnahem Wesen. Was die Spruchdichtungen dieses ersten großen politischen Dichters erfüllt, ist machtvolle Nationalgesinnung, echtes nationales Pathos. In Österreich wirkt ferner der bayrische Ritter Neithart v. Reuental, der hier seine zweite Heimat fand, und mit seiner parodistisch-derben Dörperpoesie bestimmten Zügen österreichischen Wesens nahekommt. Einen weiteren hochbedeutsamen Vertreter der Dichtung des Frauendienstes stellt Österreich mit Ulrich v. Liechtenstein. Die idealistischen Verstiegenheiten [267] der Minnelyrik, wie sie bei dem Letztgenannten so stark hervortreten, werden vom Tanhuser parodiert. Trotz diesen für Süddeutschland kennzeichnenden parodistischen Reaktionen auf die Sentimentalitäten des Minnesanges findet diese literarische Zeiterscheinung auf österreichischem Stammesgebiet die nämliche weite Verbreitung wie im übrigen Deutschgebiet.

Die zweite literarische Großtat Österreichs im Hochmittelalter, die das literarische Schaffen der anderen Stämme wertvoll ergänzt, ist die Ausbildung des Volks- und Heldenepos. Damit ist aber durchaus kein schroffer Gegensatz zu dem im mittleren und nordwestlichen Deutschland vornehmlich gepflegten ritterlich-höfischen Epos gesetzt, da auch in der österreichischen Volksepik die Einwirkung der neuen höfisch-ritterlichen Kultur keineswegs fehlt. Ein Volksmäßig-Herkömmliches wird im Sinn neuer literarischer Erscheinungen ausgestaltet, die für das übrige Deutschland Bedeutung gewonnen haben. Dabei ist aber auch dieser altüberlieferte Sagenstoff, der nunmehr in verritternder Weise bearbeitet wird, nichts Lokal-Partikularistisches, sondern gesamtdeutscher Ur- und Gemeinbesitz. Hier gelingt wiederum jene klassische Synthese von altem volkstümlichem Gut mit den modernen Neuerrungenschaften der Oberschicht. Um 1200 bearbeitet ein fahrender ritterlicher Sänger den alten Nibelungenstoff, wobei sich seine einheitliche Neugestaltung auf bereits vorliegende Gestaltungsversuche stützen kann. Der Beifall, den er damit findet, ist groß. Man konnte dieser Stoffe, Mären und Gestalten nicht satt werden, so greift man die alten Heldengeschichten auf, die in Österreich lebendiger waren als in den anderen Stammesgebieten, durchdringt alte Sagenmotive mit neuer Erfindung, um die so beliebten Reckengestalten stets wieder aufs neue auftreten lassen zu können. Hieher gehören "Walther und Hildegund", "Biterolf und Dietleib", "Wolfdietrich", "Kudrun" und schließlich der reiche Epenkreis um Dietrich von Bern. All das erhält seine abschließende Gestaltung im Gefolge der österreichischen Volks- und Heldenepentradition. Ist das Nibelungenlied eine schöne symbolische Vereinigung von Rhein und Donau im Gedicht, so verbinden sich in der "Kudrun", wo ein Stoff des äußersten deutschen Nordens im äußersten Südosten seine Gestaltung findet, die beiden Pole des deutschen Siedlungsgebietes. Gerade an dieser nordisch-wikingerhaften Brautwerbungssage wird mit besonderer Deutlichkeit klar, daß die österreichische Heldenepik keineswegs stammheitlichen Spezialinteressen, sondern dem gesamtdeutschen Kulturbesitz dient. Die Ausgestaltung [268] dieses uralten Nibelungensagenstoffes von der altfränkischen Urballade bis zum mittelhochdeutschen Heldenepos ist das Werk einer coopération idéelle fast aller deutschen Stämme und Landschaften, ein Werk, an dem Österreich wesentlichen Anteil hat. Diese Vorliebe für die Heldenepik und ihre Stoffe dauert in Österreich Jahrhunderte hindurch und geht durch alle Stände. Nach 1511 läßt Maximilian I. das sogenannte "Heldenbuch" anlegen, das die einzige Handschrift der "Kudrun" enthält und somit wertvollsten gesamtdeutschen Besitz rettet.

Weniger ist über die höfische Epik zu sagen, die ja auch nicht fehlt, wie es denn kaum eine Erscheinung des deutschen Schrifttums gibt, das auf österreichischem Stammesboden keine Vertretung gefunden hätte, die aber immerhin weniger hervortritt. Hartmann, Gottfried und Wolfram werden nicht nur eifrig gelesen (wovon eine große Zahl österreichischer Handschriften Zeugnis gibt), sondern es wird auch in ihrem Stil gedichtet. Die Art Hartmanns zeigt der Gaweinroman Heinrichs von dem Türlin, während die Versromane "Wigamur" und "Edolanz" dem dunkleren, phantastischeren Stil Wolframs nahestehen. Zu dessen "Willehalm" schreibt der Kärntner Ulrich von dem Türlin eine Vorgeschichte. Im Anschluß an den "Parzival" und die Titureldichtung des Albrecht (v. Scharfenberg) entzündet sich in Österreich und Bayern eine eigentümliche Gralsromantik. Das Gedicht vom "Sängerkrieg auf der Wartburg" konnte man mit Recht als einen symbolischen Ausdruck der Beziehungen zwischen dem österreichischen und thüringischen Hof bezeichnen. In den Artusromanen des Pleier und des Fahrenden Stricker ist eine gemeinsame deutsche Literaturerscheinung im Sinn des österreichischen Stammesstils abgewandelt. Durch diesen Stammesstil des bei aller derben Drastik leichtflüssigen Fabulierens erhalten die Gattungen der Novelle, der Fabel und des Schwanks bedeutsame Anregungen. Ihr mittelhochdeutscher Klassiker ist der Stricker, seit dessen Leistungen sie sich auf gesamtdeutschem Gebiet einer immer größeren Beliebtheit erfreuen. Da viele dieser Schwankfabeln eine moralisierend-lehrhafte Tendenz zeigen, ist es von hier nicht weit bis zur Sittenschilderung, in der Österreich zum allgemeinen deutschen Literaturbesitz Wertvolles beigesteuert hat. Erwähnt sei Wernher des Gärtners "Meier Helmbrecht", ein Sittenbild des entartenden Rittertums und zugleich die erste deutsche Dorfgeschichte.

Die Zeit des ausgehenden Mittelalters ist auf dem ge- [269] samten Deutschgebiet eine Epoche des literarischen Verfalles. Immerhin vermag Österreich in Hugo v. Montfort und Oswald v. Wolkenstein zwei bedeutende Dichterpersönlichkeiten hervorzubringen; den letzteren hat man das größte poetische Talent seiner Zeit in ganz Deutschland genannt. Die weitere literarische Entwicklung zeigt in Österreich völlig die nämlichen Strukturzüge: das Schwinden der Ideale und Kunstprinzipien der ritterlich-höfischen Zeit, stofflichen Sensationalismus, Vorwiegen der lehrhaft-satirischen Haltung, wachsenden Realismus und zunehmende Verbürgerlichung. Mittelalterliche Versdichtungen werden in Prosa aufgelöst, woraus dann die Volksbücher entstehen. Von österreichischen Volksbüchern seien erwähnt: Philipp Frankfurters "Pfaff vom Kahlenberg", das österreichische Gegenstück zum Eulenspiegel und die Volksbuchbearbeitung des "Neidhart Fuchs", beide wichtig für die gesamtdeutsche Tradition als Vorbilder für andere ("Peter Leu"). Auch in Österreich sind Damen hoher Adelskreise an der Ausbildung des Prosaromans tätig (Eleonore von Österreich z. B. bearbeitet den Liebes- und Abenteurerroman "Pontus und Sidonia") – kurz, die Identität der literarischen Entwicklung ist vollkommen, auch in den hier nicht erwähnten Erscheinungen.

Besonders wichtige Beiträge zum gesamtdeutschen Literaturgut hat Österreich, als Teil des theaterbegabten bayrischen Stammes, auf dem Gebiete des Dramas geschaffen. Die Entwicklung ist die nämliche wie überall. Dabei ist die zunehmende, oft bis zum Burlesk-Lustspielhaften gehende Verweltlichung der geistlichen Spiele – ein gesamtdeutscher Vorgang – auf österreichischem Boden besonders ausgebildet. Die Tiroler Passionsspiele, die um 1500 zu großartigen Volksdramen werden, bekommen Bedeutung für viele andere. Die Theaterfreude des bayrisch-österreichischen Stammes, seine Geistesart, die nach schaubaren Symbolen und sinnenfälligen Hypostasen des Religiösen verlangt, haben dem Gesamtvolk Wertvolles gegeben. Das in Österreich auf dramatischem Gebiet Geschaffene wirkt befruchtend auf die dramatische Produktion der anderen Stämme. Österreich ergreift dabei mehrfach die Initiative, ohne daß seine Sonderbegabung zu abwegigen Spezialitäten führte. Im Gegenteil, es besteht reger Austausch und Gemeinsamkeit des Besitzes. In dem Abschnitt über das mittelalterliche Drama kann F. Michael5 auf Schritt und Tritt Berührungen und Verwandtschaften der geistlichen Spiele der ver- [270] schiedensten Stämme nachweisen. So finden sich gewisse volkstümliche Bräuche (Kindelwiegen) in alpenländischen, schlesischen und niederdeutschen Weihnachtsspielen in gleicher Weise. Ein Tiroler Weihnachtsspiel, um 1511 aufgezeichnet, steht einem hessischen merkwürdig nahe. Auch im weltlichen Drama und im Fastnachtsspiel kommt Österreich eine führende Rolle zu. Hier entsteht das erste Lustspiel der deutschen Literatur (ein Neidhart-Spiel um 1350). Österreich und die übrigen süddeutschen Gebiete (Bayern, Schwaben) sind die Heimat der dramatisierten Schwanke, die eine Wurzel des deutschen Lustspieles bilden. Auch am Fastnachtsspiel ist Österreich beteiligt. Neben den Fastnachtsspielzentren Nürnberg und Lübeck muß daher ein bayrisch-österreichisches Zentrum angenommen werden. Die im Mittelalter bestehende Identität der Literaturentwicklung reißt in der Neuzeit nicht ab.

Die die neuzeitliche Kulturepoche einleitenden Geistesbewegungen des Humanismus und der Renaissance setzen in Österreich und den übrigen deutschen Gebieten nicht nur gleichzeitig ein, sondern wirken sich auch in gleicher Weise aus. Die in Böhmen unter Karl IV. einsetzende Frührenaissance bedeutet den Anfang dieser Bewegung auf deutschem Boden. Noch wichtigere Anregungen für den Humanismus als gesamtdeutsches Phänomen gehen von Wien aus, wo Aeneas Sylvius seine Propagandatätigkeit entfaltet und einer der größten deutschen Humanisten, Konrad Celtis, wirkt. Unter Maximilian I. kommt es zu einer Blütezeit des Humanismus. Die Wiener Universität erhält damals maßgebende Bedeutung für das gesamtdeutsche Geistesleben. Zwingli, Vadianus, Ulrich v. Hutten, Staupitz, Theophrastus Paracelsus haben hier Anregungen erteilt oder empfangen: Wien ist damals ein wichtiges Zentrum der gesamtdeutschen Kultur. Es liegt im Sinn echter humanistischer Poetentradition, wenn Celtis u. a. die Hoffestlichkeiten Maximilians mit glänzenden Prunkdramen schmücken, wobei der Typus des allegorisch-festlichen Humanistendramas geschaffen wird, wie er auch für das übrige Deutschgebiet verbindlich wird.

Auch die Reformation greift bald nach Österreich über, findet zahlreiche Anhänger und zeitigt analoge literarische Auswirkungen. Ja, zunächst hat es den Anschein, als ob die Lehre Luthers die Verbindung Österreichs mit den mittel- und norddeutschen Ländern enger knüpfen würde, da damals zahlreiche Österreicher die Wittenberger Universität aufsuchen und von hier aus nicht nur Lehren und Bücher, sondern auch lutherische Schulmeister und Prediger nach Österreich bringen. Das [271] protestantische Schulwesen in Österreich wird dem nord- und mitteldeutschen angeglichen, indem die Grundsätze Melanchthons zum Vorbild genommen werden. Die herbeigerufenen protestantischen Schulmeister entfalten eine rege literarische Tätigkeit, vor allem auf dem Gebiete des Schuldramas. Diese Schuldramatiker (Freyßleben, Stephani, Brunner, Mauritius, Krüginger u. a.) halten eine unmittelbare Verbindung mit dem protestantischen Schuldrama des übrigen Deutschgebietes aufrecht, das sich in fast völliger gestaltlicher und gehaltlicher Identität mit dem österreichischen präsentiert. Auch sonst sind die Beziehungen eng. Der hervorragendste protestantische Schuldramatiker auf mitteldeutschem Boden, der Begründer des sächsischen Schuldramas, Paul Rebhun, war ein Österreicher. Seine Dramen gehören zum Besten der damaligen Dramenproduktion; auch als interessanter metrischer Reformator ist er erwähnenswert. Rebhuns Vorbild wird für zahlreiche Dramatiker (Greff, Voith, Tirolf und andere) bestimmend. Wolfgang Schmeltzl, ein in Wien assimilierter Oberpfälzer – die Tatsache, daß solche literarischen Assimilationen immer wieder restlos und ohne Bruch gelingen, ist für unser Thema belangvoll –, der manchmal an die Art des Hans Sachs gemahnt, überträgt die Art des protestantischen Schuldramas auf das katholische. Auch die Stoffe sind die nämlichen (Judith, Verlorener Sohn, Hochzeit zu Kana usw.).

Andere Auswirkungen des Protestantismus auf literarischem Gebiete sind Kirchenlied und Flugschrift, in denen Österreich ziemlich Analoges leistet. In der religiösen Polemik ergeben sich trotz der Verschiedenheit der religiösen Standpunkte doch gewisse stilistisch-formale Ähnlichkeiten. Mit Fischart ist sein Gegner Johannes Nas, gleichfalls ein Kontroversist von hanebüchner Derbheit, in stilistischer Beziehung, Johannes Rasch hinsichtlich der Themenwahl nicht unverwandt; der katholische Satiriker Guarinoni kann in manchem als Vorweis auf Moscherosch gelten. Den Gegensatz der Bekenntnisse darf man in literarisch-ästhetischer Beziehung nicht überschätzen: die Kunstformen, die stilistischen und motivischen Elemente, kurz, die Gesamtheit der literarischen Ausdrucksmittel sind die nämlichen für beide Teile. Die Einheit der nationalen Gesamtpersönlichkeit bekundet sich im Stil stets aufs neue. Ferner müssen gewisse literarische Prärogativansprüche des Protestantismus eingeschränkt werden. So ist z. B. der Protestantismus nicht der Schöpfer des deutschen Kirchenliedes. Hier übernimmt er manches Frühere (z. B. die geistlichen Kontrafakturen), vermittelt [272] aber seinerseits durch seine Weiterbildungen der katholischen Dichtung manche Anregungen. Die Jesuiten bedienen sich, angeregt durch das protestantische Schuldrama, dieser Form mit Erfolg zur Glaubenspropaganda.

Von den literarischen Gattungen, die mit den religiösen Bewegungen weniger zu tun haben, seien Meistergesang, Volks- und Kunstlyrik genannt und auch hier wieder weitgehende Analogien festgestellt. Meistersingerschulen existieren in zahlreichen österreichischen Städten; die Wandersitte der jungen Handwerker fördert Berührungen und Angleichungen. Auch die Volkslyrik erlebt auf österreichischem Gebiete die nämlichen Wandlungen wie auf dem der anderen Stämme. An die Stelle des Volksliedes tritt allmählich das Gesellschaftslied, und die volksmäßige Tradition weicht um die Wende des 17. Jahrhunderts einer gelehrt-kunstmäßigen. Die Lyrik des Oberösterreichers Christoph v. Schallenberg gibt von dieser Wandlung Zeugnis. Das Werk dieses Österreichers mag in Parallele gesetzt werden mit dem Theobald Hocks, der allgemein als ein Hauptexponent dieser Wandlung auf lyrischem Gebiete gefaßt wird.

Im 17. Jahrhundert setzt dann die Epoche der Gegenreformation eine gewisse Zäsur in die literarische Entwicklung, aber die hier sich geltend machende Trennung darf in ihren literarisch-kulturellen Auswirkungen doch auch nicht überschätzt werden, wie es wohl geschehen ist, da sie ja zunächst für das norddeutsch-protestantische Gebiet, aber nicht für Gesamtdeutschland gilt. Mit den katholischen Gebieten Süd- und Westdeutschlands bleibt Österreich nach wie vor in allerengster Fühlung. Nach dem Erweis von H. Cysarz bilden die Grenzen der beiden Bekenntnisse die wahre Mainlinie der deutschen Literatur: man denke hier an die ausgesprochen südlichen Züge des katholischen Rheinlands. So bleibt auch das Österreich der Gegenreformation einem wesentlichen Teil Deutschlands eng verbunden. Sicherlich trägt schon die Kunst der Gegenreformationszeit, das Barock, im Norden und Süden verschiedenen Charakter. Im Norden herrscht, dem abstrakteren, geistigeren Charakter dieses Gebietes entsprechend, ein literarisches Bürgerbarock, im Süden ein malerisch-musikalisches und theaterkünstlerisches Bildbarock imperatorisch-kirchlicher Art.6 Was aber diese Scheidung bewirkt, sind [273] vor allem stammespsychologische Strukturzüge – Bayern zeigt ja die nämliche literarische Signatur –, keineswegs religiöse und politische Motivationsfaktoren allein. Zwischen dem Barock und dem bajuvarischen Volkstum bestehen enge Zusammenhänge, wie neuerdings von verschiedenen Seiten betont worden ist, von Anthropologen und Rassekundlern (Günther), vor allem auch von Literarhistorikern. So bezeichnet J. Nadler das Barock als die literarische Hochleistung des bayrischen Stammes und kommt von dieser Erkenntnis aus zu einer Korrektur des üblichen Klassikerkanons. Das Barock ist das schönste Geschenk des bayrisch-österreichischen Stammes an den gesamtdeutschen Kulturbesitz.

An den Stilphasen der literarischen Entwicklung vom 17. zum 19. Jahrhundert – Barock, Klassizismus, Romantik – haben die verschiedenen deutschen Stämme verschiedenen Anteil. Das Barock ist vor allem eine künstlerische Angelegenheit des bayrischen Altstammes und seines Kolonisationsgebietes, der klassizistische Stil liegt dem Wesen des schwäbischen Altstammes nahe, während die Romantik ihre Entstehung und Ausbildung gewissen immanenten Entwicklungsnötigungen der ostdeutschen Neustämme verdankt. Alle deutschen Stämme zusammen schaffen das Gesamtwerk der deutschen dichterischen Kultur, wenngleich nicht jeder in jedem Entwicklungsaugenblick schöpferisch und führend ist. Daß Österreich den in Schwaben und Franken autochthonen Klassizismus verspätet und unvollkommen rezipiert, ist also nur zum Teil eine Folge der kulturell-literarischen Zäsur der Gegenreformation und kann in keiner Weise als Argument für eine vorhandene oder einsetzende literarische Andersentwicklung Österreichs genommen werden. Kleindeutsche Geschichtsbetrachtung hat da Scheidungslinien gezogen, die den Tatsachen nicht gerecht werden. Mit Nachdruck sei betont, daß die übliche Ansicht nicht zutrifft, durch die Gegenreformation sei die Einheit des deutschen Literaturgebietes zerschlagen, Österreich zur Gänze vom deutschen Geistesleben abgeriegelt und in den Bann einer spanisch-italienischen Ordens- und Dynastenkultur gedrängt worden. Österreich hat vielmehr – trotz einer damals einsetzenden nicht unbeträchtlichen Entwicklungsverzögerung – den Zusammenhang mit der deutschen Literatur durchaus nicht verloren, sondern nimmt an allen Richtungen der damaligen Poesie teil.7 So werden die Bestrebungen der Sprachgesellschaften, unter deren Mitgliedern sich zahlreiche [274] Österreicher befinden, hier durchaus geteilt. Das Oberhaupt der "Aufrichtigen Tannengesellschaft" in Straßburg ist der Österreicher Jesaias Rompler, ein Beleg für die immer wieder zu beobachtende Tatsache, daß Österreicher auch im Reichsgebiete zu literarischen Führerstellungen gelangen. Die für die Ausbildung des Hochbarock so wichtigen schlesischen Dichter, damals noch Untertanen des Kaisers, suchen Verbindung mit Wien und dem Kaiserhof, ebenso die Nürnberger Dichter, von denen Siegmund v. Birken ein gebürtiger Österreicher war. Zahlreiche Einzelbeweise ließen sich für die Tatsache führen, daß literarische Erfolgwerke jedes einzelnen Stammesgebietes in Österreich Widerhall und Nachwirkung fanden; so z. B. Grimmelshausens Simplizianische Schriften. Dem Kaiserhaus wird auch von glaubenstreuen Protestanten gehuldigt. Beispiel dafür ist des für die gesamtdeutsche Literatur als Vertreter des hochbarocken Epos wichtigen Freiherrn v. Hohberg "Habsburgischer Ottobert".

Nach Abflauen des militanten Glaubenseifers nähern sich in Österreich die Konfessionen wieder an, und gerade von hier gehen gewisse Einigungsbestrebungen aus. Im Ausgange des Jahrhunderts stehen sich die religiösen Dichtungen der Protestanten und Katholiken außerordentlich nahe; so ist die religiöse Lyrik der eifrigen Protestantin Katharina Regina von Greiffenberg der der Katholiken Spee und Scheffler durchaus verwandt. Gemeinsam sind in allen Fällen die barocken Stil- und Formelemente und vor allem die barocke Terminologie. In zahlreichen Schriften äußert sich patriotisches Deutschbewußtsein. Wagner v. Wagenfels schreibt einen "Ehrenruf Teutschlands", Katharina R. v. Greiffenberg widmet ihre "Sieges-Seule der Buße und des Glaubens" dem "werthen Teutschen Vaterland" und der Stolz auf die seit Opitz erreichte literarische Kulturhöhe, die "nunmehr in unserer Teutschen Muttersprache hochgestiegene edle Dichtkunst", eifert viele Österreicher zu eigenem Schaffen an, wobei bestimmte Modegattungen (z. B. der heroisch-galante Roman) das Vorbild abgeben.

Ein bedeutsamerer Zusammenhang Österreichs mit dem protestantischen Deutschgebiet war schon im 16. Jahrhundert dadurch hergestellt worden, daß die lutherischen Stände an ihre Landschaftsschulen hervorragende Pädagogen aus Nord- und Mitteldeutschland beriefen (Chyträus, Calaminus, Frischlin u. a.). Umgekehrt wirken gewisse katholische Maßnahmen auch befruchtend auf das protestantische Deutschgebiet. So etwa die künstlerisch sehr hochstehende Tradition des Jesuitendramas, die im 17. Jahr- [275] hundert ihren Höhepunkt erlangt. Es muß betont werden, daß das auf österreichischem Boden entstehende Jesuitendrama durchaus kein völlig artfremdes literarisches Produkt darstellt, dessen Internationalität deutschem Volkstum zur Gänze feindlich gewesen wäre. Vielmehr zeigen diese Dramen, zumindest in ihren sehr wichtig genommenen mundartlichen Zwischenszenen, einen nationalen, ja stammheitlich-volkstümlichen Einschlag, weil sich der Orden auch dieser Wirkungsfaktoren zu bemächtigen verstand. Auch die Dramen der übrigen Orden machen sich das derbkomische Fastnachtsspiel dienstbar – im Salzburger Benediktinerdrama erscheint sogar der Hanswurst –, und so kommt es gerade in diesen Ordensdramen zu einer Blüte barocker mundartlicher Literatur.8 Die Wichtigkeit des volkstümlichen Elements wird von den Jesuiten sogleich erkannt. Darum verfügt der Orden auch bald über volkstümlich schreibende Kontroversisten, die manche Gemeinsamkeit aufweisen mit dem "größten Volksschriftsteller des katholischen Südens", Abraham a Sancta Clara, einem in Österreich heimisch gewordenen Schwaben, der die bayrisch-barocke Durchdringung von gelehrter Bildung und echter Volkstümlichkeit deutlich zeigt. Das österreichische Barock, so höfisch und geistlich es auch aussieht, so vieles Spanier und Italiener auch zu ihm beigesteuert haben, ist doch zum wesentlichen Teil eine Leistung des Volkes, des bayrisch-österreichischen Stammes. Denn diese Feste der internationalen Hofgesellschaft, die Prunkopern italienischer Hofdichter und ‑musiker sind nichts Esoterisches: das Volk nimmt an ihnen teil, vermag sich vieles davon anzugleichen und gewinnt durch diese ihm möglichen Assimilationen dem gesamtdeutschen Literaturbesitz interessante neue Werte. Das war ja von jeher die kulturelle Mission Österreichs, der es stets genügt hat, ohne sein deutsches Wesen aufzugeben.

Das Ordensdrama dient nicht nur der Kirche und dem Hof, sondern auch dem Volke. So wird das alte volkstümliche geistliche Spiel von Ordensleuten gepflegt und gefördert. Hier sei das Oberammergauer Passionsspiel erwähnt, das 1750 durch den aus Wien stammenden Benediktiner Rosner umgestaltet wird: alpenländische geistliche Volksdramatik vereinigt sich hier mit der bajuvarischen Tradition des barocken Ordensdramas. Wie das hohe Drama in Österreich volkstümliche Elemente, so nimmt [276] das volkstümliche Burleskentheater Stranitzkys Bestandteile des hohen Dramas auf, um sie zu der charakteristischen österreichischen Synthese zu verbinden.

Mit dem beginnenden Aufklärungszeitalter setzen im gesamten Deutschgebiet französische Einflüsse ein. Der Apostel des französisierend-klassizistischen Literaturrationalismus, Gottsched, erlangt auch in Österreich autoritative Bedeutung. Gottschedsche Sprachbestrebungen und seine Bemühungen um ein "regelmäßiges" Drama werden in Wien von einer Gruppe aufklärerischer Reformfreunde, die sich zu einer "deutschen Gesellschaft" zusammenschließen, eifrig aufgegriffen. Es besteht der Plan, Gottsched an eine in Wien zu gründende Akademie zu berufen. Gottschedsche und Lessingsche Lehren vertritt der Wiener Geschmacksreiniger J. v. Sonnenfels, Herausgeber einer moralischen Wochenschrift (dieser für das gesamtdeutsche Zeitungswesen wichtige Zeitschriftentypus findet sich auch in Österreich). Beim breiten Publikum freilich findet der rationalistische Klassizismus Gottscheds zunächst nicht viel Anklang, gleichwohl werden die regelmäßigen Dramen des gereinigten Geschmackes ständig im Spielplan beibehalten. In den Kämpfen der Gottsched-Lessing-Zeit um ein neues Drama findet Österreich eine glückliche Lösung: das regelmäßige (nicht improvisierte) Drama dringt durch, ohne daß man auf das bestandfähige Volkstümliche verzichtet hätte. Auch diesmal gelingt es Österreich, volksmäßigen Bestand aus der Unterschicht in die Oberschicht zu ziehen und so Eigenartig-Wertvolles für den gesamtdeutschen Literaturbesitz zu retten, da das Gut der Volksbühnenproduktion auf den anderen Stammesgebieten fast zur Gänze verlorengegangen war. Das Wiener Burgtheater, 1776 als Hof- und Nationaltheater gegründet, mit voller Einsicht in die aus dieser Gründung erwachsenden Verpflichtung, vor allem deutsche Originaldramatik zu pflegen, vermag aus beiden Elementen, der gehobenen Literatur und dem volkstümlichen Besitz, Nahrung zu ziehen. Es ist auch diesmal wieder symbolisch, daß eine dieser Verschmelzungen des Brauchbaren aus der burlesken Stegreifposse mit den Anforderungen an ein höheres Lustspiel einem Wiener gelang, dessen Vater aus außerösterreichischem Gebiet, aus Franken, zugewandert war. Philipp Hafner.

Von den Errungenschaften Lessings, den man damals für Wien gewinnen will, wird manches fruchtbar; so sein Hinweis auf Shakespeare, ferner das Vorbild seiner "Hamburgischen Dramaturgie", die [277] anregend auf die höhere Wiener Kritik einwirkt. Vor 1770 schon hatte der Wiener Spielplan mit dem Leipzigs viel Ähnlichkeit; Wien stand damals, wie auch später, mit allen wert- und zukunftsvollen Strömungen der deutschen Dramenproduktion in Fühlung. Schillers "Fiesko" z. B. konnten die Wiener 14 Tage nach der Mannheimer Uraufführung sehen. Mit den Großen der deutschen Literatur war man ständig in enger Berührung. Nicht nur Lessing, auch Klopstock, Winckelmann und Wieland sollten berufen werden. Gellert hatte eine große Zahl von Verehrern gefunden. Klopstock, der das Projekt einer Wiener Akademie aufgreift, findet bei Mastalier und Denis literarische Nachfolge. M. Denis (Sined, der Barde) ist von der durch Klopstock legitimierten Bardenpoesie beeinflußt; der Erfolg seiner Ossianübersetzung steht zur Gänze im Zeichen des verehrten Meisters.

Besonders eng sind Wielands Beziehungen zur österreichischen Literatur. Man kann Wieland recht als den Dichter des Josefinismus bezeichnen. In seinen staatsphilosophisch-politischen Romanen, die die Probleme des aufgeklärten Absolutismus unter exotischer Maske einläßlich erörtern, kommt diese Staatsanschauung genügend zu Wort. Seine literatursoziologische Bedeutung liegt auch für Österreich darin, daß er die von den höheren Ständen bevorzugte französische Literatur durch eine deutsche ersetzte, die ihr an weltmännischer Eleganz, frivoler Grazie und reizvoller Pikanterie nicht nachstand. Wielands Schwiegersohn ist der Wiener Reinhold, einer der ersten Apostel Kants, dessen Lehre auch in Österreich bald Beachtung fand. Wielands Stilmuster wirkt stark auf die österreichischen Dichter der josefinischen Periode. Mit seiner romantischen Ritterepik wirkt er auf J. B. Alxinger, mit seinen mythologischen Travestien und dem Ton seiner ironischen Verserzählungen auf A. Blumauer, für den ferner das Vorbild von J. B. Michaelis und Bürger fruchtbar wird. Die Hauptmotive Wielands (Kampf gegen Aberglauben, die Unterdrückung der Sinnlichkeit usw.) werden damals stets aufs neue abgewandelt. Seit dem Siebenjährigen Kriege strebt man in Österreich mit Erfolg danach, eine seit dem Barock vorhandene Entwicklungsverzögerung aufzuholen und fortan mit dem literarischen Fortschreiten Nord- und Mitteldeutschlands Schritt zu halten. Die im Wienerischen Musenalmanach (auch diese von Angehörigen des Göttinger Hains inaugurierte Publikationsform findet sogleich den Weg nach Österreich) vereinigte lyrische Produktion zeigt, "daß es keine Richtung der zeitgenössischen Litera- [278] tur gibt, die man in Österreich nicht zur Kenntnis nimmt".9

Neben den bereits erwähnten Richtungen finden wir Ansätze zu einer Empfindsamkeit, zur Ritter-, Räuber-, Gespensterromantik; Herderschen Anregungen willig folgend, bekommt man Sinn für altes, volkstümliches Gut; schließlich wird Weimar, der Höhepunkt deutsch-dichterischer Kultur, auch für Österreich von höchster Bedeutung. Eine Richtung, die dagegen in Österreich fehlt, ist der kraftgenialische Sturm und Drang der Originalgenies. So kommt es in Österreich gleich zu einer klassizistischen und romantischen Kunstübung. Wien wird alsbald Sammelpunkt der restaurativen Spätromantik; diese, nicht die gewisse Tendenzen der Geniezeit fortsetzende revolutionäre Frühromantik ist es, die in Österreich vornehmlich Widerhall findet. Wien wird damals Mittelpunkt eines sehr bedeutenden spätromantischen Kreises. Österreich war bald nach Josefs II. Tod ein Zentrum des Konservatismus geworden. Dazu machen sich – von der Regierung ausgehend – separatistische Bestrebungen bemerkbar. Scharfe Zensurerlasse (1801 Einsetzung der "Rezensurierungskommission"), das Verbot aller ausländischen belletristischen Zeitschriften und anderes wirken in diesem Sinn. Aber eine kulturell-literarische Trennung Österreichs vom Volksganzen gelingt keineswegs, lediglich eine gewisse Verzögerung der Entwicklung wird erreicht.

Auch für diesen problematischen Zeitraum läßt sich der Nachweis führen, daß die kulturellen und Bildungsgrundlagen der deutschösterreichischen Literatur keine anderen sind als im übrigen Deutschgebiet. Im selben Maß, als die aufklärerische Geistesart zurückgedrängt wird, kommen religiös-restaurative Tendenzen zur Geltung. Das liegt ganz im Entwicklungssinn der deutschen Romantik, von der hervorragende Angehörige in Wien eine vorübergehende oder dauernde Wirkungsstätte finden. Neben Vertretern der romantischen Geschichtsauffassung, Staats- und Gesellschaftslehre (J. v. Müller, v. Haller, Ad. Müller u. a.) wirken hier mehrere romantische Schriftsteller und Dichter (A. W. und F. Schlegel, Seckendorff, Stoll, Bettina und Cl. Brentano). Die Brüder Schlegel halten in Wien vielbeachtete Vorlesungen. Friedrich Schlegel bleibt dauernd in Wien, ebenso Zacharias Werner; Seckendorff und Stoll geben eine romantische Zeitschrift heraus. Im Zusammenhang mit den nationalen und patriotischen Bestrebungen der Romantik erwächst auch in Österreich die vaterländische Dichtung der Befreiungskriege. Wien ist damals die [279] Hoffnung auch der norddeutschen Patrioten – Kleists vor allem, der in seiner "Hermannsschlacht" ein Zusammenwirken Österreichs und Preußens als höchstes patriotisches Wunschziel pries.

Wie der romantische Publizist Gentz und der Historiker Hormayr suchen zahlreiche Lyriker im Sinn des Befreiungsgedankens zu wirken. Erwähnt seien H. J. v. Collins Wehrmannslieder, die eine achtenswerte Stellung in der gesamtdeutschen Befreiungslyrik einnehmen. Das patriotische und historische Drama folgt einem von A. W. Schlegel ausgegebenen Programmwort: gesamtdeutsche Größe in lokaler Geschichte widerzuspiegeln. Empfing Österreich hier maßgebende Anregungen, so wußte es anderseits sehr fruchtbare zurückzuerstatten. Goethe, der im Kampfgetöse der Befreiungskriege geistig in den Orient floh, erhielt Anregung und Mittel zu dieser Flucht von dem Wiener Orientalisten Hammer-Purgstall. Hammers Hafisübersetzung zeitigt Goethes "Westöstlichen Divan" – an diesem lyrischen Werk hat Österreich ganz direkt mitgearbeitet, die schönen Suleikalieder sind von der Oberösterreicherin Marianne Jung-Willemer –, und damit ist die breite Zeitströmung der orientalisierenden Dichtung begründet. Auch Rückert, ein anderer Hauptvertreter dieser Tradition, erhält von Hammer-Purgstall entscheidende Anregungen. Hammer selbst war durch die diplomatischen Interessen Österreichs im Orient zur Orientalistik gekommen. Hier hat sich wieder einmal Österreichs politische Sendung für die gesamtdeutsche Kultur fruchtbar erwiesen und hatte hier Wesentliches zu der von der Romantik erstrebten "zweiten Renaissance" beigetragen.

Auch die übrigen Strömungen der damaligen deutschen Literatur wirken sich in Österreich aus. So die Volksliedbestrebungen, die im "Wunderhorn" zur Erfüllung gelangen, an das sich eine Tradition volksnaher, schlichtformiger Lyrik anschließt. In der Art der hiehergehörigen schwäbischen Lyriker (Uhland) dichten die Österreicher Seidl, Vogl, Leithner. – Auch das Drama zeigt eine weitgehende Analogie der Stilrichtungen. Klassische Theorien im Sinne Weimars vertritt J. Schreyvogel, der als Bühnenleiter dem Burgtheater die Aufgabe stellt, auf Grund eines klassischen Repertoires von Lessingschen, Schillerschen und Goetheschen Dramen das bessere Neue zu pflegen. Gleich hier sei betont, daß das Burgtheater, das mehrfach Direktoren aus dem "Reich" hatte, von jeher im Dienst der deutschen Literatureinheit stand und deren Ausdruck war. In der damaligen österreichischen Dramatik finden wir Schiller-Epigonentum (H. J. v. Collin), romantische Einflüsse (Zedlitz), Unter- [280] haltungsdramatik im Stil Ifflands und Kotzebues – beide mit dem Burgtheater in engster Verbindung –, Schicksalsdramen, romantische Künstlerdramen (Grillparzer, Deinhardstein). In Grillparzer wird dann die wertvollste Synthese von österreichischem Volkskunstgut und klassisch-romantischer Hochkunst erreicht. In seinem Werk haben die in der österreichischen Stammesart latenten dichterischen Möglichkeiten ihre schönste Erfüllung gefunden und einen Gipfel deutscher Poesie erzeugt. Seine Dichtung, die Klassisches und Romantisches bruchlos vereinigt, verbindet heimische Barocktradition mit humanistischer Kultur, Wien und Weimar schließen hier einen Bund. Raimund bringt dann das Naiv-Poetische der österreichischen Stammesvolkskunst zur höchsten Reife und damit zur überlokalen Bedeutung, ohne die klassisch-weimarischen Bildungsansprüche Grillparzers. Echtestes Deutschtum, österreichisch-bayrisch abgewandelt, das ist die Formel für beide.

In Stifter, dessen Prosa man der Goethes an die Seite stellte, wird Goethesche Gegenständlichkeit österreichisch introzipiert; E. v. Feuchtersleben orientiert seine "Seelendiätetik" an Goethes Lebensform. Stifters Vorliebe für die kleinen intimen Einzelheiten der Natur, wichtig als Vorschule für den poetischen Realismus, gemahnt an die Naturlyrik der größten deutschen Lyrikerin A. v. Droste-Hülshoff, die von der Wiener Lyrikerin Betty Paoli als ihre Meisterin verehrt wurde. Des geistreichen Plauderers E. v. Bauernfeld elegante Konversationslustspiele sind Ausdruck jener hochentwickelten österreichischen Geselligkeitskultur, die zu der geistigen Kultur Norddeutschlands ein Gegenstück bildet und eine wertvolle Ergänzung deutscher Lebensform ist. Die Verschmelzung dieser gesellschaftlichen Kultur Wiens mit der geistigen Weimars, die Grillparzer vollzieht, rühmt Brecht als eine seiner Großtaten. Grillparzer wird in seiner Bühnenherrschaft durch den Effekttheatraliker Halm abgelöst, dessen Dramen, ohne die Werthöhe der Grillparzerschen aufzuweisen, doch in ganz Deutschland wirkten. Durch Nestroy wird das Wiener Lokalstück seines barocken Zauberrahmens entkleidet und im Sinn der realistischen Zeitbewegung umgestaltet. Zugleich melden sich hier die neuen politischen Zeittendenzen zu Wort, wie sie damals, allerdings weit direkter, bei den Jungdeutschen und politischen Lyrikern erklingen.

Eine dem jungdeutschen Sturm und Drang analoge literaturrevolutionäre Bewegung kann sich im Österreich des Metternichschen Systems, in der "Finessen und Subtilitäten" ausbrütenden Vormärz- [281] Stille, nicht gleichzeitig und vor allem nicht mit derselben Radikalität auftun. Immerhin gelingt es einigen österreichischen Zensurflüchtlingen (Meißner, Beck, M. Hartmann u.a.), als "Junges Österreich" das Banner einer liberalen Tendenzliteratur zu entfalten, die ein enges geistiges Verwandtschaftsverhältnis mit den Jungdeutschen zeigt. Dabei spielt der großdeutsche Gedanke eine beträchtliche Rolle. Der Schlesier H. Laube, ein ehemaliger Führer des jungen Deutschlands, wird in Wien Direktor des Burgtheaters, das durch ihn zur ersten deutschen Bühne wird. Im Sinn des Gutzkowschen "Romans des Nebeneinander" werden auch in Österreich – von Meißner, Schneeberger, Tschabuschnigg, Prantner-Wolfram u. a. – große Zeitromane verfaßt, die in echt jungdeutschem Sinn die Romanform als Vehikel für liberale Tendenzbefrachtung benützen. Die jungdeutsche Reiseliteratur, von Heine und Borne inauguriert, von Laube, Pückler-Muskau u. a. weitergeführt, zeitigt in dem Österreicher Postl-Sealsfield einen bedeutsamen Seitentrieb. Auch die politische Lyrik führt in Österreich zu ähnlichen Ergebnissen wie in dem übrigen Deutschgebiet. Gemeinsam ist z. B. die maskierte Freiheits- und Oppositionslyrik, die unter der Maske der Parteinahme für unterdrückte Fremdvölker eigene Freiheitssehnsüchte ausspricht (Philhellenismus, Polenliteratur). Zu Platens Polenliedern bilden die Lenaus ein Gegenstück. Lenau, enger Freund der schwäbischen Dichter, bereichert die deutsche Lyrik mit neuen Motiven und Stimmungen. Vorklänge einer politischen Lyrik finden sich bei Zedlitz, vor allem aber bei Anastasius Grün (Graf Auersperg), der als Vater der deutschen politischen Lyrik angesehen werden muß.

Selbstverständlich dient die politische Lyrik jener Tage zu einem Teil österreichischen Spezialproblemen (so etwa Gilm), aber darüber werden die gesamtdeutschen Anliegen niemals vergessen. Das zeigt sich namentlich im Sturmjahr 1848, in dem großdeutsche Ideale und ein gesamtdeutsches Staatsgefühl stark wirksam sind. Die Unterdrückung der revolutionären Bewegung zeitigt in Österreich die nämlichen literarischen Auswirkungen wie im Reichsgebiet. Einerseits eine süßliche pseudoromantische Erholungs- und Ablenkungspoesie, anderseits einen erstarkenden poetischen Realismus, der sich nach Erledigung des satirisch-ironischen Tendenzrealismus der Jungdeutschen ungehindert entwickeln kann.

Eine wichtige Vorstufe für den poetischen Realismus bilden Dialektdichtung und Dorfgeschichte. In Österreich hatte eine geschlossene Tradition der Dialektdichtung [282] längst bestanden, als durch den Alemannen J. P. Hebel die Tradition des 19. Jahrhunderts eröffnet wird. Nunmehr wird in ganz Deutschland die Mundart als literarisches Kunstmittel entdeckt, und Österreich marschiert dabei in erster Reihe. Wirkt sich doch in der Dialektdichtung jener Sinn für das Volksmäßige, Stammhaft-Schollennahe aus, den die österreichische Literatur seit jeher bekundet hatte. Dabei geht die österreichische Dialektdichtung durchaus parallel mit der bayrischen (Kobell, Stieler). Beim bajuvarischen Stamm ist ja der volksmäßige Einschlag am stärksten und auch noch in den großen Städten (Wien, München) zu beobachten, wie denn auch die Sprache der Gebildeten dort noch deutliche mundartliche Färbung zeigt. Mit Franz Stelzhamer bringt Österreich einen Klassiker der Dialektdichtung hervor, der an Hebel und den Niedersachsen Klaus Groth heranreicht. Gesamtdeutsches Volkstum spiegelt sich hier aufs herrlichste in stammhafter Brechung. Auch die heimatkünstlerische Dorfgeschichte ist in Österreich wohl vertreten. Unabhängig von Auerbachs Modevorbild, aber ganz im nämlichen Entwicklungssinn wie die namhaften Dorfgeschichtendichter schreibt J. Rank seine Böhmerwaldgeschichten; zahlreiche andere (Pichler, Felder, M. Hartmann, Anzengruber) leisten dieser Gattung mit mehr und mehr verstärktem Wirklichkeitssinn Gefolge. In P. Roseggers Schaffen erreicht sie ihren klassischen Gipfel und erlangt überlokale Bedeutung.

An der Tradition des poetischen Realismus, die auf gesamtdeutschem Gebiet einen Werthöhepunkt der literarischen Entwicklung bedeutet, hat Österreich wesentlichen Anteil. So etwa durch Marie v. Ebner-Eschenbach, Ferd. v. Saar, der mit Theodor Storm manchen art- und stilverwandten Zug teilt, Wilhelm Fischer u. a. Den führenden Realisten, z. B. der Ebner, gelingt dabei eine Verstärkung und Intensivierung des realistischen Elements, die nahe an den Naturalismus heranführt. Auch Anzengruber wird mit dem "Vierten Gebot" ein Vorläufer dieser Richtung. Daß sein bodenständiger Realismus auch in Norddeutschland volle Wirkung tun kann, beweisen die Naturalisten der Berliner "Freien Bühne", denen er als Eideshelfer dienen muß.

Neben diesem fortgeschrittenen Realismus, dem die Zukunft gehört, besteht – wie gleichzeitig auch im Deutschen Reich – eine breite Schicht idealistischer Epigonenpoesie, eklektisch-historistischer Dichtung. Erwähnt seien: der in Wien wirkende Norddeutsche A. Wilbrandt und der hoch über die anderen Mitstrebenden hinausragende Robert Hamerling. Auch die übrigen im Deutschen [283] Reich vorhandenen literarischen Erscheinungen: Formkultus der Münchner Bildungspoesie, prunkvolles historisches Jambendrama usw., haben ihre österreichischen Analoga; die leichte Formgewandtheit Baumbachs lebt weiter im Werk O. Kernstocks, wo sie mit machtvoller Nationalgesinnung erfüllt wird. Die Parallelität der literarischen Entwicklungsrichtungen ist nahezu restlos da und verstärkt sich immer mehr. Diese Feststellung ist wichtig. Die Abschnürungspolitik der Metternichschen Ära, das Fernhaltenwollen Österreichs vom Geistesleben des übrigen Deutschgebietes, die literarischen Zensur- und Prohibitivmaßnahmen – all das hatte nicht den beabsichtigten Erfolg gezeitigt; der Anschluß an das gesamtdeutsche Kulturstreben ließ sich auch diesmal nicht zur Gänze unterbinden.

Daß die kulturellen Grundlagen in Österreich dieselben sind und zu sein haben wie im gesamten übrigen Deutschgebiet, dafür ist die Thunsche Unterrichtsreform, durch die die Einheitlichkeit der Bildungsbestrebungen wiederhergestellt wird, ein Beweis. Auch die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich im Jahre 1866 vermochte an der bestehenden literarisch-kulturellen Einheit nichts zu ändern, so sehr man sich auch nachher in Österreich amtlicherseits bemühte, eine österreichische Literatur als Ausdruck spezifisch-österreichischer Gesinnung zu schaffen. Was damals in Österreich an Zeitschriften gegründet wurde, konnte sich nicht halten gegenüber dem reichsdeutschen Import. Neben den großen reichsdeutschen Familienblättern (Gartenlaube), Rundschauen und Jugendzeitschriften verschwinden die Neugründungen; das Österreichische Journal von Trabert und Frese vermag sich neben der Deutschen Zeitung nicht zu behaupten, neben dem reichsdeutschen Guten Kameraden kam die betont österreichische Jugendzeitschrift Phönix nicht empor. Mit Buchhandel und Verlagswesen verhält es sich ebenso. Die weitaus größte Masse des in Österreich gelesenen Literaturgutes stammt aus reichsdeutschen Verlagen, die aber zahlreichen österreichischen Autoren bereitwilligst Aufnahme gewähren. Mehr und mehr bildet sich ferner die Gewohnheit heraus, daß Österreicher ihre Dramen auf reichsdeutschen Bühnen zur Erstaufführung bringen lassen. Die politischen Grenzen haben auf literarischem Gebiete nichts mehr zu sagen.

Die Literaturrevolution des Naturalismus, mit dem im Reich um 1885 die "Moderne" einsetzt, wird in Österreich nicht [284] mitgemacht; es fehlen die stammespsychologischen und sozialen Voraussetzungen dafür. Aber selbstverständlich werden die Ergebnisse dieser neuen Bewegung in Österreich rezipiert, nördlicher Anschluß gelingt auch diesmal mühelos, ferner sind einige Verbindungslinien vorhanden: durch Anzengruber und Schlenther zur "Freien Bühne", dem Theater des konsequenten Naturalismus, durch F. Adler mit dem lyrischen Programmwerk "Moderne Dichtercharaktere". Hermann Bahr, aus dessen frühester Produktion einiges hieher zählt, ist eine Art österreichischer Verbindungsoffizier und Emissär in den reichsdeutschen Literaturzirkeln der jeweils Modernsten. Aus der Reihe österreichischer naturalistischer Dramen seien die sozialen Elendstragödien von Ph. Langmann und F. Adamus-Bronner hervorgehoben. Ein Parallelunternehmen zu den naturalistischen Programmunternehmungen Norddeutschlands ist die "Moderne Dichtung", die sich bald mit dem führenden Organ der Berliner Moderne vereinigt.

Die naturalistische Kunstübung, die in Österreich zustande kommt, wird sehr bald stammespsychologisch modifiziert. Es kommt nämlich hier zu einer subjektiveren, seelisch vertiefteren und verfeinerteren Wirklichkeitskunst von eigentümlicher lyrischer Erweichung, für die man treffender den Ausdruck "Impressionismus" verwendet. In dieser so modifizierten Wirklichkeitskunst, die sehr bald für das "Reich" fruchtbar wird, kann sich österreichische Geistesart voll ausleben; tatsächlich ergreift Österreich hier wieder die literarische Führung, Wien wird die Hauptstadt des deutschen Impressionismus, wie Berlin die des Naturalismus. Eine allgemeine deutsche Kunstbewegung (Wendung zur konsequenten Wirklichkeitskunst) ist hier stammheitlich modifiziert, wodurch sich neue wertvolle Wege ergeben, die auch von den Dichtern des Reiches beschritten werden. Im Zusammenhang damit geht dann die auch von Deutschland sehr bald verwirklichte "Überwindung des Naturalismus" durch eine neuromantisch-symbolistische Geistkunst von Österreich aus, wo sie von H. Bahr zuerst programmatische Formulierung erfahren hatte. Diese symbolistisch-neuromantische Kunst findet ihren hervorragendsten Vertreter in Hugo von Hofmannsthal, der zugleich – nach Brechts Nachweis – Repräsentant aller Strömungen österreichisch-literarischer Kultur ist. In ihm lebt der österreichische Kultur-Universalismus. Seine für Richard Straußens Musik geschriebenen Tondramen – auch in ihnen ist der Nachhall österreichisch-barocker Theatertraditionen deut- [285] lich – sind ein Gipfel gesamtdeutscher Theaterkultur. Als deren bekanntester Name sei, im Zusammenhang mit Hofmannsthal, der des Österreichers Max Reinhardt genannt.

Es ist nunmehr vollends unmöglich geworden, die völlige literarische Kulturidentität der beiden Länder im einzelnen aufzuweisen, weil bei der engen Wechselseitigkeit der Beziehungen, Anregungen und Auswirkungen, der bisweilen zur völligen Ununterscheidbarkeit gediehenen Angleichungen jeder zu einiger Bedeutung gelangte Dichter genannt werden müßte und nunmehr auch scharfe Augen in vielen Fällen keinerlei örtliche und stammestümliche Sonderzüge aufzuspüren vermöchten. Diese Identität des literarischen Schaffens reicht bis in das Gebiet der Versuche, der forcierten Experimente hinein. Wir finden in Österreich den Nietzsche-Kult der Jahrhundertwende, die an romanischen Mustern geschulte vornehm-esoterische formkultivierende Lyrik, neuklassizistische Bestrebungen im Drama, eine breite Tradition der Grauensromantik in der Erzählungskunst. Vor allem fand die Richtung der "Heimatkunst" in Österreich ihre vollkommene Analogie. Im Reich kämpfen Lienhard und Bartels für eine volksnahe Provinzliteratur und erheben den Ruf "Los von Berlin". In Österreich hat Rosegger das nämliche getan. Diese Entdeckung der Landschaften und Provinzen wirkt aber durchaus nicht im Sinn eines literarischen Partikularismus, der das Allzubesondere eines jeden Stammes in einer für den Nichtstammeszugehörigen unverständlichen Weise pflegte, sondern bringt die einzelnen Stämme einander näher. Bester Beweis dafür ist, daß die führenden Vertreter der Heimatkunst – genannt seien die Österreicher Handel-Mazzetti, Schönherr, Bartsch, Ertl, Ginzkey, Hohlbaum u. a. – hüben und drüben wohlbekannt sind. Auch im Sinn der letzten Entwicklungsrichtungen der deutschen Literatur, des Expressionismus und der "neuen Sachlichkeit", ist Österreich tätig; auch hier wird von Österreich dem gesamtdeutschen Literaturbestand Wertvolles beigesteuert. Wir nennen den zwischen sinnlich verfeinerter Eindruckskunst und geistig-vertiefter Ausdruckskunst stehenden R. M. Rilke, den größten deutschen Lyriker des Zeitraumes, ferner Th. Däubler, F. Werfel, A. Ehrenstein, P. Kornfeld, O. Kokoschka, M. Brod, F. Kafka, A. Wildgans, St. Zweig, A. Bronnen, M. Mell, O. Stoeßl usw. – lauter Namen, die in einer deutschen Literaturgeschichte nicht fehlen dürfen, wenn es sich darum handelt, die letzten Phasen der Literaturentwicklung zu charakterisieren.

[286] Wir sind am Schluß. Unsere Wanderung durch all die Jahrhunderte deutschen dichterischen Schaffens hat uns gezeigt, daß so gut wie alle Stiltypen, dichterischen Gattungen und Formen, die die deutsche Literatur ausbildete, in Österreich vertreten sind. Diese Phasen- und Stilidentität entspringt nicht einer äußerlichen Nachahmung, sondern erwächst aus der Gleichheit der Volkstumsgrundlagen. Wo Österreich literarisch produktiv ist, das heißt autochthon Stile ausbildet, schafft es im Sinn gesamtdeutscher Möglichkeiten und durchaus in deren Spielraumbreite; wo es rezeptiv ist, folgt es den Spuren der gesamtdeutschen Entwicklung. Daß das Übernommene aus stammheitlichen Sonderbedingungen heraus modifiziert wird, beweist nicht irgendwelche Wesensheterogeneität, sondern nur, daß das österreichische Deutschtum originär und aus eigenem am Gebäude der deutschen Kultur mitarbeitet. Unsere Betrachtung des literarischen Kulturgebietes hat den einläßlichen Beweis geführt, daß es keine für sich existierende, isoliert denkbare österreichische Sonderliteratur gibt, sondern daß das österreichische Schrifttum zum gesamtdeutschen dazugehört und einen wesentlichen Bestandteil von ihm bildet. Die hier vorhandene stammheitliche Variation ist nicht anders zu bewerten, als die Differenzierungen, die sich auch bei den übrigen deutschen Stämmen finden. Es besteht also – das ist durch unsere Darlegungen erwiesen – in Hinsicht des Schrifttums restlose Einheit des gesamtdeutschen Volks- und Kulturgebietes.


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1W. Brecht, Österreichische Geistesform und österreichische Dichtung. Auszugsweise veröffentlicht in der Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten, Dezember 1929. Von W. Brecht ferner der Aufsatz "Wesen und Werden der deutschösterreichischen Literatur". Zeitschr. f. Deutschkunde, 1920, S. 337 ff. ...zurück...

2Dazu und zum folgenden vgl. G. Kraitschek, "Anthropologie der österreichischen Bevölkerung" (in dem Sammelwerk Österreich, sein Land und Volk und seine Kultur, herausgegeben von M. Haberlandt, 1927, S. 197 ff.). ...zurück...

3Vgl. R. Latzke in dem Artikel "Österreichische Dialektdichtung" (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, II). ...zurück...

4M. Haberlandt, "Die gemeinschaftliche Volkskultur der österreichischen Bundesländer" (in dem Sammelwerk Österreich, S. 208 ff.). ...zurück...

5In R. F. Arnolds Deutschem Drama, 1925. ...zurück...

6Dazu H. Cysarz, Deutsche Barockdichtung. 1924. Von Cysarz haben wir ferner eine ausgezeichnete Wesensschau über "Altösterreichs letzte Dichtung". Preuß. Jahrbücher, Bd. 214, S. 32 ff. ...zurück...

7E. Castle im Artikel "Österreichische Literatur" (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, II). ...zurück...

8R. Latzke in dem Artikel "Österreichische Dialektliteratur" (Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, II). ...zurück...

9E. Castle in dem erwähnten Lexikonartikel. ...zurück...

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller