SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[Bd. 3 S. 636]
Heinrich von Treitschke, 1834-1896, von Julius Heyderhoff

Heinrich von Treitschke.
[624b]      Heinrich von Treitschke.
Photographie, Anfang der 70er Jahre.

[Bildquelle: Sammlung Dr. Hermann Handke, Berlin.]
Heinrich von Treitschke schreitet unserem Volke auf seinem langen und schmerzensreichen Wege zur nationalen Einheit als einer seiner mächtigsten Führer voran: der Einheitswille der Nation, der im Reiche Bismarcks seine erste Erfüllung fand, war in ihm am reinsten und stärksten verkörpert. Es war sein Glück und sein Stolz, "große politische Leidenschaft" in sich zu tragen und sich im Dienst eines "erhabenen politischen Gedankens zu wissen, der groß und einfach, allen verständlich, jede andere Idee der Zeit in seinen Dienst zwang". Dieser Gedanke war für ihn: die Einigung Deutschlands durch Preußen. Indem er ihn über alles stellte und sich ganz mit ihm durchdrang, ist er der große Nationalmensch seiner Epoche geworden, zuerst der glühende Prophet preußisch-deutscher Einigung, dann der Geschichtschreiber der durch Preußen geeinten Nation, der ihre Geschicke seit dem Westfälischen Frieden vor allem bestimmt sieht durch Tun und Lassen dieses Staates. So hängt alles bei ihm mit strenger Notwendigkeit zusammen; Persönlichkeit und Werk decken sich ganz. Ein hochgemuter Kämpfer, eine einzigartige Erscheinung kriegerischer Männlichkeit im deutschen Professorentum, der letzte und höchste jener streitbaren Historiker, die politische Führer wurden im Ringen um Staat und Nation. "Dem deutschen Volke den deutschen Staat!" "Es muß uns doch gelingen!" So hallt zugleich mit den preußischen Entscheidungsschlachten seine Donnerstimme über Deutschland. Die Flammenpredigt seines mutig-freien Herzens, ein Hohes Lied preußisch-deutscher Staatslehre, entzündet mit seelenbezwingender Macht die Gemüter; der heldische Prophet und Hohepriester dieses Glaubens hebt ein neugeborenes Deutschland der Einheit und Stärke empor.


Ein Jahrhundert ist vergangen, seit dies große Leben begann; am 15. September 1834 ist Heinrich von Treitschke in Dresden geboren. Seine Vorfahren waren böhmische Protestanten, die um ihres Glaubens willen die Heimat verließen, sein Vater sächsischer Offizier, zuletzt General, seine Mutter aus sächsischem Adel. Entscheidende Züge seines Wesens sind in den Eltern nicht vorgebildet; nur von der Mutter weiß man, daß sie unter der Enge des Kleinstaates litt. Viel tiefer führt die Frage des Blutes; die dem Vater völlig fremde politische Leidenschaft des Sohnes findet in slawisch-tschechischem Blutzusatz, wie er in sächsisch- [637] thüringischen Landen nicht selten ist, ihre zureichende Erklärung. Mit seinen heißen Augen und dem glühenden Strom seiner Beredsamkeit hat er in jungen Jahren oft an einen Hussitenprediger erinnert. Noch näher liegen die großen deutschen Vorbilder und Verwandten: von Luther, Lessing und Fichte bis zu Richard Wagner und Nietzsche kamen die Redner an die deutsche Nation, die stärksten rhetorischen Begabungen in Rede und Schrift aus Treitschkes Heimat, und zu den streitbaren Obersachsen als seinen nächsten Landsleuten hat er sich immer gern und mit Stolz bekannt. Mit demselben Recht wie bei Nietzsche kann man in diesem geistesgeschichtlichen Zusammenhang auch bei ihm von einem ererbten heimatlichen Tonfall in dem wunderbaren Orchester seiner Sprachmusik sprechen.

Seine Knabenjahre verflossen in Dresden, wo er das Gymnasium zum Heiligen Kreuz besuchte, inmitten jenes ruheseligen Philistervölkchens aus Ludwig Richters Tagen, das er später in einem der besten Kapitel seiner Deutschen Geschichte mit unübertroffener Anschaulichkeit und ironischem Behagen gekennzeichnet hat. Die Schule gab ihm viel; mit ihrem Rektor Klee blieb er auch später in Verkehr und Briefwechsel. Der klassische Philologe Köchly, nachher sein Kollege in Heidelberg, entschiedener Demokrat, und der Geschichtslehrer Helbig regten ihn politisch an. Viel bedeutsamer und nachhaltiger aber wirkten auf ihn das große Jugenderlebnis der Einheitsbewegung von 1848 und der Dresdener Maiaufstand für die Reichsverfassung mit seinen Straßenkämpfen und Barrikaden, ein politischer Anschauungsunterricht ohnegleichen für den Fünfzehnjährigen, der dem Vater in aufgeregten Briefen über selbstgewonnene Eindrücke berichtet. Bald darauf erklingt auch zum erstenmal in ahnungsvollem Vorklang ein Hauptthema seines Lebens: der Primaner spricht über die Politik Preußens und Österreichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und tritt für Preußen als den Führer zur Einheit ein. So früh und so sicher kündet sich der kommende Einheitskämpfer schon am Ausgang seiner Schulzeit an. Und ebenso früh, fast gleichzeitig, wird das dunkle Verhängnis spürbar, das schwere, bis zur Taubheit sich steigernde Ohrenleiden, das ihn völliger Vereinsamung preiszugeben droht. Wie wird der Reichbegabte diese härteste Prüfung tragen, die ihn vom handelnden Leben ausschließt, zu dem ihn doch alles drängt? Er selber hat sich in dem ergreifendsten seiner Gedichte das Schreckliche ausgemalt, das Los "des armen Tauben, der hilflos dasteht und einsam brütend früh ergreist", um sich dann aufzurichten an der Gewißheit einer hohen, ihm eigenen Sendung: "des Mutes Flammentröstung" in die Seelen zu gießen, sie fortzureißen und zu erheben durch die unerschütterliche Zuversicht, die in ihm selber lebt. In dieser früh erworbenen, in Leiden gestählten Sicherheit eines ganz mit sich einigen Charakters erkennen wir das Fundament seiner historischen Größe.

Die Studienjahre lagen hinter ihm. Wie fröhlich war er als Bonner Bursch mit der weiß-rot-goldenen Frankenmütze, wie steigt aus seinen zirkelgeschmückten Briefen an den Vater, an die Freunde "Vereli" und "Bachfritz" der volle Duft [638] studentischer Lebensfreude, die er in unbefangener Hingabe genoß. Festhalten freilich konnten ihn die lachend mitgemachten Äußerlichkeiten dieses Treibens nicht. Lernbegierig und aufnahmefroh widmet er sich dem Studium der staatswissenschaftlichen, ökonomischen und historischen Fächer in strenger geistiger Disziplin, die seinem heißen Blut und seiner tatfreudigen Natur gewiß nicht leicht fiel, und für lange Zeit gibt dem breiten Strom seiner Briefe die sehr ernst genommene weltanschauliche Aussprache mit Freund Bachmann Gehalt und Farbe. Noch war sein Weg nicht endgültig entschieden; der Künstler in ihm rang mit dem Gelehrten; Dichtungen und dramatische Entwürfe entstanden unter seiner leicht und sicher formenden Hand; sollte er dem Ruf der Muse folgen und ihr sein Leben anvertrauen? Sich selbst und uns zum Heil widerstand er der Lockung. Alles, was er an dichterischer Anschauungskraft und farbiger Pracht des sprachlichen Ausdruckes besaß, ging in die Arbeiten des Publizisten und des Geschichtschreibers über und sichert diesen eine Höhe der Sprachmeisterschaft, die der schwächere Eigenklang seiner Verse niemals erreicht hätte. Wie tief er doch in die Welt des poetischen Schaffens geblickt und sich eigene Maßstäbe des ästhetischen Urteils gebildet hatte, zeigen neben seinem Kleist-Porträt vor allem die kritischen Studien über Hebbel und Otto Ludwig, die zu seinen frühesten Veröffentlichungen gehören. Sie waren sein Abschiedsgruß an die versinkende literarische Epoche. Der neue Tag im Leben der Nation, den er mit heraufführen und mitgestalten sollte, kündigte sich an in den Problemen des Staates und der Gesellschaft, die seine Habilitationsschrift über "die Gesellschaftswissenschaft" erörtert. Schon hier ist er ganz er selbst, Verfechter des unbedingten Primats des Staates, der der späteren Soziologie nicht wie Robert von Mohl ein eigenes, vom Staate getrenntes Leben zubilligen will. Symbolischer noch erscheint uns, daß der neue Leipziger Dozent seine erste historische Vorlesung am Geburtstage Friedrichs des Großen hält; zugleich mit dem Lehramt beginnt im Wendejahr 1859 sein politischer Kampf mit den Waffen des Wortes und der Feder.

Seit dem Anbruch einer "neuen Ära" in Preußen, die alle Hoffnungen des Liberalismus beflügelte, und mit dem gleichzeitigen Stoß von außen (Italienischer Krieg von 1859 und rasch fortschreitende Einigung Italiens, Frankreichs Drängen nach der Rheingrenze) gerieten alle noch stockenden und ungelösten Probleme der deutschen Staatsbildung aufs neue in Fluß. Der Platz des jungen Kämpfers war gegeben; er focht mit innerer Notwendigkeit in den Reihen der liberalen Nationalpartei, die jetzt im Nationalverein und der Deutschen Fortschrittspartei Preußens ihren alten Kampf um Freiheit und Einheit der Nation noch einmal begann. Er war Historiker, der unablässig mit den politischen Schicksalsfragen seines Volkes rang wie vor ihm in ihrer Weise Hans von Gagern und Wangenheim mit ihren Reformplänen gegen das bundestägliche Elend, Uhland als Streiter für "das gute alte Recht" der württembergischen Landstände, vor allem aber Dahlmann, sein geliebter Lehrer, gleich bewährt als Verfassungs- wie als [639] Einheitskämpfer und doch 1848 an der unlösbaren Aufgabe der Paulskirche gescheitert. Um aus der Arbeit dieser Vorgänger zu lernen und die Gegenwart politisch zu belehren, entwarf er ihre Lebensbilder in den Preußischen Jahrbüchern, beschwor er mit feurigstem Schwung den Schatten Fichtes als des Philosophen der "nationalen Idee", schilderte er die Eroberung des "Ordenslandes Preußen" als kolonisatorische Großtat unseres Mittelalters. Ein Eigenstes aber gab er als Selbstbekenntnis in seinem klassischen Jugendaufsatz über "die Freiheit", dem bedeutenden Versuch, die Freiheitsrechte der modernen Persönlichkeit und ihren von Wilhelm von Humboldt verfochtenen Anspruch auf freie und allseitige Ausbildung ihrer Kräfte zu einem Ganzen in Einklang zu bringen mit den Pflichten der politischen und sozialen Gemeinschaft in dem Bewußtsein: "Was du auch tun magst, um reiner, reifer, freier zu werden, du tust es für dein Volk." Die freie Persönlichkeit im freien Staat, in dessen Dienst sie sich erst vollendet, aber kein manchesterlicher Liberalismus, der den Staat zum Diener des eigennützigen Gewinnstrebens herabsetzt. Und zum Schluß die Verkündung des eigenen Lebens und Bildungsideals, die in Worten von ganz persönlicher Prägung "das Festestehn und Umsichschlagen im schweren Kampfe der Männer" und die "überlegene Milde" des Historikers, die Verbindung also einer "tätigen und betrachtenden Stimmung des Geistes" als "höchste Blüte seiner und dennoch kräftiger Bildung" preist. In ungleich weitere Kreise drang der Volksredner des großen Leipziger Turn- und Erinnerungsfestes von 1863 mit dem "Trompetengeschmetter" seiner Ansprache, die nach dem Zeugnis eines Teilnehmers wirkte wie "Sonnenschein, Frühlingswehen und reißender Gewittersturm".

Wenige Wochen später begann die ganz Deutschland aufwühlende Bewegung für Schleswig-Holstein und das Erbrecht des Augustenburgers und riß den Freiburger Dozenten in ihre selbst dies stille "Pfaffenstädtchen" erreichenden Wirbel. Wie leidenschaftlich hatte Gustav Freytags Freund die Erbitterung des preußischen Verfassungskonflikts miterlebt, dem Gottesgnadentum der Krone die verdiente Demütigung gewünscht und in heißem Zorn über "das Schweigen der Presse in Preußen" nach einer Revolution gerufen, dennoch aber das Vertrauen zu dem Staate seiner Wahl, der für ihn auch jetzt der einzige wirkliche Staat im deutschen Wirrsal blieb, sich bewahrt, indem er ihn unterschied von seiner derzeitigen Regierung. Nun aber geschah das Unerwartete: eben diese Regierung, die den Namen des verhaßtesten Ministers in Deutschland trug, die Regierung Bismarck, ging in Schleswig-Holstein entschlossen ihren eigenen, freilich undurchsichtigen Weg großmächtlichen Handelns als europäische Macht – und schon der Ansatz dazu macht den feurigsten aller Wahlpreußen zu ihrem Verbündeten, der öffentlich für ihre Politik und ihr noch verdecktes Annexionsziel eintritt. Durch ganz Deutschland klingt der Name des jungen, erst dreißigjährigen Mannes, der diesen Mut aufbringt und der preußenfeindlichen Tagesstimmung das entschlossenste preußische und unitarische Bekenntnis entgegenwirft, die schärfste [640] Abrechnung mit den überlieferten Denkgewohnheiten einer politisch verwahrlosten Nation, das höchste Flammenzeichen ihrer dennoch möglichen Erhebung am Vorabend einer großen Entscheidung. Das ist die historische Stellung seiner berühmten Flugschrift über "Bundesstaat und Einheitsstaat". Hier zuerst wird die Weite und Tiefe seiner staatswissenschaftlich-politischen Studien und Erkenntnisse sichtbar, wenn er das Wesen des Bundesstaats zu ergründen sucht und mit vergleichendem Blick auf Alt-Holland, die Schweiz und die Nordamerikanische Union nachweist, daß diese föderativen Staatsbildungen nach ihrer Eigenart und den Voraussetzungen ihrer historischen Entwicklung kein Vorbild für Deutschlands kommende Umgestaltung sein können.

Doch nicht in dieser kühl prüfenden Untersuchung, sondern im Angriff entlädt sich sein Temperament, in den wahrhaft vernichtenden Schlägen, mit denen er die "Märchenwelt" der Partikularisten zertrümmert, und in der erschütternden Klage und Anklage über "die politische Entsittlichung der Nation" durch "die große Lüge des Bundesrechts" und die leidsame Geduld im Unerträglichen, mit der achtzehn Millionen Deutsche der Kleinstaaten den empörenden Zustand "eines Volkes ohne nationale Regierung" hinnehmen. Nur Preußen kann diesen Zustand und seine bisherige Existenzform einer "unfertigen" Großmacht durch eine Politik entschlossener Machterweiterung überwinden; Annexion an diesen größten Sonderstaat wird der wahrscheinliche Gang der Entwicklung sein; die liberale Einheitspartei, statt mit dem Nationalverein von Preußen abzurücken, muß weit preußischer werden als bisher. So mündet auch diese kühnste und zielsicherste Voraussage preußisch-deutscher Einigung in sein altes Ceterum censeo, das er dem Leser aufs neue einzuhämmern weiß, zugleich mit der Ahnung, daß der hier von dem leidenschaftlichsten Preußen unter den Einheitskämpfern gewiesene Weg in naher Zukunft der Weg des Bismarckschen Preußens werden könne.

In der Tat: nicht lange mehr sollte es dauern, bis aus dem Besitzstreit um die von Preußen und Österreich gemeinsam befreiten Herzogtümer der große Entscheidungskampf um die alleinige Führung in Deutschland zwischen den beiden Vormächten des Deutschen Bundes emporstieg und zu blutigem Austrag drängte. Der Herzenswunsch des Heißblütigen, der, zu dem Camphausenschen Schlachtenbild von Hohenfriedberg aufblickend, nach der "Wiederkehr dieser gesegneten Tage" gerufen hatte, stand vor seiner Erfüllung. Jetzt erging an ihn, der vor allen andern mit sicherem politischem Instinkt die Frage Schleswig-Holsteins als Frage der preußischen Macht und ihrer im höchsten Interesse Deutschlands liegenden Festsetzung zwischen Nord- und Ostsee erkannt hatte – während die meisten Liberalen sie vom Rechtsstandpunkt des Augustenburgischen Erbrechts und eines möglichst weiten "Selbstbestimmungsrechts" der Schleswig-Holsteiner behandelten – der Bismarcksche Ruf, für den bevorstehenden Kampf gegen Österreich das Kriegsmanifest Preußens an die deutsche Nation zu schreiben. Wer empfände nicht den tiefen Sinn dieser Werbung um den Mann, dem die [641] Verdrängung Österreichs und seiner "verhüllten" Fremdherrschaft aus Deutschland das oberste aller Anliegen und der Anfang jeder ernsthaften Bundesreform, also auch der jetzt von Preußen beantragten, war. Und zugleich die darin liegende Lockung und Versuchung, doppelt lockend für ihn, dessen Herz für Preußen schlug und der in Baden nicht bleiben konnte, wenn es wie die anderen Südstaaten in die Gefolgschaft Österreichs hinüberglitt. Dennoch – konnte die Ablehnung für ihn zweifelhaft sein, solange es für das auch von ihm mit voller Bestimmtheit verlangte Einlenken Bismarcks aus dem Verfassungskonflikt zwar erste leise Anzeichen, aber noch keinerlei Sicherheit gab? So schlug er aus, um auch jetzt wie bisher als unabhängiger Publizist aus eigener, selbstgewonnener Überzeugung die Sache Preußens und der Nation zu führen, des kommenden Zusammenwirkens in einem neuen Deutschland im stillen gewiß.

Und wieder sollte der Anbruch einer großen Schicksalswende auch für ihn persönlich der Beginn eines neuen Lebenstages sein. Am 18. Juni 1866 verlobte er sich mit Emma Freiin von Bodman aus einem alten Adelsgeschlecht des Hegaus. Bald darauf, als in Baden die Würfel gegen Preußen fielen, verließ er Freiburg und den badischen Staatsdienst, um in Berlin die Leitung der Preußischen Jahrbücher zu übernehmen.

Unterwegs erreichen ihn in Kreuznach und Bingerbrück erste Meldungen preußischer Siege; er ist Zeuge des Siegesjubels im Volke. Da schreibt er der Braut in einem seiner schönsten Briefe: "Sieh, liebes Herz, da hab ich recht gesehen, wie der kleine Mensch wächst und besser wird, wenn er ein Vaterland hat, nicht bloß eines im Monde und in seiner Phantasie, sondern ein wirkliches, das ihn oft drückt, aber auch schützt und hebt. Wahrhaftig, wir treiben keine theoretische Klügelei, die wir Deutschlands Einheit wollen. Wir wollen die Seele unseres Volkes reicher und menschlicher bilden, sie erretten aus der Zuchtlosigkeit und Selbstsucht des kleinstaatlichen Lebens. Du hast mich wohl oft hart und schroff gefunden in meinen Urteilen über politische Gegner, und allerdings, ich hasse dieses Österreich und diese lächerlichen Kleinkönige, seine Helfershelfer – aber nur weil ich mein deutsches Volk grenzenlos liebe, weil diese kleine dynastische Politik uns nicht bloß Macht und Wohlstand, sondern auch das Gemüt unseres Volkes verbildet und verkümmert."

Um so hohe innere Güter, um die seelische und sittliche Gesundung der Nation ging es ihm in diesem Kampfe; gerade ihre "politische Entsittlichung" hatte er ja als schlimmste Wirkung der Kleinstaaterei bezeichnet; weil sie das schleichende Gift dieser Krankheit ausbrannten, feierte er die preußischen Siege als den Anfang einer großen Erfüllung. So war es in seinem Sinne nur folgerichtig, wenn er in seinem unitarischen Glaubenseifer sich vor allem gegen ein weiteres Fortbestehen des Königreichs Sachsen wandte und diese über die Annexion Kurhessens und Hannovers noch weit hinausgehende Forderung in der Flugschrift "Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten" mit rücksichtsloser Schärfe aussprach. Diesmal aber sprang der Pfeil des überspannten Bogens auf den Schützen zurück: da er selbst vor Beleidigung des sächsischen Königshauses [642] nicht haltgemacht hatte, fühlte sich sein Vater, der General und treue Offizier des Königs, in der eigenen Ehre angegriffen und erließ einen öffentlichen Einspruch gegen den Sohn, dessen politische Haltung ihm seit 1859 immer anstößiger und unverständlicher geworden war. Nun war der offene Bruch da zwischen beiden, die sich doch menschlich bis zuletzt verstanden hatten. Auch dieses tief schmerzliche Erlebnis, recht eigentlich ein Sinnbild des "Bruderkrieges" von 1866, blieb Heinrich von Treitschke nicht erspart; nicht bloß von der Heimat, wie einst seine böhmischen Vorfahren, auch vom geliebten Elternhause mußte er sich in Feindschaft trennen um seines politischen Glaubens willen. Der aber trug ihn, nicht beirrt, sondern befestigt in sich selbst, weiter "nach dem Gesetz, wonach er angetreten".

Heinrich von Treitschke.
Heinrich von Treitschke.
Gemälde von Franz Teschendorf, 1861.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 422.]
Nach kurzer Wirksamkeit an der Kieler Hochschule, wo es ihm unter den selbstgenügsam alles Preußische ablehnenden holsteinischen "Normalmenschen" wenig gefiel, rief ihn die jetzt nach Überbrückung der Mainlinie und Anschluß an den Norddeutschen Bund drängende Regierung Großherzog Friedrichs von Baden nach Heidelberg auf den seit dem Frühjahr 1867 freigewordenen Lehrstuhl Ludwig Häussers. Erst vierunddreißigjährig, trat er in die reichste und glücklichste Zeit seines Lebens, an die hohe, ihm ganz gemäße Doppelaufgabe: als akademischer Lehrer mit der hinreißenden Macht seiner Rede die südwestdeutsche Jugend für die Einheitsidee und ihre Verwirklichung im preußisch-deutschen Nationalstaat zu gewinnen und als Historiker die große politische Geschichtschreibung Heidelbergs fortzusetzen und auf ihren Gipfel zu führen. Er hat beides getan und ist in beidem Häussers überragender Nachfolger. Wie ihm das erste gelang, zeigt am schönsten die Ansprache, mit der er im Juli 1870 seine Studenten in den Krieg mit Frankreich entließ, für das andere zeugen die Meisterwerke des zweiten und dritten Bandes seiner Historisch-Politischen Aufsätze, die großen Darstellungen des Staatslebens in der Republik der Vereinigten Niederlande, im Italien Cavours, im Frankreich des Bonapartismus, die zugleich Geschichtsbilder von unerreichter Lebensnähe, Farbigkeit und Lebendigkeit sind, mit dem Konstitutionellen Königtum in Deutschland als krönendem Abschluß. In jenen ging er vornehmlich den Wegen Frankreichs und Italiens im neunzehnten Jahrhundert nach, den Problemen des Cäsarismus und der Demokratie im Reiche Napoleons III. und der Entstehung des italienischen Nationalstaats unter der staatsmännischen Leitung Cavours; in diesem brachte er die Tatsachen der jüngsten preußisch-deutschen Verfassungsentwicklung zu ihrem wirklichkeitsgemäßen Ausdruck. Er zog die Folgerungen aus der großen Lehre von 1866: hatte die Monarchie in Preußen dank der schöpferischen Außenpolitik Bismarcks sich gegen den Ansturm der Liberalen im Verfassungskonflikt behauptet, war sie aus dem von ihr mit "waffenmäßiger Großmachtspolitik" geführten Kriege befestigt und erhöht hervorgegangen, so sollte ihr nun auch die Führung im neuen Deutschland bleiben, das Parlament nur ergänzend, die Staatsausgaben bewilligend, die Verwaltung [643] kontrollierend, neben ihr stehen. So umriß er schon die Grundzüge des monarchisch-konstitutionellen Systems, das die politische Lebensform des Zweiten Reiches werden und bleiben sollte bis in die Tage des Zusammenbruchs.

Solange die von Preußen begonnene Umformung Deutschlands noch im Werden und von äußeren Feinden bedroht war, ging ihm die Rücksicht auf Sicherheit und Stärke des Ganzen jeder anderen voran: erst ein machtvoller Staat, dann freiheitlicher Ausbau im Innern. In dieser Grundüberzeugung konnte ihn das größte Erlebnis seiner Generation, die Vollendung des Reichs durch den Nationalkrieg mit Frankreich nur noch befestigen.


Das Ereignis der Reichsgründung bildet den natürlichen Höhepunkt in Treitschkes Leben. Es brachte ihm die Erfüllung seines heißen Wunsches, Deutschland geeint und mächtig zu sehen, und wurde grundlegend für seine weitere Lebensgestaltung. Sein Eintritt in den Reichstag und die mehr als zwei Jahrzehnte umfassende Lehrtätigkeit an der Universität Berlin beruhen ebenso darauf wie sein höchster Lebensinhalt, die Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert.

In den Sturmjahren der preußisch-deutschen Einigung waren die Partikularisten jeglicher, auch liberaler Färbung und die der preußischen Führung widerstrebenden Dynastien, die "Rheinbundskronen", wie er sie grollend nannte, die Hauptfeinde gewesen, auf die er losschlug. Jetzt gab es im Reichstag, in der als Einheitsklammer gedachten Nationalvertretung des deutschen Volkes Parteien, in denen er noch gefährlichere Gegner des jungen Reiches erkennen mußte. Mit Ultramontanen und Sozialisten konnte er nur auf Kriegsfuß stehen. Die Kampfgesetze, die der Kultusminister Falk in den Jahren des Kulturkampfs zum Schutz des Staates gegen die katholische Kirche erließ, fanden daher ebenso seine Zustimmung wie die Ausnahmegesetzgebung zur Unterdrückung der Sozialdemokratie. In der eigenen, der Nationalliberalen Partei mißfiel ihm die mäkelnde Kritik des linken, von Lasker geführten Flügels an den Heeresvorlagen und die immer wiederkehrende Neigung, die Rechte des Parlaments auf Kosten der Regierung zu erweitern, Bestrebungen, die er umsonst als "falsche Ideale" bezeichnet hatte.

Eine tiefe innere Logik liegt doch darin, daß seine Feindschaft sich von Anfang an gegen die Parteien richtete, die später die Totengräber des Zweiten Reiches und die parlamentarischen Regenten des Weimarer Zwischenstaates werden sollten. Das gleiche gilt von der Wandlung im konservativen Sinne, die sich jetzt, da es das Reich gegen zunehmende radikale Kritik und den Ansturm verhetzter Massen zu verteidigen galt, ganz deutlich in ihm vollzog. Er beklagte die materialistische Verflachung des Bürgertums im Rausch der Gründerjahre; er konnte vor den Schäden der raschen Industrialisierung schon die bange Frage aufwerfen, was aus Deutschland mit der modernen Industrie geworden wäre ohne den [644] nationalen Staat; er fand es lächerlich und anmaßend, wenn der junge Nietzsche in seiner Kulturkritik "Stil" verlange von einem Volk, das "eine so ungeheure politische und wirtschaftliche Revolution in wenigen Jahren überstanden habe". Er verließ die Nationalliberale Partei, als sie den Schutzzolltarif ablehnte, den Bismarck nach seiner Abkehr vom Freihandel zum Schutz der "nationalen Arbeit" einbrachte, und folgte ihm auf seinen neuen Wegen zur Belebung der Wirtschaft und zur finanziellen Sicherung des Reichs. Er sah die Ideale des Liberalismus, die seine Jugend und seine frühen Mannesjahre erfüllt hatten, ohne Schmerz verblassen; er nahm die monarchische, christliche und konservative Strömung, die unter dem Eindruck der "sozialen Botschaft" das letzte Jahrzehnt Wilhelms I. erfüllte, voll in sich auf. Es war die Wandlung in der Zeitwende, tief einschneidend gewiß, aber seit langem vorbereitet und dem innersten Gesetz seines Wesens gemäß. Hierhin gehört auch seine Wendung gegen die Juden als "das fremde Element" und seine Parteinahme für den Antisemitismus als "die natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen den gefährlichen Geist jüdischer Überhebung". Er hat auch diesen Krieg, in dem er mehr Widerspruch als Zustimmung fand und alte Freunde, wie Theodor Mommsen, verlieren sollte, mit ritterlichen Waffen geführt, im besten Glauben, zum Schutze von Volk und Staat. Und dann gehörte sein Leben neben der Lehrtätigkeit an der ersten Hochschule des Reiches in verzehrender Hingabe seinem größten Werk, der Deutschen Geschichte.

Jahrhunderte hindurch hatten die Deutschen in einem zerfallenden Reiche in staatlicher Ohnmacht und Zersplitterung gelebt; keiner anderen Nation war es so schwer gemacht worden, "als geeinte Macht wiedereinzutreten in die Reihe der Völker". Jetzt, am Ziel der Mühen, schien es möglich, in der in ihren Kernbestandteilen einheitlich zusammengefaßten Nation ein einheitliches Bewußtsein ihres nationalstaatlichen Werdens zu erwecken, ihr den Weg zu zeigen, auf dem sie in diesem neunzehnten Jahrhundert nach der Zerstörung ihres alten Reiches aus dem Chaos des Deutschen Bundes mit dem Neben und Gegeneinander seiner sechsunddreißig souveränen Staaten zu der lichtvollen Ordnung ihres neuen, von Preußen geführten Reiches gekommen war. Das ward nun Treitschkes Aufgabe. Der leidenschaftlichste Vorkämpfer preußisch-deutscher Einigung schrieb jetzt ihre Geschichte; er schenkte dem neuen Deutschland das Epos seiner staatlichen und nationalen Neugründung unter Preußens Führung. Zwar gelangte er nur bis an die Schwelle des nationalen Anlaufs von 1848 und nicht mehr zu den selbsterlebten Jahren des Durchbruchs und der Vollendung, aber ein Werk von bezwingender Größe schuf er doch in seinen fünf mächtigen Bänden, die auch als Torso ein ragender Gipfel unserer nationalen Geschichtschreibung bleiben werden. Denn hier gelang ihm das Höchste, was er selber von der Historie als einer mit Dichtung und Philosophie gleichberechtigten idealen Bildungsmacht verlangte: ein Meisterwerk, "das bis zu den Höhen der Menschheit hinaufreicht und jeden Menschen unmittelbar berührt", und diese Leistung gereicht ihm zu [645] ewigem Ruhm. Er, der Verkünder eines neuen Nationalstolzes, vergaß doch nie, was Deutschland seiner humanen Epoche schuldigblieb: indem er das Hochziel seiner Wissenschaft aussprach, huldigte er der alten deutschen Götterordnung aus Goethes und Schillers Tagen.

Ihm war das Deutschland seines Jahrhunderts, das er mit tiefem Glücksgefühl ein "deutsches Jahrhundert" nannte, unter dem Doppelstern unserer klassisch-romantischen Literaturepoche und der Befreiungskriege geboren. Jeder Leser seiner Geschichte weiß, wie unvergeßlich er beide geschildert, die hohen Schöpfungstage unserer größten Bildungsepoche mit dem Liebesblick seines in alle Geheimnisse geistigen Werdens schauenden Künstlerauges und dicht daneben mit der elementaren Kraft naturwüchsiger Leidenschaft die Zeiten der Fremdherrschaft und der Befreiung, gipfelnd in den Heldengestalten Blüchers und Yorcks, Scharnhorsts und Gneisenaus und über allen des Freiherrn vom Stein. So enthielt schon dieser erste Band höchste Proben seines Könnens; er erschütterte und erhob durch die seelenbezwingende Kraft eines großen Herzens, das die Geschicke des Vaterlandes "wie selbsterlebtes Glück und Leid" empfand; er zeigte den geborenen Darsteller großer dramatischer Szenen des Völkerlebens, den Kenner der Höhen und Tiefen, der das gesamte Kulturleben seiner Nation umfaßte, den Geschichtschreiber, der als sein eigenstes Feld "die Welt der politischen Taten" ansieht und "die in ihr waltenden sittlichen Gesetze".

Solcher Grundauffassung der Geschichte und solchen Kräften und Begabungen war das deutsche Stilleben von 1815 bis 1848, die Zeit der Windstille zwischen den Stürmen, nur wenig gemäß; um so bewundernswerter bleibt die Leistung, die er als erster aus unermeßlicher Aktenarbeit schöpfender Darsteller der Wiederherstellung des preußischen Staates und der stillen Sammlung und Vorbereitung zu späteren Taten im zweiten bis vierten Bande vollbracht hat, nicht minder die Kontrastierung des süddeutschen Verfassungslebens und seiner aufregenden Landtagskämpfe, die stete, fast immer von tiefstem Verständnis zeugende Würdigung des geistigen Gesamtlebens der Nation im Übergang von der Romantik zum Realismus und zuletzt noch im fünften Band das erschütternde Trauerspiel der ersten Regierungshälfte Friedrich Wilhelms IV. und der unaufhaltsam zu einer Revolution führenden geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Bewegung. Als Ganzes die einmalige und unwiederholbare Schöpfung dieses Einzelnen, eine höchst persönliche Art politischer Geschichtschreibung, in der sich bei voller Wirklichkeitstreue des Dargestellten der auch hier für seine Überzeugung streitende Nationalpolitiker preußischen Glaubens nirgends verleugnet. Er führt Krieg und sitzt zu Gericht, er liebt und haßt, er zürnt und grollt, aber er bleibt bei mancher Ungerechtigkeit, bei manchem längst berichtigten Fehlurteil mit seiner oft verletzenden Schroffheit im Tadeln und Verwerfen doch der große Mensch, der sich selber rücksichtslos einsetzt als Kämpfer und Bekenner.

"Männer machen die Geschichte!" war sein oft wiederholtes Wort über deren bewegende Kräfte; es entsprach seinem innersten Wesen [646] ebenso wie die Hochschätzung des Willens als der köstlichsten Kraft des Menschen. Daher sein kongeniales Verständnis für den mühselig heroischen Aufstieg des preußischen Staates, der nur bei höchster Willensanspannung gelingen konnte; daher die Entschiedenheit, mit der er den in der Reichsgründung sieghaft bewährten, staatsbildenden Kräften des Preußentums, ihrer Entfaltung und Hemmung den ganzen von ihm geschilderten Geschichtsverlauf ein- und unterordnete. Aber sie waren ihm doch nicht alles. Vielmehr verstand es seine reiche und empfängliche Künstlernatur, wie schon angedeutet, auch die nichtstaatlichen Züge deutschen Lebens, Dichtung und Philosophie, redende und bildende Künste, das wissenschaftliche Bild der Epoche, in seine Darstellung zu verweben. Und endlich kam bei ihm (mit Ausnahme Deutsch-Österreichs) das ganze deutsche Vaterland, wie er es von der Nordsee bis zu den bayrischen Alpen in persönlich erwanderter Anschauung kannte, in aller bunten Verschiedenheit seines Volkstums, seiner Landschaften und Stämme, seiner Mittel- und Kleinstaaten, so lebenswahr zu seinem Recht, daß alle sich in ihrer Wesensart darin wiederfinden und, was sie zum Wohl oder Wehe des Ganzen geleistet, hier zuerst erfahren konnten.

So wurde das Erscheinen jedes Bandes zum Ereignis; neben herzlicher Zustimmung und Bewunderung, die dem ersten und fünften Bande zuteil ward, fehlte es nicht an heftigem Widerspruch, an herabsetzendem Tadel. Er mußte es erleben, daß einer seiner nächsten Freunde und Kampfgenossen, der Historiker Hermann Baumgarten, in politischer Verstimmung sich gegen seine Beurteilung des süddeutschen Liberalismus wandte und ihm "einen auffallenden Mangel an Wahrheitsliebe" vorwarf, was er als schwerste, ihr altes Verhältnis zerstörende Beleidigung empfand. Die jüdische und unter jüdischem Einfluß stehende Presse ließ nach seiner früheren Kriegserklärung an dem scharfen Kritiker der Jungdeutschen und besonders Börnes und Heines kein gutes Haar. Weil er die Polen- und Franzosenschwärmerei der liberaldemokratischen Redner des Hambacher Festes als "Fremdbrüderlichkeit" – ein von ihm geprägtes Wort – bezeichnet hatte, verschrie man ihn als Wortführer eines unduldsamen deutschen Nationalismus. Dazu verdunkelte sich sein Familienleben: den einzigen Sohn (neben zwei Töchtern) verlor er als zehnjährigen Knaben; seine geliebte Frau verfiel einem immer schwereren, zuletzt unheilbaren Gemütsleiden. Wie schmerzte ihn die Entlassung Bismarcks, wie litt er unter den politischen Fehlgriffen des "neuen Kurses" und der schon spürbaren Schrumpfung deutscher Macht! Mitten in der Arbeit am fünften Bande drohte dem Tauben die Gefahr der Erblindung und zwang ihn zu langer Unterbrechung, aber er vollendete ihn doch – unter wieviel Leiden! – und erreichte in dieser reifsten Schöpfung mit ihrem metallenen Sprachklang noch einmal die Höhe seiner Kunst. Jetzt erst, fast am Ende seiner Bahn, erfreute ihn wissenschaftliche Ehrung. Die Berliner Akademie der Wissenschaften, die sich bisher gegen seine Aufnahme gesperrt hatte, öffnete ihm ihre Pforten; die Historische Zeitschrift rief ihn an ihre Spitze.

[647] Ein wesentlicher Zug seines Bildes würde fehlen ohne seine Lehrtätigkeit. Als "bester Sprecher und Stilist" der Universität, wie ihn Ranke 1881 nannte, entfaltete er sie durch zwei Jahrzehnte. Die stärkste Wirkung ging von seiner berühmten Vorlesung über Politik aus, die er in jedem Winter hielt und von der nach seinem Tode eine Buchausgabe erschien, so daß wir die beste Zusammenfassung seiner Staatslehre wenigstens in wortgetreuer Nachschrift besitzen. Der Staat, den er aus der Gesellschaft hervorgehen läßt, ist ihm "die allerrealste Persönlichkeit", sein Hauptattribut die Macht, sein oberstes Gebot die Selbstbehauptung. Seine Lehre von den staatlichen Lebensformen war gesättigt von geschichtlicher Erfahrung; sie verkündete "die Majestät des eigenen Staates aus religiös-wissenschaftlicher Besinnung des Geistes" (Westphal). Sie ergriff als politische Glaubenslehre die Herzen der Hörer durch die unwiderstehliche Kraft der Persönlichkeit ihres Verkünders.

Heinrich von Treitschke.
Heinrich von Treitschke.
Photo Eigentum der
Humboldt-Universität zu Berlin.
[Nach orden-pourlemerite.de.]
Heinrich von Treitschke war ein starker, hoch gebauter Mann; er reckte den mächtigen Nacken steil empor. Aus seinem großflächigen, kühn geschnittenen Gesicht sprang die Eroberernase, drang der schwere, tiefe Blick seiner noch im Alter glänzenden braunen Augen. Nichts von einem ausgetrockneten Gelehrten; als Offizier, als Kommandierenden hätte man ihn sich weit besser denken können. Etwas Befehlendes lag im Ton seiner Stimme; alles an ihm war Kraft und Entschiedenheit. Nächst Bismarck verkörperte niemand das neue, das Zweite Reich der Deutschen so eindrucksvoll wie er. Er hatte seine Sturmfahne im Kampf der Geister getragen und sie zum Siege geführt; er trug sie weiter bis an sein Lebensende. Gegen die inneren Gegner dieses Reiches und die Gefahren, die ihm von außen drohten, wandte er sich in seinen Deutschen Kämpfen; um es zum innerlich erworbenen Besitz der Nation zu machen, schrieb er das Heldenepos preußisch-deutscher Staatsgründung in seiner Deutschen Geschichte; von der Staatsidee und den Lebensgeboten des neuen Gemeinwesens sprach er in seinen Vorlesungen über Politik. So diente alles, was er dachte und tat, der Nation und ihrem Leben als staatlich geeintes Volk. Die Gedächtnisrede auf den großen Krieg, in dem sie es erkämpft hatte, wurde im Juli 1895 sein Schwanenlied. Rastlos weiterschaffend, dachte er noch nicht an Ende und Abschied; da ergriff ihn schwere Nierenkrankheit, der er am 28. April 1896 erlag.

Ein voll in seiner Zeit stehender Mann war dahingegangen, ein sie beherrschender Charakter. Er hatte einer Epoche hoher staatlicher Erfüllung angehört; ein starkes deutsches Reich, um das so viele Geschlechter umsonst gerungen, schien für immer gegründet. Als es aber nach einer Zeit ungeheurer Ausweitung der Wirtschaft und tiefer Zerklüftung der Gesellschaft erneut um sein Dasein ringen mußte, zerbrach es im Ansturm einer feindlichen Welt; seine Grundlagen waren auseinandergewichen. Mit ihm schien Heinrich von Treitschke, einst sein Herold und Bannerträger, seinem Volke für immer versunken. Er hatte scharf erkannten Verfallszeichen die Hoffnung, die Gewißheit entgegengehalten, daß jede ernste [648] Gefahr das "alte waffengewaltige Deutschland" bereit finden werde – nun war Deutschland entwaffnet. Er hatte in heißer Empfindung deutscher Not seinem Volke die Macht ersehnt, mit der allein es seinen Staat gründen und behaupten könne – eben daraus machte die feindliche Kriegspropaganda, die ihn als Verführer verschrie, sein Verbrechen.

Hatte er umsonst gelebt? Da erfüllte sich nach langer Not und Schmach die andere Hoffnung seiner letzten Rede: "neue Kräfte aus der Tiefe des Volkes" erhoben sich unter einem volksverbundenen Führer und begannen ihr Erneuerungswerk an einem todsiechen Volkskörper. In einem durch eine nationalsozialistische Revolution gereinigten und verjüngten Deutschland, das seine höchste politische Forderung, den einheitlichen deutschen Staat, verwirklicht hat, ist Heinrich von Treitschke zu neuer Wirkung berufen. Sie kann weder dem großen Kämpfer für Volk und Reich als persönlichem Vorbild schrankenloser Vaterlandsliebe noch dem Vermächtnis seines Werkes fehlen, und sie wird dauern, solange es eine bewußte Nation in Deutschland gibt.




Alphabetische Inhaltsübersicht
Alfred von Tirpitz Alfred von Tirpitz Alfred von Tirpitz alphabetische Inhaltsübersicht der Biographien Ludwig Uhland Ludwig Uhland Ludwig Uhland


Chronologische
Inhaltsübersicht
Adolf Lüderitz Adolf Lüderitz Adolf Lüderitz chronologische Inhaltsübersicht der Biographien Adolf Stöcker Adolf Stöcker Adolf Stöcker


Originalgetreue Inhaltsübersicht
Jakob Burckhardt Jakob Burckhardt Jakob Burckhardt Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Wilhelm Heinrich Riehl Wilhelm Heinrich Riehl Wilhelm Heinrich Riehl





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz