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[Bd. 3 S. 469]
Friedrich Hebbel, 1813-1863, von Wilhelm von Scholz

Friedrich Hebbel.
Friedrich Hebbel.
Gemälde von Karl Rahl 1855.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 352.]
Mein inneres Verhältnis zu Hebbel ist durch ein merkwürdiges Erlebnis gestaltet worden, das ich dem Leser vermitteln möchte.

Ein stiller alter Münchner Maler aus der Zeit Schwinds, ein kluger feiner Greis, dessen romantische, kunsterfüllte Welt aus dem Getriebe des Tages entschwunden und in eine ruhige, abseits gelegene Wohnung zurückgeglitten war, in die nur noch der befreundete Gast eintrat, hat mir von einer persönlichen Begegnung mit Hebbel erzählt, mir den großen Mann geschildert, der in München seinen Freund Dingelstedt besuchte, vielleicht zur Aufführung der "Agnes Bernauer" in der bayrischen Hauptstadt war.

Wir hatten erst beiläufig von Hebbel gesprochen. Der Alte hatte des hübschen, wenig bekannten Zuges gedacht, wie Hebbel bei einem Spaziergange in Wien auf dem anderen Fußsteig Grillparzer gehen sieht und mit leiser Ergriffenheit zu seiner Begleiterin Betty Paoli sagt: "Ein Unsterblicher!"

Dann kam der alte Mann auf die Begegnung selbst. Sehr unerwartet war der berühmte Dichter plötzlich in die Stube des Malers getreten.

"Ich war erfreut und erstaunt", erzählte der Alte, "als ich im Dunkel des Flures die hohe Gestalt des Dithmarschen mit der mächtigen Stirne erkannte, und mag sehr verlegen gewesen sein. Meine Verlegenheit schwand aber bald, als er ein paar Worte gesprochen hatte. Während er in dem Künstlerkreise, in dem ich ihn zuerst getroffen, sich unnahbar verschlossen und hoheitsvoll gezeigt hatte, war er jetzt harmlos-natürlich, ja fast ein wenig unbeholfen im Gespräch, schwieg mehrmals lächelnd und sah sich in meinem Zimmer um. Er betrachtete alles, was an Bildern und Zeichnungen herumhing, genau und schien bei manchem gezeichneten kleinen Auftritt in schaffendes Sinnen zu versinken. Ich glaube, daß er gar nicht darauf achtete, wie die Blätter gezeichnet waren, daß er nur irgendeinen dichterischen Sinn aus ihnen herauslas.

Im Basler Museum hängt ein allegorisches Figurenbild von mir: 'Der Dreißigjährige Krieg'; das hatte ich damals auf der Staffelei. Es beschäftigte ihn am längsten. Im Vordergrund – unterhalb einer Fürsten-, Staatsmänner- und Heerführergruppe, am Fuße der Stufen, welche die Gestaltenversammlung tragen – sitzen zwei sinnbildliche Wesen: die Pest und der Tod; und zwischen ihnen liegt ein schlummerndes Kind, die neue unschuldige Zukunft nach der Zeit der Greuel.

[470] Hebbel, dessen zärtliches Familiengefühl ja bekannt ist, sah immer auf das Kind zwischen den Unholden. Mir war, als trat eine Träne in sein Auge; mochte ihm seine Kindheit und Jugend vor der Seele stehen, mochte er an seine von ihm so sehr geliebte kleine Tochter denken?

Endlich wandte er sich mit ruhigem ernstem Blick zu mir: 'Hier haben Sie das tragische Gesetz der Welt dargestellt. Das schuldlose schlummernde Kind wird groß. Es wächst hinein zwischen die längst schuldigen Älteren, es wird im Umgange mit ihnen ebenso schuldig, es vergißt selbst den Schlummer seiner reinen göttlichen Herkunft. Es steigt auf zwischen die Greuel, die Sie da gemalt haben, zwischen Pest und Tod, und in den Kreis verschlagener, heimtückischer, unredlicher Machtmenschen, wie sie hier vor den rauchenden Trümmern stehen. Ihr Bild ergreift mich deshalb so sehr, weil es, damit diese Tragödie zustande kommt, nicht erst eines Dreißigjährigen Krieges bedarf.'

Sein Ausdruck wurde abwesend; es schien, als nähme er nun von der kurzen Unterhaltung so viel mit, daß ihm sein Besuch nicht unlohnend dünken mochte. Er schrieb sich etwas in sein Taschenbuch und fragte mich, ob ich abends wieder in dem Künstlerkreis sein würde, wo wir uns durch Dingelstedt kennengelernt hatten."

Viele Jahrzehnte lag diese Begegnung zurück. Aber der Alte erzählte mit dem Ton und der Gebärde der Nähe, so, als ob es gestern gewesen sein konnte. Und das war es für ihn auch. Es gibt eine Stufe hohen Alters, wo alles Gewesene fast gleichzeitig wird, wo dem Greise ununterscheidbar belanglos ist, wie weit etwas zurückliegt. Dieser Schauer des Gewesenseins, der von dem alten Manne ausströmte, ließ mich Halt suchend mich zurücklehnen und die Augen schließen.

Da sprach er noch von dem Ende des kurzen Besuches, das ihm großen Eindruck gemacht hatte und in dem Hebbels gelegentliches Berserkertum hervortrat – wenn nicht, was der Erzähler offenließ, Hebbel von seinem Freunde Dingelstedt eine gewisse ironische Art angenommen haben mochte, mit der er jüngere Bewunderer freundlich zum besten hatte, indem er seine bekannten Eigentümlichkeiten übertrieb. Hebbel sprach davon, wie sein Töchterchen sich an einer Stuhlkante eine Brausche geschlagen hatte, und fuhr aufspringend fort: "Sie begreifen doch, daß ich den Stuhl packte und in tausend Stücke zertrümmerte?!"

Der Erzähler, der mir schon vorher nachahmend und einprägsam die Gestalt und Gehabensart Hebbels geschildert hatte, nahm bei diesen Worten, wie ein Schauspieler, eine ihm fremde herrische, zornige Haltung und einen gebieterischen Gesichtsausdruck an. Seine Blicke funkelten. Lebendig, das fühlte ich, stand das Erinnerungsbild vor ihm, ja um ihn. Sein Auge, das in eine dämmerige Ecke des Zimmers, wie in die um vier oder fünf Jahrzehnte zurückliegende Zeit sah, riß die Vergangenheit heran.

Als unser Gespräch wieder ruhig und halblaut dahinfloß und mein nicht mehr gebannter Blick rings über die Möbel, die alten Zierstücke, Kränze und Becher, die goldgerahmten Aquarelle ritterlicher Szenen, dieses stille Zeitinnere aus den [471] vierziger und fünfziger Jahren hinglitt, hatte ich plötzlich das bestimmte Gefühl, ich sei eben für eine einzige Sekunde Hebbel begegnet. Das Erinnerungsbild Hebbels in der Seele des alten Künstlers, das im Zimmer neben mir gestanden hatte, hatte sich mir blitzschnell mit Abbildungen, die ich kannte, und mit der Gedankengestalt des Mannes verbunden und war nun so stark geworden, daß ich es jetzt, wo es aus dem Zimmer geschwunden war, nicht anders vor mir sah als wie einen eben hinausgegangenen wirklichen Menschen.


Immer wenn ich mir Leben und Persönlichkeit, Werk und Wesen Hebbels klarzumachen suche, steht diese Begegnung mit seinem Schatten vor mir und gibt allem Wissen von ihm unmittelbare Nähe und Gegenwart.

Es war dem Manne anzumerken gewesen, daß eine schwere, schwerste Jugend und Jahre eines mühseligen, sorgenerfüllten, gedemütigten Manneslebens hinter ihm lagen. Trotz und Bitterkeit saßen bei ihm nicht tief unter der Oberfläche. Stolz auf seinen noch sehr umstrittenen Ruhm war an ihm sichtbar; ja die fast ein wenig lächerliche Eitelkeit, mit der ihn fürstliche Bekanntschaften und Ehrungen beglückten, blieb nicht verborgen. Der "Frédéric Hebbel, Chevalier de plusieurs ordres" von seiner Pariser Visitenkarte war ebenso da wie der herumgestoßene arme Dorfjunge und Maurersohn, der Gabenempfänger unsympathischer Wohltäter, die er im Grunde des Herzens haßte, der Stipendiat, der Mann, der erst von der Näharbeit einer armen Geliebten, dann vom Gehalt der Gattin und Schauspielerin mitlebte.

Seine Erscheinung wie sein immer fesselndes, mit harten grüblerischen Gedanken ins Absolute flüchtendes Gespräch – als habe es da eine Zuflucht vor der Wirklichkeit gedrückten Daseins und finde nur dort den Boden, auf dem er gleichberechtigt neben den glücklicheren Männern seines Ranges stand, die er sonst durch eine Kluft von sich getrennt sah – nötigen, sich das Leben zu vergegenwärtigen, das ihn gestaltet und gemodelt hatte.


Auch in einem anderen bedeutsameren Augenblick dieses Lebens möchte ich Hebbel dem Leser nahebringen. Das gerade, was Hebbel, ein zeitloser Dichter wie nur einer, am tiefsten überwand, die Zeit, soll mir dazu helfen.

Noch sind an manchen unserer Häuser die Kugelspuren aus den Revolutionstagen zu sehen. Und wir alle, denen Revolution, Straßenkämpfe, innere gewaltsame Umwälzungen bis zum Jahre 1918 ein ferner geschichtlicher Begriff waren, haben diese Dinge nun für alle Zeit in unserer Anschauung. Das Jahr 1848 hat durch unsere damaligen politischen Erlebnisse für uns Farbe, Gefühlsnähe, innere und äußere Vorstellbarkeit gewonnen. Wir wissen wieder, wie den Menschen in Kriegs- und Umsturzzeiten zumute ist.

[472] Da steht aus den Wiener Schreckenstagen von 1848 ein großes, einprägsames Bild vor uns: Hebbel, der nach dem ersten raschen Aufflammen seiner politischen Leidenschaft von den dem Dichter fremden Chaos- und Zeitmächten wieder ins Ewige, in seine Seele zurückgestoßen war, in der allein sein Lebensrecht lag – Hebbel geht während der Einnahme Wiens durch die kaiserlichen Truppen im November des schlimmen Jahres unter dem Geschützdonner und nicht einmal ungefährdet versunkenen Blickes einsam durch die Gassen und dichtet die gewaltigste Szene seines Herodes-Dramas, den Todesdialog zwischen dem Römer Titus und der königlichen Ebräerin Mariamne, dichtet einen Auftritt, in dem sich die Strahlen ganzer Kulturen, ganzer Jahrtausende brechen, in dem Judäa und Rom, der Untergang der antiken Welt und das erste Ahnen des Christentums durch die Luft schüttern. Kommt vom Spaziergang heim in seine bürgerliche Wohnung und schreibt unsterbliche Verse hin, während in die nach der erloschenen Aufregung dumpfe Stadt die kaiserlichen Truppen ihren Einzug halten.

Das ist Hebbel, ein Dichter, ein Mann, dessen Bild in unserem Innern nicht den von den Denkmälern gewohnten Faltenwurf ferner klassischer Gewandung trägt, sondern einen bürgerlichen Rock fast schon vom nüchternen Schnitte des unseren; der uns in seinem Familienleben, seinem bescheidenen städtischen Haushalt in einer Stockwerkwohnung, seinen sinnenden, einsamen Wegen durch abendlich dämmernde Straßen nahe und verwandte Mann – der doch ein großer Dichter ist und weit außerhalb seines rasch verfliegenden Menschenlebens um die Säulensockel der Kulturen, um die Wurzeln der Menschheitsepochen dichtet.

Das ist es, weshalb ich dies Bild in die Seele des Lesers prägen möchte: weil in einer ringenden Gegenwart doppelt not und wohltut, einmal statt an das Jahr und das Jahrzehnt an das Jahrtausend zu denken. Ich möchte das Bild des Mannes, der in erregtester, kämpfereichster Gegenwart des Jahrtausends zu denken, im Jahrtausend zu leben vermag, hinstellen, weil das das tiefste Wesen des deutschen Geistes ist. Es ist noch nicht allzu lange her, daß sich in uns wieder ein Gefühl dafür entwickelt, was wir Deutsche in der Zeit und auf der Erde sind. Aber was wir über der Zeit, was wir als Geist sind, das haben wir nie aus dem Gefühl verloren, auch in den bittersten Jahren nicht; das brauchen wir nur einmal an einem unserer Männer zu sehen und zu erleben, um es wie freien Flügelschlag in der Seele zu spüren, den keine Feindesgewalt je in Fesseln schlug oder schlagen wird.

Seit ich damals Hebbel in der stillen Stube des alten Malers begegnete, mir seine große Gestalt, sein Temperament mit den jähen Antrieben, seine ganze Person mit der unbeholfenen, fast linkischen Diesseitigkeit im Körper und der weltweiten Jenseitigkeit in Auge, Stimme und dem daraus sprechenden Geist für immer einprägte, glaube ich ihn noch nie so verstanden zu haben wie nach unserer Niederlage im Kriege. Da wurde von den täglich erneuten Hammerschlägen auf unser Diesseits der Lebensmittelpunkt in uns aus allem Irdischen [473] immer mehr ins körperlos Geistige hineingetrieben, daß wir es plötzlich verstanden, was es heißt: "nicht von dieser Welt sein", daß wir es durch Eingebung verstanden, wie der deutsche Geist mitten in Sturm und Not der Zeit, bedürfnislos und entrückt am Ewigen bauen kann. Wir erfaßten, daß es nicht eine Flucht aus der unfrohen Wirklichkeit ist, wenn der Geist sich schaffend abkehrt vom wirren Tage und im Jahrtausend lebt, sondern daß er damit aus tiefstem Instinkt heraus für die Gesamtheit seines Volkes, vielleicht der Menschheit, neuen Halt, neuen Grundbau schafft, der dereinst auch wieder Leben von dieser Welt, Leben des Diesseits tragen wird. Das lehrt uns der Hebbel, der im Geschützdonner der Revolution sinnenden Blickes durch die Gassen geht und sein Werk schafft.


Friedrich Hebbel stammte aus geringen Verhältnissen. In dem kleinen schleswig-holsteinischen Dorf Wesselburen – das nicht weit südlich der

Stube in Hebbels Geburtshaus in Wesselburen.
[472b]   Stube in Hebbels Geburtshaus in Wesselburen,
jetzt Hebbel-Museum.

[Bildquelle: Transocean, Berlin.]
Eidermündung in die Nordsee, nahe bei den größeren Orten Heide und Meldorf und kaum eine Meile von der Meeresküste entfernt liegt – wurde er am 18. März 1813 als Sohn eines armen Maurers und dänischen Untertans geboren.

Wir haben, wenn diese Tatsache rasch durch unsere Gedanken geht, noch kein Gefühl davon, was sie bedeutet, was es heißt, aus der geistigen Enge dieser Umwelt Schritt für Schritt sich bis dahin durchringen zu müssen, wo Hebbel schließlich stand. Und doch ist dadurch, durch dieses Ringenmüssen, seine Persönlichkeit entwickelt, ja geradezu geschaffen worden.

Seine Kindheit und Jugend wären die durch seine ärmliche Herkunft gegebenen gewesen, wenn nicht das werdende Genie in ihm, der Dichter, den lange als einziges Buch die Bibel befruchtete, und das Drängen des fern den Zeitwind spürenden Geistes ihn tief beunruhigt und nach Anschluß an größere Lebenskreise hätten suchen lassen. Um dieser Züge willen mußte er jahrelang verbittert Demütigungen durch hochmütig erwiesenes Wohltun auf sich nehmen und Unklarheiten seiner Lage ertragen, die dem armen Maurersohn sonst erspart geblieben wären. Immerhin: er fand die Wege und Möglichkeiten, aus der Enge seiner Ursprungsumgebung fortzukommen und unter ständigen Entbehrungen mit eiserner Energie sowohl Studium und Bildung wie auch vor allem eine, wenn auch immer wieder eingeengte und bedrohte, Schaffensfreiheit für sein Dichtertum zu erreichen.

Wir müssen, wenn wir die Bedeutung dieses Lebenskampfes richtig einschätzen wollen, auch daran denken, daß in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts der Verkehr noch nicht wie heute überallhin geistige Brücken geschlagen hatte, daß namentlich auf dem Lande damals das Leben fern, ohne Verbindungen, abgeschlossen hinfloß. Außer einer Reihe von glücklichen Zufällen war eine Grundkraft der Persönlichkeit nötig, damit ein Mensch von dort den Weg in die breite Helle der Epoche, aus der Weltabgeschiedenheit des entlegenen Erdenwinkels [474] zu dem Erleben, zu den geistigen Quellen und Vorbildern, zu den Daseinsbedingungen fand, welche die Schöpfung großer dramatischer Dichtungen ermöglichten. Es ist ferner sicher, daß eine Persönlichkeit, der dieser schwere Kampf gelang, von ihm ihre wesentlichsten Züge erhalten mußte.

Auch dort im Volke, wo noch keine Bildung hindringen konnte, wo der Geist sich noch nicht aus Dumpfheit befreite, werden oft starke dichterische Begabungen geboren, die verborgen, ja ihrer selbst unbewußt bleiben, die nie zur Entwicklung ihres Talentes kommen, und von denen etwa ein namenloses Volkslied, ein tiefsinniges, wie zufällig gefundenes Märchen, eine seltsame Ortssage allein Kunde geben.

Hebbels Los hätte das eines solchen in seiner Gesellschaftsschicht verborgen bleibenden Dichters, der seine Kraft nicht kennenlernt und, ohne es selbst zu ahnen, nur ein unbekanntes Stück unserer Dichtung ist – Hebbels Los hätte das nie sein können. Allzu früh wird er sich seines starken Geistes, seiner dichterischen Kraft bewußt, als daß er beruhigt in den Verhältnissen hätte bleiben können, denen er entstammte. Er hat fast als Kind schon seinen ganzen Willen darauf gerichtet, aus der Enge hinaus dahin zu gelangen, wo das geistige Ringen der Zeit geschah, und daran bedeutsam mitzuwirken. Er fühlte sich, mit der irrtumlosen Sicherheit des Genies, berufen. Er wäre zerbrochen, zugrunde gegangen – mehrmals schien das nahe –, wenn ihm das Geschick nicht aufwärtsgeholfen hätte. Aber er hätte sich nie beschieden.

Dieser harte, zähe Wille, diese fast freudlose Energie, das klare Bewußtsein einer Aufgabe und das dunkel drängende Gefühl von einem Ziel, das sind die Wesenszüge des friesischen Maurersohnes, deren sein Leben am meisten bedurfte und die deshalb sich am ausgeprägtesten entwickeln. Was war das Ergebnis seiner Energie? Sie erzwang ihm unter schwersten Entbehrungen eine geachtete und befehdete literarische Stellung, die ihn mit den höchsten Kreisen in Verbindung brachte, und die Schaffensfreiheit für sein Lebenswerk. Seine bescheidene bürgerliche Existenz aber mußte er bis an sein Ende Wohltätern, der Freundschaft und der Liebe danken, die den großen verkannten Mann schirmten und schützten.

Innenseite von Hebbels Brieftasche.
[475]      Innenseite von Hebbels Brieftasche mit Stickerei
seiner Jugendfreundin Elise Lensing, 1840.
Kiel, Hebbel-Museum.

[Bildquelle: Grete Schmedes, Berlin.]
In Hamburg, wohin sich ihm der Weg vom einsamen Land zuerst öffnete, war seine Schirmerin zuerst eine mäßige Schriftstellerin Amalie Schoppe, dann die arme Elise Lensing; in Wien seine spätere Gattin, die Schauspielerin Christine Enghaus.

Hamburg ist nicht nur die erste Station seines schweren Lebensweges; mehrmals kehrt Hebbel nach Hamburg, wo er als Dichter eigentlich begonnen hatte, wie zu seinem Wurzelgrund zurück, bis im Dezember 1845 Wien sein endgültiger Wohnsitz wird. Dort ist er am 13. Dezember 1863 gestorben.

Man kann Hebbels Leben in die zwei Epochen Hamburg und Wien einteilen. Während aber der Wiener Abschnitt nur noch durch einzelne Reisen unterbrochen wird, sind in den unter "Hamburg" zusammenzufassenden Lebensteil wichtige, [475] einmal sogar mehrjährige auswärtige Zeiten eingesprengt: Studiensemester in Heidelberg (1836) und München (1836–1839); Studienaufenthalte im höheren Sinne seines dichterischen Berufs in Kopenhagen (1842–1843), Paris (1843 bis 1844) und Rom (1845).

Fast läßt sich sagen, daß Hebbels Sichgestalten, Sichdurchringen zu sich selbst an jener Wende, wo der Schwerpunkt seines Daseins von Hamburg nach Wien rückt, beendet ist und nun die Zeit seiner Reife und des Schaffens auf erreichter Höhe für ihn beginnt. Vor 1845 liegen von den wesentlichen Werken: "Judith", "Genovefa", "Maria Magdalena"; nach 1845: "Herodes und Mariamne", "Agnes Bernauer", "Gyges und sein Ring", "Die Nibelungen", "Demetrius". Hebbels 1846 geschlossene Ehe mit Christine Enghaus bezeichnet noch einmal und gewichtiger die endgültige Wendung in Hebbels Leben.

Ausschnitt aus Hebbels Tagebuch.
[477]    Ausschnitt aus Hebbels Tagebuch vom 30. Juni 1846 mit dem Namenszug seiner Frau.
Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv.

Wenn man die Urkunden, seine Briefe und Tagebücher, die Berichte und Aufzeichnungen seiner Zeitgenossen sich ihrem Gesamteindruck nach vergegenwärtigt, so erkennt man, daß zähe, selten von einem Glück gemilderte Energie den Dichter in fortwährender, fast krampfhafter Anspannung hält – aus der sein Wesen manchmal in einen düsteren, unergründlichen, verzweiflungsvollen Schmerz hinabsinkt. Seltener löst sie sich friedlich: dann erscheint der Hartringende plötzlich entweder in ein Kind verwandelt, das in die Welt staunt, oder – so in seinem innigen verstehenden Verhältnis zu Tieren – in einen gütigen liebenden Weisen. In seiner späteren, mehr vom Glück begünstigten Zeit werden diese Augenblicke häufiger. In seiner Dichtung aber haben solche Befreiungen und Lösungen der Spannung sicher immer das Schönste gezeugt. Die wundervollen Heidelberger Dämmerungs- und Nachtlieder sind daraus entsprungen und manche einzelne Schönheit in seinen Dramen; so vielleicht die tiefe Antwort auf des Holofernes Frage an Judith: was Sünde sei! Hebbel läßt Judith dem Könige sagen: "Ein Kind hat mich einmal dasselbe gefragt. Dies Kind habe ich geküßt. Was ich dir antworten soll, weiß ich nicht."

Hebbel war ein problematischer Geist voller Mißklänge, Zerrissenheiten, Zweifel – aber im Grunde ein unverworrener, einfach fester Charakter, der sich [476] durch einen hauptsächlichen Zug kennzeichnet, eben den geradlinigen zähen Willen, der auch bei den schweren Zerwürfnissen im Verstande oder im Gefühl Hebbels nie weit von seinem vorgefaßten Wege abgelenkt wurde. Schließlich durchdrang dieser Willensgrund immer wieder Hebbels Geist und gab seinen Gestalten sowohl die schonungslose Folgerichtigkeit des Denkers wie das unbeirrte klare Handeln des Politikers.

Unbändig, trotzig war die Bauernnatur Hebbels. Aber ein noch Stärkerer hat sie gebändigt und ihr Leben lang sich dienstbar gemacht: der schöpferische Geist dieses Mannes, der Geist, der sie hinaustrieb, ihm in der Welt eine Stätte zu bereiten, der aber auch wie ein Wirbel alle Kräfte seiner menschlichen Natur in sich hineinriß und zu innerer Anschauung umwandelte.

Die Bedeutsamkeit eines Charakters bemißt sich nach den Leidenschaften, die in ihm sind, nach dem Ausgleich, den sie untereinander finden, den Zwecken, denen sie dienen. In Hebbel waren viele Leidenschaften. Aber sie sind noch nicht zerlegt, nicht getrennt, nur erst ein unbestimmter, dunkel irgendwie auf das Lebensganze gerichteter Drang. Da lernte Hebbel mit der Bibel die ersten Gedichte und Geschichten kennen – sie und die spärlichen anderen Anregungen aus der Dichtung, die um 1825 zu einem Maurerssohn in ein entlegenes Dorf gelangten, genügten schon, in der genialen Bewußtheit des armen Knaben das Zielbild seines Lebens entstehen zu lassen: ein großer Dichter zu werden. Sogleich vollzieht sich die Unterordnung aller noch unentwickelten Leidenschaften und Kräfte in dem jungen Hebbel unter diese als Dichtung begriffene Leidenschaft zum Lebensganzen. Alle einzelnen Triebe, die ohne diesen Mittelwillen den Menschen Hebbel nach vielen Seiten gerissen hätten, werden geistig, entkörpern sich zu innerer Gestalt und dichterischem Bild: sein Ehrgeiz und Machtdurst wird Holofernes, seine Wollust Golo, sein Haß ist wie eine Drachensaat, aus der die Nibelungenrecken aufsteigen.

So wird der Künstler in Hebbel. Mit all ihren Fähigkeiten tritt seine Natur in den Geist, in die Anschauung hinüber; es bleibt von ihr nichts im Reich der gegenständlichen Wirklichkeit, des äußeren Lebens, als jene große wirkende Willenskraft, die dem Geiste den Weg zur Schaffung seines Werkes ebnet, alle Hindernisse hinwegräumt, ihm die Quellen und Zuflüsse des Lebens erzwingt.

Wie war nun der Geist beschaffen, der einen Menschen sich so dienstbar machte? Wir wissen aus Hebbels Tagebüchern, welche Erregungen aus dem Leben sein Geist aufnahm, welche Seite der Dinge ihm wichtig war, mit welcher Art von Vorstellungen und Gedanken er spielte. Da zeigt sich denn, daß ihm zu den Vorstellungen stets seltsame Beziehungen und Fortführungen auftauchen, oft spinnige Fragen und Möglichkeiten, wie etwa die: ob wohl ein Mensch, der sich die Pulsader geöffnet hat, in seinem eigenen Blut auch noch ertrinken könne, und ähnliches. Aber solche Spitzfindigkeiten, die fast an mittelalterliche Scholastik erinnern, sind schließlich doch nur eine Auswirkung desselben schaffenden Grundtriebs in diesem Geiste, der große tragische Schicksale dem Unbewußten entringt.

[477] Hebbel ersinnt unwillkürlich zu jedem Einfall, zu jeder Vorstellung einen starken in ihr liegenden oder aus ihr zu entwickelnden Gegensatz, der von ihr fortführt und doch durch seine Gedankennähe immer wieder zu ihr zurückstrebt. Sowie ein solcher Gegensatz aufgetaucht ist, ist die erste Vorstellung fruchtbar geworden: die Gegensätze werden ein Konflikt, bilden eine Handlung, verkörpern sich in Menschen. Es ist der klarste Ausdruck für diesen Grundzug des Hebbelschen Geistes, wenn er den furchtbaren Gegensatz findet, wie eine Mutter über den gewaltsamen Tod ihres Kindes jubeln kann. In einem Bruchstück steht dieser ungeheuerliche Gestaltungsgedanke: Der kleine Jesus ist krank, und seine Mutter Maria fürchtet schon, daß er stirbt. Da zeigt ihr eine Vision das Kind am Kreuz – und sie ruft freudig, indem sie in diesem Bilde zunächst nur das eine empfindet, daß Jesus jetzt noch nicht stirbt: "Man schlägt keine Kinder ans Kreuz. Noch lange Jahre hab' ich ihn!"

Das ist in seiner Gegensatz-Prägung ein Epigramm. Solches Erfassen eines dramatischen Stoffes in einer zugrunde liegenden und durch alle Ausgestaltung [478] hindurch wirkenden, fast polischen Abstoßung, solches schon gedanklich und gefühlsmäßig, nicht erst im irdischen Vorkommen des Stoffes gegebenen Gegensatzes ist etwas der Art nach Neues gegenüber den früheren Dichtern, den Schiller, Goethe, Shakespeare. Die Idee der Tragödie, so sagt der Theoretiker Hebbel, verlangt es, daß dieselbe Sache sowohl als segnende Sonne wie als zerstörender Komet wirke; dann erst kann das Kunstwerk der Notwendigkeit entstehen, das über die früheren hinausgeht. Die Grundsituation, auf die sich das Drama aufbaut, muß der Zufälligkeiten entkleidet, auf die formelhafte Kürze eines reinen Gegensatzes gebracht werden, damit das Drama, das erwächst, ausweglose Notwendigkeit werde. Wenn man mit der einfachen Anfangslage eines Hebbelschen Dramas etwa die Voraussetzung eines Shakespeareschen Lustspiels vergleicht, in seiner fast wahllosen Zusammenmengung von Fabelmotiven, so fühlt man sofort den in diesem Hebbelschen Grundwollen richtigen Instinkt. Welches Werk läßt sich zwischen den Kreuzestod, der als Erscheinung Glück und Beruhigung der Maria bereitet, und den wirklichen, der die Schwerter des Schmerzes in die Brust der Mutter stößt, hineindichten! Hebbel hat sich aber, außer in der "Judith", nachher stets dazu verführen lassen, die reine kristallische Ausformung seiner Gebilde nicht abzuwarten, sondern sie durch Grübeln vorwegzunehmen und zu trüben.

Hebbels schöpferische Gedanken sind schlagend bildhaft und sind erschütternd. Vielleicht hat sein großer lebendiger Verstand, der allerdings immer bald nach dem Beginn jeden geistigen Vorgang in volle Bewußtseinshelle riß, den Blick Hebbels sich nicht lange genug an der Illusion, dem schönen trügerischen Schein des Lebens freuen lassen und ihn zu rasch in alle Tiefen und Abgründe gesandt. Wir sind von der größten Kunst, von Shakespeare, Homer, Dante gewohnt, daß das Auge des Dichters nicht minder liebevoll auf den bunten Gewanden des Daseins ruht als auf dem tragischen Kern der Dinge, den sie verhüllen. Vor Hebbels durchdringendem sengendem Blick zerfallen die Illusionen zu rasch. Er sagt selbst einmal, daß er die Blumen auf der Erde nicht mehr sehe, weil er immer die Toten unter ihr sehen müsse.

Das liegt wohl zum Teil in Hebbels Zeitlage begründet, in der seinem Leben kurz vorhergegangenen Hochblüte der deutschen Dichtung. Für den großen starken selbständigen Geist tritt, wenn er durch den Zufall seiner Geburt an eine nicht zu überbietende Höhezeit ansetzt, geradezu der Zwang zum Abwege ein. Auf die Klassik der Hochrenaissance folgt als Rettung aller schöpferischen Kräfte, die nicht bloß nachahmen wollen, das Barock. Ein witziger neuer Kritiker hat die Parricida-Szene im "Tell" Hebbels frühestes Werk genannt. In ihr ist Schillers einziges Augenmerk, die Tat seines Helden zu rechtfertigen (der bekannte Schulaufsatz "War Tell ein Mörder?"). Bei Hebbel wird das, was hier Zufall und nicht viel mehr als eine Not am Stoffe ist, fast zum künstlerischen Grundtrieb. Ihn lockt nicht mehr nur die einfache Darstellung einer Tat, eines Geschehnisses, so wie er [479] sie sieht, sondern – das Fremdwort ist unvermeidlich – die dialektische Debatte der in der Tat liegenden Ideen; sozusagen: die Betätigung des Absoluten in ihr. In die Debatte über die Idee gießt er seinen bewußten Schöpferwillen. Er zerstört dabei sehr oft mit Verstandesvorgängen die unbewußte Ausformung des künstlerischen Kristalls. Er öffnet aber – als ein Nebenergebnis seines Tuns – auch einen Weg in die Zukunft: seine dialektisch-ethische Einstellung zwingt ihn, tiefer hineinzuleuchten in die seelische Verflechtung, das Gewebe der Antriebe deutlicher ans Licht zu holen, so daß man die feinsten Verästelungen sieht. Damit hat er dem Drama, das sich von dem Kampfe roher Kräfte immer mehr ins Unkörperliche gewandt hat, eine neue Stufe zum Hinabsteigen in die Seele gezeigt.

Szenenbild aus Hebbels ‘'Nibelungen'‘.
[472b]      Szenenbild aus Hebbels "Nibelungen"
in der Weimarer Uraufführung von 1861 (Schlußszene des 2. Teils).
Holzschnitt aus der "Leipziger Illustrirten Zeitung".

Wenn wir uns den Gesamteindruck seines Werkes vergegenwärtigen, so erkennen wir: er ist fester, ruhiger und weniger ursprünglich als Kleist; nüchterner, aber auch wirklicher als Schiller, dessen "Wallenstein" und "Tell" als Summe er nicht erreicht, den er als Zielwanderer aber so weit hinter sich läßt, wie er ihm als Vollender nachsteht. Bei fast gleicher Gestaltenstrenge ist er lebensvoller als die Griechen, die das tragische Problem zwar nicht so tief sehen wie er, es aber – im Gegensatz zu seinem 'Debattieren der Idee' – rein aus sich mit anschaulicher Logik zum ergreifenden Ende führen. Er ist den Griechen um so viel als Szeniker überlegen, wie sie es ihm als Dramatiker sind und wie ihm wieder Shakespeare als Szeniker überlegen ist.

Friedrich Hebbel.
[472a]      Friedrich Hebbel.
Photographie, um 1860.
Es kann nicht wundernehmen, daß dieser Grübler, dem kraft des Formgesetzes in seiner Persönlichkeit alles Erleben zu tragischer Erkenntnis wurde, der wahrscheinlich tiefer an die Wurzel der Tragik tastete als irgendein Dichter vor ihm, zu der Überzeugung gelangte, daß Shakespeare überwunden werden müsse. Hätte Hebbel, nicht verlockt von seinem gedanklichen Triebe zum Erklären und Rechtfertigen, das organisch-dramatische Zuendedenken des Problems der Griechen, soweit es in ihm lag, betätigt – er wäre mit seinen Stoffen, seinen Erschauungen auch ohne größeren Gestaltenreichtum und ohne größere Fülle naiven sprudelnden Lebens ein gefährlicher Nebenbuhler des dramatisch-tragischen Fabulierers Shakespeare geworden. Ohne damit natürlich den Lebensschöpfer Shakespeare, das eigentliche Weltwunder, zu erreichen.

Wir müssen Hebbels Bedeutung daran messen: es läßt sich von ihm aus zum erstenmal ein Weg sehen, auf dem Shakespeare überholt werden kann.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz