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[Bd. 5 S. 326]
Theodor Mommsen, 1817-1903, von Wilhelm Weber

Theodor Mommsen.
Theodor Mommsen.
Gemälde von Ludwig Knaus, 1881.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 385.]
Wenige unter den Millionen Berlins kennen noch die zarte Gestalt eines Alten mit Brille und buschigen Silberlocken, im Mantel und Schlapphut, der oft in einen Folianten vertieft auf der Charlottenburger Pferdebahn bis zur Marchstraße fuhr, um dann eiligen Schritts in einem Hause zu verschwinden. Er schien das Urbild des Professors zu sein, der in den Karikaturen des endenden neunzehnten Jahrhunderts tausendfältig verspottet wurde. Auch über ihn ging eine Fülle von reizenden Witzen, neckischen Geschichtchen von Mund zu Mund. Aber keiner der scherzlustigen Gehetzten wagte, den in sein Werk Versunkenen zu stören. Ein Blick aus dem aufblitzenden Auge, das streng und gütig jeden durchdrang, ein schlagfertig-bissiges Wort hätten genügt, um Abstand zu schaffen zu dem Herrscher im Reich der Wissenschaft, der so schlicht dasaß, nicht ruhen konnte, rastlos noch wirkte, wo andere in gleich hohem Alter wohlbehütet, rückschauend aufdämmernder Gedanken, harten Ringens, erfüllten Werkes sich erfreuten; der immer einsamer werdend, seinen Willen immer energischer spannte, um, was er plante, zu vollenden, ehe es zu spät war; der fast als letzter seiner Altersgenossen die Schwelle des neuen Jahrhunderts noch überschritt; den der Tod am 1. November 1903 von der nahezu abgeschlossenen Arbeit sanft in sein Reich hinwegführte und den Berlin und Deutschland, Rom und Italien, die internationale Gelehrtenwelt betrauerten, weil er "als hingehendster Diener der Wissenschaft wert war, ihren Königen beigezählt zu werden". Fast drei Generationen umspannte das Leben dieses Mannes. Alles, was seit dem Sturz Napoleons in Deutschland, in Westeuropa, in Italien wurde, erlebte er voll glühender Leidenschaft mit; für Befreiung der Wissenschaft, der er sich schenkte, aus alten Banden, für Freiheit der Heimat und alles persönlichen Lebens, für ein freies, einheitliches, einiges Deutschland kämpfte mit hinreißenden, oft heftigen Worten der junge Revolutionär, der fleißigste Arbeiter eines stürmisch vorwärts drängenden Jahrhunderts errichtete den breiten und stolzen Bau seines Lebenswerks, und noch der Greis hörte nicht auf, sich um sein Deutschland zu sorgen. Dieser Mann, der sich durch die Freuden und Leiden der Erinnerung in seinem Wollen und Streben nicht zu oft unterbrechen und beirren lassen wollte, sondern mit strenger Selbstzucht seinem Ziel zuwanderte, war Theodor Mommsen.

Am 30. November 1817, bald nach der Dreihundertjahrfeier der Reformation, wurde Mommsen als erstes von fünf Kindern eines Pfarrhauses in Garding im [327] schleswigschen Eiderstedt geboren. Das friesische Blut des Vaters, das niedersächsische der Mutter bestimmten das Erscheinungsbild des Sohns, das, Zusammenklang nordischen und fälischen Erbes, in langen Jahrzehnten zur unvergeßbaren Einmaligkeit und zum Typus wuchs: das ragende Gerüst des schmalen Schädels mit seiner gewaltigen Stirn, den scharf gekanteten, flachen Augenbogen, der starken Nase, dem breiten, waagerechten Mund und spitzen Kinn, dieses harte Gesicht, das früh zerfaltet, spät völlig zerklüftet ist, und aus dem allezeit die Augen drohend und gütig leuchten, der zarte, immer gesunde Körper, schmächtig, doch voll zäher Kraft, die gereift sechzehn Kinder zeugen wird; aus ihnen scheint alle blühende Fülle von den Kräften des Inneren aufgesogen, damit das spannungsreiche Wesen, der ruhlos sinnende Geist sich ungehemmt zu stetem Wirken und eruptiver Schöpfung entfalten können.

Dieses Wesen und sein Denken wurden durch alles geformt, was in drei Jahren der ersten Kindheit im Marschland, in vierzehn weiteren im holsteinischen Oldesloe, wohin der Vater versetzt wurde, aus der Erziehung der verständigen Mutter, dem liebevollen Unterricht des vielseitig gebildeten Vaters, aus dem Leben des stolzen, freiheitsliebenden Bauerntums in der urgermanischen Landschaft ihm zuströmte. Der Geist selbst besinnlich-trotziger Freiheit stand an seiner Wiege, während in deutschen Landen die Freiheitsliebenden mit der Reaktion rangen. Das humanistische Ideal und protestantischer Glaube leuchteten auf den Wegen des ersten Unterrichts. Goethe starb, als er fünfzehn Jahre wurde, und Ranke und Moltke reiften zu Männern. Mit ihm wuchsen, ein paar Jahre älter als er, die Historiker Gervinus und Droysen, Duncker und Waitz, Zeller und Giesebrecht, Curtius und Gustav Freytag; die Dichter Mörike und Stifter, Freiligrath, Hebbel und Geibel; der Musiker Richard Wagner; die Physiker Bunsen und Mayer, die Unternehmer Krupp und Siemens; der Vater des Marxismus und der Staatsmann Bismarck; und als Gleichaltrige Sybel und Jacob Burckhardt, Lotze und Storm, und die wenig Jüngeren Klaus Groth und Gottfried Keller, aber auch Engels, das zweite Haupt des Marxismus, einer neuen Zeit entgegen, um in ihr zu unendlicher Vielfalt ihr Werk zu schaffen: Sie alle mit ihm und die zahllosen anderen gingen dem Jahrhundert deutschen Schicksals entgegen, in dem die Verklärung der Antike durch den Klassizismus, des Mittelalters durch die Romantik von neuen Lebensmächten und Idealen verdrängt wird, eine junge Dichtung leben und die Geschichtsforschung kritisch denken und in alle Fernen des Raums und der Zeit vordringen will, Naturwissenschaften und Technik sich gewaltig entfalten, Industrie, Handel, Kapitalismus, weltweite Organisationen jäh aufschießen und sich alles revolutionierend ausbreiten, Liberale und Demokraten gegen Konservative ringen, Klerikale sich wehren und wühlen, der vierte Stand im Marxismus seine erschütternde Ordnung erhält, Bismarck das ersehnte Reich gründet und führt, das bald von allen umstürmt wird.

[328] Mommsen, das "Kraftgenie", das die Selektaner des Gymnasiums in Altona schon erkannten, wo er zuletzt dreieinhalb Jahre lernte, wird den meisten jener Männer begegnen; er wird an vielen überlegen, unberührt vorbeigehen, über den "Dithmarschener Bauernjungen" Hebbel hart urteilen, den Husumer Storm lieben, Wagner ablehnen, Marx bekämpfen, Bismarck hassen; er wird, im Grund seines Wesens ein anderer, vom Thüringer Ranke sich immer distanzieren, aber dem neunzigjährigen Moltke, dem mit seiner Heimat Vertrauten, dem "edlen deutschen Mann, dessen langes Leben ein langer Segen für unser Volk gewesen ist", wird dereinst der Dreiundsiebzigjährige im Namen der Preußischen Akademie huldigen. Aber schon der Zwanzigjährige, der Goethe in sich aufnahm, über Kants Gedanken den Kinderglauben verlor und bis zur Verzweiflung kritisch sich gegen jede Art von "Vorsehung" aufbäumte, forderte im Namen des Liberalismus, der "sich immer weiter in den Gemütern der Menschen ausbreitet", für die junge Dichtergeneration Freiheit und Gefolgschaft. Er wollte selbst "wissen und handeln, erkennen und wirken", Selbstkritik nie entbehren, aber immer zum Ganzen streben und lieber einmal "seine Begeisterung falsch richten, als sie ganz aufopfern".

Der Wachgewordene hielt Genies für "notwendige Übel", höchstens für Apostel des Zeitgeistes, die "die Zeitbedürfnisse erlauschen, das Künftige ahnen und ins Leben rufen". In ihm paarten sich nun die ausgreifende Leidenschaft und die kritisch-praktische Nüchternheit, die Grundkräfte seines ererbten Wesens, zur kühnen Eroberung und sorgsamen Gestaltung seiner geistigen Welt und Arbeit; der Abiturient wählte das Studium der Rechte, aber die Phantasie des humanistisch Erzogenen erspähte über alle Nähe und Gegenwart hinausschweifend den fernen Süden, das alte Rom, den Horizont, der später alles einschließen wird, was je in ihm von germanischen Kräften erreicht und durchwirkt worden ist.

Im Frühling 1838 wurde Mommsen Student der Rechte in Kiel, im Herbst 1843 war er Doktor. Aus den Institutionen und den Pandekten waren ihm der "formlose Stoff" und der "wunderbare Geist" des Römischen Rechts aufgegangen. Am juristischen Denken hatte er sich zum Forscher erzogen. Sein kritischer Trieb hatte ihn zu den alten Sprachen, der Philologie, den römischen Altertümern und Urkunden geführt, seine Leidenschaft und sein Wille zum Ganzen ihn in die politische Sphäre, auf die Geschichte gewiesen. Niebuhrs "Konstruktion" der römischen Frühgeschichte stand vor ihm. Savignys Rechtsauffassung trat ihm entgegen. Ranke, der Napoleons Tat und Sturz als Jüngling erlebt hatte, in Goethes geistiger Welt erwachsen war, die Gelegenheit der Öffnung der Archive zur "Kritik" der Geschichtsschreiber wahrgenommen hatte, wies in seinen Römischen Päpsten (1834/36) neue Wege selbst für Rom. Droysen, dessen genialem Alexander (1833) die zwei Bände über den Hellenismus eben (1836, 1843) gefolgt waren, gehörte zu seinen Lehrern und

Liederbuch dreier Freunde.
[329]    Liederbuch dreier Freunde.
Titelblatt, 1843,
des sehr selten gewordenen Buches.
stachelte als feuriger Patriot und [329] Preuße seine politische Leidenschaft an. Sie alle förderten ihn. Auch in der Auseinandersetzung mit anderen, Gelehrten, Dichtern und Praktikern, wurden seine Kräfte gestählt und entfaltet: aber alles, was er geben wird, ist auf seinem Grunde gewachsen. Er hatte die Kraft zur Schöpfung und den Willen zur nüchternen, realistischen Forschung.

Seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten erschienen und erregten Aufsehen. Er nahm, mit politischen, historischen, juristischen Argumenten kämpfend, am Streit der Heimat um eine Verfassung, um Befreiung vom dänischen Joch und Heimkehr zum Vaterland teil. Gesellig, voll überschäumender Laune beim Wein, fand er Theodor Storm, sammelte mit ihm Sagen der Heimat, plattdeutsche Sprichwörter und Reime, vereinigte sich mit ihm und dem jüngeren Bruder zum Liederbuch dreier Freunde; und er war in diesem die treibende Kraft und der Ergiebigste zugleich, scharf in der Absage an die Dichterlinge der Zeit, spöttisch und kühl, trotz alles Willens zum unpolitischen Gedicht der Visionär:

                  "... der Morgen grauet,
      Bald wird mein Adler seine Flügel breiten.
      Nicht jenem, welcher vor- und rückwärts schauet,
      Ihm, der nur vorwärts streckt den schwarzen Nacken,
      Hab' ich des Kampfes Hitze anvertrauet."

Droysens Gedanken hatten gezündet, der Weg zu 1848 und 1870 stand vor seinem Geist. Er blieb gegenwartsnah, je tiefer er in vergangenes Leben versonnen sich versenkte. Und von 1844 an folgten Jahr um Jahr in nie unterbrochener Reihe einer selten reichen Produktion die zahllosen Abhandlungen, in denen er über immer weitere Gebiete seiner Wissenschaft ausgriff: Er war mehr, als die Vielen gemeinhin schufen. Aber in längeren Abständen entlud sich die bis zum Überschuß [330] aufgestaute Kraft in großen Werken, zu denen Freunde ihn antrieben. Dem sechsundzwanzigjährigen Doktor stand die Aufgabe, die sein Leben füllen wird, klar vor Augen: Rom hat ihn fasziniert. Er wird es mit Leidenschaft, nüchterner Kritik, stetig wachsender Kraft sich erobern. Er wird, indem er sich, auf seine Aufgabe beschränkt, der Meister werden, den keiner mehr erreicht. Er wird bis an das Ende hin den Bogen spannen, und da wird der Greis endlich den "wunderbaren Geist" des Römischen Rechts aus der Fülle seines Wissens und reiner Schau mit unerhörter Kraft zur Darstellung bringen. Er sagt es selbst, daß die "Saat nur die eine Hälfte der wissenschaftlichen Tätigkeit ist und die Zeit der Ernte nicht minder unentbehrlich, wenn ein bedeutender Forscher seine Bestimmung erfüllen soll". So war sein Leben und Wirken Wachsen, Reifen, Ernte bis zuletzt.

Im Herbst 1844 ging Mommsen, mit einem Stipendium ausgerüstet, für einige Monate nach Paris; am 30. Dezember zog er in Rom ein. Fast drei Jahre gehörten nun der Arbeit im Süden, den der Sohn des Nordens mit hellen Augen sah. In den lebenden und toten Sprachen, aus den Denkmälern der untergegangenen Kulturen, aus der unmittelbaren Anschauung der Landschaften und des Treibens der Menschen eroberte er sich die romanische Welt. Auf seinen Reisen im Land sammelte er eifrig Urkunden aller Art vom vergangenen Leben. Er lernte die philologischen Methoden beherrschen und entwickelte, vom Italiener Bartolommeo Borghesi geführt, mit Scharfsinn neue Methoden zur Erschließung der Inhalte mannigfaltigster Dokumente. Was Ranke längst für die Neuere Geschichte begonnen, vollbrachte er nun auch für die Alte und revolutionierte damit alle geschichtliche Forschung, die der Alten Welt galt: Liebevoll, unverdrossen jeder kleinsten Einzelheit hingegeben, oft fast tüftelnd, um Gewißheit zu gewinnen, alle Möglichkeiten formaler und sachlicher Art ausschöpfend, gewann er aus der Vereinigung von nüchterner Kritik, echtem Spürsinn, reichem Wissen und dem Streben zur "Totalität", aus ständig neu wertender Prüfung aller für ein Einzelproblem oder das Ganze erreichbaren Quellen immer neue Methoden, klarere Erkenntnis, Tatsachen des Lebens in Überfülle.

Jetzt konnte er daran denken, die Überlieferung über das alte Rom, seinen Staat, sein Recht, seine Verwaltung, sein imperiales Streben, seine Religion, seine geistige und politische Geschichte kritisch zu sichten. Denn er hatte bereits begonnen, die verschollenen Sprachen des vorrömischen Italien zu erschließen; er hatte die Inschriften Unteritaliens gesammelt und den Plan zu einer wissenschaftlichen Aufnahme und Bearbeitung aller überhaupt noch erreichbaren Schriftdenkmäler im Bereich des alten Rom und seines weiten Herrschaftsgebietes entworfen, damit aus allem, was wissenschaftlicher Betrachtung so zuströmen werde, endlich ein realistisches Bild vom Werden und Vergehen dieser Welt und ihrer herrischen Gebieterin entstehen könne. Und in seinem Geist wuchsen die Römische Geschichte, das Römische Staatsrecht, das Römische Strafrecht, die Hauptwerke seines Forschens, gleichzeitig mit den zahlreichen Einzelarbeiten und jenem Arbeitsplan, einem riesenhaften organisatorischen Unternehmen. Um ihn [331] begann "der sehr beharrliche Mann, der keinen Fußbreit nachgibt", einen langen Kampf, ehe die Berliner Akademie ihm uneingeschränkt die Aufgabe anvertraute.

Aber nichts von allem füllte seine Kraft ganz aus, die sich sprunghaft in neue Bereiche entlud, als er heimkehrte, indes sein systematischer Geist am Begonnenen weiter schuf. Denn als die Revolution von 1848 begann, schrieb er in fünf Monaten sechzig lange politische Aufsätze als Redakteur der Rendsburger Schleswig-Holsteinischen Zeitung: Die Führer der Heimat richteten sich nach ihm, bald befehdete man auch den Dränger, der aus breiter Bildung, einem Wissen, das jetzt von Dänemark bis nach Kroatien, von Italien bis nach Paris aus unmittelbarer Anschauung die Materialien für Argumente und Ratschläge nehmen konnte und schweizerische wie amerikanische Einrichtungen zum Vergleich bot, alles durchmusterte, mit rollendem Pathos wie ein Romane und seiner grollenden Leidenschaft warb; der aber auch als journalistischer Schlachtenbummler beschrieb, wie in der Schlacht bei Schleswig "am Ostertag 1848 die Preußen die Auferstehung Deutschlands gefeiert haben", und spät noch davon sprach, daß "die Regeneration Deutschlands nur in mehr oder minder vollständigem Aufgehen der deutschen Kleinstaaterei in Preußen" und nur "unter der Initiative der preußischen Regierung möglich" war. Er appellierte vergeblich für die Heimat an das deutsche Volk: "Das einige Deutschland ist eine Coalition mehrerer Fürsten, mit einer Phrase dazu. Das einige Deutschland ist ein periodisch wiederkehrender Traum des deutschen Michel, der in Versen vortrefflich, in Prosa schlecht und in der Praxis nirgends an seinem Platz ist. Das einige Deutschland ist ein Hohn der Dänen, die Schadenfreude Englands. Aus Versehen ist Deutschland einig gewesen vier Wochen lang; aber umsonst erschraken die Nachbaren, daß es nun Ernst werden möchte. Schon lenken wir ein in das alte zerfahrene Geleise des ewigen Zwiespaltes, und das erste Opfer ist Schleswig-Holstein", hatte er schon am 31. Mai 1848 geschrieben. Er verließ sie jetzt und den journalistisch-politischen Kampf, nachdem er von seiner Kraft, Wucht, inneren Bewegung und Einsicht wenigstens eine Probe abgelegt hatte, und kehrte zur Wissenschaft zurück, begann (Herbst 1848) seine Laufbahn als Professor.

Theodor Mommsen, Haupt und Jahn..
Der junge Theodor Mommsen (Mitte)
mit Moriz Haupt und Otto Jahn.
Daguerreotypie, Leipzig 1848.
[Nach wikipedia.org.]
Er lehrte in Leipzig Römisches Recht, wurde bald von neuem in die politischen Wirren gerissen, anderthalb Jahre später mit seinen nächsten akademischen Freunden Haupt und Jahn von der reaktionären Regierung Beust verurteilt und trotz des Freispruchs in zweiter Instanz vom Amt suspendiert, unmittelbar bevor er den Vater verlor. Aber sein Wille wurde der Not Herr. Er wirkte wie je. Neue Arbeiten erschienen. Zürich nahm ihn 1852 auf, 1854 rief Breslau ihn zu sich; bald begehrte ihn München. Von 1858 an wurde Berlin bis zu seinem Tode durch fünfundvierzig Jahre der Schauplatz seines stetigen Wirkens. Die Akademie, dann auch die Universität, an der er Römische Geschichte vortrug, erlebten ihn jetzt als den Gelehrten und Lehrer, als den emsigen Organisator der Wissenschaft. In diesen neun Jahren unruhvollen Wanderns und Kämpfens [332] waren über 150 Arbeiten erschienen, darunter von 1854 bis 1856 alljährlich ein Band der Römischen Geschichte. Und das ausführliche Verzeichnis seiner Schriften zählt für die folgenden fünfundvierzig Jahre noch 1250 weitere auf. Mommsen war der einzige Gelehrte in seiner Zeit, der so planvoll gewirkt, so viel bewältigt hat.

In zähem Ringen hatte Mommsen sich zur Herrschaft über alles, was seiner Wissenschaft dienen mußte, durchgekämpft. Ohne Unterlaß bemühte er sich weiter. Jede Art von Quellen mußte erschlossen werden. Jetzt, wo er gemäß seinem Plan die lateinischen Inschriften Roms, Italiens, des ganzen Reiches zu sammeln, in peinlich genauer Bearbeitung zur wissenschaftlichen Veröffentlichung vorzubereiten die Pflicht hatte, riß die Arbeit nicht mehr ab. Er erzog sich die Mitarbeiter, die wie er selbst reisten, überwachte unentwegt bis zuletzt ihr Werk, ob sie nur helfend zusammentrugen, was er endgültig herausgab, oder unter eigener Verantwortung es vorlegen konnten; und Neufunde, neue Lesungen boten Möglichkeiten in Fülle zu rascher Deutung aus seinem kombinatorischen Geist und souveränen Wissen, die in oft glänzenden Abhandlungen vorgetragen wurde. Und ebenso wurden die Münzen energisch verwertet: Als er bereits das Inschriftenwerk leitete, klärte er (1860) in einem Band von 900 Seiten die Geschichte des römischen Geldes, gewann er grundlegende Erkenntnisse über bis dahin dunkle Vorgänge im wirtschaftlichen Leben Roms und seines Reichs. Als die Zahl der gesammelten Inschriften längst die 100 000 überschritten hatte, ebnete er die Wege, gewann er die Kräfte, die durch neue Ausgrabungen und Forschungen das Wirken der Römer auf dem deutschen Boden in helles Licht rücken sollten, regte er an, die Urkunden des griechisch- römischen Ägypten, die in Häusern, Gräbern und Müllhaufen bewahrt waren, umfassend und systematisch wiederzugewinnen. Und als die Lasten, die auf dem Greis lagen, sich immer weiter steigerten, gab er, als sei nichts zu viel, den Anstoß, die Hunderttausende von Münzen, die erhalten sind, mit gleicher Sorgfalt wie seine Inschriften geschlossen zu behandeln.

Er trug immer stärker zum Verständnis der literarischen Texte der römischen Republik und Kaiserzeit bei, trieb da Quellenkritik, heilte dort verderbte Sätze, gab dann wieder einen Geographen heraus; aber er fügte auch die lateinischen Schriftsteller, die als auctores antiquissimi über die Frühzeit unseres Volkes berichten, in eigenen Ausgaben oder der Bearbeitung durch andere den Monumenta Germaniae historica zu. Er bereicherte die alte Kirchengeschichte durch den Text eines Kirchenhistorikers und durch scharfsinnige Untersuchungen. Er förderte die gewaltige Unternehmung des Thesaurus der Lateinischen Sprache durch seine Autorität mächtig. Wieviel aber tat er vom Anfang bis zum Ende für die Kenntnis des Römischen Rechts von den ältesten Zeiten Roms bis auf Justinian, seiner Quellen von den Einzelgesetzen bis zu den großen Sammlungen der Digesten Justinians, des Codex Theodosianus! Immer tiefer bohrte er sich in die gewaltigen Stoffmassen der gesamten Überlieferung, die durch sein Wirken um ein Vielfaches vermehrt worden war, immer weiter griff er aus, alle Widerstände niederzwingend. Von der Problematik der Königszeit Roms bis [333] zum Staatsrecht der Ostgoten in Italien durch alle Phasen der 1300jährigen Geschichte beherrschte er den Stoff, formte er an ihm. Aber die Vorlesungen und Seminarübungen des Professors, die Ansprachen des langjährigen Sekretärs in der Akademie, seine Reden und Aufsätze beweisen, wieviel abseits von diesem unerhört sich dehnenden Reich seiner Wissenschaft, in dem es keine Fachgrenzen mehr gab, zum Aufruf im untrüglichen Gedächtnis geborgen, seinem Willen zu Gebote stand. Er organisierte wohl und gab vielen zu tun. Mancher Kleine verzweifelte oder zerbrach, nur der Starke und Selbständige wuchs neben und an ihm. Denn wie er selbst oft genug aus voller Konzentration mitwirkte, so prägte er allem herrisch sein Wesen auf. Nie war Organisation ihm Selbstzweck, sie hatte ihm wie sein eigenes unermüdliches Schaffen zu dienen. Darum wurde seine organisatorische Kraft und diese Art zu forschen weit über die Grenzen seiner Fachwissenschaft hinaus von größter Bedeutung, aber gefährlich zugleich. Denn die jüngeren Generationen, die nach seinen Methoden des Sammelns und Publizierens für die Geschichte der Älteren Welt des eurasiatischen Kontinents die Zeugnisse zu ergraben, zu sammeln, zu ordnen, sachlich zu deuten unternahmen, trugen wohl dazu bei, daß, wie er es erstrebte, aller klassizistische Zauber, alle romantische Betrachtung zerstoben, nüchterne Tatsachenforschung, die Darstellung der wirkenden Kräfte des geschichtlichen Lebens, der Sonderart der Völker, ihrer Schöpfungen als Interesse und Aufgabe in die Mitte rückten. Aber wo herrische Führung, der gestaltende Wille fehlten, blieb die Höhe der Leistung aus, verharrten die Stoffmassen im Chaos der Formlosigkeit. Selbst sein eigenstes Werk entbehrt seine treibende Kraft. Mommsens Gedanke, daß viele zusammen bewältigen können, was einem allein versagt ist, wurde Gemeingut, aber er, der den Jüngeren sagte: "Wir haben bestellt, Ihrer harrt die Ernte", der selbst noch unermeßlich erntete, mahnt allenthalben noch heute zum Erntewerk.

Theodor Mommsen.
[320b]      Theodor Mommsen.
[Bildquelle: Dr. Handke, Berlin.]
Nach langer Vorbereitung, aus tiefer Einsicht in die durch seine neue Methodik geschaffene Lage, in die Mängel der schriftlichen Überlieferung und die Unzulänglichkeit aller früheren "Konstruktionen" und "Phantasien" über die Geschichte des Römischen Volks, und aus brennendem Willen zur "Wahrheit" hat der Sohn der kritischen Philosophie begonnen, das "innerlich Unmögliche" der Tradition auszuscheiden, das "durch die notwendigen Gesetze der Entwicklung Geforderte zu postulieren", an der "Logik der Tatsachen" die alte Überlieferung zu messen: Er verfuhr subjektiv wie die anderen, aus seinem Wissen um Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und alles geistige Leben, wie seine Phantasie, sein Wille und Verstand es ordnen hießen. Er selbst aber bekannte später, er habe "nicht genug gewußt", als er die Römische Geschichte schrieb. Aus äußerem Antrieb, jäh, mit fast unheimlicher Gewalt brach sich die Fülle aufgestauten Wissens über das alte Rom bis zu den letzten Tagen Cäsars Bahn, um in den drei Bänden, fast 1700 Seiten, eingefangen zu werden. Er ging den Weg Roms nach vom Kampf der Stämme an bis zur Herrschaft Roms über die Mittelmeerwelt, in der sein Friede, der Geist [334] seines Rechts und der griechischen Bildung die Grundlagen des Lebens sein werden.

Erst 1885 fügte er aus der Arbeit weniger Monate zu dem Vorhandenen den fünften Band, in dem er das Leben in den Provinzen des Weltreiches schilderte. Die 500 Jahre politischer Geschichte unter den römischen Herrschern, den Untergang des Weltreichs, den Aufgang der Nachfolgestaaten auf seinem Boden, das Wirken der Herrscher, die geistigen Bewegungen und Wandlungen stellte er nicht mehr dar: Der vierte Band fehlt, das Werk ist ein Torso. Aber so, wie es ist, hat es mehr Auflagen erlebt, als vielen historischen Werken beschieden war, und ist vielfach in fremde Sprachen übersetzt; es hat darum durch Generationen breithin gewirkt. Seit der zweiten Auflage nicht mehr verändert, blieb es der große Erstling des gereiften Mannes und seiner Anschauungen von Rom wie von seiner Welt. Voll unmittelbarster Lebendigkeit und Wucht, jener Leidenschaft, die wenige Jahre zuvor bis zum Grund aufgewühlt war, kühn im Aufbau und doch festgefügt und streng gegliedert, wissend und weise zugleich, ist es ein triumphales Bekenntnis in allem und eines der stärksten Dokumente des Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt. Wie hätte der leidenschaftliche Kämpfer seine Grundanschauung von Leben und Welt verleugnen können! Seine Forderungen von 1848 sah er im willensmächtigen Rom erfüllt, der Republik aristokratischer Bauern, die den Zentralismus durchführte, dem Urbild einer nationalen Entwicklung, eines starken Volkstums mit seinem Willen zur gereiften Rechtsanschauung und zur höheren, griechischen Bildung. Nach dem Sturz des "Junkertums" wahrten die Plebejer den aristokratischen Charakter des Staates, den sie "in gewissem Sinn noch entschiedener an sich trugen" als jenes. Cromwell ist "in seinen Zielen und Erfolgen vielleicht unter allen Staatsmännern Casar am nächsten verwandt"; denn dieser ist erfüllt "von republikanischen Idealen und zugleich zum König geboren", "Römer im tiefsten Kern seines Wesens", "berufen, die römische und hellenische Entwicklung in sich wie nach außen hin zu versöhnen und zu vermählen". Die Nationen müssen vergehen, um die eine zu bereichern, von ihr zu lernen, der verjüngten hellenisch-italischen Nation eine neue geräumigere Heimat zu bereiten. Das Bild jüngst vergangener Hoffnungen, bleibender Sehnsüchte und Gedanken des leidenschaftlichen Politikers ist über alles Wissen um den Stoff, alle kritische Nüchternheit gebreitet, und sein Cäsar trägt Züge von seinem inneren Bild. Mommsen tat recht, als er dieses Bekenntnis unverändert ließ. Er gab selbst zu, als er den vierten Band zu schreiben unterließ, daß er ein Fremdkörper neben jenem geworden wäre. Als er das Rüstzeug zur Erkenntnis der Kaiserzeit und ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung besaß, resignierte er vor der Gewalt der Probleme. Denn die "Nationen" waren nicht vergangen; in ihrem Aufstieg, ihrem Sieg über die Herren der Gewalt, des Rechts und der Bildung versank deren Kraft. Und das Schicksal, das das orientalisierte, "katholische" Rom und Reich über seinen Untergang hinaus den germanischen Folgestaaten bereitete, griff nicht mehr ans Herz des Liberalen.

[335] Im Römischen Staatsrecht, das in drei Bänden zuerst 1871, 1874/75, 1887/88 erschien, formte der Jurist in Mommsen den Stoff um. Mit diesem Werk entstand eine neue Disziplin. Der römische Staat, ein gewaltiger Bau, ragte jetzt empor. Was so gestaltet wurde, war nicht die Geschichte der römischen Verfassung, sondern ein von ihm konstruiertes System des Neben- und Ineinander der in den Rechtsinstitutionen wirkenden Kräfte der Römer. Induktive und deduktive Methoden ergänzten sich, der "wunderbare Geist" des Römischen Rechts trat ans Licht: Die Erziehung an den Pandekten, die Gewalt der Abstraktion Hegelschen Denkens klangen als Jugenderinnerungen nach, und die abstrakte juristische Phantasie gewann ein zeitlos allem Leben der Römer übergeordnetes Rechtssystem. Auch das Strafrecht des Zweiundachtzigjährigen kam von gleichen Voraussetzungen zu gleichem Ziel: Aus der schauenden Phantasie, einem fast unbegrenzt scheinenden Wissen, das mühelos beherrscht wurde, erstand ein Bild der gewordenen Gestaltung; von der Dynamik des Werdens mußte der Weg zum Gewesenen führen.

Diese beiden Spätwerke sind das Hohe Lied von der rechtsschöpferischen Kraft Roms. Und Zeugnis zugleich von der Wucht des konstruktiven Denkens ihres Schöpfers, seiner abstrakten Phantasie, seiner Herrschaft über Begriff und Wort. Hier treibt seine glutvolle Leidenschaft die kritische Nüchternheit zu höchster Leistung. Sein ausgreifender Wille, seine herrscherliche Kraft unterwerfen in gewaltigem Zug noch einmal ihre ganze geistige Welt, um als Bekenntnis und als Vermächtnis zu formen, was Rom aus seiner nach endlosem Ringen geschenkten Vision wurde: Schöpfung aus seinem Blut und Geist.

Im Jahrhundert der schweren politischen Kämpfe konnte Mommsen, der kämpferische Liberale, nicht abseits stehen. Seit er zur Wissenschaft zurückgekehrt war, in Zürich, in Breslau, hatte er eine Zeitlang, von Arbeit überlastet, von der Politik sich ferngehalten. Auf die Seitensprünge der Jugend sah er da wohl wie auf Torheiten. Aber er blieb der Liberale, erst recht in Berlin; er wurde ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt, suchte "seinem Mandat zu genügen", "Herrn von Bismarck und den Seinigen gegenüber die Verfassung zu verteidigen". 1865 redete er seinen Landsleuten in Schleswig-Holstein zu, zu erwägen, ob die ganze Annexion nicht besser sein werde als die halbe. Er schied 1867 aus dem Landtag aus; 1870 versuchte er die Italiener durch Einsatz seiner Autorität auf die deutsche Seite zu ziehen. Er war froh über das neue Reich der Deutschen, wenngleich für ihn nicht alles erreicht war, was er einst erträumt hatte. Er feierte den ersten Kaiser als das, was ein rechter Mann sein soll, den Fachmann, den Herrscher.

Von 1873 bis 1879 wieder Abgeordneter, bemühte er sich wiederholt, die Ansprüche der Kunst und Wissenschaft zu verteidigen. 1881 Reichstagsmitglied, kam er von neuem in Opposition zu Bismarck, fürchtete er für den Liberalismus als politische Macht, ging er gegen das neue "System Richelieu" an, für das es "im ganzen Staat nur einen Diener gibt, der selbständig wirken darf", und aus der Fehde entspann sich [336] der Konflikt und Bismarcks Klage wegen Beleidigung. Er stemmte sich weiter gegen den Großen, den er nach dem Sturz den "größten Opportunisten" nennen wird. Er kämpfte gegen die Konservativen, ihren Widerstand gegen den stürmischen Fortschritt, mit dem sie die völlige Auflösung der alten Lebensform verhüten wollten. Er befehdete Treitschke ob seiner Angriffe auf die Juden. Er sah mit Angst den Niedergang der alten geistigen Kultur, die Zertrümmerung der einheitlichen Bildung, sah das Element des Egoismus der wirtschaftlichen Interessen aufgewühlt, die Humanität als überwundenen Standpunkt erscheinen. Er sah die Gefahr der sozialistischen Bewegung, die die ganze Zivilisation bedrohe, und schob Bismarck die Schuld zu, daß

Theodor Mommsen im hohen Alter.
Theodor Mommsen
im hohen Alter.
[Nach wikipedia.org.]
auf dem Gebiet der Arbeiterfürsorge "der größte aller Opportunisten den staatlichen wie den staatsfeindlichen Sozialismus mit solchem Erfolg erzogen hat, daß jetzt den Vätern selbst vor dem legitimen wie vor dem illegitimen Kinde zu grauen beginnt". Noch der Fünfundachtzigjährige ergriff 1902 das Wort, um zu sagen, "was uns noch retten kann". Denn "wir stehen am Beginn eines Staatsstreichs, durch den der Deutsche Kaiser und die Volksvertretung dem Absolutismus eines Interessenbundes des Junkertums und der Kaplanokratie unterworfen werden sollen". Er sieht die Rettung vor ihm einzig "im Einverständnis der Liberalen, die noch berechtigt sind, sich also zu nennen, und der Arbeiterpartei", die allein "noch den Anspruch hat auf politische Achtung". Bebel wiegt ihm "ein Dutzend ostelbischer Junker" auf, die "Opferbereitschaft der Massen imponiert", ihre Disziplin ist vorbildlich. Aber "an der gegenwärtigen verzweifelten Lage der Staatsverhältnisse trägt die Sozialdemokratie einen guten Teil der Schuld ", denn sie verschließt sich der Einsicht in das Wollen und Streben ehrlicher Männer wie des toten Alfred Krupp, die "im Weg der Gleichberechtigung von Mann zu Mann" innerhalb der bestehenden Ordnungen sich zu helfen, zu bessern bemühen, und sie begeht damit in dieser Krise "politischen Selbstmord". Aber er, der das Heil in der Ausgleichung gegensätzlicher Interessen, in der Herbeiführung von Zuständen sieht, wo die rivalisierenden Richtungen sich in leidlicher Weise ineinander schicken, während keine "voll ihren Willen durchsetzt und also das Gemeinwesen balanciert", wird selber zweifelhaft, ob es "opportun ist, unsere Sache mit der sozialdemokratischen zu identifizieren; vielleicht schadet es mehr, als es nützt".

Aus seiner humanistischen Bildung, seinen liberalen Auffassungen, seiner Welthaltung, hat Mommsen bis zuletzt den Ausgleich der Kräfte im Gemeinwesen als Einheit gewollt; er wußte darum, daß er da nur die Vielfalt selbstsüchtiger Parteien forderte, die alle den Umsturz begehrten, und daß so die Stoßkraft des Ganzen litt. Er hat allezeit Gefühl und Blick den aus der Romantik aufschießenden, im Realismus des neunzehnten Jahrhunderts wieder verschütteten Kräften des Volkstums verschlossen und sah jetzt nicht mehr, daß eine Generation heranwuchs, die sich anschickte, sie wieder aus sich zu entfalten. Der Greis am Rande des Grabes, der noch spottete, er sei nie Sozialdemokrat [337] gewesen und gedenke, es nicht zu werden, bot, zögernd, ob es noch nütze, die Hand zum Kompromiß mit der Schöpfung dessen, der als sein Altersgenosse bereits der Zerstörer der Volkseinheit geworden war. Er, der über den Untergang des Alten stöhnte, wies den Liberalismus auf den Weg zum eigenen Grab, das dieser nach einer Generation fand. Wohin man sieht, immer und überall die gleiche Leidenschaft bis zum heftigen Zorn und Haß, nüchtern-zähes Festhalten am Jugendideal bis zu doktrinärer Intransigenz. Ist er nicht blind gegen vieles, unbelehrbar gerade da, wo er an der "Logik der Tatsachen" seine eigene politische Vergangenheit und Gegenwart zu messen hatte? Verengte er nicht aus Starrsinn den Kreis der Sicht in die politische Welt? Wenn "Genies notwendige Übel" sind, war es nicht klüger, im beschränkten Feld der Meister zu bleiben?

Aus seiner Heimatenge ausgreifend in die Weltweite seines Riesenwerks, suchend, forschend, schaffend wie wenige, hat Theodor Mommsen ein Leben bis zum Übermaß erfüllt und sein Werk getan, Stoff bereitet, Wege gewiesen, Aufgaben gestellt. Ihm ging es um die "Wahrheit" in Wissenschaft und Leben. Ihm ging es um Rom fast mehr als um sein Deutschland. Konnte er schreiben, wie es wirklich war? War nicht auch sein Werk Ausgeburt seiner Phantasie? Unnachahmlich ob seiner Wucht und Fülle, Kühnheit und Klarheit, zeugt es von dem, was der Ausgreifende in fremder Welt fand, und dem, was er erobernd hinaustrug, mehr noch von seiner Einheit und Ganzheit, die er in sich trug und zu leben in allem immer erstrebt hat.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz