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[Bd. 4 S. 179]
Adolf Stöcker, 1835-1909, von Siegfried A. Kaehler

Adolf Stöcker.
[176b]      Adolf Stöcker.
Photograph unbekannt.
"In demselben Umfang, vielleicht mit noch größerer Energie, wie vor hundert Jahren der dritte, so ringt jetzt der vierte Stand danach, in die das Jahrhundert beherrschenden Stellungen einzurücken. In diesem tiefgehenden, durchgreifenden Prozeß ist die Frage die: wird er stattfinden als Revolution oder als Reform?" "Der Sozialismus, selbstverständlich im guten Sinne gemeint, ist die Losung des nächsten Jahrzehnts und des nächsten Jahrhunderts. Diese Entwicklung kann niemand aufhalten."... In diesen rückblickenden und vorschauenden Sätzen Adolf Stöckers aus dem Schicksalsjahr 1890 enthüllt sich der geschichtliche Blickpunkt, unter dem er sein Zeitalter begreifen wollte. Wo er den tiefsten Ansatzpunkt zur zeitgeschichtlichen Kritik gefunden hatte, das wird deutlich, wenn er im gleichen Zusammenhang fortfährt: "Diese – den Sozialismus heraufführende – Entwicklung muß der Kirche Christi, wenn sie ihres Stifters eingedenk ist, nicht nur gleichgültig, sondern lieb sein. Christus war der Heiland aller Menschen, aber doch im besonderen Sinn ein Freund der Armen, ein Mahner der Reichen. Daß die Kirche ihm hierin wenig oder gar nicht nachgefolgt ist, hat sie die Liebe des Volkes gekostet. Vielleicht ist der Schaden noch einmal gutzumachen, wenn der Protestantismus das Panier der sozialen Anschauung wieder aufnimmt und mit Wort und Tat den Beweis des Geistes und der Kraft führt, daß ihm die Armen so lieb sind wie die Reichen... Eins ist vor allem nötig, nämlich daß statt der egoistischen die soziale, statt der mammonistischen die solidarische Auffassung in der Nation Platz greife... Das Manchestertum ist unwiederbringlich verloren... die Zukunft steht unter dem Zeichen der Fürsorge für die Volksmassen... Haben wir in der Vergangenheit den Erwerb und den Verkehr unter dem Gesichtspunkt des Besitzes angesehen, für die Folgezeit werden wir uns daran gewöhnen müssen, das öffentliche Leben mehr im Lichte der Arbeit und des Arbeiters zu betrachten. Die patriarchalische Zeit, so schön sie war, ist vorbei; an die Stelle von Herr und Knecht sind die Kategorien von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getreten mit völlig gleicher Berechtigung im öffentlichen Leben, dem politischen wie dem sozialen... Nicht, ob der Sozialismus siegen wird, ist die Frage. Es handelt sich nur darum, ob die im Anzug befindliche soziale Weltanschauung christlich oder widerchristlich, königstreu und vaterlandliebend oder revolutionär und unpatriotisch sein wird." Hier eröffnet sich der Einblick in die Welt der Probleme, der Nöte und Fragen, mit deren Bewältigung [180] Stöcker unablässig gerungen hat durch vier Jahrzehnte eines öffentlichen Lebens, so reich an Arbeit wie an Kämpfen, an Liebe wie an Haß, an Erfolgen wie an Enttäuschungen, wie kaum eines anderen Zeitgenossen – von Bismarck abgesehen. Die Kampferfahrung von zwei Jahrzehnten staatspolitischen und kirchenpolitischen Ringens um die deutsche Volksseele schlägt sich nieder in der plastischen Kontrastierung der Mächte und Zeitströmungen, die auf der lärmenden Walstatt der Volksversammlungen, der Synoden, der Parlamente und nicht zuletzt auf dem stilleren Kampfplatz der Inneren Mission seine Angriffslust herausgefordert haben: der wirtschaftliche Liberalismus des von jeher befehdeten Manchestertums wie der "Patriarchalismus" des konservativen Bundesgenossen; der "Mammonismus" des Judentums und der Sozialdemokratie mit ihren revolutionären Tendenzen ebenso wie die im Staatskirchentum gebundene und darum vor den Aufgaben der Gegenwart wie der Zukunft versagende Kirche.

Aus dem Ringen mit diesen Mächten, die er im Kampf zurückgeworfen zu haben meinte und an deren Gegenwehr er scheitern mußte, erwächst die seherische Warnung vor der unabwendbaren Zukunft in dem Augenblick, in dem das Deutschland des "neuen Kurses" unter kaiserlicher Führung "herrlichen Zeiten" entgegenzugehen meinte. Über welche Stationen des äußeren und inneren Lebensweges ist Stöcker dieser ihn besonders kennzeichnenden Vorschau auf das deutsche Schicksal gelangt?


Am 11. Dezember 1835, einem Sonntag, wurde Christian Adolf als zweiter Sohn des bei den Seydlitz-Kürassieren dienenden Wachtmeisters Stöcker in Halberstadt geboren; beide Eltern waren in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die bäuerliche Körperkraft des soldatischen Vaters, die regsame Geistigkeit der energischen Mutter – "mit reicher Phantasie begabt, voll starker Entschlüsse, die sie um jeden Preis in die Tat umsetzte", so erscheint sie in den Lebenserinnerungen des Sohnes – bedingten jene aus körperlicher Spannkraft und reizbarer Empfänglichkeit des Geistes glücklich gemischte Veranlagung, die den mit leichter Auffassung und scharfem Verstand begabten Sohn später befähigte, mit klarem Blick und unermüdlicher Arbeitskraft die mannigfaltigsten Aufgaben anzugreifen und ihnen das Gepräge seiner kraftvollen Eigenart aufzudrücken.

In schlichter Selbstverständlichkeit lebte das königstreue und gottesfürchtige Elternhaus in dem für das vormärzliche Preußen kennzeichnenden Geist des Bundes zwischen Thron und Altar; der unerschütterliche Konservativismus des Sozialreformers Stöcker wurzelt in diesem Lebensboden des altpreußischen Soldaten- und Beamtenstandes. Mit der zähen Willens- und Entsagungskraft des aufstrebenden Kleinbürgertums wußten die Eltern für die Ausbildung der vier Kinder Sorge zu tragen; doch mußte der zweite Sohn die eigene leichte Auffassungsgabe durch Nachhilfeunterricht bei jüngeren Schülern frühzeitig [181] wirtschaftlich nutzbar machen, um die Eltern zu unterstützen und eine geldliche Grundlage für das Studium zu beschaffen. Die kärglichen Lebensbedingungen seiner Jugend, welche während der Knabenjahre doch ihre fröhliche Note durch das unbekümmerte Spiel auf dem Kasernenhof und die früh gelernte Reitkunst erhielt, hatten ihm "den Sinn für soziale Verhältnisse, Liebe und Interesse am kleinen Mann für immer eingeprägt".

Seiner geistigen Bildung gaben nicht nur die mit lebhafter Empfänglichkeit aufgenommenen klassischen Schulfächer ihre Grundlage, sondern auch der Verkehr in angesehenen und geistig interessierten Bürgerhäusern eine über den Horizont des Elternhauses hinausreichende Weite. In diesen Familien hatte man während der Märzrevolution, welche dem jungen Stöcker mit ihren philiströsen Begleiterscheinungen wenig imponieren konnte, die Sache des Königtums hochgehalten und sich dadurch bei der bürgerlichen Demokratie unbeliebt gemacht. Aus dem Verwandtenkreis des einen Hauses, welches der kirchlichen Erweckungsbewegung angehörte, hat Stöcker seine ihm geistig ebenbürtige Gattin, Anna Krüger aus Brandenburg, gewonnen.

Er sei damals "ein guter Schüler, aber ein schlechter Christ" gewesen, bemerkt Stöcker in seinen Erinnerungen. Jedoch noch während des letzten Schuljahres nahm sein inneres Leben durch Einflüsse der Erweckungsbewegung die Richtung auf ein entschiedenes Christentum. "So tief bin ich damals in die Lebensmacht des Christentums hineingeführt, daß ich von da ab niemals wieder ernstlich in Zweifel oder Anfechtung des Glaubens gefallen bin." Mit dieser inneren Wendung ergab sich aus dem Kräfteparallelogramm einer leidenschaftlichen Willensnatur und eines scharfsinnigen Geistes die Diagonale des unerschütterlichen Vorsatzes, "als ein im freudigen Glauben stehender Christ" im Leben sich zu bewähren.

Unter der Voraussetzung dieses entscheidenden Erlebens ergab sich Ostern 1854 von selbst das Studium der Theologie; Stöcker hat daneben in Halle und in Berlin noch so gründliche philologische Studien getrieben, daß den theologischen Abschlußprüfungen auch das Oberlehrerexamen nachfolgen konnte. Einer theologischen Schule hat sich der in großer Selbständigkeit unter harten Entbehrungen arbeitende Student, dessen Temperament dem Kollegbesuch nicht allzu viel der kostbaren Zeit opfern mochte, nicht angeschlossen.

Der lebhafte Wunsch, "die Welt zu sehen und fremde Länder kennenzulernen", wurde nach beendetem Studium dem Kandidaten erfüllt durch die Annahme einer Hauslehrerstellung, welche ihn für die Dauer von drei Jahren (1859 bis 1862) in der Hausgemeinschaft eines "baltischen Barons" festgehalten und dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Theologen viel Lebenserfahrung und Weltkenntnis eingetragen hat. Aus dieser Zeit stammt sein Verständnis – vielleicht, wie man wohl gemeint hat, seine Vorliebe – für eine aristokratische Kultur, wie sie in der Person und in der Familie des Grafen [182] Lambsdorff mit betont christlicher Haltung ihm entgegentrat; aber wohl auch die große Unbefangenheit, welche der Seelsorger Stöcker im späteren Leben den Angehörigen der Aristokratie entgegenzubringen pflegte, sehr im Unterschied zu vielen Gliedern des Pfarrerstandes. Besondere Wichtigkeit aber dürfte dieser kurländische Aufenthalt gewonnen haben für die Entwicklung seiner sozialen Wertmaßstäbe. Denn in dem damals noch von völkischem Haß und sozialen Kämpfen verschonten Kurland schien das aus christlichen Anschauungen erwachsende Verantwortungsgefühl der führenden Schicht eine allgemein befriedigende und in sich befriedete Lebensform zu gewährleisten: "ein christliches Volk und Land in allen Schichten und Ständen, in den deutschen Edelhöfen und Bürgerhäusern wie in den lettischen Bauerngesinden" – das war ein erlebtes soziales Ideal, wie er es später in ganz anderen Verhältnissen zu verwirklichen bestrebt sein sollte. Kein Zweifel, daß die überkommene Gedankenwelt eines christlichen Konservativismus durch diese baltischen Jahre gefestigt werden mußte; kein Zweifel auch, daß seine geschichtliche Grundanschauung von der zwischen evangelischem Christentum und deutschem Volkstum obwaltenden "heiligen Ehe" hier neue Nahrung gewinnen mußte. Den Abschluß der Wanderjahre bildete eine durch die baltischen Ersparnisse ermöglichte und großenteils zu Fuß zurückgelegte Reise durch Süddeutschland und die Schweiz nach Italien, wo er den Winter verbrachte, bis nach Neapel wanderte und im päpstlichen Rom vier Monate eifrigen Studiums – vor allem "dem Mittelpunkt der katholischen Welt" neben den Denkmalen der Vergangenheit widmen konnte.

Nachdem Stöcker im Baltikum eine Art von nachlebendem Luthertum aus vergangenen Jahrhunderten kennengelernt und daneben auch einen Eindruck vom griechisch-orthodoxen Kirchentum erhalten hatte, konnte er diese Erfahrungen des Ostens durch einen tieferen Einblick in die Werkstatt des modernen Ultramontanismus ergänzen. Der Ertrag einer allgemeinen und aus eigener Kraft errungenen Bildung, welche den geistigen Durchschnitt seiner Amtsbrüder weit hinter sich ließ, begleitete ihn aus der Studienzeit und aus den mit weltoffenem Blick ausgekosteten Wanderjahren in das erste Pfarramt, welches das Magdeburger Konsistorium im Sommer 1863 dem achtundzwanzigjährigen Anwärter in dem altmärkischen Dorf Seggerde anwies.


Adolf Stöcker.
Adolf Stöcker.
Photo von Johannes Hülsen, o. J.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Der bescheidene Wirkungskreis einer normalen Landgemeinde ließ dem Arbeitseifer des jungen Pfarrers Zeit genug, um auf den während der akademischen Semester gelegten Grundlagen seine theologische Bildung zu erweitern und zu vertiefen – aber nicht nur auf diesem "weltweiten" Fachgebiet. Er war bekannt für seine ungewöhnliche Belesenheit ebenso wie für sein "wie eine Kneifzange" festhaltendes Gedächtnis, das ihn in späteren Jahren doch zuweilen im Stich lassen sollte. Den Umfang seines geistigen Horizontes läßt ein Satz, den er einmal seiner [183] künftigen Frau schrieb, erkennen: "Ich werde Dich an allem teilnehmen lassen, was mich bewegt; und mich bewegt fast alles" – eine in ihrer scheinbaren Übertreibung doch ganz unbefangene Äußerung, welche ihre Bestätigung fand in der umfassenden Beschlagenheit und eindringenden Sachkenntnis, die Stöcker später auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, im theologischen und politischen Meinungskampf, in nationalökonomischen und kirchlichen Fragen, in Volksversammlungen und im Parlament, vor allem bei der großen organisatorischen Leistung der Berliner Stadtmission, jederzeit zu Gebote standen. Vorwiegend aber sind es die zwei großen Bewegungen seiner kirchlichen Gegenwart gewesen, welche seinen Arbeitseifer so fesselten, daß der Landpfarrer bald ein ausgezeichneter Kenner sowohl auf dem Gebiete der von J. H. Wichern ins Leben gerufenen Inneren Mission wie auf dem Gebiet der von den deutschen Kirchen erst damals stärker beachteten Heidenmission geworden ist. In diesen beiden Bewegungen sammelten sich lebendige Kräfte kirchlichen Gestaltungswillens gegenüber den Gegenwartsaufgaben, denen die anstaltlichen Landeskirchen mit ihrer mehr oder minder bürokratischen Verfassung und in ihrer Bescheidung bei den herkömmlichen, das bürgerliche Leben freundlich, aber zurückhaltend begleitenden Formen kirchlicher Betreuung nicht gewachsen waren. Besonders die Innere Mission, welche unter Wicherns Antrieb den kirchlichen Eingriff in die sozialen und sittlichen Mißstände der aufkommenden Großstädte zur Rettung ungezählter Einzelleben forderte, mußte den leidenschaftlichen Wirkungswillen Stöckers für sich gewinnen, nachdem ihm seine zweite Gemeinde – Hamersleben in der Börde – seit dem Kriegsjahr 1866 ein Beispiel des mit der Industrialisierung ländlicher Gegenden einziehenden sozialen und menschlichen Elends vor Augen stellte.

Hier traf er auf die Frage, welche ihm zum Schicksal werden sollte; und er traf auf sie im Bereich seiner seelsorgerlichen Tätigkeit bei den Fabrikarbeitern: "Solange die harte Arbeit unter den rohen und gemeinen Scherzen der Genossen die Seele gefangennimmt, ist schwer anzukommen. Es gehört ja zur Religion eine gewisse Stimmung des Gemüts, die durch die Tag- und Nachtarbeiten der Fabriken unterdrückt wird. Arbeiten, essen und schlafen für die neue Arbeit, Werk- und Sonntag, Tag und Nacht: das ist eine schlimme Lage für die Arbeit an der Seele", so schrieb er nach wenigen Monaten aus der neuen Tätigkeit an die Braut – vielleicht die erste Äußerung, in welcher das Doppelthema seiner öffentlichen Wirksamkeit: Seelsorge und soziale Frage – aus dem unmittelbaren Erleben ihm zum Bewußtsein gekommen ist. Dem erkannten Problem mit Gründlichkeit beizukommen, ist Stöcker sehr bald bestrebt gewesen. Mit der Übernahme des Referates über die in breitem Ausmaß erscheinende Literatur zur sozialen Frage für die angesehene Neue Evangelische Kirchenzeitung erhielt er die Möglichkeit, trotz seiner ländlichen Abgeschiedenheit sich eine nationalökonomische Bildung zu erarbeiten, so daß Stöcker bei seinem Eintritt in die politische Öffentlichkeit auch auf diesem Gebiet begründeten Anspruch auf Sachkenntnis erheben konnte. In diesen zunächst [184] den kirchlichen Tagesfragen zugewandten Aufsätzen und Referaten erprobte sich zuerst seine publizistische Begabung, die ihn später zu wirklicher Meisterschaft auf allen Gebieten, vorwiegend aber dem der kirchenpolitischen Publizistik, gelangen ließ. So verschieden nach ihrer sozialen Struktur die beiden ersten Gemeinden sein mochten, ein Problem war ihnen gemeinsam in den Augen ihres Seelsorgers: daß die kirchliche Sitte, infolge der Gleichgültigkeit und teilweise der Abneigung gegenüber dem kirchlichen Leben gelockert, durch energische Kirchenzucht wiederhergestellt werden müsse, um die Voraussetzungen einer lebensvollen Gemeinde zu schaffen. Nach Stöckers Überzeugung durfte die Kirche sich nicht damit begnügen, das Leben ihrer Angehörigen mit Trost und Mahnung zu begleiten, sondern hatte die Pflicht, in dieses Leben gestaltend und, wo es not tat, im Kampf gegen Unglauben und Gleichgültigkeit und schlechten Lebenswandel, auch strafend einzugreifen. Diese aggressive Auffassung der cura animarum, "ohne welche unser Volk nie wieder zur Strenge der Sitten durchdringt", widersprach der überkommenen Kirchenpraxis und hatte einen institutionellen Kirchenbegriff zur Voraussetzung, welcher nach dem Beispiel der reformatorischen Kirche in den ersten protestantischen Jahrhunderten das gesamte soziale Leben der Gemeinde zu umfassen und zu leiten bestrebt war. Stöcker sah in dem Begriff der Seelsorge im engeren wie im weitesten Wortsinn den wirksamen Weg zu dem immer klarer erkannten und nachdrücklich verfochtenen Ziel, daß die Kirche nur dann ihrer Aufgabe gegenüber dem Volksleben genügen könne, wenn "der Geistliche nicht nur ein theologisches Dasein führe, sondern auch eine populäre Existenz erringe".

Nach dem siegreich beendeten Krieg wurde in Metz die Errichtung eines evangelischen Pfarramtes für die zahlreiche Militärgemeinde und die große Zahl der aus Altdeutschland zuwandernden Beamten erforderlich. Unter mehr als zweihundert Bewerbern wurde Stöcker, den die schwierigen Verhältnisse in Hamersleben einen Amtswechsel wünschen ließen, als Divisions- und Garnisonpfarrer im Herbst 1871 nach Metz berufen. Die Aufmerksamkeit war auf ihn gelenkt worden durch den – wie er selbst ihn nennen würde und auch genannt hat – "patriotischen" Ton in seinen kirchlichen Zeitbetrachtungen; er ließ erkennen, daß der eifrige und zuweilen eifernde Kirchenmann mit brennender und ernster Liebe die großen Geschicke des Vaterlandes begleitete. In diesem Patriotismus wie in dem sozialen Interesse schlug die politische Ader seines Naturells, freilich ihm selbst noch unbewußt: "Ich werde mich hüten, die Sicherheit geistlichen Auftretens durch die Unsicherheit politischer Kontroversen schwankend zu machen." Mit dieser ahnungsreichen Begründung hatte er es 1867 abgelehnt, sich in die Tagespolitik hineinziehen zu lassen.

Zu solchem Abschwenken in die politische Bahn bot die neue Amtsstellung in Metz um so weniger Gelegenheit und Anreiz, als die Fülle der über den eigentlichen Amtsbereich hinaus sich bietenden Aufgaben seine Arbeitskraft hinreichend beanspruchte. Auf dem schwierigen Boden der lothringischen Bischofsstadt verknüpften [185] sich die nationalen und konfessionellen Gegensätze in ihrer frischen Schärfe mit mancherlei sozialen Nöten und kirchlichen Hemmungen. Mit großer Mühe nur war der Militärfiskus zum Bau einer evangelischen Garnisonkirche zu bewegen, so daß für die preußischen Truppen zunächst in einem Turnsaal Gottesdienst abgehalten werden mußte. Für die zugewanderten Deutschen sollte eine höhere Töchterschule gegründet werden, an welcher Stöcker auch noch einen Teil des Unterrichts übernahm. Die Einrichtung einer Diakonissenstation wie die einer Wanderherberge waren seiner Initiative zu danken, seine Kanzel versammelte neben der Militärgemeinde den bewußt evangelischen Bestandteil der deutschen Zuwanderung. In dieser umfassenden, vom kirchlichen Amt her angegriffenen Aufbauarbeit traten kirchliche und staatliche, soziale und nationale Elemente durch die Tatkraft seiner Persönlichkeit in nahe Berührung; evangelischer und deutscher Lebenswille standen in so enger Gemeinschaft vor der französischen und katholischen Abwehr, daß die "heilige Ehe zwischen Reformation und Deutschtum" auf dem westlichen Vorposten Metz eine ähnliche Lebenskraft in Stöckers Augen beweisen konnte, wie er sie in der "Volkskirche der Reformation" auf dem baltischen Außenposten erfahren hatte.

Diese Idee der evangelischen Volkskirche als erstrebenswerten Ziels kirchlichen Aufbaues wurde um so bedeutsamer, je mehr die Entwicklung des "Kulturkampfes" seine von jeher gehegte Überzeugung zu bestätigen schien, daß in dem bestehenden Staatskirchentum das eigentliche Hemmnis für ein lebendiges Einwirken der Kirche auf die Gegenwart gegeben sei. "Es gibt für unsere Kirche kein Heil mehr als in der Loslösung vom Staate, vom Kultusminister nicht bloß, sondern auch vom Summepiskopus. Der letztere Name ist unter parlamentarischer Regierung ein Götze und der Tod der Kirche. Ist die Kirche frei, so kann sie sich von der Windrose der parlamentarischen Meinungen frei halten." Es erschien ihm, wie er später (1886) einmal sagte, als "keine richtige geschichtliche Entwicklung", wenn die evangelische Kirche mit dem Übergang Preußens zum konstitutionellen Staat zwar dem Anschein nach unter dem persönlichen Summepiskopat des Landesherrn verblieben, tatsächlich aber unter die politische Einflußnahme eines dem Landtag verantwortlichen Ministers geraten sei. Während die durch die Falksche Kirchengesetzgebung von 1873 vorgesehenen synodalen Verfassungseinrichtungen ins Leben traten, um in der Generalsynode von 1875 ihren Abschluß zu finden, bot sich Gelegenheit genug, in der Erwartung dieses Ereignisses das Für und Wider dieser Gesetzgebung zu erörtern. Stöcker hat in seiner Kirchenzeitung von vornherein die Tragweite einer von der liberalen Staatsidee ausgehenden Kirchenpolitik dahin beurteilt, "daß auf der einen Seite der Staat alle seine Positionen in der Kirche behält, während die Kirche die ihrigen im Staatsleben so gut wie verloren hat". Dabei mußte allerdings die Frage auftauchen, ob die evangelische Kirche in Preußen während der letzten hundertfünfzig Jahre im Staatsleben noch wirkliche "Positionen" – von der sehr wichtigen Schulaufsicht [186] abgesehen – zu verlieren hatte, oder ob in diese Kritik nicht das romantische Wunschbild einer Kirche hineinspielte, nicht, wie sie geschichtlich geworden war, aber wie sie hätte werden sollen. Jedenfalls besaß Stöcker das Ideal einer solchen in das "Staatsleben", das heißt in das Volksleben, gestaltend eingreifenden Kirche und machte es zum Maßstab seiner Beurteilung der gegenwärtigen Lage und der kommenden Entwicklung. Und dieses Urteil stand im Gegensatz zu der vom Staate angebahnten Kulturpolitik – die erste Oppositionsstellung, die Stöcker in der Öffentlichkeit einnahm, richtete sich also gegen eine kirchenpolitische Position des Staates, und damit öffnete sich der Weg in das weite politische Feld, allerdings noch im Bereich der von ihm so hoch bewerteten "Sicherheit geistlichen Auftretens".

Mit sehr scharfen und leidenschaftlichen Worten hat Stöcker seine Stellungnahme begründet und verteidigt: es war der Instinkt für das politische Verhängnis, welches über die evangelische Kirche als Staatskirche in einem nicht-konfessionellen Staate kommen mußte, welcher ihn die Dinge klarer als andere sehen und aussprechen ließ. Gewann der Liberalismus oder andere Parteigruppen Einfluß auf das Staatskirchentum, dann wurde die Kirche als solche notwendig in die politischen Gegensätze hineingezogen und verlor mit der "unabhängigen Existenz die Freiheit, die Aufgabe der Rückeroberung unseres Volkslebens anzufassen". Denn die mit der Einführung der Zivilstandsgesetzgebung offenkundig gewordene Entkirchlichung breiter Schichten, namentlich der Arbeiterschaft, zeigte die Notwendigkeit, das Volk für die Kirche als Trägerin des christlichen Glaubens zurückzugewinnen. "Unsere Krankheit liegt in der Sozialgestalt unserer Kirche, das Grundübel ist das Staatskirchentum", denn das landesherrliche Kirchenregiment sei in der Vergangenheit nur "Notstand und Notbehelf" gewesen, und im modernen Staat sei es noch weniger in der Lage, "die Kirche nach rein kirchlichen Gesichtspunkten zu leiten". "Unser Geschlecht, das an der Brust der Freiheit genährt ist, verträgt im religiösen Leben die Unfreiheit nicht mehr; ein Glaubensleben unter Staatsaufsicht, eine Kirche unter dem landesherrlichen Regenten hat keine Verheißung mehr... Das Jammerbild einer evangelischen Kirche, wie wir es haben, vermag über das Volksleben nichts; eine Macht im Volk wird unsere Kirche erst werden, wenn sie keine Magd mehr ist, sondern eine Freie."

Mit dieser Forderung mußte Stöcker auf die Gegnerschaft des Liberalismus stoßen. Stöcker war sich darüber im klaren: "Es ist die Staatsidee, nicht der Landesherr, die sich einer freien Volkskirche widersetzt... Solange die Kirche unter die Weltgedanken der Politik gestellt ist, kann sie nur hier und da einen Zug ihrer göttlichen Natur sehen lassen." Soweit und solange der Staat, wenn auch in gesetzlich gewährleisteter Form, ein ausschließliches Ernennungsrecht für die hohen Kirchenämter wie für die theologischen Lehrstühle ohne Einfluß der kirchlichen Organe ausübte, so lange mußte er "in Wahrheit der Herr des kirchlichen Geistes" sein; in diesem Zustand erblickte Stöcker die Gefahr, daß "die Kirche im Staat, das heißt in der Welt [187] aufgehen" werde. Was ihm als Ideal vorschwebte, war eine "freie Volkskirche", welche zwischen der Skylla des Staatskirchentums und der Charybdis der zur Sekte verkümmernden Freikirche hindurchsteuern mußte, um als "unabhängige Gemeinschaft des Glaubens... was sie noch nie gewesen, aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen notwendig werden muß", an der Erneuerung des religiösen und sittlichen Volksgeistes zu arbeiten. Fragt man nach der konkreten Vorstellung, welche sich mit dem freien Kirchenideal verband, so läßt wohl eine spätere Formulierung, daß die kirchliche Bewegung sich auf die "katechismusgläubigen Schichten" stützen müsse, die Richtung seiner Zielsetzung erkennen. Mochten die rechtlichen und geschichtlichen Grundlagen dieser Forderungen noch so bestreitbar sein – das Beispiel des im Kulturkampf gerade erstarkenden Katholizismus hat ihm ohne Zweifel vor Augen gestanden –, Stöcker hat an dem einmal erkannten Ideal mit zähem Willen festgehalten. Er hat auf den Synoden die widerstrebenden kirchlichen Gruppen für seine Einsicht zu gewinnen gesucht. Er hat als konservativer Abgeordneter mit Unterstützung eines erheblichen Teiles seiner Partei im preußischen Landtag (1886) den vergeblichen Versuch unternommen, mit den Mitteln parlamentarischen Kampfes die Frage ins Rollen zu bringen in scharfem Gegensatz zu Bismarcks Kirchenpolitik, der hinter einer Freistellung der Kirche aus der staatlichen Kirchenhoheit die Gefahr der Bildung eines "evangelischen Zentrums" mit Recht oder Unrecht witterte. Noch am Ende der neunziger Jahre hat einer seiner Aufsätze über und gegen das landeskirchliche Regiment Wilhelm II. so gereizt, daß er den Vorkämpfer des monarchischen Gedankens wegen Majestätsbeleidigung zu belangen wünschte. So hat sein kirchenpolitisches Ideal den genuin konservativen Mann vom Anfang bis ans Ende seiner Wirksamkeit zur politischen Opposition gegen den Regierungskurs genötigt.

Stöcker besaß auch hier den sicheren Blick für die Zukunft, wenn er immer wieder die These aufstellte: "Wir gewinnen die Sozialdemokratie nicht für unser an den Staat gebundenes Kirchentum." Von vornherein hatte Stöcker erkannt, daß die Entkirchlichung und Kirchenfeindschaft der sozialistischen Arbeitermassen in der zu engen Nachbarschaft von Kirche und Staat eine ihrer Wurzeln besaß. Wenn die pfarramtliche Seelsorge die sozialen Nöte des einzelnen dringlich vor Augen gestellt hatte, so erfaßte seine kirchliche Zeitkritik die Aufgabe und die Forderung einer "Volksseelsorge großen Stils" als unlöslich verbunden mit dem Gesamtproblem der "sozialen Frage". Die Kirchenpolitik besaß für ihn von Anfang an eine sozialpolitische Kehrseite. Die ganze Tragweite dieses Sachverhalts kam ihm jedoch erst zum Bewußtsein, nachdem Stöcker im Herbst 1874 als Hofprediger auf die vierte Pfarrstelle am Berliner Dom berufen war.

Die zur Millionenstadt anwachsende Reichshauptstadt stand damals im Zeichen der Liquidation der "Gründerjahre", deren verhängnisvolle Folgen zutage traten in ständig zunehmender Arbeitslosigkeit und in einer entsprechenden Empfänglichkeit der zugewanderten Arbeitermassen für die sozialdemokratische Agitation. Von der Wirksamkeit dieser Agitation einerseits, von der Notlage der wirtschaftlich [188] ungesicherten Arbeiter andererseits gewann der neue Hofprediger durch seine seelsorgerliche Tätigkeit starke und für seine Lebensarbeit bestimmende Eindrücke. Da die Domgemeinde als ursprünglich "reformierte" Personalgemeinde keinen abgeschlossenen Sprengel besaß, dehnten die Wege der Pastorisation sich fast über das ganze Stadtgebiet aus und brachten Stöcker in sehr viel nähere und beruflich dringlichere Berührung mit dem Massenelend und den sozialen Problemen als mit dem Glanz des Hofes und der aristokratischen Gesellschaft. Der durch die sozialen Verhältnisse bedingten sittlichen Gefährdung der Bevölkerung, namentlich in den neu entstehenden Arbeitervierteln, vermochte die offizielle Kirche keine Abhilfe zu bringen. Man hatte allerdings versucht, im Sinne Wicherns auf dem Wege der Inneren Mission wenigstens durch Armenpflege und Entlassenenfürsorge den gefährdeten Existenzen nachzugehen. Hier hatte Stöcker mit seiner ersten, sein Leben überdauernden Organisationsarbeit eingesetzt durch die Neugründung der Berliner Stadtmission (9. März 1877), welche seiner Entschlußkraft und unermüdlichen Arbeitsfähigkeit stetiges Fortschreiten und wachsende Festigung verdankte. Die in großem Umfang geleistete materielle Fürsorge sollte nur Mittel, niemals Zweck der das Elend aufsuchenden Liebestätigkeit sein. An ihren Ausbau hat die "missionarisch-diakonische Persönlichkeit" des Hofpredigers den größten Teil hingebender Arbeitskraft durch drei Jahrzehnte völlig selbstlos eingesetzt; in diesen harten, wenig lockenden Boden senkte der evangelisierende Prediger so tiefe und starke Wurzeln, daß er nach dem Verlust seines Kirchenamtes (1890) nicht nur seine eigene Predigtkirche als Mittelpunkt der Stadtmissionsarbeit bauen konnte (1892), sondern daß diese seine Lebensarbeit ihn als Organisator und Diener christlicher Liebestätigkeit an die Seite von J. H. Wichern und Fr. von Bodelschwingh treten läßt.

Von den vielfachen Teilgebieten der innermissionarischen Wirksamkeit sei hier nur auf eine ihn besonders kennzeichnende Arbeitsleistung hingewiesen, auf die sogenannte "Sonntägliche Pfennigpredigt". Angeregt durch die in England üblichen Straßenpredigten, mit denen die kirchliche Verkündigung die die Kirche meidenden Schichten zu erreichen suchte, verfolgte Stöcker das Ziel, den zahllosen "Sonntagslosen", deren Arbeit am Sonntag nicht ruhen konnte – im Verkehrswesen, im Gastwirtsgewerbe und so weiter – eine gedruckte Predigt zukommen zu lassen, deren Verteilung durch freiwillige Hilfskräfte erfolgen mußte. Mit dem Winter 1881 wurde diese Arbeit begonnen, für die Stöcker mit fast ausnahmsloser Regelmäßigkeit die wöchentliche Predigt verfaßte. Die erste Auflage erschien in sechshundert Stück, nach acht Jahren stieg die Auflagenzahl auf hundertzwanzigtausend; im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren sind hundertvierzig Millionen Stück verteilt worden – schon unter technischem Gesichtspunkt eine außergewöhnliche propagandistische Leistung im "Apostolat des kleinen Mannes", für welches auch scharfe Gegner in Politik und Weltanschauung ihm die Meisterschaft zuerkannten.

[189] Wenn man darum Stöckers Wirksamkeit mit Grund als "den lebendigen Kommentar zu Wicherns Gedanken" bezeichnen konnte, so hatten die Erfahrungen der ersten Berliner Jahre ihn gelehrt, daß "die mittelbare Einwirkung durch Liebestätigkeit spurlos an den Massen vorübergeht; sie wirkt eher abstoßend einem Geschlecht gegenüber, das materiell und sozial eine höhere Lebensstellung beansprucht". Die Grenzen der karitativen Betätigung gegenüber den sozialen Nöten waren erkannt; und es mußte ein anderer Weg gefunden werden, um die "ewigen christlichen Ideen" den entkirchlichten Massen nahezubringen: "Das Christentum hat alle Gedanken, um die Politik gerecht und das soziale Leben richtig zu gestalten. Deshalb hat die Kirche aber auch die Pflicht, ihre Gedanken geltend zu machen, und das Recht, dafür Anerkennung zu fordern; dieses Recht soll die Kirche als Kirche geltend machen."Stöcker war entschlossen, diesen kirchlichen "Willen zur Öffentlichkeit", solange die institutionelle Kirche diese ihr zugewiesene Aufgabe nicht aufgriff, für seine Person zu verwirklichen, sich nicht länger "durch Regierung und Liberalismus in die Kirchen und Sakristeien zurückdrängen" zu lassen, sondern seinerseits den Weg in die politische Volksversammlung anzutreten. Denn hier konnte er hoffen, an die Menschen heranzukommen, die in keine Kirche gingen und ihre Weltanschauung von den Redakteuren der radikalen Presse bezogen. Diese liberale und radikale, vielfach unter jüdischem Einfluß stehende Presse trug in Stöckers Augen die meiste Schuld an der Übersteigerung der sozialen Spannungen, die einen durch ihre "manchesterliche" Verschlossenheit gegenüber den sittlichen Untergründen der sozialen Notlage, die andern durch deren skrupellose Ausbeutung zu Parteizwecken.

Wieder wie im kirchenpolitischen Bereich erschien ihm die gegenwärtige Situation als Ergebnis einer "nicht richtigen geschichtlichen Entwicklung", nämlich "des liberalen wirtschaftlichen Systems, welches... in seiner Übertreibung alle Organisationen zerschlagend, zum Atomismus führt, der nichts anderes im Gefolge hat als ein großes Proletariat". Im Begriff, zum Kampf gegen die Sozialdemokratie anzutreten, erkannte Stöcker die Notwendigkeit, den eigentlichen Urheber der sozialen Nöte zu bekämpfen in dem "falschen Liberalismus, der liberal ist mit fremdem Recht, der nur den Wert der Freiheit kennt, aber nicht den Wert der Ordnung". Und zwar deshalb, weil er die "überirdischen Ordnungen nicht gelten läßt, auf denen das irdische Leben beruht". Die Herkunft solcher Kritik an der atomisierenden "Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Wucherfreiheit, Aktienfreiheit, unter denen unser Volk seufzt und verkümmert", aus dem konservativen Arsenal ist unverkennbar, aber die Zielsetzung, welche Staat und Kirche zur Abhilfe aufruft und einem christlichen Staatssozialismus zustrebt, bringt ein völlig neues Moment mit sich. "Die alte Fahne der Konservativen mit ihrer Inschrift 'Königstreue und Rechtskontinuität' genügt allein nicht mehr; an der sozialen Frage wird heute jede herrschende Partei ihre Macht oder Ohnmacht beweisen müssen!" Das war der neue politische Zielpunkt. Und den Verantwortlichen der Kirche legte er die Überlegung nahe: "Ein Arbeiter, der in der Gegenwart kein [190] rechtes Auskommen, für die nächste Zukunft keine sichere Existenz, für das Alter keine Hoffnung hat, ein Familienvater ohne gesunde Wohnung und ein Christ ohne Sonntag: ein solcher Mensch wird in den seltensten Fällen ein lebendiges Glied der Kirche, leicht aber ein Rekrut des Umsturzes werden." Darum sei es Pflicht der Kirche, mitzuwirken, daß die sozialen Grundlagen für ein gesundes Volksleben geschaffen werden. "Durch Innere Mission kann die Sozialdemokratie nicht überwunden werden; es bedarf einer sozialpolitischen Partei." Aus konservativer Ausgangsstellung heraus mit den geistigen Kampfmitteln der Kirche den Kampf gegen die Zeitmächte und Zeitnöte im Angriff gegen Liberalismus und Sozialismus politisch zu beginnen, das war der Zweck einer christlich-sozialen Arbeiterpartei, mit deren Gründung in der berühmten "Eiskellerversammlung" vom 3. Januar 1878 Stöcker seinen ersten politischen Versuch unternahm und seinen ersten Fehlschlag erlebte.

Denn die Versammlung endete mit einer Entschließung gegen die geplante Gründung dank dem gewandten Eingreifen bewährter Agitatoren der Sozialdemokratie, welche das Kampfgelände der Volksversammlung besser kannten als der unerfahrene Hofprediger und sich auch rednerisch überlegen zeigten, obgleich Stöckers Ansprache seine ungewöhnliche Begabung für eine volkstümliche Beredsamkeit, die ihn zum wirksamsten politischen Agitator der achtziger Jahre werden lassen sollte, an diesem Abend zum erstenmal unter Beweis gestellt hatte. "Ich stamme aus Ihren Kreisen. Mein Vater, ehe er Soldat und Beamter wurde, war ein Schmied... noch heute habe ich Vettern, die Arbeiter sind. Ich weiß sehr genau, wo den Arbeitsmann der Schuh drückt." Diesem psychologisch höchst wirksamen Beginn folgte die Warnung vor den "unpraktischen Träumen einer blutigen Sozialrevolution", unter Hinweis auf die Pariser Kommune von 1871, wie die scharfe Kritik am "herrschenden Wirtschaftssystem", zugleich mit der Anerkennung der berechtigten Forderungen der Sicherung des Arbeiters gegen die Wirtschaftskrisen, der Einschränkung der Frauenarbeit, des Verbotes der Sonntagsarbeit, der Schaffung eines Arbeitsrechtes. "In all diesen Dingen lassen sich zweckmäßige Reformen schon heut durchsetzen." Es war ein Programm der Sozialreform, getragen von dem Grundgedanken, daß die menschliche Arbeit nicht als Ware, sondern als persönliche Leistung gewertet und gestaltet werden müsse. Die Rede endete mit einem volksmissionarischen Aufruf: "Wollen Sie als Arbeiterpartei wirklich eine geschichtliche Bedeutung gewinnen, dann dürfen Sie das Edelste, was bisher in der Brust des Menschen gelebt hat, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Vaterland, nicht totschlagen, das dürfen Sie wahrhaftig nicht!" Der sozialistische Gegenredner aber wußte sofort die Wirkung der Stöckerschen Rede mit einer fanatischen Anklage gegen das christliche Pfaffentum, dessen Tage gezählt seien, "totzuschlagen".

Wenn Stöcker mit diesem ersten Versuch scheiterte, so trug neben der verständlichen inneren Abwehr der "klassenbewußten" Hörer einen erheblichen Teil der [191] Schuld sein optimistisches, zuweilen fast illusionistisches Zutrauen in die durchschlagende Werbekraft der "guten Sache" wie sein sorgloses, manchmal fast leichtfertiges Verfahren bei der Auswahl seiner Mitarbeiter. Denn trotz aller karitativen und missionarischen Erfahrungen fehlte es Stöcker an eigentlicher Menschenkenntnis.

Es ist dann doch am 25. Januar 1878 mit einer kleinen Zahl von Arbeitern zur Gründung einer christlich-sozialen Arbeiterpartei gekommen, auf der Grundlage eines Parteiprogramms, das unter Mithilfe des "Kathedersozialisten" Adolf Wagner ausgearbeitet wurde. Das Programm der "Partei der Rettung", welche der "Partei der Verführung" entgegentreten sollte, wollte Ernst machen mit dem Vorsatz, "durch Billigung der berechtigten Forderungen des städtischen Arbeiterstandes... ihn zum Verzicht auf seine unberechtigten Forderungen zu bringen", wie es in einer für Wilhelm I. bestimmten Eingabe Stöckers hieß. Die Forderungen nach obligatorischen Arbeiterorganisationen und obligatorischen Versicherungskassen, nach gesetzlichem Arbeiterschutz, worunter sogar der "Normalarbeitstag, modifiziert nach Fachgenossenschaften" genannt war, nach "arbeiterfreundlicher Leitung der Staatsbetriebe" (im Blick auf das mächtige Anwachsen der Arbeitnehmerschaft bei Eisenbahn und Postverwaltung) – sie unterstrichen den sozialen Willen zu wirksamer Hilfe wie den scharfen Gegensatz zum liberalen Wirtschaftsdenken, das noch von der "sogenannten Arbeiterfrage" zu sprechen liebte. Besonders in der Forderung der "verhandlungsfähigen" Fachgenossenschaften wirkte das Ziel einer "großen Korporation des gesamten Volkslebens", durch welche "die sozialrechtliche Ebenbürtigkeit von hüben und drüben" anerkannt und dem Ausweichen in "patriarchalisches Wohlwollen" der Arbeitgeber vorgebeugt werden sollte. Daß der "vierte Stand" ein Recht habe auf eine Umgestaltung der Wirtschaftsverfassung, ist das Moment, welches Stöckers "Kanzelsozialismus" in den Verdacht und in die Nachbarschaft eines "staatsgefährlichen" Sozialismus bringen mußte in den Augen der alten Parteien, einschließlich der konservativen Richtungen.

Stöcker leugnete diesen Gegensatz zur bürgerlichen Staats- und Weltanschauung nicht ab, sondern sprach vielmehr gern von einer neuen "Staatsidee, welche offen anerkennt, daß der Arbeiter in seiner unsicheren Lage... einen berechtigten Anspruch hat auf die Fürsorge des Staates... das sind Neuerungen im Staatsbegriff, von welchen die liberale Staatsidee keine Ahnung hat" (14. Dezember 1882). Denn mit dieser neuen Idee des Staatssozialismus hoffte er der alten Konservativen Partei zu einer "Auferstehung als Volkspartei" zu verhelfen, indem die "christlich-soziale" Arbeiterschaft als selbständige Formation unter die Fahne des monarchischen Konservativismus treten sollte.

Die Partei und ihr Programm haben nicht die erwartete Anziehungskraft erwiesen; die Arbeiter kamen nicht, jedenfalls nur in so verschwindender Zahl, daß die Beteiligung an den "Attentatswahlen" von 1878 mit rund zweitausend [192] abgegebenen Stimmen den Mißerfolg dieser Parteigründung "aus wilder Wurzel" offenkundig machte. Einen der Hauptgründe des Mißlingens kann man darin erblicken, daß das Programm, welches die "gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch verwarf", seinerseits "eigentlich nur praktisch erfüllbare Forderungen vorschlug", wie Stöcker selbst später hervorhob, darum der Zugkraft entbehrte, weil es "zu wenig Utopie" enthielt, so daß ein erheblicher Teil bereits in der ersten Stufe der deutschen sozialpolitischen Gesetzgebung von 1883/7 verwirklicht werden konnte. Das Programm wollte die Partei zwar in den Dienst des "sozialen Ausgleichs" stellen, aber es verfolgte doch daneben den Zweck, auf dem Umweg der sozialpolitischen Forderungen die Arbeiter wieder für die Kirche zu gewinnen und der Kirche zuzuführen. Die Arbeiter mußten durchschauen, daß sie als Mittel zu einem außerhalb ihres Gesichtskreises und ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung liegenden Zweck dienen sollten. Und endlich, in politischer Richtung trug das Programm wohl dem Gegensatz zwischen sozialistischer und liberaler Anschauung Rechnung, jedoch nicht der tiefen Oppositionsstimmung der Arbeiterschaft gegenüber dem bestehenden Staat. Es war selbstverständlich, daß ein monarchisch-konservativer Mann wie Stöcker wohl zu einer "Regierung", nicht aber zum bestehenden Staat und seiner Spitze in Opposition treten durfte; darum konnte seiner Parteigründung die Erfahrung nicht zugute kommen, daß lebensfähige Parteien aus einer grundsätzlichen Opposition gegen bestehende Gewalten ihre Kraft zu ziehen pflegen. Nicht als Abgeordneter seiner Partei, sondern als konservativer Abgeordneter wurde Stöcker 1879 in den Landtag für Minden-Ravensberg und ebenso 1881 vom Wahlkreis Siegen in den Reichstag gewählt – beides Bezirke, in denen die Kirche und kirchliches Leben noch den Rang einer "sozialen Großmacht" besaßen, wie er ihn für die Gesamtkirche erstrebte.

Die "christlich-soziale Arbeiterpartei" hat anfangs 1881, nachdem ihre Versammlungen und Veranstaltungen ihrem Gründer zum Sprungbrett für seinen Angriff auf "die Seele Berlins" gedient hatten, das Wort "Arbeiter" aus ihrem Namen gestrichen und wurde zum Ausgangspunkt der vorwiegend die kleinbürgerlichen Schichten erfassenden antisemitischen "Berliner Bewegung".


Die Attentate des Sommers 1878 wurden mit den scharfen Repressivmaßnahmen des Sozialistengesetzes beantwortet. An der Fragwürdigkeit der sozialpolitischen Lage war dadurch nichts geändert. "Könnte man die Sozialdemokratie wirklich mit Gewalt niederhalten, was wäre gewonnen? Sie müssen wieder deutsch und Christen werden, das ist das Problem; sehr schwierig, aber wert, daß man alle Kräfte daransetzt." Die Aufgabe, welche Stöcker sich gestellt sah, war die gleiche geblieben, doch schlug er im Jahre 1879 einen neuen Weg zum alten Ziele ein. Der Kampf für die Rückgewinnung des Volkes für das Christentum [193] führte mit Notwendigkeit zum Zusammenstoß mit der Kirchenfeindschaft des weltanschaulichen Liberalismus und zugleich mit seinem kapitalkräftigen und einflußreichen Bundesgenossen, dem modernen Judentum. Mit der durch die Gesetzgebung von 1869 vollendeten Emanzipation setzte ein so nachhaltiger Vorstoß des Judentums auf die "Lebensadern" des öffentlichen Lebens und namentlich der Reichshauptstadt ein, daß eine scharf antisemitische Stimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung sich auszubreiten begann. Im Jahre 1880 soll die Zahl der in Berlin ansässigen Juden der Gesamtzahl der in Frankreich überhaupt wohnenden Juden entsprochen haben. Das öffentliche Leben Berlins mochte durch den jüdischen Einfluß auf die Presse als "fast völlig entdeutscht" erscheinen. Es kam dazu, daß der damalige jüdische Stadtverordnetenvorsteher in den zwischen der "modernen" bibelkritischen Richtung und der "positiven" biblizistischen Richtung der evangelischen Kirche aufgekommenen Meinungsstreit in anmaßendster Weise sich einzumischen wagte und dadurch die leidenschaftliche Abwehr Stöckers herausforderte. Am 29. September 1879 trat Stöcker mit einer Rede hervor, die ihn mit einem Schlage in den Vordergrund des öffentlichen Kampfes stellte durch die drei berühmt gewordenen Forderungen an das Berliner "moderne Judentum": "ein klein wenig bescheidener" – in der Selbsteinschätzung des jüdischen Geistes für die religiöse und sittliche Entwicklung der Menschheit; "ein klein wenig toleranter" – in den Angriffen auf die Geschichte, die Lehren und die Wirksamkeit des Christentums; und schließlich: "bitte, etwas mehr Gleichheit!" "Das moderne Judentum muß an der produktiven Arbeit (im Wirtschaftsleben) teilnehmen!" Denn von der "Judenfrage als einem Gegenstand sozialer Besorgnis" war der Redner ausgegangen im Blick auf die "seit einigen Monaten in hellen Flammen stehende" Diskussion der These: "Die soziale Frage ist die Judenfrage." In dieser dreifachen Richtung: gegen die beherrschende Sonderstellung des kapitalkräftigen Judentums im Wirtschaftsprozeß; gegen die Zersetzung der christlichen und nationalen Überlieferungen des deutschen Volkslebens durch das dem jüdischen Glauben entfremdete Reformjudentum, "dessen Bekenntnis steht auf dem leeren Blatt zwischen Altem und Neuem Testament"; gegen den durch die Presse auf allen lebenswichtigen Gebieten ausgeübten Einfluß dieser trotz der Emanzipation "als Volk im Volk, als Stamm im Staat" sich abschließenden "Minorität" – in dieser dreifachen Richtung hat Stöcker von da an in ungezählten Reden der Volksversammlungen wie der Parlamente den Angriff geführt gegen das "moderne Judentum". Doch hat er am Schluß der ersten Rede noch die Warnung ausgesprochen: "Schon beginnt ein Haß gegen die Juden aufzulodern, der dem Evangelium widerstrebt... Israel muß den Anspruch aufgeben, der Herr Deutschlands werden zu wollen... sonst ist eine Katastrophe zuletzt unausbleiblich." Dem eigenen Volk galt die weitere Mahnung: "Rückkehr zu mehr germanischem Rechts- und Wirtschaftsleben, Umkehr zu christlichem Glauben, so wird unsere Losung lauten." Diese in einer christlich- [194] sozialen Parteiversammlung gehaltene Rede "erbohrte einen Quell, aus dem Ströme des Hasses und der Verhetzung sich über Stöckers Leben ergossen wie kaum über einen anderen Mann des öffentlichen Lebens". Dem schneidigen und schonungslosen Angriff antwortete eine ebenso schonungslose und leidenschaftliche Gegenwehr, deren vergiftende Wirkung Stöcker zwar langsam, aber um so nachhaltiger in den folgenden Jahrzehnten zu spüren bekam. Zunächst trug der aufflammende Kampf den volkstümlichen Redner mit seiner "furchtbaren Beredsamkeit" auf die Höhen einer "populären Existenz" als Begründer der "Berliner Bewegung", in deren antisemitischem Strombett alles mündete, was an konservativen und antiliberalen, christlich-sozialen und mittelständlerischen, patriotischen und kirchentreuen Stimmungen und Verstimmungen im Berliner Bürgertum vorhanden oder zu wecken war. Der Kampf Stöckers um die Rückgewinnung der Arbeiterschaft für "Thron und Altar" wandelte sich in ein Ringen gegen alle Kräfte, denen die Schuld an der geistigen Entfremdung des "Vierten Standes" von den überlieferten Werten beizumessen war: gegen das liberale und freisinnige Bürgertum und seine Führung, gegen die unsoziale Wirtschaftsgesinnung, gegen die Sozialdemokratie und ihre Kirchenfeindschaft – in und hinter allen diesen Mächten gegen das "moderne" Judentum, denn es stand irgendwie mit jeder von ihnen im Bunde. Und dieser Kampf hat die Schaffenskraft seiner besten Jahre aufgesogen und verzehrt.

So eindeutig und klar die tatsächliche Gegnerschaft gegen das Judentum in Stöckers Agitation zutage tritt, so wenig geklärt ist seine grundsätzliche Stellungnahme. Das Vordringen des Judentums auf dem Boden der Wirtschaft wie des Geisteslebens "bedeutet für uns einen Kampf ums Dasein in der intensivsten Form. Man täusche sich nicht: auf diesem Boden steht Rasse gegen Rasse und führt, nicht im Sinne des Hasses, aber des Wettbewerbs, einen Rassestreit... Das Judentum ist ein Volk im Volk, ein Staat im Staat, ein Stamm in einer fremden Rasse" (26. September 1879). Ausführungen dieser Art legen den Schluß auf einen rassisch bedingten Antisemitismus ebenso nahe, wie andere und wiederholte Äußerungen dem entgegengehalten werden können, in denen Stöcker den "Rassenantisemitismus" als "unchristlich" ebenso nachdrücklich ablehnt, wie er die These von der Unwirksamkeit der aus Überzeugung vorgenommenen Judentaufe als "Rückfall in die Nationalreligionen" bezeichnet. Christliche Maßstäbe bestimmten auch in dieser Frage vorwiegend sein Urteil; durch ihre Nationalität wie durch ihre Religion seien die Juden davon "abgehalten, den Strom christlich-deutschen Lebens mit uns zu durchmessen..." "Aber", so heißt es in der Rede vom "Aufwachen der deutschen Jugend": "ich gebe auf eine bloße antijüdische Bewegung gar nichts, wenn sie nicht durchdrungen ist von einer herzlichen Liebe zum Evangelium in unserm Volk... Deutschland muß wieder christlich werden." (4. 3. 81.)

Die von radikaler Seite zur Diskussion gestellte Forderung, die Emanzipation rückgängig zu machen, hielt Stöcker für praktisch undurchführbar, obwohl er sie [195] "prinzipiell" zu bejahen geneigt war: "Die Emanzipation ist ein Irrtum... unter nationalem und sozialem Gesichtspunkt." Wolle man sie, die bei allen Kulturvölkern eine Tatsache sei, im bestehenden Staat durch politischen Kampf aufheben, so würde die Frage, "ob wir den Juden die Emanzipation geben oder nehmen sollen, die Hauptaktion des politischen Lebens werden", und ein so durchschlagendes Gewicht mochte er ihr nicht beimessen. Jedoch erhob er die wiederholte Forderung, die Wirkung der Emanzipation "ohne Ausnahmegesetze" auf dem Verwaltungsweg, unter stillschweigender Nichtachtung der durch die Verfassung gewährten Rechte, einzudämmen. Der "israelitischen Minorität" soll Achtung und Toleranz, aber nicht der geringste Einfluß "auf das öffentliche Leben zugestanden werden; sie sollen Schutz genießen, ohne unser Volkstum zu schädigen... aber daß Juden wählen und gewählt werden, staatliche oder gar obrigkeitliche Ämter haben, daß sie in Parlament und Kommunalbehörden sitzen, Lehrer in unseren Schulen sind, ist im Prinzip absolut zu verwerfen". Aber Stöcker verschwieg auch seine Überzeugung von dem tiefsten Grund der jüdischen Einflußnahme nicht: "Wenn nicht ein abgefallenes deutsches Volk dem Judentum den Finger gereicht hätte, der moderne Jude hätte nie die deutsche Hand ergreifen können." Aber gerade deshalb hält er an dem Grundgedanken seiner Agitation unbeirrbar fest: "Mir erscheint ohne die Bekämpfung der Judenwirtschaft jede bauende Politik unmöglich." (1894.)

"Mich trieb die Angst um mein Volk in die christlich-soziale Bewegung hinein; ich sah in der sozialen Frage den Abgrund, der vor dem deutschen Leben klafft. Ich bin hineingesprungen, zuerst ohne die Tiefen zu ermessen, weil ich nicht anders konnte." Die "Tiefen" des politischen Kampfes hat Stöcker erst im Lauf der achtziger Jahre richtig erkennen und einschätzen gelernt. Zunächst gewann er durch die Vereinigung der christlich-sozialen und antijüdischen Richtung in der eigenen Agitation wie in der Aufnahmebereitschaft seiner Hörer in der Berliner Öffentlichkeit eine Stellung, welche von ihm selbst mit Genugtuung, von seinen Feinden mit Erbitterung oder Ironie als "Volkstribunat" bezeichnet werden konnte. Die Jahre 1884 und 1885 bildeten den Höhepunkt seiner volkstümlichen Wirksamkeit, erkennbar an der bei der Reichstagswahl von 1884 für die Deutschkonservative Partei in Berlin abgegebenen Stimmenzahl, da die "Berliner Bewegung" konservativ wählte. Seit den "Attentatswahlen" von 1878 war die konservative Wählerschaft von vierzehntausend über sechsundvierzigtausend im Jahre 1881 auf sechsundfünfzigtausend Stimmen gewachsen; der steilste Anstieg lag also im Anfang der Bewegung, und die Gegnerschaft von Fortschritt und Sozialdemokratie hatte immer noch rund einhundertvierzigtausend Stimmen und damit eine absolute Überlegenheit behauptet. Aber daß überhaupt eine nennenswerte konservative Minderzahl in Erscheinung trat, war nur der von Stöcker begonnenen und geleiteten Bewegung zu danken. Um dieselbe Zeit begann aber der Umschwung in Stöckers Laufbahn einzusetzen, weil die Strömungen des politischen Lebens ihre [196] Richtung zu wandeln begannen. Von dieser Wandlung wurde Stöcker betroffen sowohl in seiner Eigenschaft als konservativer Politiker wie in seiner Stellung als "Hof- und Domprediger".

"Ein Hofprediger bewegt sich auf Glatteis", diese Erfahrung bewahrheitete sich an Stöcker in um so höherem Grade, je weiter die Erfolge seiner Agitation und sein politischer Ehrgeiz ihn auf den politischen Kampfplatz lockten. Denn sein leidenschaftliches Temperament, die Neigung, in lebenswichtigen Fragen und Lagen "plötzliche" statt ausgereifte Entschlüsse zu fassen; der optimistische Glaube an den Erfolg des guten Willens und der Mangel an Mißtrauen in die gegnerischen Absichten – diese zufassende Willenskraft, erfolgreich bewährt in der aufbauenden Arbeit der Inneren Mission, ließ ihn auf dem politischen Kampfplatz, nach Bismarcks Wort, zum "Simson" werden, der sich selbst ebenso gefährdet wie den Gegner.

Die Summe all der Schwierigkeiten, an denen Stöcker als Politiker schließlich scheitern mußte, liegt in der Feststellung enthalten, daß das Amt des Hofpredigers als "Stütze und Fessel zugleich" sich erwies. Die höfische Stellung konnte anfangs von ihm selbst, aber auch von den Gegnern, "als indirekte Deckung" seines politischen Auftretens gewertet werden, im Endergebnis mußte sie seine politische Bewegungsfreiheit durch die vom Hof geforderte Rücksichtnahme entscheidend einschränken und ihn zu verhängnisvollen Kompromissen nötigen. Zuletzt war Stöcker nicht mehr frei in seiner Entscheidung, sondern wurde durch die aus bereitwilliger Förderung in "Ungnade" verwandelte Haltung Wilhelms II. zum Rücktritt vom Amt genötigt, als die Rücksicht auf das Amt ihm schon die unabhängige Stellung des nach freiem Ermessen redenden und handelnden Politikers und Agitators gekostet hatte.

Noch zu Lebzeiten Wilhelms I., dessen ausgesprochene Billigung der "tapfere Lanzenbrecher" in seinem Kampf für "die Erhaltung der Religion" während der ersten Jahre erfahren hatte, drohte bereits – im Sommer 1885 – die Nötigung zum Verzicht auf das Hofpredigeramt; weil, nach Bismarcks scharfsichtigem Urteil, "Agitator und Hofprediger nicht zusammenpassen" konnten in der einmal gegebenen Atmosphäre des kaiserlichen Berlin. Doch wurde die Gefahr beschworen durch die Vermittlung des Prinzen Wilhelm, der nicht nur für den erfolgreichen Leiter der Stadtmission, sondern auch für "den tapfersten, rücksichtslosesten Kämpfer für die Monarchie im Volk" seine Fürsprache einlegte. Den Anlaß zu dieser Krise bot das Urteil in einem der Beleidigungs- und Verleumdungsprozesse, in welche Stöcker infolge seines nicht immer überlegten Auftretens von seinen Gegnern verwickelt wurde mit der besonderen Absicht, ihn mit dem Vorwurf des Meineids zu belasten. Das damalige Urteil ist in der Revision aufgehoben worden, wie denn überhaupt keiner dieser Prozesse zu seiner rechtskräftigen Verurteilung führte, während mehrere seiner Gegner, zuletzt der Saarbrücker Industriemagnat von Stumm, rechtskräftig wegen Beleidigung verurteilt worden sind.

[197] Während der kurzen Regierungszeit Kaiser Friedrichs III., dem die antijüdische Agitation und die politische Betätigung des Hofpredigers von jeher anstößig war, wurde er vor der gleichen Gefahr bewahrt durch das Eingreifen Bismarcks, obwohl er in der den Kanzler bekämpfenden altkonservativen Gruppe der Kreuzzeitungspartei zusammen mit deren Chefredakteur von Hammerstein die führende Rolle spielte. Eine in ihren Beweggründen nicht durchsichtige Hilfsbereitschaft, und um so erstaunlicher, als Bismarck im Jahre 1880 die Anwendung des Sozialistengesetzes gegen Stöcker wegen der "kommunistisch-sozialistischen Tendenz seiner Aufreizung der Begehrlichkeiten der Massen" erwogen hatte und nicht ohne Mühe davon zu überzeugen gewesen war, daß man unmöglich einen konservativen Hofprediger polizeilich ausweisen könne, dessen Ziel sei, Berlin "den Hohenzollern zu Füßen zu legen". Jedoch Bismarck hatte Stöcker in dem Verdacht, ein "evangelisches Zentrum" gründen zu wollen, und blieb bei seiner mißtrauischen Einschätzung: "Er hat nur den einen Fehler als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt." Weniger ein "Fehler" war es als ein Verhängnis, der Schicksalsweg, den Stöcker beschritten hatte, als er die "Sicherheit geistlichen Auftretens" mit der "Unsicherheit politischer Kontroversen" glaubte vertauschen zu müssen, um "die ewigen christlichen Ideen, die guten alten deutschen Gedanken im Volk zu verbreiten."

Das Verhängnis wurde mit seinen Folgen offenbar, als Stöcker mit dem Jahresende 1890 auf den nachdrücklichen Wunsch Wilhelms II. aus seinem Amt als Hofprediger scheiden mußte. Die anfängliche Begeisterung des Prinzen Wilhelm für seine charitative und königstreue Wirksamkeit hatte sich mit den Jahren in ihr Gegenteil verkehrt bis hin zu dem berüchtigten Telegrammwort "Christlich-Sozial ist Unsinn", welches sein Empfänger v. Stumm, einer der schärfsten Gegner jeder Sozialreform, mit kaiserlicher Genehmigung veröffentlichen durfte. Infolge dieser politisch rein persönlich bedingten Wendung des Kaisers stand Stöcker nicht nur vor der Notwendigkeit, sein kirchliches Hofamt aufzugeben, sondern auch vor der Unmöglichkeit, gegen den Willen des Monarchen für den monarchischen Gedanken mit Erfolg zu kämpfen. Dieser schicksalhafte Abschluß seiner politischen Kampfjahre hatte sich unabwendbar vorbereitet, seitdem durch das Zusammengehen der Deutschkonservativen mit dem gemäßigten Liberalismus den monarchisch-konservativen und christlich-sozialen Schichten die "Berliner Bewegung", ein wichtiger Gegner und mit ihm eine entscheidende Wirkungsmöglichkeit genommen war. Und damit kam die "Bewegung" zum Ende, ohne das große Ziel erreicht zu haben, welches ihrem Führer vorgeschwebt hatte, der Konservativen Partei zu einer "Auferstehung als 'Volkspartei' zu verhelfen".

Mit dem Ausscheiden aus dem Kirchenamt war zwar der Höhepunkt der agitatorischen Wirksamkeit überschritten, jedoch die Rolle Stöckers im öffentlichen Leben noch nicht ausgespielt. Die kleine Christlich-Soziale Partei besaß seit 1888 eine eigene Zeitung und konnte infolgedessen publizistisch sich unabhängig machen [198] von der Konservativen Partei, zu deren agrarischer Wendung die christlichen Sozialreformer in scharfen Gegensatz gerieten. So wurde er vor die Wahl gestellt zwischen einer konservativen Partei, welche den altkonservativen Ideen sich mehr und mehr entfremdete, auf denen ihre Kampfgemeinschaft gegründet war, und zwischen der von ihm ins Leben gerufenen Partei, in welcher um den jungen Friedrich Naumann radikalere Neigungen auftraten, als Stöcker sie billigen konnte. In dieser Wahl hat er sich 1896 ungern genug zur Loslösung vom konservativen Boden entschlossen – auch hier, wie 1890, von den Verhältnissen gedrängt, nicht sie bestimmend. Aber doch erwuchs die Entscheidung folgerichtig aus der inneren Entwicklung, weil Stöcker, wie Friedrich Naumann richtig erkannte, "trotz seines soziales Scharfblicks in seiner Seele mehr konservativ als sozialistisch" empfand. Von 1890 bis 1908 hat er wieder seinen alten Wahlkreis Siegen im Reichstag vertreten, ohne wirksamen Einfluß auszuüben, aber in sozialpolitischen Debatten noch immer ein beachteter Redner, namentlich wenn er den rednerischen Attacken Bebels als einziger bürgerlicher Redner in Abwehr und Angriff sich noch gewachsen zeigte.

Die eigentliche Bedeutung des alten Stöcker hat sich, wie die des jungen, auf kirchlichem und sozialpolitischem Gebiet ausgewirkt, im Bemühen, zunächst in breiterer Front, gemeinsam mit dem kirchlichen Liberalismus auf dem Evangelisch-Sozialen Kongreß (1890), dann auf der Evangelisch-Sozialen Konferenz (1896), das Gewissen und die Anteilnahme der Öffentlichkeit für die Forderungen der sozialen Frage zu wecken. Gerade in dieser Kernfrage seiner Lebensarbeit war die Abhängigkeit der Kirche vom Staat verhängnisvoll spürbar geworden; denn in den fünfundzwanzig Jahren von 1878 bis 1903 hatte die Kirchenregierung viermal ihre grundsätzliche Stellungnahme zur sozialen Frage in gehorsamer Anlehnung an die Schwenkungen der Regierungspolitik gewechselt und damit "die klirrende Kette am Bein des Staatskirchentums" zu spüren bekommen. Als die Generalsynode von 1897 der diesmal reaktionären und antisozialen Schwenkung des Kirchenregiments ebenfalls zustimmte, zog Stöcker unter seine alten Hoffnungen auf eine selbständige Haltung der Kirche in den Lebensfragen des deutschen Volkes den Schlußstrich mit den bitteren Worten: "Die armen Tröpfe, die selbst ihr Todesurteil unterzeichnen und dabei noch die devotesten Reverenzen machen! Es ist doch schlimm um den Protestantismus bestellt. Er läßt sich durch Fürsten und ihre Diener mit Freuden zertreten und singt wie Goethes Veilchen: Und sterb ich denn, so sterb ich doch durch dich, zu deinen Füßen doch!'"

Der einstige Landpfarrer hatte die "Arena des Parteikampfes" betreten, um der Kirche als "zweiter sozialer Großmacht neben dem Staat" ihren Platz im Volksleben zu erkämpfen. Aber da die bürokratisch verwaltete Kirche seinem Ruf – oder der von ihm ausgehenden Verlockung? – nicht folgte, so ging Stöcker allein zu den Massen, um sie in Bewegung zu setzen, doch ohne sie bei der Kirche halten zu können. Die Kehrseite der von ihm selbst und für ihn allein errungenen "popu- [199] lären Existenz" zeigte sich in der Entfesselung von Haß, Mißtrauen, Verdächtigung und Verleumdung in einem Ausmaß – allein von jüdischer Seite sind zweihundert Broschüren gegen Stöcker veröffentlicht worden –, welchem allerdings das Gegengewicht gehalten wurde durch eine ebensolche Welle der Liebe und Begeisterung, der Treue und Opferwilligkeit, von der seine Lebensarbeit an der Inneren Mission bis zuletzt getragen wurde. Diese Verehrung und diese Treue galt der christlichen Persönlichkeit und ihrer Wirksamkeit der Nächstenliebe in der Stadtmission, "auf dem Boden, auf dem er ein Antäus ist", wie Bismarck von ihm sagte, das heißt: unüberwindlich in immer neuer Kraft.

An der Aufrichtigkeit und Lauterkeit dieser christlichen Persönlichkeit ist so wenig zu zweifeln, wie andererseits die politische Persönlichkeit in den Ruf der Unentschlossenheit und Undurchsichtigkeit, sogar der Doppelzüngigkeit wie der allzu hitzigen Kampflust geraten konnte. Stöcker hat es an Selbstkritik auch nicht fehlen lassen: "Wir haben in manchem gefehlt; in der sozialen Idee sind wir schnell, in der sozialen Arbeit langsam gewesen; in der volkstümlichen Agitation haben wir leidenschaftlich geredet und in der brüderlichen Liebe nicht brennend genug gehandelt." Und mancher wird im Blick auf dieses in unablässigem Kampf sich verzehrende Mannesleben an das Wort Kierkegaards denken: "Sind nur die Tugenden getauft, sind die Leidenschaften Heiden?" Denn man wird nicht vergessen dürfen, daß der Politiker Stöcker jederzeit der Prediger blieb, der auch während der heftigsten politischen Kämpfe im Dienst wie in der Kontrolle seines Predigtamtes stand und einer scharfblickenden Gemeinde ins Auge zu sehen hatte. Daß die Zucht dieses Amtes, seines eigentlichen Berufes, lebenskräftig geblieben war durch die Jahrzehnte des Kampfes, dafür besteht das wohl unverdächtige Zeugnis eines Friedrich von Bodelschwingh, der als Gast Stöckers auf dessen Reintaler Bauernhof bei Partenkirchen 1906 sagen konnte, daß er "nach seinen bis in die tiefsten Tiefen des göttlichen Wortes hinabsteigenden Andachten ihm alles abgebeten, was er im Leben an ihm auszusetzen fand".




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz