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Westpreußen und die Grenzmark
Paul Fechter

Ein Novembertag an der Weichsel. Im abendlichen Licht versinkt drüben Marienwerder, dessen prachtvolle Burg- und Domanlage mit dem phantastischen Griff des Danskers von der Höhe in die Niederung herab fast noch deutlicher als die Marienburg über der Nogat erkennen läßt, wie die große Zeit der späten Gotik sich im Osten, nicht mehr im Westen abgespielt hat; fern unter der Sonne dämmern im Dunst die Höhen jenseits des Stromes herauf, der breit, majestätisch, ruhig und leer seine Bahn zieht.

Wir stehen auf dem Deich an dem berühmten deutschen "Zugang zur Weichsel" bei Kurzebrack. Unten im neuen Hafen, der den Polen gehört, obwohl er auf der deutschen Seite liegt, hat gerade der kleine Dampfer angelegt, der ein- oder zweimal wöchentlich von Marienburg her die Fahrt stromaufwärts macht. Pustend kommt die Kleinbahnlokomotive von Marienwerder herangewackelt; sie darf jetzt über den Vier-Meter-Streifen bis ans Wasser fahren, um dort die Güter, die das Schiff gebracht hat, in Empfang zu nehmen und heraufzuschleppen. Wir dürfen nicht auf den deutschen Zugang zur Weichsel; man darf ihn nur mit einem Ausweis der Polen betreten. Der Pole, der auf der deutschen Seite am Hafen rechts neben dem Wegeinschnitt haust, ist zwar gerade nicht da, ist unten an der Landungsstelle, aber die Sache ist riskant, wenn man nicht viel Zeit zur Verfügung hat. Man geht lieber ein Stück stromaufwärts den Damm entlang, der hier für eine kurze Strecke unter deutscher Verwaltung steht; dann kommt ein polnisches Stück, dann wieder ein deutsches, wieder ein polnisches, zuletzt noch ein deutsches. Alles auf Grund von Versailler Weisheit, die hier selbst den Polen schließlich zu dumm geworden ist.

Wir stehen auf dem Damm bei den herrlichen alten Bäumen über der alten versumpften Hafenanlage aus der Friderizianischen Zeit. Der mächtige Strom leuchtet im abendlichen Licht; nur ein dunklerer Schatten liegt drüben spitz stromaufwärts über seiner Mitte. Man versucht zu erkennen, was diesen Schatten bedingt. Der Begleiter lacht: "Eine Sandbank. Der ganze Strom ist voll."

Er wendet den Kopf nach der anderen Seite, nach Norden zu, wo man fern im grauen Nebeldunst die Türme von Mewe ahnt: "Passen Sie einmal auf."

Ein Schiff kommt schattenhaft aus dem schon abendlich sinkenden Grau von Norden her, ein polnischer Dampfer. Er fährt ungefähr in der Mitte der Weichsel stromaufwärts. "Geben Sie acht - jetzt wird er gleich nach der polnische Seite hinüber abbiegen."

Ein paar Augenblicke später schlägt das Fahrzeug wirklich einen Haken nach rechts bis fast ans Ufer heran.

"So - jetzt wird er eine Weile drüben entlangfahren."

Der Dampfer tuts.

[125] "Und nun kommt er auf unsere Seite herüber - über die Stommitte hinweg - sehen Sie?"

Der Dampfer gehorcht, nähert sich, als ob er aufkreuzt, schräg aufwärts steuernd dem deutschen Ufer. "Und jetzt wird er wieder nach der Fahrrinne in der Mitte zurückkehren."

Auch das trifft ein. Auf einen fragenden Blick zuckt der Mann die Achseln. "Alles Sandbänke, Herr. Man muß heute sehr genau Bescheid wissen, wenn man nicht alle Augenblicke festsitzen will. Der ganze Strom versandet, weil die Polen nicht baggern."

Das ist Westpreußen - an seinem Strom, an seiner Weichsel.


Eine Stunde später kommen wir die Straße entlang, die von Marienwerder südwestwärts zu der Stelle führt, an der einst die mächtige Eisenbahnbrücke nach Münsterwalde hinüberging. Von der Brücke ist nichts mehr zu sehen: die Polen haben sie abgerissen, weil sie möglichst wenig Verbindungen über den Strom hinüber und herüber bestehen lassen wollten.

Da der innere Damm und das Land zwischen dem äußeren und dem inneren Damm hin wieder polnisch ist, besteht ohne Visum keine Möglichkeit, bis an die Weichsel heranzukommen. An der Grenzlinie hört die Straße auf; sie verliert ihren Sinn; einen Kilometer weiter hört sie überhaupt auf, endet am Ufer in der leeren Luft. Neben ihr liegen auf dem hohen Bahndamm die verrosteten Eisenbahnschienen der Bahnstrecke, die einst über die Münsterwalder Brücke hinüber nach Westen führte, und den Mittelgegenden des deutschen Ostens, insonderheit der Stadt Marienwerder und ihrem Hinterland eine zwei Stunden schnellere Verbindung mit Berlin gewährte. Da wo sich heute die Grenze hinzieht, geht über die Eisenbahnschienen ein Querdamm, ein Balken, in halber Mannshöhe; hier ist die Welt zu Ende, und nicht weit dahinter sind es die Schienen auch: sie sind aufgerissen, der leere Bahndamm zieht sich sinnlos noch bis zu der leeren Weichsel hin.

[126] Auf der andern Seite der Straße liegen verlassen zwei Grenzbuden, die deutsche und die polnische. Sie sind unbewohnt, die Fenster vernagelt; in dem Kalkbewurf sieht man noch die Kugelspuren von der letzten freundnachbarlichen Begegnung zwischen Polen und Deutschen.


Das ist Westpreußen - zwei Beispiele für unzählige. So wie hier am Strom in Jahrhunderten gewordene natürliche Verbindungen abgehackt, unterbrochen, unterbunden und zerstört wurden, so sind längs der Grenzen auf beiden Seiten des Korridors unzählige Bahnen, Straßen, Chausseen, Landwege ihres Sinns beraubt; die natürliche Bewegung des Lebens im Raum wurde abgerissen, dem westöstlichen Strom der Volksbewegung, die hier die natürlich ist, hart und feindselig vernichtend und künstlich die südnördliche entgegengestellt, ohne daß das natürliche Rückgrat einer solchen Bewegung, der Strom, die Weichsel in diese politische Richtung hineinbezogen, als natürlicher Orientierungsfaktor benutzt wurde. Man hat aus Westpreußen mit dem Korridor das Herzstück herausgeschnitten und hat zugleich doch das organische Rückgrat des Gebiets, das man uns nahm, den Strom im Weichselland, fast möchte man sagen eingehen lassen. Die Weichsel, zu deutschen Zeiten der natürliche, sinnvolle Verbindungsweg aus dem damals russischen Polen durch das deutsche Gebiet zur Ostsee, das natürliche Transportmittel für Holz und alle möglichen Waren, ist heute nicht nur tot in bezug auf den Verkehr; sie stirbt auch, weil nichts für sie getan wird, als Strom. Sie versandet, weil keine Fahrrinne wie zu deutscher Zeit durch Baggern frei erhalten wird. Sie kehrt, weil Polen an dem Strom, der bei Danzig mündet, gar kein Interesse hat, sondern seinen staatlichen Wirtschaftswillen auf die südnördliche Bahnlinie nach Gdingen konzentriert, in den Urzustand zurück. In den Deichverhältnissen des Grenzgebiets hat die harte Lebensnotwendigkeit über den politischen Irrsinn gesiegt: da hat sich, um eine einheitliche Erhaltung der für beide Völker lebensnotwendigen Dämme zu sichern, ein deutsch-polnischer Deichverband gebildet, der versucht, eine vernünftige Pflege der Deiche durchzuführen. Der Strom selber, an dem die Deutschen keinen Anteil haben, verkommt.


Danziger Fischer.
[125]      Danziger Fischer.
Das Schicksal Westpreußens ist im Grunde viel härter gewesen als das Ostpreußens. Das Diktat von Versailles riß sein Kernstück, das Weichselland, heraus und gab es an Polen, trennte Danzig und das Werder ab und ließ nur kümmerliche Reste der Provinz übrig. Das Reich hat die beiden Reststreifen Westpreußens in entgegengesetzte Richtungen orientiert, hat den Strich östlich der Weichsel zu Ostpreußen geschlagen, also daß seine Bewohner mehr oder weniger gezwungen sind, nach Königsberg als dem neuen Zentralpunkt des Landes zu blicken, und hat den westlichen Rest, die Grenzmark, nach dem Reich hin, nach Westen eingeordnet. Man wollte die Überreste zu größeren Verwaltungsverbänden hinzuschlagen - obwohl es vielleicht viel sinnvoller und zukunftshaltiger gewesen wäre, die Landstreifen zu beiden Seiten des Korridor selbständig zu erhalten, unter dem Namen Westpreußen, unter einer gemeinsamen Verwaltung und so über den Korridor hinweg eine unsichtbare, aber fühlbare Brücke zu schlagen. Man konnte dadurch die Vorstellung Westpreußen nicht nur in sich selbst, sondern auch im Reich viel lebendiger erhalten und konnte zugleich den leeren Raum unter dieser Brücke den Nachgeborenen als ständige [127] Aufgabe vor Augen halten. Heute ist es so, daß der Begriff Westpreußen im Bewußtsein der Jüngeren bereits im Versinken ist, während die Bezeichnung Grenzmark in dem Menschen im Reich die gefährliche Vorstellung erzeugt, daß die heutige vom Reich aus gesehen diesseitige Grenze gegen Polen die eigentliche ist.

Im polnischen Korridor.
[127]      Im polnischen Korridor.
Strohhütte der polnischen Grenzwache bei Kurzebrack an der Weichsel.

Westpreußen hätte es durchaus verdient, in der Vorstellung der Menschen im Reich als ein Ganzes weiterzuleben, und nicht nur, wie es heute der Fall ist, mit seinem Leben und seiner Schönheit zu einem fast sekundären Anhängsel Ostpreußens gemacht zu sein. Die Unterschiede der Geschichte und die Verschiedenheiten des Bodens, des Blutes, der Sitten hat im deutschen Osten die gleiche Differenzierung der Menschen und ihrer Lebensformen geschaffen wie im Westen, im Süden des Reichs. Es hatte seinen guten Sinn, daß das Land rechts und links der Weichsel Westpreußen hieß; ein gut Stück der preußischen Geschichte lebte in dieser Bezeichnung mit. Die Menschen, die das Land zwischen der Passarge und den Grenzen Pommerns bewohnten, waren und sind östliche Menschen, aber zum Teil von sehr andrer Art als die eigentlichen Ostpreußen: man braucht nur einmal die Jugenderinnerungen des Westpreußen Halbe neben denen des Ostpreußen Ludwig Passarge zu lesen. Die Schönheit des westpreußischen Landes ist sehr verschieden von der des eigentlichen Ostens, und sein Lebensraum, wie man heute wohl sagt, hatte durch See [128] und Weichsel eine erheblich andere Orientierung als der des Ordensstaates Ostpreußen, der heute dem ganzen Bereich jenseits des Korridors den Namen gegeben hat. Es ist sehr merkwürdig, wie verschieden schon der Charakter der Landschaft im Westpreußischen gegenüber dem der ostpreußischen Gebiete ist. Ostpreußen, das ist die Steilküste des Samlandes und das kurische Haff mit dem toten Wunder seiner riesigen Dünen. Das ist Masuren mit seinen dunklen Wäldern und den weiten, einsamen Seen: das ist das noch unentdeckte Wunder der Niederung, des Landes der Litauischen Geschichten zwischen Ruß und Gilge - das ist die Rominter Heide und das Instertal. Westpreußen aber ist ganz etwas anderes. Westpreußen ist die viel südlichere Schönheit des Frischen Haffs mit dem Hohen Land von Elbing, den bewaldeten Höhen über Cadinen und dem Thüringen-Idyll der Rehberge. Es ist das Land der Oberländischen Seen zwischen Eylau und Allenstein, die ganz anders sind als die masurischen, ebenso unberührt, ebenso einsam, aber von einem helleren höheren Zauber überleuchtet. Westpreußen ist die Danziger Bucht mit dem südlichen Reiz ihrer waldigen Hügelwelt und ihrer silbernen Freundlichkeit; es ist das Werder mit seiner holländischen Weite und Fruchtbarkeit, durch das majestätisch und ruhig im Gefühl des trotz allem nicht Gebändigtseins die schon fast russische Breite der Weichsel dahinzieht.

Die Marienburg.
[128]      Die Marienburg.

Danzig, Blick auf die Frauenkirche.
[129]      Danzig. Blick auf die Frauenkirche.
Westpreußen ist Marienburg, diese höchste Leistung der späten Gotik, mit der im Reich kaum ein zweites Schloß wetteifern kann: es ist das weite Land um die Weichsel zwischen Thorn und der Montauer Spitze, diese ungeheure Melancholie des Stroms zwischen Osten und Westen, auf den hin das Land seit uralten Zeiten, als hier die Goten noch hausten, orientiert war. Ostpreußen - das ist Härte und Herbheit und ein Rest von dem Willen zum Vorstoßen ins Unbekannte, den einst der Orden mitgebracht hat. Westpreußen - das ist Reichtum und Blick über die See, Handel und Handwerk in viel höhe- [129] rem Maße als drüben. Man braucht nur einmal Königsberg und Danzig miteinander zu vergleichen, so hat man den ganzen Wesensunterschied der beiden östlichen Bezirke. Königsberg ist heute noch Vorort des Reichs mit der Front nach Nordosten, eine preußische Stadt der Verwaltung und der Landwirtschaft, eine Burg und eine Festung. Danzig, vielleicht die schönste unter den deutschen Städten überhaupt, ist die alte Stadt des monumentalen Bürger- und Handelsgeistes, der reichen Kaufherren und Geschlechter, kriegerisch, aber aus sich selbst ein Ding für sich, viel mehr der Welt verbunden durch ihren Handel als dem Lande, das sich hinter ihren Mauern weitete. Eine Anlage wie der Lange Markt, wie die reichen Gassen um das Wunder der ragenden Frauenkirche hat es in Königsberg nie gegeben; diesen Reichtum besaß nur Westpreußen.

Infolgedessen hat der westliche Teil der beiden preußischen Provinzen auch viel mehr gelitten als der östliche. Westpreußen war nicht nur Landwirtschaft, Bauernland und was dazu gehörte - so herrlich und so reich die Welt seiner Güter, seiner Bauernhöfe auch war und ist. Es war Industrie, war Handel, nicht nur im Ostseebereich. Danzig war die Zentrale des russischen Holzhandels bis England hinauf, der heute bis auf klägliche Reste zerschlagen ist, zum Teil von den Russen selber. Elbing, das war neben Danzig Zentrum des östlichen Schiffbaues, besaß in der Schichauwerft eine der stärksten Stätten der Marinebautätigkeit, über die das Reich verfügte.

Die stillgelegte Schichau-Werft bei Danzig.
[130]      Die stillgelegte Schichau-Werft bei Danzig
mit dem berühmten 250-t-Kran "Der krumme Gottlieb".

Heute wächst da, wo Hunderte von Torpedobooten gebaut wurden, wo die großen Öldampfer entstanden und unzähliges andere, mannshoch Gras und Unkraut; die Riesenkräne rosten und stehen leer. Die Fensterscheiben der weiten Hallen, die den ganzen Stadtteil am Fluß entlang bis hinauf an den alten Friedhof der Leichnamskirche aufgefressen haben, fallen von Tag zu Tag mehr den Steinwürfen der Jungens zum Opfer. Das ganze Riesenwerk einschließlich der Lokomotivwerkstätten in Trettinkenhof ist zerfallen und dem Untergang geweiht. Es fertigt Schulbänke und dergleichen, soweit es überhaupt noch etwas fertigt. Auf dem Marktplatz aber stehen in dichten Gruppen die Arbeitslosen; denn die andern Fabriken in der Stadt, Komnick, Neufeld - wie sie alle hießen - sind in gleicher Weise zusammengebrochen. Das Diktat von Versailles hat sein Werk getan, so sichtbar und bösartig, wie man es anderswo selten erleben kann.

Posen, Jesuitenkirche.
[131]      Posen. Jesuitenkirche (17. Jahrhundert).
Man begegnet seinen Spuren hier überall im Lande. Gewiß, die Städte haben auch in [130] Westpreußen da und dort neue Schulen gebaut und neue Krankenhäuser; Marienburg; das durch den Irrsinn des Friedensdiktats Grenzstadt gegen Danzig geworden ist, also daß ein Teil seiner eigenen Einwohner drüben in der Vorstadt Kalthof jenseits der Nogat, wenn er unter den Lauben etwas einkaufen will, ja nicht seinen Paß vergessen darf, um die Schiffbrücke unter dem Schloß passieren zu können - Marienburg unter seinem rührigen Bürgermeister hat sich ein neues Rathaus geschaffen und durch den verstärkten Verkehr innerhalb des östlichen Randgebiets, durch die visumfreie Autobuslinie nach Danzig und die Weichselbahn, die jetzt aus dem Süden alles herüberbringt, was ins Reich will, eine Menge neues Leben bekommen. Elbing versucht, sich zum Hafen des gesamten westpreußischen Hinterlandes bis nach Osterode hinauf zu machen mit Hilfe des oberländischen Kanals, der heute die wichtigste südnördliche Verkehrsader im westlichen Teil Ostpreußens geworden ist. Aber das sind alles Versuche, noch das Bestmögliche aus Zuständen zu machen, die eigentlich widernatürlich sind. Der östliche Restteil Westpreußens vom Oberland bis zum Frischen Haff ist seiner Natur nach durchaus nicht in der Richtung nach Norden orientiert; sein natürliches Auswirkungsgebiet geht nach Westen - und ist ihm heute durch den Korridor versperrt oder genommen. Das war ja die Absicht von Versailles, die Insel Ostpreußen durch die neue Grenzziehung dem Reich gegenüber so zu isolieren eben durch das ausfallende Korridor-Zwischenstück, daß keine Tarifpolitik der Eisenbahn, keine noch so überlegten neuen Verbindungen einen wirklich funktionierenden und natürlichen Ersatz an Absatzgebieten und Lebenswegen schaffen konnte. Wenn die Erzeugnisse des östlichen Restbestandes von Westpreußen heute nordwärts über Elbing ihren Weg suchen, so stoßen sie eigentlich schon ins Leere, während sie früher unmittelbar im angrenzenden Gebiet, in den Teilen der eigenen Provinz, die heute herausgeschnitten sind, Absatz und Verwendung fanden. Das Gleiche gilt von dem westlichen Restbestand Westpreußens, dem heutigen Bezirk der Grenzmark. Es hat das gleiche schwere Schicksal erlitten; seine natürlichen Verkehrswege nach Osten sind genau in der gleichen sinnlosen Weise abgerissen, zerstört, unterbrochen; das Leben stößt dort nach Osten hin in seine natürlichen Richtung ins Leere und auf Grenzmauern, an denen es hilflos, wie die neuen Chausseen und Eisenbahnen deutlich zeigen, nach Norden und Süden abgleitet, neue Wege sucht, die doch keinen Sinn haben [131] können. Drängt es aber nach Westen, so stößt es auf Bereiche, die aus sich selber leben, selbst geben möchten. Liest man die Geschichte der Grenzmark Posen-Westpreußen während der Nachkriegsjahre, so erlebt man eines der traurigsten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, einen Verfall, der noch über den der östlichen Landesteile hinausgeht. Dort hat sich der ganze deutsche Bereich trotz mancher inneren Kämpfe etwa gegen die Vorherrschaft Königsberg, zu einer Einheit zusammengeschlossen, die gemeinsam kämpft und gemeinsam wirbt; die Grenzmark aber steht für sich, wird vom Reich aus noch gar nicht als Osten empfunden und hat auch nicht wie die westpreußischen Reste jenseits der Weichsel ein Anlehnungsgebiet, weil Pommern, die Mark selber, unter den neuen Verhältnissen leidend, nicht in gleicher Weise die Randbezirke zu sich hinzunehmen konnten, wie es Ostpreußen mit dem Rest des Weichsellandes tat.


Da, wo das rechte hohe Weichselufer, auf dessen Höhe Marienwerder thront, gegenüber der Montauer Spitze auf die Nogat stößt, westlich von Stuhm, ragt auf dem hohen Land das Westpreußenkreuz - an der sogenannten Dreiländerecke, die der überlegte Irrsinn von Versailles hier mitten im deutschen Bereich geschaffen hat. Das Land östlich von Nogat und Weichsel ist deutsch; die Spitze des Werders zwischen Nogat und Weichsel ist Freistaat Danzig - und drüben liegt Polen. Das Kreuz, das im deutschen Osten heute schon ein allgemein bekanntes Symbol der Landesnot geworden ist, ragt fast im Mittelpunkt des einstigen nördlichen Westpreußen auf. Das Gefühl, aus dem es an dieser Stelle entstand, ist vollkommen richtig; [132] es ist, als ob dieses Kreuz Brennpunkt und Sinnbild dessen geworden ist, was dieses alte deutsche Land seit fünfzehn Jahren erduldet hat und zugleich, was aus der heutigen Situation ihm und damit den Menschen im ganzen Reich an Aufgaben erwächst, was die Zukunft an Lösungen für dieses gequälte und zerrissene Kernstück des deutschen Ostens und damit des Gesamtreichs wird bringen müssen. Das Kreuz steht hochragend, hell und einsam über der wunderbaren großen Landschaft des Stromtals, über der Gegend, die heute ebenso wie Oberschlesien Land unter dem Kreuz geworden ist. Weiter im Norden ragt der Wunderbau der Marienburg auf, Dokument einer siebenhundertjährigen Geschichte, die an eine noch viel ältere deutsche Zeit dieser Gegend wieder anknüpfte. Das einsame Kreuz auf dem Weichselufer bei Stuhm aber weist nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft - in eine Zukunft, der es einmal gelingen muß, dieses Kreuz, dankbar für die Mahnung, die es stumm in die Welt rief, wieder abzutragen, weil eine glücklichere Zeit ihm seinen tragischen Sinn genommen hat.

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Bilder aus Westpreußen

Gebiets- und Bevölkerungsverluste des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs
      nach dem Jahre 1918

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext,
      Gegenvorschläge der deutschen Regierung

Die Deutschen Ansiedlungen in Westpreußen und Posen in den ersten zwölf Jahren der polnischen Herrschaft

Deutschland und der Korridor,
      besonders die Kapitel "Die ostdeutsche Wirtschaftslandschaft und ihre Zerstörung
      durch das Diktat von Versailles" und "Die reichsdeutschen Randgebiete".

Deutschtum in Not, das Kapitel "Das Deutschtum in Polen".

Zehn Jahre Versailles,
      besonders Bd. 3, Kapitel "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung
      oder Verselbständigung: Posen und Westpreußen".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat
Unter Mitarbeit von Schriftstellern aller deutschen Stämme
herausgegeben von Dr. Eugen Schmahl.
Mit einem Geleitwort von Dr. Hans Steinacher,
Reichsführer des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland,
und mit einem Geleitschreiben von Hans Grimm.