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Bd. 2: Teil 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages

B. Das Schicksal der Auslandsdeutschen

Dr. Theodor Heuss

I.

Der Begriff "Auslandsdeutscher" ist nicht eindeutig festgelegt. Beginnt das "Ausland" dort, wo die deutschen Grenzpfähle stehen? Eine rein juristische Betrachtung mag das bejahen; aber sie schreitet dann über den historisch-ethischen Tatbestand hinweg, daß Deutschland, deutsches Land, mehr ist, größer, anders begrenzt, als Deutsches Reich. Erst die Nachkriegszeit hat uns die Fragestellungen aufgezwungen, die sich aus der Nichtübereinstimmung der staatlichen Hoheitsgrenze und des deutschen Siedlungsbodens öffnen. Ihre inhaltlichen Voraussetzungen waren schon vorher gegeben, aber sie waren, aufs ganze gesehen, seit den Entscheidungen von 66 und 70 aus dem Bewußtsein "verdrängt" oder durch das politische Bündnissystem verdeckt. Der Ausgang des Krieges hat die Fragengruppe nicht bloß zu einer zentralen Angelegenheit des Deutschtums, sondern der europäischen Politik schlechthin gemacht und er hat dazu führen müssen, daß die innerdeutsche Auseinandersetzung begann, den Begriff und die hinter ihm ruhenden Wirklichkeiten fester in die Hand zu nehmen, die Typen zu scheiden und die mannigfache Wesenheit zu systematisieren: Grenzdeutschtum, Siedlungsdeutschtum der Ferne in einigermaßen geschlossenem Bezirk, Diaspora - hier ist immer an Gruppen gedacht mit fremder Staatsangehörigkeit. Daneben jene Deutschen, die im fremden Staatsverband sozusagen nur als Gast sind, für sich und ihre Familie die deutsche Staatsangehörigkeit aufrechterhalten haben.

Für unsere Betrachtung scheidet die erste Gruppe völlig aus; das politische Schicksal, in das sie durch den Versailler Vertrag gezwungen wurde, ist an einer anderen Stelle dieses Werkes behandelt. In eine Geschichte der Kriegsnot der Deutschen gehört ganz sicher das Geschick jener Deutschen, die in den feindlichen Staaten als geschlossene Volksgruppe siedelten - seit Generationen loyale und in manchem sogar privilegierte Untertanen jenes Staates. Wir denken hier vor allem an die deutschen Bauernkolonien in Südrußland, an der Wolga. Daß ihre Vorväter einst gerufen waren, um ödem Land zur [26] Blüte zu verhelfen, hat sie nicht vor Verfolgung, Internierung, Verschickung nach Sibirien bewahrt. In den Bestimmungen des Versailler Vertrages spielen sie keine Rolle.

Die volle Wucht des Krieges traf natürlich jene Deutschen, die ins fremde Land gezogen waren und ihr Deutschtum bewahrt hatten. Auch hier gab es rechtliche Unterschiede, aber der Krieg wurde, was die Behandlung der Deutschen anlangt, ein großer Vereinfacher. Bei dem eigentlichen Reichsdeutschen war die Lage klar und durchsichtig genug. Aber neben ihm stand, nun nicht als ein gelegentlicher Fall, sondern als Typus, der eine verstreute Massenerscheinung darstellte, der Deutsche, der auf einmal bei Kriegsbeginn merkte, daß er "staatenlos" war. Denn bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes (1913) hatte das deutsche Reich mit seinen Kindern, die ins Ausland gingen, bekanntlich Verschwendung getrieben: daß einer "Deutscher" sei, ergab sich nicht aus Herkunft, Sprache, Kultur, sondern war an einen bürokratischen Amtsakt gebunden, an den Eintrag in die Konsularmatrikel. Unterblieb dieser, so schied der Betreffende, ob Mann oder Frau, selbsttätig, ohne daß er es merkte, aus dem deutschen Staatsverband aus und wurde allen Rückhalts verlustig. Manchem mochte die Lösung recht sein; die meisten wußten nicht, wie ihnen geschah. Wenn sie nun aber glauben wollten, in der Krise des Krieges könnte ihnen dieser Rechtsstand zwischen den Staaten etwas helfen, täuschten sie sich: von der fremden Rechtsprechung und Praxis wurden sie "repatriiert" und die volle Wucht der wirtschaftlichen Kriegsführung traf auch sie. Nicht einheitlich gestaltete sich das Los derjenigen Deutschen, die aus freiwilligem Entschluß sich hatten "naturalisieren" lassen oder durch die Gesetze des Landes, um etwa Boden zu erwerben, um einen Beruf ausüben zu können, zu diesem Schritt gezwungen waren; viele, in der zweiten Generation, waren nach den entsprechenden Rechtssätzen, durch ihre Geburt im fremden Land, dessen Staatsangehörige geworden, gleichviel, ob sie ihre deutsche Nationalität bewahrt oder verloren hatten. Von der feindseligen Wirtschaftsgesetzgebung konnten sie als Staatsbürger des fremden Landes nicht unmittelbar getroffen werden, sofern nicht die Naturalisation aufgehoben wurde; aber sie gerieten in die Gefahr des gesellschaftlichen und des privaten wirtschaftlichen Boykotts und zahllose erlebten in der Blüte der Denunziation und Verfolgung, wie Reichsdeutsche oder "Staatenlose", die Internierung. Auf andere senkte sich der tragische Konflikt, daß sie ihre Söhne im Heer der "neuen Heimat" gegen das alte Vaterland ausrücken sahen.

Es ist hier nicht die Stelle, breiter von der Bedeutung dieses Auslandsdeutschtums für die Entfaltung der deutschen Volkswirtschaft zu reden. Hatte das "Siedlungsdeutschtum" der gruppenmäßigen Kolonisation, vorab in Rußland, in Palästina, in einigen südamerika- [27] nischen Staaten einen wesentlich agrarischen Charakter, reichte es teilweise um 150 und 100 Jahre zurück, so war das Deutschtum der Handels- und Gewerbeniederlassungen eine Begleiterscheinung der industriellen Entfaltung des neunzehnten Jahrhunderts, Voraussetzung und Folge in einem. Was immer die Motive im einzelnen sein mochten, die die Deutschen veranlaßten, draußen ihr Glück zu versuchen, ihre Existenz zu begründen - politische Enge der vor- und nachmärzlichen Heimat, Abenteurerlust, wirtschaftlicher Wagemut, der ein größeres Risiko durch einen größeren Erfolg belohnt glaubte - man kann sich die Wirtschaftsgeschichte des letzten Halbjahrhunderts ohne die Tätigkeit dieser Gruppe nicht vorstellen. Streicht man sie weg, dann würde Deutschland anders aussehen. Denn es sind nicht die schwächsten Elemente gewesen, die vielleicht der Not wichen, sondern aktive, hoffende, tätige Menschen. Ziffernmäßig ist dieser Typus nicht festzustellen, der sich in aller Herren Länder findet, an den Rändern aller Ozeane - eine deutsche Eigentümlichkeit. Den "Auslandsfranzosen" gibt es kaum, der Italiener gehört fast nur der handarbeitenden Schicht an, soweit er außer Landes geht, dem Engländer öffnen sich Kolonien und Dominien. So mußte es sich ergeben, daß in allen Ländern Deutsche saßen, in wirtschaftlichem Aufstieg, und daß sie dort saßen, nicht bloß für sich und die Heimat, sondern auch für das betreffende Land Nutzen schaffend, ist ein paarmal, als der Krieg die Welt umwanderte, zum Anlaß geworden, daß neue "Feinde" entstanden. Eine ganze Anzahl südamerikanischer Staaten trat gegen uns in den "Krieg", ohne daß es einem eingefallen wäre, auch nur einen Soldaten über das Meer zu senden. China und Siam, das erstere nur ziemlich widerwillig, entschlossen sich unter dem Druck der Entente, uns den Krieg zu erklären, die "Beute" lag ja in ihrem Land, die ihnen gezeigt wurde, es bedurfte keiner Anstrengung, in ihren Besitz zu kommen. Dies Verfahren hat sich rasch gerächt, zumal in China - denn indem Engländer und Franzosen der Pekinger Regierung aufdrängten, für die Deutschen Konsulargerichtsbarkeit und Kapitulationen aufzuheben, indem sie auf solche Weise die relative Solidarität der Europäer preisgaben, wiesen sie selber den Chinesen den Weg, der von diesen ein paar Jahre nach dem Krieg ganz folgerichtig gesucht und beschritten wurde. China hat die deutschen Privatrechte im übrigen wiederhergestellt nach einem Vertrag (1921), der pauschal chinesische Schadensforderungen ausglich, und das Ausgeschlossensein aus den politischen Machtkämpfen des erwachenden chinesischen Nationalbewußtseins ist - Paradoxie der Geschichte! - der deutschen Handelsstellung im großen Reich der Mitte dienlich gewesen.


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II.

Die Würdigung der Bestimmungen des Versailler Vertrages, soweit sie die Rechte und das Vermögen Privater berühren, kann an einer Betrachtung der allgemeinen völkerrechtlichen Lage nicht vorübergehen. Daß der Krieg selber nicht nur eine strategische Unternehmung ist, sondern bei seiner modernen Ausgestaltung auch auf nichtmilitärische Beziehungen übergreift, bedarf keiner breiten Erörterung. Der kämpfende Staat hat in so und so vielen Fällen ein vitales Interesse daran, daß etwa geschäftliche Beziehungen seiner Bürger zu Angehörigen des gegnerischen Staates ruhen; Zwangslage der Rohstoffbewirtschaftung, währungspolitische Überlegungen können, ja müssen ihn heute dazu führen. Solche Entschlüsse sind Kriegshandlungen, Kriegsnotwendigkeiten - das Verhältnis der Kämpfenden zu der nicht kombattanten Bevölkerung, zu ihrem Besitz usw. ist ja in der Landkriegsordnung völkerrechtlich geregelt gewesen. In die gleiche Linie mag man die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen stellen, die fast alle Staaten getroffen haben, nicht bloß für ihre eigenen Staatsangehörigen, sondern auch für deren Beziehungen zum Ausland und für Ausländer oder ausländische Vermögenswerte, die sich in ihrem Hoheitsbereich fanden. Wir wollen das als gegeben unterstellen und nicht davon reden, wieviel individuelles Leid und Unrecht, wieviel an zermürbenden, über den unmittelbaren Akt und Anlaß hinauswirkende Folgen damit verbunden sind. Die Frage erhält ihre völkerrechtliche Zuspitzung, wo es sich darum handelt, Maßnahmen, die sich vielleicht als Kriegsnotwendigkeiten rechtfertigen lassen, als Friedensrecht festzustellen und vorzuschreiben.

Es ist schwer, nach den Erfahrungen des Weltkrieges davon zu sprechen, daß auch der Krieg im Laufe der Jahrhunderte sich "humanisiert" habe; immerhin durfte man glauben, daß die Zeiten vorbei seien, da Kriegsziel und Friedensvertrag die unmittelbare Versklavung, die Zerstörung oder der Raub privaten Eigentums seien. Die Trennung des Krieges von dem privatbürgerlichen Sein als einer bewußten Rechtsanschauung bahnt sich im ausgehenden Mittelalter an, und wenn es auch mit Plünderung und widerrechtlicher entschädigungsloser Konfiskation immer wieder böse Rückfälle gibt, so setzt sich doch mit dem werdenden Völkerrecht die Auffassung durch, daß das private Leben nach Möglichkeit geschont und der Schaden, den es vielleicht unvermeidbar erlitten hat, von dem Urheber wieder ersetzt werden müsse. Rousseau formulierte in seinem Contrat social nicht eine persönliche Meinung, sondern eine allgemeine Auffassung mit seinem bekannten Wort: "Der Krieg ist ein rein militärisches Verhältnis von Staat zu Staat und nicht von Bevölkerung zu Bevölkerung." Man würde sagen können, dieser Satz sei verjährt, passe vielleicht in die Zeit der kleinen Berufsheere, aber nicht in die Epoche [29] der allgemeinen Wehrpflicht und der von der ganzen Leidenschaft und Leidenskraft der Nationen getragenen Epoche der "Volkskriege". Doch ist sein unverlierbarer Sinn auch in die Haager Abkommen von 1899 und 1907 eingegangen.

Englands Verhalten in dieser Frage ist insofern nicht ganz eindeutig, als es der Londoner Deklaration von 1909 über das Prisenrecht und Konterbande nicht beigetreten war; hier war, in Ansehung vor allem auch der Neutralen, ja eine gewisse Sicherstellung des privaten Geschäftsverkehrs über See, sofern er sich nicht auf kriegswichtiges Material bezieht, versucht worden. Aber sonst vertrat nicht nur die englische Wissenschaft den Schutz privater Rechte und Ansprüche, sondern auch die Praxis rühmt sich einer fairen Haltung. Die Geschichte notiert folgende Anekdote, die uns heute wie ein Märchen klingt und doch dem letzten kontinentalen Krieg angehört, in den England verwickelt war, dem Krimkrieg. Als damals, 1854, der Antrag gestellt wurde, Zinsendienst und Amortisationszahlung an russische Inhaber englischer Staatsanleihen einzustellen, lehnte das Parlament einmütig diesen Vorschlag ab, mit der stolzen Erklärung: "Great Britain, being at war with Russia, was bound by national honor to be more jealous of affording the slightest ground for the accusation that she wished to repudiate debts justly contracted with the power which was her enemy." Noch während des Weltkrieges war, wir werden es sehen, in einer wichtigen Stelle des englischen Staatswesens der Nachklang solcher Gesinnung vorhanden; sie ist dann in den Stuben von Versailles verhallt, abgestorben und auch das amtliche Nachkriegsengland hat bis heute kein Echo mehr gehört.

Der Versailler Vertrag kennt natürlich den Begriff des "Auslandsdeutschen" nicht, er enthält aber, beginnend mit den Bestimmungen über die Zivilgefangenen, über Niederlassungsrecht und Einreiseerlaubnis, über Konsulargerichtsbarkeit u. dgl. eine große Anzahl von Vorschriften, die im wesentlichen auf diesen Menschenkreis abgestellt sind; um die Politik gegen ihn ganz zu würdigen, muß man die Staatenpraxis nach dem Krieg mit heranziehen. Die verhängnisvollen Paragraphen, die die Arbeit der Auslandsdeutschen untergraben sollten, beziehen sich formal nicht auf Menschen, sondern auf Sachgüter, Vermögenswerte, Rechtsansprüche, Patente. Es kommt nicht darauf an, ob ihr Inhaber im Ausland lebte oder in der deutschen Heimat, ob der Besitzer von Wertpapieren bei einer Londoner oder Brüsseler Bank seine Niederlassung in England oder Belgien oder sonst wo besaß - die Sache, ob Geld oder Haus oder Geschäftsunternehmen, ob Guthaben oder Grundbesitz, ist der Gegenstand des Rechtsaktes. Es liegt auf der Hand, daß damit zahllose deutsche Firmen und Einzelpersonen getroffen wurden, die im technischen Sinn nicht als "Auslandsdeutsche" anzusprechen sind, Industrielle und Kaufleute, durch deren Kontore [30] die weltwirtschaftlichen Beziehungen laufen, die draußen Agenturen und Filialen unterhielten oder auf fremden Banken Teile ihres Betriebskapitals hinterlegten als Basis für Kreditoperationen, für Rohstoffkäufe und ähnliches. Es gibt kaum einen Erwerbszweig, sofern er nicht einen ausgesprochenen binnenwirtschaftlichen Charakter besitzt, der von den Kriegsmaßnahmen und Friedensschlüssen nicht betroffen wurde. Deren ganze Wucht mußte aber nun jene Deutschen niederdrücken, die ihre wirtschaftliche Existenz ganz im fremden Lande aufgebaut hatten - bei ihnen handelte es sich ja nicht um geringeren oder größeren Teilschaden, sondern um den Fortfall ihrer ganzen Existenz - die innerdeutsche Gesetzgebung hat dafür den Begriff "Entwurzelung" geschaffen und bei "Wiederaufbau" den Anspruch auf einen Zuschlag in der Entschädigung verbunden. Diesem Typus wurde durch das Kriegsschicksal weithin gleichgestellt der "Kolonialdeutsche", der im Hoheitsbereich der ehemaligen deutschen Kolonien ansässig war und mit deren Verlust das Opfer der Liquidation, Internierung, Verdrängung zu erleiden hatte; nach dem Krieg unterlagen dem Schicksal auch Privatpersonen und Firmen in den vom Reich abgetretenen Gebieten, so in Elsaß-Lothringen und teilweise auch in den früher preußischen, heute polnischen Gebieten.

Die Verfügung über die privatrechtlichen Beziehungen und Ansprüche ist in den Artikeln 296 und 297 getroffen; 296 regelt die Erledigung der Schuldverhältnisse internationaler Natur, 297 bestätigt die während des Krieges eingeführte Übung der Liquidation von greifbarem Privatvermögen, gliedert das Verfahren als Nachkriegsrecht in die Auflage der Reparationszahlung ein und dekretiert die Entschädigungspflicht der deutschen Reichsregierung. Die Schuldenregelung schafft (Artikel 296) ein Clearingsystem, ein Ausgleichsverfahren, dem sich anzuschließen den Staaten freigestellt ist. Die Schulden, die Deutsche im Ausland, Ausländer in Deutschland haben, sollen ausgeglichen werden; der Sinn des Verfahrens ist aber nicht eine technische Reziprozität, sondern die Haftung der deutschen Regierung für die Abgeltung deutscher Privatschulden an Ausländer. In den monatlichen Abrechnungen war Deutschland gehalten, sofern sie einen deutschen Schuldbetrag ergaben, diesen sofort zur Verfügung zu stellen; zeigte sich ein überschießender Anspruch, so war den fremden Staaten gestattet, diesen zurückzuhalten, bis in einer abschließenden Berechnung alle deutschen Verpflichtungen an den Partner abgetragen waren. Diese Bestimmungen sind vor allem für die deutsche Währung verhängnisvoll geworden, weil sie die deutsche Regierung in den Jahren ungesicherter Valuta zur Abgabe großer Devisenbeträge zwangen. Sie entschloß sich zu einem etwas gewaltsamen Ausgleich, der die deutschen Schuldner mit den Ansprüchen deutscher Gläubiger und fremder Liquidationserlöse ent- [31] lastete. Damit war ein unmittelbarer Druck auf wichtige Teile der deutschen Wirtschaft weggenommen, aber auch eine neue Entschädigungspflicht an diejenigen Deutschen übernommen, die geschäftliche Ansprüche ans Ausland besaßen oder besitzen (Ausgleichsgläubiger). Diese Kategorie von Geschädigten ist von der formalen Gesetzgebung vollkommen ungenügend behandelt worden.

So bedenklich der Artikel 296 in seinen Wirkungen werden mußte, so konnte er bei loyaler Handhabung, die mit langen Fristen und mit guter Währung rechnete, für sich in Anspruch nehmen, daß es ein wesentlich technisches Verfahren sei, die durch Moratorien und Kriegsfolgen mannigfaltig verwirrten Rechts- und Schuldbeziehungen durch generelle Maßnahmen zu ordnen. Eine offenkundige Verletzung der völkerrechtlichen Konvention braucht in seinen Grundgedanken nicht festgestellt zu werden, wenn auch der Mangel an fairer Reziprozität von Anbeginn ein gerechtes Funktionieren aufs ärgste stören mußte.

Anders steht es mit dem Artikel 297, der die Liquidation des privaten Vermögens in den alliierten Ländern ausspricht und die Verrechnung der Erträge zugunsten der Siegerstaaten anordnet. Wie ist es zu diesen Bestimmungen gekommen? Die "Vierzehn Punkte" Wilsons, die als Ausgangspunkt der Friedensbedingungen angesehen werden mögen, enthalten keinerlei Andeutung, die eine Interpretation in dieser Richtung zulasse. Die mannigfaltigen Aufzeichnungen der Teilnehmer an den alliierten Verhandlungen in Versailles gehen über diese ganze Fragengruppe schweigend hinweg - ist das "schlechtes Gewissen" oder Politik des bewußten Totschweigens oder war die "Mentalität" derart, daß man die Verfügung über deutsches Privateigentum schon so sehr als eine Selbstverständlichkeit betrachtete, daß es nicht weiter lohnte, Worte darüber zu verlieren? Ganz so kann es nicht gewesen sein, denn R. St. Baker, der aus Wilsons Papieren eine Darstellung der Versailler Beratung rekonstruiert, notiert, daß über diese Frage eine "endlose Kontroverse" stattgefunden hat, an deren Ende die Erwartung stand, "daß die deutsche Regierung mit der Zeit ihre Untertanen schon entschädigen werde." Wilson bemerkt, Anfang Mai 1919, in einer Sitzung der "Großen Vier", in Ansehung dieses Komplexes "that they had taken certain liberties with international Law" - etwas deutlicher als diese "gewisse Freiheiten mit dem Völkerrecht" sprach sich der japanische Hauptdelegierte aus, Baron Makino: "daß die alliierten und assoziierten Regierungen seiner Meinung nach in der Übernahme deutscher Rechte sehr weitgegangen seien, viel weiter, als dies bisher jemals geschehen wäre." Das ist aber alles.

Im Grunde handelt es sich für die Alliierten, eine Übung des Krieges zu bestätigen und zu festigen. Man wird also in der [32] Kriegsgesetzgebung die Wurzeln des Artikels 297 zu suchen haben. Die ersten Jahre nach dem Friedensschluß sahen die Bemühung, vor allem der französischen Presse und einiger französischer Gelehrten, so Pierre Jaudon, den Wirtschaftskrieg als eine der deutschen Erfindungen darzustellen; er sei "d'inspiration germanique". Diese These ist in der Zwischenzeit weithin fallen gelassen worden. Die Bundesratsverordnung vom 7. August 1914, die früher gerne als Beweisstück zitiert worden war, ist nichts anderes als ein Moratorium für das Einklagerecht von im Ausland ansässigen Gläubigern an deutsche Schuldner, gleichviel welcher Nationalität sie seien; der allgemein verbindliche Charakter dieser Maßnahme, die übrigens in so ziemlich allen Staaten getroffen wurde, ist inzwischen (1925) auch in einem Spruch des gemischten deutsch-englischen Schiedsgerichts anerkannt. England hatte am gleichen Tag bereits deutsche Patente angegriffen und am 9. September die einschneidenden Verordnungen über den Geschäftsverkehr mit Feinden erlassen. Der 18. September brachte die Kontrolle der Geschäftsbetriebe feindlicher Personen, der 27. November die Zwangsverwaltung (Custodian of enemy property) und das Recht zur Liquidation einzelner Vermögensstücke. Der 15. Februar 1915 umschrieb das Recht im näheren und der Trading with the enemy amendment act vom 27. Januar 1916 machte den Weg zur völligen Vermögensliquidation frei. Parallel war die französische Gesetzgebung gegangen, die in Verordnungen des Justizministeriums das gesamte deutsche Privatvermögen auf französischem Boden, auch das nichtgewerbliche, unter Zwangsverwaltung stellt. Die deutschen Bundesratsverordnungen vom 26. November 1914 über französischen, vom 22. Dezember über britischen Besitz in Deutschland waren zeitlich und inhaltlich nur Folgeerscheinungen der fremden Gesetzgebung. Es wäre vollkommen sinnlos gewesen, wenn Deutschland in dieser Richtung irgendwie initiativ vorangeschritten [wäre] - denn wie immer man in jener Zeit den Kriegsausgang beurteilen wollte, Deutschland, das weit mehr als die gegnerischen Nationen Staatsbürger und deren Vermögenswerte in den fremden Ländern wußte als umgekehrt, konnte das geringste Interesse daran haben, die bürgerliche Existenz seiner Volksgenossen durch Akte zu gefährden, die Repressalien nach sich ziehen könnten. Der mögliche "Gewinn" im eigenen Herrschaftsbereich entsprach nicht aus der Ferne dem Einsatz. Die umfassende englische Nachkriegsdarstellung der deutschen Wirtschaftsmaßnahmen von Scobell Armstrong (1921) spricht den Stand der Wahrheit klar aus: "The steps which eventually led to the extension of hostilities into every channel of commerce and finance were initiated by the Allied Powers."

Die englische Motivation ist nicht einheitlich. Im Anfang ruht sie ganz natürlich in der Kriegssicherung; die Wirtschaftsgesetzgebung [33] ist ein Akt der Kriegsführung. Darüber hinaus, in die Friedenszeit, reicht freilich schon der angeführte Beschluß vom 7. August 1914, die deutschen Patente nicht bloß zu suspendieren, sondern aufzuheben; das ist bereits Eigentumsvernichtung; über Entschädigung ist dabei nichts gesagt. Charakteristisch für England ist dies, daß der fiskalische Gesichtspunkt zunächst gar nicht hervortritt, um so mehr der ökonomische, der die deutsche Konkurrenz der Nachkriegszeit ins Auge faßt. Schon während des Krieges beschäftigten sich Handelskammern und private Organisationen mit den Vorschlägen, welche Konsequenzen später zu ziehen seien: Ausschluß der deutschen Handelsreisenden, Aufenthalt und Niederlassung von Deutschen nur mit jederzeit widerrufbarer besonderer Konzession, Sperrung der englischen Häfen für deutsche Fahrzeuge, ehe nicht der Verlust an englischem Schiffsraum "ton for ton" ersetzt sei. In dem Balfour-Komitee werden diese Zielpunkte systematisiert. Temperley, in seiner umfassenden Darstellung und Kommentierung der Versailler Konferenzen, spricht offen aus, daß eben dies eines der Ziele des englischen Wirtschaftskrieges gebildet habe, "to eliminate German economic penetration". Eine verwandte Grundauffassung bestimmte die Verschärfung der amerikanischen Gesetzgebung, die im Oktober 1917 den Verkauf nur unter bestimmten Voraussetzungen gekannt hatte, aber am 28. März 1918 unter der Initiative des Custodian Palmer das gesamte deutsche Eigentum dem Willen des rücksichtslosen Mannes auslieferte; für ihn war offenbar eine fast primitive Nationalisierungstendenz maßgebend: der Krieg sollte die Epoche abschließen, da fremde Kapitalmächte in wichtigen Industrien auf dem Boden der Union etwas bedeuteten. Daß diese Gesinnung nach dem Krieg eine gewisse Rückbildung erfuhr, ist bekannt - zwar wurden nicht die Werke, Anlagen und Beteiligungen den ursprünglichen Besitzern zurückerstattet, aber durch die Freigabebill von 1928, nach Jahre währenden parlamentarischen Kämpfen, 80% des Erlöses wieder zugesprochen.

Die französische Kriegspraxis zeigt eine etwas andere Färbung. In Frankreich wurde die Sequestrierung auf allen irgendwie erreichbaren deutschen Besitz ausgedehnt, intensiver als bei den anderen Staaten, aber förmliche Liquidation während des Krieges nicht vollzogen. Die Zwangsverwaltung war, wo es sich um gewerbliche Unternehmungen handelte, auch für den innerfranzösischen Verkehr zur völligen geschäftlichen Stillegung verpflichtet; sie ist oft genug saumselig und dolos geführt worden, so daß die Klagen über die Verwahrlosung nicht abreißen. Wie sehr bei der Nachkriegsliquidation Durchstechereien und Verwaltungskorruption möglich wurden, offenbarten die Denkschriften und Debatten der französischen Kammer im Frühjahr 1928; sie betrafen vor allem das Finanzschicksal einiger [34] großen lothringischen Gruben. Die französische Psychologie ging offenbar nicht so sehr auf eine schnelle Veräußerung und Ausnutzung deutscher Geschäfte, wie auf die Erhaltung des Besitzes als Pfand; wir möchten, im Gegensatz zu den wirtschaftspolitischen Tendenzen des Angelsachsentums, den fiskalischen Gesichtspunkt erkennen. Kein geringerer als Briand hat, damals Justizminister, der "Pfand"theorie im Frühjahr 1915 den ersten amtlichen Ausdruck verliehen, am 11. März in der Kammer, am 2. April im Senat, wo er das sequestrierte deutsche Eigentum ein "otage économique pour l'heure du reglement du compte avec nos ennemis" nannte.

Als vom 14. bis 17. Juni 1916 unter der Leitung und wesentlichen Beeinflussung des französischen Handelsministers Clementel die "Pariser Wirtschaftskonferenz" tagte, hat sie Sequestrierung und Liquidation zu mindesten der "feindlichen Handelshäuser" international kanonisiert und für die Nachkriegszeit gemeinsame Entschlüsse in Aussicht genommen, die nun nicht bloß die Rückkehr der Deutschen in die Weltwirtschaft hintanhalten sollten, sondern vor allem die Errichtung neuer deutscher Unternehmungen verhindern. (Es empfiehlt sich, um die Entwicklung, wenn nicht der Realitäten, so doch der Ideologien, unmittelbar zu spüren, einmal nebeneinander die Pariser Beschlüsse von 1916 und die Resolutionen der Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 zu lesen! Die Lektüre ist ein Teiltrost, daß Kriegspsychosen überwindbar sind.) Man kann sagen, in der Atmosphäre der Pariser Konferenz von 1916, wenn auch ein gut Teil ihrer spezialisierten Absichten nur Redensarten waren und es um ihrer wirtschaftlichen Sinnlosigkeit bleiben mußten, sind die Versailler Beschlüsse von 1919 geboren, zum Teil vorweggenommen.

Freilich, es gab offenbar noch ein paar Körperschaften, bemüht, Kriegsmaßnahme und Friedensrecht zu trennen. Wir haben vorhin an den englischen Parlamentsbeschluß von 1854 erinnert, der den Zinsendienst für englische Anleihen im feindlichen Ausland nicht aufgehoben wissen wollte. Noch in dem Jahr, das den Ausgang des Krieges sah, am 25. Januar 1918, traf das House of Lords unter dem Vorsitz des Lord Finlay, unter der Teilnahme eines so hervorragenden Mannes wie Lord Haldane eine Entscheidung, an die immer wieder erinnert werden muß: "It is not the law of this country that the property of enemy subjects is confiscated. Until the restoration of peace the enemy can, of course, make no claim to have it delivered upon to him, but when peace will be restored, he will be considered as entitled to his property, with any fruits which it might have born in the meantime."


III.

Die These vom "Pfand" wurde in Versailles ausgebaut: nicht nur, was schon während des Krieges sequestriert und liquidiert worden, [35] sollte in der zweckhaften Verfügungsgewalt der Alliierten und Assoziierten bleiben, sondern das Recht der Nachkriegsliquidation wurde ausgesprochen und zugleich auf den deutschen Privatbesitz in den von Deutschland abgetretenen Gebieten ausgedehnt. Das traf den Besitz in den zu "Mandatsgebieten" verwandelten deutschen Überseekolonien, aber auch deutsches Vermögen, das in den polnischen Staatsbereich fiel und hier weithin der Willkür der polnischen Verwaltung ausgeliefert war ("Entdeutschung = Liquidation") und das gesamte mobile und immobile Vermögen, Wertpapiere, Grundbesitz, Häuser, Fabriken von "reichsdeutschen" Eigentümern in Elsaß-Lothringen, d. h. derjenigen Personen und Familien, die nach 1870 in das Reichsland gezogen waren.

Daß in den meisten Fällen der Liquidationserlös dem tatsächlichen Wert eines Objektes nicht entsprach (wenn es sich nicht gerade um Effekten handelte), bedarf keiner breiten Darlegung. Es würde schon ein ungewöhnlicher Grad von Billigkeit dazu gehören, wenn der Custodian, der ja während des Krieges noch unter der These wirkte, daß der Erlös dem bisherigen Eigentümer zustehe, dessen Interessen mit Leidenschaft gegenüber einem kaufenden Landsmann verteidigt hätte. Unachtsame Verwaltung durch den Sequester, Zerstörung und Diebstahl, jahrelanger Mangel an Pflege der Einrichtungen hatte ja auch in zahllosen Fällen eine tatsächliche Wertminderung der strittigen Objekte herbeigeführt. Die Schätzungen der wirklichen Verluste und die Summe des Liquidationserlöses liegen so oft genug weit auseinander, ein schwerer, sozusagen anonymer Schaden, den das Deutsche Reich als Gesamtschuldner, den seine Bürger in ihren Ansprüchen gegenüber dem Reich parallel erlitten haben.

Die Aufgabe, die dem liquidierten deutschen Privateigentum in den ehemals feindlichen Ländern, in den Kolonien und in Elsaß-Lothringen zugedacht wurde, war dreifacher Natur: es sollte zur Verfügung stehen für den Ausgleich ausländischer Gläubiger an deutsche Schuldner; es sollte benutzt werden zur Abgeltung der Ansprüche, die von Staatsangehörigen der feindlichen Staaten gegen das Reich gemeldet wurden, soweit Schädigungen durch Kriegshandlungen und Kriegsmaßnahmen vorliegen - die gemischten Schiedsgerichte haben darüber zu befinden; der überschießende Teil sollte dem Deutschen Reich a conto Reparation bei der Repco "gutgeschrieben" werden. Das "einbehaltene" deutsche Privateigentum wurde also zur Anzahlung, wenn man so sagen will, zu einer Teilvorleistung erklärt für die gesamte, zunächst (und auch heute noch) nichtbegrenzte finanzielle Gesamtverpflichtung, die man Deutschland aufzuzwingen entschlossen war. Nach dem ersten Entwurf des Friedensvertrages sollte das deutsche Privateigentum sogar dazu dienen, alliierte Privatforderungen an Angehörige der mit Deutschland im Kriege verbündeten [36] Staaten zu befriedigen; dieser Satz ist gefallen, wie auch an ein paar anderen Punkten in diesem Fragenkreis der Einwand der deutschen Delegation zu Milderungen geführt hatte.

Aber ihr Protest, der sich natürlich mit Schärfe gegen den Grundsatz solcher gewalttätigen Regelung überhaupt gerichtet hatte, mußte erfolglos bleiben, nachdem vor allem durch den französischen Finanzminister Klotz dieses Verfahren in den Mittelpunkt der wirtschaftlichen Bestimmungen des Gesamtinstruments eingebaut war. Gegen den Vorwurf, daß der Weg einer dauernden Vorenthaltung der sequestrierten oder der bereits liquidierten Werte von allen gemeinsamen Regeln des Völkerrechts abirre und gegen ein wesentliches Gesetz der bürgerlichen Zivilisation, die Anerkennung des Privateigentums, verstoße, glaubten die alliierten und assoziierten Mächte sich genügend gesichert zu haben. Denn der viele Seiten lange und mit einer besonderen "Anlage" von 15 Paragraphen ausgestattete Artikel 297 hat auch unter i die drei kleinen Zeilen:

      "Deutschland verpflichtet sich, seine Reichsangehörigen hinsichtlich der Liquidation oder der Zurückhaltung ihres Eigentums, ihrer Rechte oder Interessen in alliierten oder assoziierten Ländern zu entschädigen."

Dieser Satz ist der Ausgangspunkt einer sehr umstrittenen innerdeutschen Gesetzgebung geworden. Formal baut sich auf ihm der Rechtsanspruch deutscher Geschädigter auf, aber hierin liegt nicht sein eigentlicher Sinn. Der Entschluß der deutschen Reichsregierung, jene Bürger zu entschädigen, die in ihrer Existenz und in ihrem Vermögensstand durch den Krieg und seinen Ausgang besonders hart getroffen wurden, bedurfte dieser "Vorschrift" nicht. Die deutsche Gesetzgebung hat von Anbeginn auch jenen Kreis der "Geschädigten" erfaßt, bei dem es sich nicht um eine Liquidation handelt, die irgendwie und irgendwann einmal sich in eine "Gutschrift" für die deutsche Gesamtheit verwandeln könnte. Sie hat ihre Entschädigungspflicht gegenüber den "Verdrängten" aus Elsaß-Lothringen anerkannt, auch soweit nicht eine Liquidation von Vermögen vorlag, sondern ein freihändiger Verkauf, der oft genug nur einen "Verschleuderungserlös" brachte. Sie tat das gleiche gegenüber den aus "Neupolen" kommenden Flüchtlingen; Liquidationen in diesem Gebiet gehen nicht auf das Reparationskonto, sondern schließen grundsätzlich Erstattung des Erlöses an den Liquidierten in sich. Sie hat auch die "Zarenschäden" in Rußland in ihrer Gesetzgebung berücksichtigt, bei denen seit dem Rapallo-Vertrag von einer eventuellen Verkoppelung mit dem Versailler System auch nicht mehr geredet werden konnte. Es steht im Augenblick nicht zur Erörterung, ob die deutsche Entschädigungsgesetzgebung glücklich und genügend gewesen ist. Die Zusammenwerfung der verschiedenen Typen ist in Deutsch- [37] land selber nicht unbestritten geblieben. Gruppen der Liquidierten wehrten sich dagegen und glaubten, auf den Versailler Vertrag pochend, sozusagen einen "besseren" Rechtsanspruch vorweisen zu können als ihre Genossen im Leid. Der deutsche Reichstag hat es abgelehnt, in den abschließenden Gesetzen die Gruppen zu trennen; er hat nicht den Hinweis auf eine in ihrem Vollzug und ihrer sachlichen Bedeutung zunächst imaginäre "Gutschrift" zum Ausgangspunkt einer Differenzierung, sondern die Tatsache der "Entwurzelung" und des Willens und der Fähigkeit zum "Wiederaufbau" zum Anlaß einer im Grade verschiedenen Behandlung gemacht.

Von viel größerer Bedeutung für die Gesamtwürdigung der Frage ist die These, die sich die Alliierten mit 297i zurecht gebaut haben: Der Absatz dient dazu, den erwarteten Vorwurf der Konfiskation abzulehnen. In ihren Noten vom 22. und 29. Mai 1919 hatte die deutsche Friedensdelegation darauf hingewiesen, welche Erschütterung das internationale Rechtsleben durch eine so umfassende Konfiskation privaten Besitzes erleiden müsse; in ihrer Antwort vom 16. Juni wehren die Alliierten den Einwand der Konfiskation ab mit dem Hinweis, daß die Erlöse ja dem Deutschen Reiche gutgeschrieben und von seiner Gesamtverpflichtung abgezogen würden. Die Zulässigkeit dieser Argumentation ist der Angelpunkt des völkerrechtlichen Streites - in ihrer Zuspitzung führt sie zu dem Gedankengang: die Alliierten haben den deutschen Privatleuten gar nichts weggenommen. Sie haben für diesen aus hunderttausend Quellen stammenden Besitz einen Obereigentümer konstruiert, das Deutsche Reich; sie haben den Besitz aber, da von dem Eigentümer eine große Schuld offenstand, dem Berechtigten nicht übergeben, sondern den Betrag einstweilen auf der Habenseite des Abrechnungsbuches saldiert. Wie sich der Obereigentümer mit seinen Teilhabern oder Gläubigern auseinandersetzt, ist seine, sagen die Alliierten, nicht unsere Sache. Deutsche Geschädigte, die sich in frommem Glauben an den englischen Board of Trade wandten - und in Einzelfällen nicht völlig erfolglos, da die englische Praxis nicht systematisch und mit einigen sentimentalen Zierstücken versehen ist - haben vom Handelsministerium in London eine stereotype Antwort erhalten:

      "Es hat keine Konfiskation seitens der englischen Regierung stattgefunden... Wenn die deutsche Regierung ihren Staatsangehörigen keine angemessene Entschädigung gewährt, so ist das eine Angelegenheit, für die die englische Regierung nicht verantwortlich gemacht werden kann."

Und Pierre Jaudon, der Frankreich bei den Gemischten Schiedsgerichtshöfen vertritt, findet in seinem Vorwort zu dem Vertragskommentar von Gidel und Barrault (1921) die fast zynische Formel:

[38]   "Die privaten deutschen Interessen werden durch die im Friedensvertrag vorgesehenen Bestimmungen nur in dem Maße verletzt werden, als Deutschland dies bestimmen wird..."

Ähnlich hatte es schon in der alliierten Note vom 16. Juni 1919 geklungen; die Verfasser waren sich darüber klar, daß ihr Verfahren zu einer weiteren Verletzung privater Rechte führen müsse.

Man könnte vermuten, den Alliierten Mächten sei etwas daran gelegen gewesen, daß Deutschland in der Tat sich bemühe, der ihm aufgegebenen Verpflichtung sich zu unterziehen und den immerhin peinlichen Komplex aus der Welt zu schaffen. Aber solcher Glaube wäre eine Täuschung. Denn einschließlich der Erinnerungen des Reparationsagenten Parker Gilbert vom Herbst 1927 wurden die Schritte der deutschen Regierung gerade auf diesem Gebiet von Anbeginn mit Argwohn verfolgt - denn jeder Versuch, mit dem Deutschland nun an die "innere Wiedergutmachung" ging, konnte praktisch nach außen als eine Schwächung der Fähigkeit zur allgemeinen Wiedergutmachung gedeutet werden. Da stand die "Vorschrift" wohl auf dem Papier, aber bereits am 11. Januar 1921 erwartete die Reparationskonferenz in Brüssel Einschränkung der Zahlungen an Geschädigte, und Poincaré unterstrich dies 1½ Jahr später in einer Note vom 26. Juli 1922; da wurde gefordert, die deutsche Regierung möge die "Anwendung des Artikels von 297i aussetzen oder verlangsamen". Ein paar Jahre später, 1924, spricht eine Kommission des englischen Board of Trade mit einiger Offenheit aus,

"daß die Bestimmung, die die enteigneten Eigentümer wegen der Entschädigung an ihre eigene Regierung verwies, kaum mehr als eine leere Geste sei. Und zwar mit Rücksicht darauf, daß diese Staaten nicht in der Lage waren, die ihnen auferlegte Verpflichtung zu erfüllen, und daß die alliierten Regierungen weder die Mittel noch den Willen hatten, sie dazu zu zwingen."

Der amerikanische Rechtslehrer Edvin Borchard zitiert diese Erkenntnis, um sie auch der sonst in England maßgeblichen Nachkriegsdeduktion gegenüberzustellen und sie in die Nähe des Finlay-Urteils vom Januar 1918 zu rücken.

Wir nennen diese Stimmen, um auf die an Widersprüchen reiche Entwicklung der These hinzuweisen; ihren interessantesten Niederschlag findet sie in einer von dem Genfer Charles Bernard herausgegebenen Broschüre: Le séquestre de la proprieté privée en temps de guerre, Paris 1927. An ihr ist besonders bemerkenswert, wie einige hervorragende französische Autoren zwar bemüht bleiben, die amtliche These ihres Staates zu verteidigen, es habe keine Konfiskation stattgefunden, aber dann klagen, wie Charles de Boeck: "Die Friedensverträge haben einen Rückschritt des Völker- [39] rechts dargestellt, indem sie Privatvermögen unmittelbar bei den Zahlungen internationaler Verpflichtungen der Staaten mitwirken ließen", oder fragen, wie G. Gidel, der Kommentator des V. V.: "Ist dieses Verfahren, das den besiegten Staaten die Entschädigungspflicht gegenüber ihren Angehörigen auferlegt, nicht, wie man gesagt hat, eine durchsichtige Heuchelei oder zum mindesten eine grausame Ironie? Wußten die Alliierten nicht, daß diese Entschädigungen meist unmöglich sein würden oder nur in einem lächerlichen Ausmaße gezahlt werden würden, z. B. von zwei Prozent?" Man spürt doch schon etwas den Abstand des Tones von dem vorhin zitierten Wort Jaudons, das 1921 in der Vorrede zu dem Kommentar eben dieses Pariser Professors Gidel geschrieben war. Und es darf daran erinnert werden, daß die Vollversammlung der International Law Association bei ihrer Tagung in Stockholm 1924 auf Antrag der englischen Mitglieder einmütig das folgende aussprach:

      "die Konferenz ist der festen Ansicht, daß die wiederauflebende Praxis kriegführender Staaten das ihnen nützliche Privateigentum feindlicher Bürger zu konfiszieren, ein Recht der Barbarei ist, welche die schärfste Verurteilung verdient."

Dieser entschlossene Satz wäre innerlich brüchig, wenn er auf der Meinung aufgebaut wäre, daß die Liquidationen des Weltkrieges keine Konfiskationen gewesen.


IV.

Die Politik wird nicht von wohlmeinenden Professoren gemacht, die bestürzt sind, wenn die brutale Hand der Staatsmänner ihre Systeme in Verwirrung bringt. Unmittelbar hat die Auflockerung der wissenschaftlichen Würdigung dem Fragenkreis bislang noch nichts genutzt, so wichtig diese Entwicklung sein mag. Von praktischer Bedeutung wurde in Amerika die Stellungnahme des Staatssekretärs Hughes und des Senators Borah. Dem Präsidenten Wilson war es bei dem Artikel 297 nicht wohl gewesen, er hatte ihn mit einer moralischen Anmerkung über seine Unmoral passieren lassen. Die Tatsache, daß der Kongreß der Vereinigten Staaten dem Werk des Präsidenten nicht beitrat, gab die Bewegungsfreiheit, daß ohne Paragraphenfessel in der Richtung auf die Restituierung des Privateigentums marschiert werden konnte. Es war ein langer Weg. Was immer die Beweggründe der amerikanischen Nation waren, sie waren sicher gemischt - idealistische, daß die Maßnahmen des Custodian Palmer nicht verewigt bleiben dürfen und daß in einigen doch der überlieferten Satzung des Völkerrechts Genüge geschehen müsse, realistische, daß Amerika, im Begriff, seine kapitalistische Expansion in alle Länder und Erdteile auszuweiten, ein vitales Interesse besitze, für etwaige künftige Konflikte an einem zur Nach- [40] folge aufreizenden Präzedenzfall nicht beteiligt zu sein, - die Freigabebill vom Jahre 1928 muß, ungeachtet ihrer Vorbehalte, ihrer technischen Umständlichkeiten und ihres unvollkommenen Tarifs als ein entscheidender Vorgang gewürdigt werden. Mit allen Mitteln, durch vielerlei Kanäle, hatte man von London aus versucht, diesen Ausgang der Jahre währenden, die Öffentlichkeit stark beschäftigenden politischen Campagne zu verhindern - es mißlang und die weltanschauliche Gemeinschaft des Angelsachsentums ist in dieser Frage zerbrochen.

Freilich, ehe diese Entwicklung sich vollzogen hatte, war die Angelegenheit in den Beziehungen zwischen den Alliierten und Deutschland nicht eingeschlafen. Die in dem Währungsverfall wachsende Last des Ausgleichverfahrens hielt sie lebendig. Staatssekretär Bergmann notiert in seinem Weg der Reparation, daß ihm Anfang Januar 1921 ein Mitglied der Reparationskommission einen förmlichen Plan der Gesamtregelung vorlegte, nach dem das beschlagnahmte deutsche Eigentum zurückerstattet, das liquidierte sofort auf die Schuld angerechnet werden sollte: der Plan wurde nicht weiter verfolgt, Frankreich und England lehnten ihn von vornherein ab, letzteres wesentlich wegen des Vorschlages der Freigabe. Inzwischen war ja die innerdeutsche Gesetzgebung aufgebaut worden, der umständliche Apparat von Feststellung, Spruchkammer, Vergleichsverfahren begann an vielen Orten zu funktionieren, Verbände und Behörden konsolidierten sich, eine Übung entstand, hinter der die Aussicht auf eine erträgliche Lösung zu warten schien. Die ganze Arbeit war zwar nicht technisch, aber materiell nutzlos, denn in den Monaten der Inflation mußten die Beträge zwischen Feststellung und Auszahlung in nichts zerrinnen. Die ersten Zahlungen in festem Geld, 5 pro Tausend, auf Grund der Notverordnung vom November 1923, waren, wenn man so sagen darf, nur eine Anerkennungsgebühr.

Eine Möglichkeit schien sich zu bieten, die Frage zu einer grundsätzlichen Klärung zu bringen, als der Dawes-Plan zur Verhandlung kam. Bisher war zwischen den Alliierten und Deutschland ein Zahlenkrieg ausgefochten worden, nicht nur um die gedachte, zu fordernde Endsumme, sondern auch um den Betrag der bisherigen Leistungen. Die Beträge von deutscher Seite auf 41,6 Milliarden, von gegnerischer auf 7,9 beziffert (per 31. 12. 1922), klafften so weit auseinander, daß es ziemlich hoffnungslos erscheinen mußte, die Vorleistungen mit einem beiderseitig anerkannten Gewicht zur Bewertung zu bringen. Auch heute noch ist die Frage nicht in Ordnung gebracht. Aber so ernst sie ist, innerhalb des Grundgedankens des Dawes-Plans, der ja nicht auf Endsumme und Abrechnung, sondern auf Provisorium und deutsche Leistungsfähigkeit abgerichtet war, konnte sie statisch als Summenvorstellung nicht untergebracht wer- [41] den. Aber doch als dynamische Funktion. Die Rückgabe deutschen Eigentums, wo es noch nicht liquidiert war, mußte der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit zugute kommen; umgekehrt war diese in ihrer Entfaltung gehemmt, wenn sie aus der allgemeinen steuerlichen Staatsbelastung Beträge herausholen mußte, die dem Artikel 297i dienten, ohne daß dabei, in den bisherigen kleinen Beträgen, eine wesentliche Anregung der nationalen Produktivität erreicht worden wäre. Mit Ausnahme der starken Abfindung für die paar Großgeschädigten, die man nicht privatwirtschaftlich, sondern sozial- und wirtschaftspolitisch motivierte, war ja alles, was bisher gegeben war, in verzettelten und entwerteten Summen im Konsum draufgegangen.

Die Reichsregierung hat im Sommer 1924, bei den Londoner Verhandlungen, den Versuch nicht gemacht, den internationalen Charakter der Angelegenheit wieder herzustellen. Man kann nicht annehmen, daß der damalige Reichsfinanzminister Dr. Luther, dessen Ressort hier federführend ist, den Fragenkreis "übersehen" hätte; die Reichsregierung war ja auch von den Interessenten auf ihn hingewiesen worden. Offenbar erschienen ihr die atmosphärischen Möglichkeiten zu gering, das Problem einer grundsätzlichen Aussprache zuzuführen. Denn es bietet ja nun für die zwischenstaatliche Aussprache seine ganz besonderen Schwierigkeiten. Wenn es bei Völkern und Staatsmännern etwas wie ein "schlechtes Gewissen" gibt, dann wird das Denken an die Liquidation davon begleitet. Man versucht, den ganzen "Komplex" zu "verdrängen" - eine Erfahrung, die man auch in der privaten Unterhaltung mit jedem menschlich anständigen Engländer machen kann. Es ist sehr schwer, ex post die Haltung der deutschen Regierung zu beurteilen; sie glaubte wohl, mit Verantwortungen genug überhäuft, Währung und Ruhrräumung, jenem seelischen Tatbestand taktisch Rechnung tragen zu müssen; sie begnügte sich mit der Aussicht auf den Versuch, das in den materiellen Verhandlungen zunächst ohne Angriff preisgegebene Gelände demnächst juristisch zu erobern. Ein Verfahren vor dem Haager Schiedsgericht zur Auslegung der Dawes-Gesetze sollte dazu dienen. Die deutsche These, von Professor Erich Kauffmann scharfsinnig vorgetragen, beanspruchte das Recht des Deutschen Reiches, aus den Annuitäten, die der Dawes-Plan auferlegte, bestimmte Beträge (ihre Höhe war natürlich bei dem Kampf um den Grundsatz nicht genannt) für die Schadloshaltung der innerdeutschen Ansprüche aus Artikel 297i abzweigen zu dürfen. Der Schiedsspruch, am 29. Januar 1927 verkündet, lehnte die deutsche Forderung ab, mit der formalen Begründung, daß, wenn eine solche Regelung als angemessen anzusehen sei, sie in den Londoner Verträgen eine deutliche Stütze finden müsse; der Dawes-Bericht spreche davon, daß die [42] 2½ Milliarden deutscher Leistung eine spürbare Steuerentlastung für die empfangenden Länder bedeute, es sei also mit der völligen Übereignung des angesetzten Betrages gerechnet worden und nicht an die Möglichkeit eines Abzuges gedacht: Ein Vorbehalt des Urteils, daß es sich nur auf die Gutschriften vor dem Inkrafttreten der Dawes-Gesetze (1. September 1924) beziehe, veranlaßte die deutsche Regierung zum zweiten Male, an das Gericht heranzutreten, mit dem Antrag, daß die Erlöse aus den Liquidationen nach diesem Termin für die innerdeutsche Entschädigungspflicht freigegeben würden. Auch der zweite Schiedspruch in dieser Sache, am 29. Mai 1928 gefällt, fiel zuungunsten Deutschlands aus.

Die Schadenshöhe ist zuverlässig in genauen Ziffern nicht zu geben, um so mehr, als in der innerdeutschen Auseinandersetzung zwischen Betroffenen und Behörden Festsetzungen strittig sind und vor allem die "Russenschäden", ob aus der Zarenzeit, ob aus dem Bolschewikenregiment stammend (der deutsche Rechtsstand ist dafür verschieden), das Bild verwirren. Eine deutsche Aufstellung aus dem Jahre 1927 gibt an Sachschäden von Liquidierten 4,9 Milliarden Mk., an Gewalt-, Verdrängungs- und Rußlandschäden 2,7 Milliarden, die sich auf 332 000 Berechtigte verteilen - darunter freilich über 218 000 Fälle unter 2000 Mk. und 63 000 Fälle von 2 - 10 000 Mk. - überwiegend Verdrängungsschäden. Die gesondert geführten Wertpapierschäden belaufen sich auf 1,3 Milliarden Mk. (451 700 Fälle); an Netto-Ausgleichsforderungen werden 700 Millionen geschätzt. Private Berechnungen gehen deshalb weit höher, weil sie, sachlich berechtigt, geneigt sind, die "immateriellen" Werte, Firma, Beziehungen usf. als ein werbendes Kapital mit zu veranschlagen. Die deutsche Regierung rechnete zuerst mit 7,6, später mit 9,2 Milliarden liquidierten deutschen Vermögens. Wie es dagegen auf der anderen Seite aussieht, zeigt der 8. Bericht des Controller of the Clearing Office: er berechnet das bis zum 31. März 1928 "Property Realized" mit, umgerechnet zum Gegenwartskurs, zirka 1,5 Milliarden Goldmark. Die Summe bezieht sich auf England, Frankreich, Italien und Siam; die Abrechnungen von Belgien, Rumänien, Portugal und den englischen Dominien (außer Südafrika, das freigegeben hat) fehlen noch. Der Betrag wird noch mit einer halben Milliarde veranschlagt. Die Spanne zwischen diesen Zahlen und den deutschen Aufstellungen ist das Loch, in das deutsche Arbeit und Leistung verschleudert wurde. Wieviel nun tatsächlich "Gutschrift" ist, steht dabei noch offen; der Begriff ist aber solange ernsthaft gar nicht greifbar, als er sich irgendwo an eine imaginäre Zahlenreihe anhängt. England hat, nach Abgeltung seiner geplanten privaten Gläubiger durch Deutschland, einen Überschuß von über 10 Millionen Pfund Sterling beim heutigen Stand des Abrechnungsverfahrens; Baldwin hat [43] es im Herbst 1928 abgelehnt, trotz des Hinweises auf den amerikanischen Vorgang, aus diesem Betrag Summen an deutsche Berechtigte zur Verfügung zu stellen.

Es ist hier nicht die Stelle, die innerdeutsche Schadensgesetzgebung zu beschreiben und kritisch zu würdigen. Sie hat einen wahren Passionsweg durchlaufen. Die Leistungen bis 1923 verpufften; die "Zwischenaktion", von 1925, schied mit voller Abfindung die Kleinstgeschädigten aus, unter Abzug der valorisierten früheren Leistungen, und gab gestaffelte, aber unbedeutende Beträge oder Darlehen; die Gesetzgebung, die warten mußte, bis die erste Entscheidung in Haag gefallen war, stand 1927 unter einem Unstern ihrer politischen Führung. Zwischen Krisen wurde sie zum Schluß gebracht, nachdem es gelungen, die von der Regierung angesetzte Summe von einer Milliarde um 300 Millionen zu erhöhen - die unmittelbare Wirkung dieser Aktion wird dadurch ja noch weithin illusorisch, daß für alle Schadensansprüche über 20 000 Mark keinerlei Barleistung, sondern verzinslicher Schuldbucheintrag gewährt wird, der bei bankmäßiger Verwertung von erheblichen Kurseinbußen begleitet ist. Daß das "Gesetz zur endgültigen Regelung der Liquidations- und Gewaltschäden" den Untertitel "Kriegsschädenschlußgesetz" erhielt, hat zu lebhaften politischen Kontroversen geführt. Es erschien der Mehrzahl der Parteien als politisch nicht klug und nicht erforderlich, die Entschädigungsfrage durch einen innerdeutschen Akt für abgeschlossen zu erklären und damit den Kampf um die Restituierung des Privateigentums mit einer bei den international sichtbaren Beträgen geradezu dürftigen Lösung von ein paar Prozenten abzubrechen. Aber um nicht neue Enttäuschung in die geschädigten und ewig vertrösteten Massen zu werfen, beugte sich das Parlament der Reichsregierung, indem es ihr für künftige Reparationsbesprechungen durch eine Resolution den Auftrag gab, das Entschädigungsproblem aus Artikel 297i erneut aufzurollen.


V.

Die Waffen, die die Alliierten im IV. Teil des Versailler Vertrages "Deutsche Rechte und Interessen außerhalb Deutschlands" fertigten, haben, wir wiesen oben schon kurz darauf hin, begonnen, teilweise gegen ihren Schmied sich zu wenden. Es ist hier nicht das Schicksal der Kolonien zu besprechen, das dort aufgezeichnet steht, aber ein Hinweis notwendig auf den Katalog der Kleinlichkeiten, den die Artikel 128 bis 158 enthalten, die die ökonomische und politische Situation Deutschlands in China, Siam, Liberia, Marokko, Ägypten, Schantung vernichten oder doch einengen und auch das Verhältnis zur Türkei und zu Bulgarien in der privatrechtlichen Sphäre bestimmen sollen. In Siam ist die Ausschaltung der Deutschen aus den [44] Kapitulationen und aus der dortigen Bahnverwaltung der Anfang eines notwendigen Prozesses geworden, der auch die Angehörigen der übrigen Nationen Zug um Zug aus der bisher privilegierten Stellung drängte; in China stehen wir noch mitten in dieser Entwicklung. Das deutsche Element in Liberia hat teilweise noch unter dem Artikel 138 zu leiden, insoweit die Rückkehr einigen ehemals führenden Persönlichkeiten noch verweigert wird; im übrigen konnten dort die Deutschen eine beachtenswerte kommerzielle Stellung verhältnismäßig rasch zurückgewinnen.

Die Bestimmungen bezüglich Ägyptens erfuhren 1923 eine Lockerang; seitdem ist die Zureise von Deutschen keinen Sondervorschriften unterworfen, 1925 brachte die Wiedereinrichtung der Konsulargerichtsbarkeit. Am zähesten wird der Ausschluß der Deutschen aus Marokko verteidigt, wohl in Erinnerung an die bedeutenden Aussichten, die deutsche Unternehmungskraft für dieses Gebiet vorbereitet hatte; bis vor wenigen Jahren war selbst den durchreisenden Schiffspassagieren deutscher Nationalität nicht gestattet, an Land zu gehen, solange die Dampfer im Hafen lagen. Als der deutsch-französische Handelsvertrag von 1927 zwischen den beiden Staaten das Prinzip der Meistbegünstigung aussprach, ist Marokko ausdrücklich davon ausgenommen worden.

Die Praxis des Abbaus bestimmter Möglichkeiten des Versailler Vertrages oder der aus der Kriegszeit stammenden Gesetze und Verordnungen ist ja nun im Tempo sehr unterschiedlich gewesen. England hat früh genug begriffen, daß das Recht zu Repressalien, auf neue deutsche Vermögensbildung oder Guthaben oder Waren in seinem Land sich erstreckend, für alle ökonomische Beziehung tödlich ist, weil ein Widersinn zu Treu und Glauben des geschäftlichen Verkehrs; es hat denn auch auf die Anwendung der sogenannten "Repressalienklausel" (Teil VIII, Anl. II § 18) förmlich verzichtet, soweit deutsches Privateigentum von ihr erfaßt werden konnte, und die Mehrzahl der übrigen Staaten, von einigen südamerikanischen sowie Rumänien und Polen abgesehen, sind ihm darin gefolgt, Frankreich freilich erst am 17. August 1927, nach dem Abschluß des Handelsvertrages, Australien erst im Sommer 1928.

Die Durchsicht des Versailler Vertrages weckt die Erinnerung an die erste Nachkriegszeit, da die Auslandsdeutschen im fremden Land, nach Jahren der Internierung oder der polizeilichen Aufsicht, der willkürlichen Strafgewalt der feindlichen Mächte (Artikel 219) noch unterworfen blieben oder neben den Kriegsgefangenen als Geiseln zurückbehalten werden konnten (Artikel 221), bis die Heimsendung der kriegsgefangenen alliierten Staatsangehörigen aus dem Deutschen Reich vollzogen war. Das ist heute Vergangenheit und vielleicht klein, gemessen an den noch unbeantworteten Fragen, aber das Ge- [45] dächtnis an diese Bestimmungen und die Erfahrungen, die mit ihnen gemacht wurden, ist in vielen Seelen nicht ausgelöscht.

Im übrigen enthält der Vertrag ja an vielen Stellen Vorschriften, deren Überwindung erst langsam in einer Abfolge internationaler Verträge möglich wurde und möglich bleibt. Mit die größten Schwierigkeiten boten hier eine Anzahl der britischen Dominien und die Verwaltung von Kenya (Britisch-Ostafrika) - in einem jungen Nationalismus, der durch den Krieg zum erstenmal auf die Bühne weltpolitischen Geschehens gezogen wurde, in einer Gesinnung, die den Protektionismus nicht so sehr gegen die Ware als gegen den arbeitenden Menschen schon seit Jahren ausgebildet hatte, ist die Wiederaufnahme auslandsdeutscher Betätigung am zähesten einem Widerstand der Paragraphen und der Seelen ausgesetzt geblieben. Bis zum Ende des Jahres 1928 galt noch etwa für Kenya das Verbot des "Handels mit dem Feinde", wenn auch, unter ökonomischem Schwergewicht, seine genaue Durchführung sich gedehnt hatte. Die Einreiseverweigerungen sind in dem britischen Außenbezirk in den Jahren von 1923 bis 1927 aufgehoben worden; seit November 1925 sind Deutsche auch in Ostafrika wieder zum Landerwerb zugelassen. Für einzelne Staaten ergingen Sondervorschriften: in Südwestafrika hat man eine Liste mit 600 Namen angefertigt, deren Träger als "unerwünscht" galten und von der Einreise ausgeschlossen bleiben, sofern nicht die Verwaltung bei besonderen Anträgen - sie hat das in zirka 200 Fällen getan - eine entgegenkommende Entscheidung trifft.

Mit schweren Mühen und Opfern hat das Auslandsdeutschtum, wo es wieder im ehemals feindlichen Land Fuß fassen konnte, den Kampf um die Wiedergewinnung des gemeinsamen Besitztums begonnen: Klubgebäude, Krankenhäuser, Schulen, kirchliche Einrichtungen. Sie fanden hier das eine Mal Entgegenkommen, das andere Mal harten bürokratischen Widerstand. Immerhin, wer in der Nachkriegszeit solche deutsche Gemeinschaft draußen auch im ehemals gegnerischen Land besucht hat, empfand, daß ein ungebrochener und zäher Wille am Werk ist, sich in deutscher Verbundenheit zu behaupten.

Freilich: zahllose Existenzen sind geknickt, Ansätze kühnen Wagemutes verdorben, Leistungen, in denen der Stolz und Eifer einer Familie durch ein paar Generationen steckte, ausgelöscht - eine schier unabsehbare Kette des Opfers und des Leides. Eine, wenn man so will, gute Wirkung dieses schlimmen Schicksals ist heute spürbar: der Binnendeutsche hat zu sehen und zu empfinden gelernt, daß die draußen, verstreut oder geschlossen siedelnd, ein Stück seines Volkstums geblieben sind, über alles Meßbare hinaus wichtig für die geistige und wirtschaftliche Stellung der Heimat zwischen [46] den Nationen. Das bedeutet eine große Wendung gegenüber dem gleichgültigen oder kühlen Seelenzustand der Vorkriegszeit. Wenn dem aber so ist, so verknüpft sich damit für die Deutschen zuhause, in Regierung und Parlament, in Presse und öffentlicher Meinung, die Pflicht, bewußt und geschlossen hinter den Rechts- und Lebenskampf zu treten, der diesen ihren "Pionieren" auferlegt wurde. Er ist keine Privatangelegenheit, sondern führt in die Mitte der deutschen Schicksalsfragen überhaupt.


Literatur

B. Harms: Der Wirtschaftskrieg, 5 Bände, 1917 ff.

C. Bergmann: Der Weg der Reparation, Frankfurt 1926.

R. Fuchs: Die Grundsätze des Versailler Vertrages über die Liquidation und Beschlagnahme deutschen Privatvermögens im Auslande, Berlin 1927.

H. W. Herold: Das Schicksal des deutschen Eigentums im Auslande, Berlin 1926.

M. Schoch: Die Entscheidungen des Internationalen Schiedsgerichts zur Auslegung des Dawes-Plans, Berlin-Grunewald 1927.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger