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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

III. Der Versailler Vertrag und seine Revisionsmöglichkeit

Professor Dr. Theodor Niemeyer
Geheimer Justizrat, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

I.

In der 1914 mit dem Kriegsbeginn ausgebrochenen Psychose der öffentlichen Meinung, welche in dem Schlagwort "Zusammenbruch des Völkerrechts" ihren refrainmäßigen Ausdruck fand, ist damals von einer nicht großen Gruppe von Völkerrechtslehrern, zu denen der Verfasser der gegenwärtigen Abhandlung gehörte, darauf hingewiesen worden, daß es oberflächlich und falsch sei, wenn man vom Zusammenbruch des Völkerrechts in dem Sinne spreche, daß ein hoch und mächtig ragendes Gebäude durch die Katastrophe des Weltkrieges gestürzt und vernichtet sei. Wir haben demgegenüber geltend gemacht, daß ein Gebäude von der vorgestellten Art nur in der Phantasie dilettantischer Journalistik existiert habe und daß die Ereignisse des Kriegsausbruches und der Kriegführung zwar von schweren Verletzungen anerkannter Völkerrechtsgrundsätze begleitet waren, daß aber die starke, durch die gesamte Staatenwelt gehende Entrüstung gegenüber diesen Verletzungen nicht nur das Postulat, sondern die Sanktion der verletzten völkerrechtlichen Prinzipien und, kraft des hier zur Geltung gekommenen inneren Rechtsbewußtseins der Völker, die Sanktion des Völkerrechts überhaupt manifestierte.

Aus dieser Betrachtung ergab sich die Erwartung, daß im historischen Abwicklungsprozeß des Krieges sich voraussichtlich das Bedürfnis des Ausbaues, der Reform und der Kodifikation des Völkerrechtes in verstärktem Maße geltend machen, und daß die Staatsräson selbst sich dazu gezwungen sehen würde, das Völkerrecht zu achten und zu pflegen und es zum Besten des Staates selbst zu fördern.

Hat sich diese Erwartung während des Krieges und nach dem Kriege erfüllt?

Wer mit den völkerrechtlichen Optimisten der Kriegszeit diese Frage bejahen will, kann zur Begründung auf eine Fülle von Tatsachen hinweisen, welche seit 1918 sich vollzogen haben und welche das Bedürfnis und den Willen der Bejahung völkerrechtlicher Staatenordnung und des positiven Ausbaues des Völkerrechts beweisen.

[134] Der Völkerbund, das internationale Arbeitsamt, der ständige internationale Gerichtshof im Haag, die rapide Entwicklung der obligatorischen Gerichtsbarkeit, die Ergänzung derselben durch die Ausgleichsverträge und die ständigen Ausgleichskommissionen, die unabsehbar ausgedehnte und verzweigte Menge von internationalen Unionen, Gesellschaften, Kongressen, Akademien, das Anschwellen der völkerrechtlichen Literatur, die allgemeine Einsicht in die Notwendigkeit völkerrechtlicher Unterrichtung der Staatsbeamten, insbesondere der Diplomaten, die Heranziehung völkerrechtswissenschaftlicher Fachleute zur Wahrnehmung der Staatsinteressen in internationalen Verhandlungen wichtiger und mannigfacher Art, - alle diese Erscheinungen der Jahre 1918 bis 1928, sie übertreffen um ein Vielfaches die ganze Entwickelung von 1815 bis über die beiden Friedenskonferenzen (1899, 1907) hinaus bis zum Jahre 1914.

Es ist hervorzuheben, daß diese Entwicklung nicht erst durch eine nach der Beendigung des Weltkrieges eingetretene Umstellung der öffentlichen Meinung und der politischen Verhältnisse ausgelöst worden ist.

Vielmehr hat sofort mit dem Ausbruch des Weltkrieges eine starke Bewegung zugunsten völkerrechtlicher Organisation der Staatengewalt eingesetzt. Während des Krieges hat diese Bewegung in geometrischer Progression zugenommen, und zuletzt hat sie in Gestalt des Völkerbundgedankens die Völker und die Staaten der Welt samt und sonders mehr oder weniger ergriffen.

Zuerst waren es pazifistische Organisationen und Persönlichkeiten, welche hervortraten: die englische Union of Democratic Control (September 1914), die holländische World Peace Foundation (Oktober 1914), das Berner Friedensbüro (Januar 1915), die englische Fabian Society (1915). Sodann trat die holländische "Zentralorganisation für einen dauernden Frieden" in den Vordergrund, besonders mit dem von ihr aufgestellten "Mindestprogramm für einen dauernden Frieden" (April 1915), welchem später der "Entwurf eines Generalreglements zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte", sowie der Entwurf einer "internationalen Konvention zur ständigen Organisation der Friedenskonferenz" (März 1917), folgte. Als Publikationsorgan für diese Arbeiten gewannen die Holländischen Nachrichten (Haag 1914 ff.) eine erhebliche Verbreitung. Eine große Zahl von anderen Verlautbarungen in gleicher Richtung ging von Vereinigungen und von einzelnen Persönlichkeiten verschiedener Länder, namentlich der Schweiz, der Vereinigten Staaten von Amerika, England aus. Dieselben sind, bis 1919 reichend, unter genauer Titelbezeichnung (40 Nummern), zusammengestellt von W. Schücking [135] und H. Wehberg: Die Satzung des Völkerbundes, Berlin, 2. Aufl. 1924, S. 7-10.

Staatsmänner der kriegführenden Staaten stellten bald nach dem Beginn des Weltkrieges als Ziel des Krieges die Schaffung einer internationalen Rechtsordnung hin, so der englische Minister Asquith am 25. September 1914, in Frankreich Briand am 20. November 1915, der englische Außenminister Sir Edward Grey am 15. Mai 1916, der deutsche Reichskanzler v. Bethmann Hollweg am 22. Mai und am 9. November 1916, endlich der amerikanische Präsident Wilson in einer Reihe von Kundgebungen, auf welche noch zurückzukommen ist.

Wenn trotz der vorstehend skizzierten Bewegung für die Reform des Völkerrechts in Gestalt der Umformung der Staatenwelt, seit 1914 und nach dem Kriege, die gegenwärtige Bilanz der völkerrechtspolitischen Lage, und die Prognose weiterer Entwicklung nichts weniger als glänzend ist, so beruht dies auf dem ungeheuren Passivum, welches der Frieden von Versailles und dessen Handhabung von seiten der Alliierten, insbesondere von seiten Frankreichs, in das Friedens- und Völkerrechtskonto gebracht hat.

Es braucht hier nicht unternommen zu werden, die der vorstehend angedeuteten völkerrechtsfreundlichen inneren Entwicklung während des Krieges von Anfang an entgegenwirkenden völkerrechtsfeindlichen Momente ausführlich darzulegen. Es braucht nur an die allen Mitlebenden geläufige Wahrnehmung erinnert zu werden, daß in allen kriegführenden Ländern die Bewegung zugunsten friedlicher Weltorganisation und Herstellung völkerrechtlicher Ordnung in höherem oder geringerem Grade von den Regierungen als Beeinträchtigung des kriegerischen Patriotismus und des Willens zu opfermütiger Durchführung des Krieges mißbilligt und unterdrückt wurde. In Frankreich nannte man dies den Kampf gegen "défaitisme". Dieser Kampf wurde in allen kriegführenden Ländern gekämpft, aber in verschiedenem Maße, im allerhöchsten Maß zweifellos von denjenigen Staatsmännern und Heeresleitern, welche nicht sowohl für den Frieden, als vielmehr für die Vernichtung des Gegners als Kriegsziel kämpften. Der Zusammenhang zwischen dem Vernichtungswillen in der Kriegführung und dem Vernichtungswillen des Siegers im Friedensschluß erscheint in Frankreich durch die Persönlichkeiten Clemenceau und Foch personifiziert, verkörpert in dem Instrument von Versailles.

Der Kampf gegen den Defaitismus hat sich nach der Kriegsbeendigung unter anderem Namen und mit veränderten Fronten fortgesetzt, besonders in Frankreich und Deutschland, indem in beiden Ländern die Intransigenten gegen die Versöhnlichen den Vorwurf der Schwäche und der Verletzung vaterländischer Pflichten durch [136] "Humanitätsdusel" und "utopisches Weltbürgertum" erhoben, während in der entgegengesetzten Richtung die Versündigung an den höchsten Pflichten der Menschheit, politische Kurzsichtigkeit und verrannte nationale Leidenschaft unter Anklage gestellt wurden.

Ging der Gegensatz während des Krieges um Verständigung oder Vernichtungskampf, so ging und geht er jetzt für und gegen Abrüstung, Entwicklung des Völkerbundes, wirtschaftlichen Ausgleich, Kriegsächtung.

Die Hartnäckigkeit, mit welcher die Parteien und die einzelnen Menschen ihre Stellung zu diesen Problemen behaupten, ist für die einzelnen Probleme in beiden Ländern verschieden. In mehrfacher Beziehung läßt sich heute bereits ein Wechsel und eine Erweichung beobachten.

Von dem Gegensatz der Parteien in jedem der beiden Länder zu unterscheiden ist ein entsprechender Gegensatz zwischen der Politik der Regierungen, welche aber in höherem oder geringerem Grade durch die Parteien im Lande bestimmt wird, und demgemäß bis zu einem gewissen Grade einen typischen Wechsel - aber im Ganzen leider in viel geringem Grade - eine Erweichung der Haltung erkennen läßt.

Welche Bedeutung dieser Sachlage hinsichtlich der politischen Revisionsmöglichkeit des Versailler Vertrages zukommt, soll hier nicht ausgeführt werden. Die vorstehend dargelegte tatsächliche Entwicklung seit 1914 wird bei der Beurteilung dieser Frage dabei im Auge behalten werden müssen.


II.

Die Frage der Revisionsmöglichkeit des Versailler Vertrages soll hier nur im Sinne des praktischen Interesses Deutschlands, das heißt innerhalb desjenigen Rahmens behandelt werden, welcher die praktische Politik Deutschlands begrenzt, wobei in erster Linie an die Tätigkeit der amtlichen Stellen, sodann aber auch an die wissenschaftlichen Instanzen des Völkerrechts und der Politik, die Parlamente, die Presse und die politischen Organisationen zu denken ist.

Der hiermit gegebene Standpunkt ist verschieden von demjenigen eines Rechtsgutachtens, das für eine Prozeßpartei oder eine richterliche Stelle erstattet wird, aber auch von demjenigen einer richterlichen Urteilsschrift, einer juristisch-technischen Analyse oder einer rechtsdogmatischen Untersuchung.

Was hier unternommen wird, ist eine politische Untersuchung zu politischen Zwecken und nach politischer Methode, getragen von völkerrechtlicher Sachkunde.

[137] Ist hinsichtlich des Versailler Vertrags eine Revision rechtlich möglich? Kann Deutschland sie völkerrechtlich beanspruchen? Gibt es völkerrechtliche Mittel, um einen solchen Anspruch geltend zu machen?

Dies ist die Reihe der materiellen rechtlichen Fragen, welche aufzuwerfen sind.

Eine zweite Reihe von juristischen Fragen bezieht sich auf die rechtlichen Formen der Geltendmachung des völkerrechtlichen Anspruches.


III.

In der Literatur und in der Presse, in wissenschaftlichen Debatten und in politischen Versammlungen ist unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten die Ungültigkeit des Versailler Vertrages behauptet worden.

Der erste Gesichtspunkt ist der des Zwanges, der zweite derjenige des Widerspruches zwischen dem Vertrage einerseits und dem Wilsonschen Programm sowie den Abmachungen des Waffenstillstandes andrerseits.

Mit dem ersten dieser Gesichtspunkte soll die Nichtigkeit, mit dem zweiten die Anfechtbarkeit des Vertrages begründet werden.

Die hier angewendete Terminologie der Ungültigkeitslehre ist von F. C. v. Savigny (System des heutigen römischen Rechts Bd. IV S. 537) erfunden. Ihre Bedeutung wird heute in der zivilrechtlichen Literatur so umschrieben, daß nichtig ein Rechtsgeschäft ist, "welches rechtlich ebenso angesehen wird, wie wenn es nie vorgenommen wäre", während anfechtbar ein Rechtsgeschäft heißt, "bei welchem zwar die gewollte rechtliche Wirkung trotz eines vorhandenen Mangels zunächst eintritt, das aber seine Kraft verliert, wenn bestimmte dazu berechtigte Personen sich auf den Mangel berufen".1

Diese Savignysche Begriffstechnik hat in den ehemaligen Gebieten des römischen Rechts eine gewisse doktrinäre Verbreitung gefunden, positiv praktische Bedeutung aber nicht erlangt. Die wissenschaftliche Kritik hat die Lehre in der Hauptsache verworfen. In der jüngsten Literatur und Rechtsprechung ist sie fast verschwunden. Nur in Elementarkompendien und bei überalterten juristischen Veteranen begegnet man ihr.

In die Praxis des Völkerrechts ist die Savingnysche Ungültigkeits- [138] lehre so wenig übergegangen wie in die wissenschaftliche Literatur des Völkerrechts.

Für den Vertrag von Versailles ist mit ihr schlechterdings nichts anzufangen. Wollte man sie durchaus anwenden, so wäre man alsbald sachlich doch genötigt, die für den einzelnen Fall aufgeworfenen Fragen dahin zu vereinfachen, daß unmittelbar an der Hand des materiellen Inhalts des geltenden Völkerrechts geprüft wird, ob es positive Grundsätze im Völkerrecht gibt, welche die Ungültigkeit des Vertrages ergeben, sowie welches die Tatbestände und welches die Rechtsfolgen der Ungültigkeit sind, die das Völkerrecht bestimmt.

Wir treten mit diesen Fragen zunächst an den Gesichtspunkt des Zwanges heran, indem wir, von dem besonderen Fall des Versailler Vertrages einstweilen absehend, aus der Praxis und aus der Literatur des Völkerrechts feststellen, ob und inwiefern es nach geltendem Recht möglich ist, die Ungültigkeit eines Friedensvertrages auf den Gesichtspunkt zu gründen, daß derselbe vom Sieger mit Gewalt erzwungen sei.

Was die Praxis anlangt, so ist nicht bekannt, daß von den 226 Friedensverträgen, welche man in der Zeit von 1792 bis 1914 zählt, ein einziger wegen Siegerzwanges angefochten worden ist.

Um Mißverständnis auszuschließen, ist dazu vorab zu bemerken, daß ein von dem Siegerzwang verschiedener Fall der ist, wenn persönlicher Zwang gegen einen Fürsten oder eine andere zur Vertretung des Staates berufene Persönlichkeit geübt ist, um eine Vertragserklärung zu erpressen. In diesem Fall allerdings wird allgemein die Ungültigkeit angenommen. In dieser Hinsicht seien folgende Äußerungen angesehener Völkerrechtler mitgeteilt:

Der als Professor in Heidelberg gestorbene Schweizer J. C. Bluntschli schrieb 1867 in seinem als Rechtsbuch dargestellten Modernen Völkerrecht der zivilisierten Staaten:

      "Es wird angenommen, die Willensfreiheit des Staates sei nicht aufgehoben, wenn gleich der Staat in seiner Not und Schwäche genötigt ist, den Vertrag einzugehen, wie ihn ein übermächtiger anderer Staat ihm vorschreibt. Im Privatrecht hindert eine ernste Drohung und die gewaltsame Nötigung die Gültigkeit des Vertrags. Im Völkerrecht aber wird angenommen, der Staat selbst sei alle Zeit frei und willensfähig, wenn nur seine Vertreter persönlich frei sind. Das Staatsrecht erkennt auch sonst die Notwendigkeit der Verhältnisse als entscheidend an; es ist seinem Wesen nach die als notwendig erkannte Ordnung der öffentlichen Verhältnisse. Daher hindern zwingende Einwirkungen, in denen sich jene Notwendigkeit offenbart, die Gültigkeit des Staatswillens nicht, wenn er denselben Rechnung trägt. Es gilt das insbe- [139] sondere auch von Friedensschlüssen. Würde man die Verträge der Staaten aus dem Grunde als ungültig anfechten können, daß der eine Staat aus Furcht vor dem andern und durch dessen Drohungen geschreckt ohne freien Vertragswillen den Vertrag abgeschlossen habe, so gäbe es kein Ende des Völkerstreits und wäre niemals ein gesicherter Friedensstand zu erwarten."

Friedrich von Martens, der Petersburger Völkerrechtslehrer, schrieb in seinem Völkerrecht (1883):

      "Kein Vertrag kann gültig sein, wenn der Souverän oder aber die zum Abschluß bevollmächtigte physische Person eine Nötigung oder Bedrohung erlitten und unter dem Einfluß dieses Umstandes den Vertrag unterzeichnet hat. In einem solchen Falle befindet sich das im Namen des Staates handelnde Individuum selbst unter dem Druck eines Zwanges, der die Möglichkeit einer freien Entscheidung ausschließt - der Vertrag kann daher auch nicht verbindlich sein. Erzwungen und darum ungültig waren die Erklärungen des Königs Ferdinand VII. von Spanien zu Bayonne im Jahre 1807, kraft welcher er dem Throne entsagte, wozu ihn Napoleon durch Einschüchterungen gebracht hatte. Der Friedensvertrag dagegen, den Franz I. von Frankreich 1520 als Gefangener in Madrid unterzeichnete, und die Thronentsagung Napoleons I. zu Fontainebleau 1814 wurden denselben allerdings durch die Umstände abgenötigt, allein physische Gewalt oder Drohungen sind gegen die genannten Fürsten persönlich nicht angewandt worden, folglich kann die Rechtsbeständigkeit ihrer Akte auch nicht angezweifelt werden. Ebenso hätte ein Friedensvertrag, den Napoleon III. etwa während seiner Gefangenschaft in Wilhelmshöhe, vorausgesetzt, daß er noch Kaiser der Franzosen gewesen wäre, mit Deutschland abgeschlossen hätte, gewiß Gültigkeit besessen, wenn dabei keinerlei Zwang gegen die Person des gefangenen Kaisers zur Anwendung gekommen wäre."

Daß bei dem Abschluß des Versailler Vertrages ein persönlicher Zwang im Sinn der vorstehenden Äußerungen geübt worden sei, kann nicht in Betracht kommen.

Im übrigen sei nunmehr der in der letzten Literatur allgemein anerkannte Rechtsgrundsatz, wonach die Gültigkeit eines Friedensvertrages nicht durch den von dem Sieger geübten, die Friedensbedingungen erzwingenden Druck berührt wird, durch die Äußerungen völkerrechtlicher Autoritäten belegt:

Bluntschli a. a. O. schreibt:

      "Wenn die individuelle Willensfreiheit derjenigen Personen, welche den Staat bei dem Vertragsabschluß vertreten, durch Geistesstörung aufgehoben oder durch Besinnungslosigkeit verwirrt oder durch Gewalt oder ernste und nahe Bedrohung gebunden ist, dann sind dieselben nicht fähig, [140] für den Staat verbindliche Erklärungen abzugeben. Wenn z. B. der Gesandte, der zum Vertragsabschluß ermächtigt ist, wahnsinnig wird, oder wenn er so berauscht ist, daß er nicht mehr weiß, was er tut, so ist seine Unterschrift nicht bindend. Ebenso würde auch die Unterschrift eines Souveräns nicht den Staat verpflichten, wenn demselben gewaltsam die Hand zum Unterzeichnen geführt oder er mit Todesdrohung zur Unterschrift genötigt würde. Oder wenn, wie das dem polnischen Reichstag widerfahren ist, die notwendige Zustimmung zu einem Vertrag damit erzwungen wird, daß die Ratsversammlung mit Truppen umstellt und die Stimmenden mit dem Tode oder dem Gefängnis bedroht werden, so ist auch ein solcher Vertrag ungültig, nicht weil der Staat keinen freien Willen hat, sondern weil es den Vertretern des Staates an der nötigen Willensfreiheit fehlt."

Martens a. a. O. sagt:

      "Bei Rechtsgeschäften zwischen Privatpersonen hebt Zwang stets die verbindliche Kraft des Vertrages auf, zwangsweise abgeschlossene internationale Verträge dagegen sind prinzipiell verbindlich, wie z. B. alle Friedensverträge. Dieser Satz beruht auf einer allgemeinen Präsumtion der Handlungsfreiheit der Staaten in ihrem Wechselverkehr. Der von einem andern besiegte und unter dem Druck seiner Niederlage einen Friedensvertrag akzeptierende Staat ist in Wirklichkeit gewiß nicht vollkommen frei, formell genommen aber bleibt er es, da er die Wahl zwischen Fortsetzung des Krieges und Friedensschluß behält. Überdies mußte er gleich bei der Kriegserklärung die unvermeidlichen Konsequenzen des Mißerfolges voraussehen und wissen, daß er sich im Unglücksfall den von dem Sieger zu diktierenden Friedensbedingungen zu fügen haben werde. In diesem Sinne sind Friedensschlüsse rechtmäßig erzwungene Verträge, die erfüllt werden müssen."

Der als Professor in Brüssel gestorbene Schweizer Alphonse Rivier schrieb in seinem Lehrbuch des Völkerrechts (2. Aufl. 1899):

      "Nie wird ein besiegter Staat den von ihm unterzeichneten Frieden unter dem Vorwande beseitigen dürfen, daß er dazu durch die Kriegsnot gezwungen worden sei, denn dies ist kein Zwang im juristischen Sinne. Wenn das Gegenteil angenommen würde, wäre durch die Friedensverträge keine Sicherheit gegeben."

F. von Liszt (Das Völkerrecht systematisch dargestellt, 11. Aufl. 1918) sagt:

      "Die Willenserklärung kann angefochten werden wegen wesentlichen Irrtums des Erklärenden oder wegen eines auf die Person des Erklärenden ausgeübten Zwanges. Keine Ausnahme bilden die Kriegsverträge mit Einschluß des Friedensvertrages. Auch diese können nur angefochten werden, wenn gegen den vertragschließenden Vertreter des Staates Zwang geübt worden ist, nicht aber, weil der unterlegene Staat selbst sich in einer Zwangslage befunden hat. [141] Nicht die Kriegsgefangenschaft des Monarchen an sich, wohl aber der zu ihr hinzutretende völkerrechtswidrige Zwang bildet einen Anfechtungsgrund. Der Friedensvertrag, den das in Kriegsgefangenschaft befindliche Staatsoberhaupt abgeschlossen hat, bindet den von ihm vertretenen Staat, soweit nicht etwa die Kriegsgefangenschaft selbst nach dem Staatsrecht seines Staates ihm die Vertretungsbefugnis entzogen hat."


IV.

Der zweite Gesichtspunkt, unter welchem die Ungültigkeit des Versailler Vertrages behauptet wird, bezieht sich auf dessen Verhältnis zu den in der Zeit vom 3. Oktober 1918 bis zum 11. November 1918 vorhergegangenen Verhandlungen und Abmachungen, deren Verlauf den wichtigsten, und darum hier ausführlicher darzustellenden Abschnitt der Vorgeschichte des Versailler Vertrages bildet, soweit Deutschland aktiv daran beteiligt ist.

Am 5. Oktober richtete der Reichskanzler, Prinz Max von Baden, an den Präsidenten Wilson folgendes Schreiben:2

      "Die deutsche Regierung ersucht den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen, alle kriegführenden Staaten von diesem Ersuchen in Kenntnis zu setzen und sie zur Entsendung von Bevollmächtigten zwecks Anbahnung von Verhandlungen einzuladen. Sie nimmt das von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßbotschaft vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen, namentlich der Rede vom 27. September aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedensverhandlungen an. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen."

Der Präsident Wilson fragte darauf am 8. Oktober, ob die Erklärung der deutschen Regierung so zu verstehen sei, daß sie die von ihm am 8. Januar 1918 dem Kongreß vorgelegten und später wiederholt dargelegten Punkte akzeptiere und nur über ihre nähere Ausführung ("the practical details of their application") zu verhandeln wünsche.

Diese Frage beantwortete am 12. Oktober der Staatssekretär Solf mit folgender Note:

      "In Beantwortung der Fragen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika erklärt die deutsche Regierung: Die deutsche Regierung hat die Sätze angenommen, die Präsident Wilson in seiner Ansprache vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Ansprachen als Grundlagen eines dauernden Rechtsfriedens niedergelegt hat. Der Zweck der einzuleitenden Besprechungen wäre also lediglich der, sich über die praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen. Die deutsche Regierung nimmt an, daß auch die Regierungen der mit den Vereinigten Staaten verbundenen Mächte sich auf den Boden der Kundgebung des Präsidenten Wilson stellen. Die deutsche Re- [142] gierung erklärt sich im Einverständnis mit der österreich-ungarischen Regierung bereit, zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes den Räumungsvorschlägen des Präsidenten Wilson zu entsprechen. Sie stellt dem Präsidenten anheim, den Zusammentritt einer gemischten Kommission zu veranlassen, der es obliegen würde, die zur Räumung erforderlichen Vereinbarungen zu treffen. Die jetzige deutsche Regierung, die die Verantwortung für den Friedensschritt trägt, ist gebildet durch Verhandlungen und in Übereinstimmung mit der großen Mehrzahl des Reichstages. In jeder seiner Handlungen gestützt auf den Willen dieser Mehrheit, spricht der Reichskanzler im Namen der deutschen Regierung und des deutschen Volkes."

Nach einem weiteren Notenwechsel (Lansing 14., Solf 20., Lansing 23., Solf 27. Oktober), welcher sich in der Hauptsache auf die deutsche Verfassung und die Absetzung der Hohenzollern bezog, schrieb der Staatssekretär Lansing am 5. November 1918 folgende Note an den Vertreter des Deutschen Auswärtigen Amtes:

      "In meiner Note vom 23. Oktober 1918 habe ich mitgeteilt, daß der Präsident seinen Notenwechsel den mit den Vereinigten Staaten verbundenen Regierungen übermittelt hat mit dem Anheimstellen, falls diese Regierungen geneigt sind, den Frieden zu den angegebenen Bedingungen und Grundsätzen herbeizuführen, ihre militärischen Ratgeber und die der Vereinigten Staaten zu ersuchen, den gegen Deutschland verbündeten Regierungen die nötigen Bedingungen eines Waffenstillstandes zu unterbreiten, der die Interessen der beteiligten Völker in vollem Maße wahrt und den verbündeten Regierungen die unbeschränkte Macht sichert, die Einzelheiten des von der deutschen Regierung angenommenen Friedens zu gewährleisten und zu erzwingen, wofern sie einen solchen Waffenstillstand vom militärischen Standpunkt für möglich halten. Der Präsident hat jetzt ein Memorandum der alliierten Regierungen mit Bemerkungen über diesen Notenwechsel erhalten, das folgendermaßen lautet: »Die alliierten Regierungen haben den Notenwechsel zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und der deutschen Regierung sorgfältig in Erwägung gezogen. Mit den folgenden Einschränkungen erklären sie ihre Bereitschaft zum Friedensschlusse mit der deutschen Regierung auf Grund der Friedensbedingungen, die in der Aussprache des Präsidenten an den Kongreß vom 8. Januar 1918, sowie der Grundsätze, die in seinen späteren Ansprachen niedergelegt sind. Sie müssen jedoch darauf hinweisen, daß der gewöhnlich sogenannte Begriff der Freiheit der Meere verschiedene Auslegungen einschließt, von denen sie einige nicht annehmen können. Sie müssen sich deshalb über diesen Gegenstand bei Eintritt in die Friedenskonferenz volle Freiheit vorbehalten. Ferner hat der Präsident in den in seiner Ansprache an den Kongreß vom 8. Januar 1918 niedergelegten Friedensbedingungen erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt, sondern auch wiederhergestellt werden müßten. Die alliierten Regierungen sind der Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingungen kein Zweifel bestehen darf. Sie verstehen dadurch, daß Deutschland für allen durch seine Angriffe zu Wasser und zu Lande und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll.« Der Präsident hat mich mit der Mitteilung beauftragt, daß er mit der im letzten Teil des Memorandums enthaltenen Auslegung einverstanden ist. Der Präsident hat mich ferner beauftragt, Sie zu ersuchen, der deutschen Regierung mitzuteilen, daß Marschall Foch von der Regierung der Vereinigten Staaten und den alliierten Regierungen ermächtigt worden ist, gehörig beglaubigte Vertreter der deutschen Regierung zu empfangen und sie von den Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis zu setzen."

[143]

V.

Eine Beurteilung der hier in Rede stehenden Frage ist nicht möglich ohne Kenntnis des Textes der Wilsonschen 14 Punkte, und zwar auch derjenigen Teile des Textes, welche nicht als Unterlage der Anfechtung des Versailler Vertrages in Betracht zu ziehen sind. Dazu gehören auch die Präambel und die Schlußsätze der Ansprache, welche Präsident Wilson am 8. Januar 1918 an den Vereinigten Kongreß richtete. Diese Texte sollen daher hier mitgeteilt werden. Die dieser Ansprache folgenden, in der Note vom 5. November in Bezug genommenen Kundgebungen des Präsidenten, deren letzte die Reden in Mount Vernon am 4. Juli und in New York am 27. September 1918 sind, betreffen teils Fragen, welche hier nicht zur Erörterung stehen, teils sind sie nähere Ausführungen und Variierungen der 14 Punkte.

Nach der autorisierten deutschen Übersetzung von C. Thesing (Woodrow Wilson, Paul List Verlag, Leipzig, Bd. III S. 40 ff.) sagte der Präsident:

      "Wir sind in diesen Krieg eingetreten, weil Rechtsverletzungen vorgekommen sind, die an unseren Lebensnerv rührten und das Leben unseres eigenen Volkes unmöglich machen würden, falls sie nicht abgestellt werden und die Welt ein für allemal gegen ihre Wiederholung gesichert wird. Was wir in diesem Krieg fordern, ist also nichts besonderes für uns selbst. Es ist, daß die Welt für das Leben der Menschen tauglich und sicher gemacht werde; und insbesondere, daß sie sicher gemacht werde für jede friedliebende Nation, die gleich der unsrigen wünscht, ihr eigenes Leben zu leben, ihre eigenen Einrichtungen zu bestimmen, der Gerechtigkeit und Biederkeit seitens der anderen Völker der Welt versichert zu sein, im Gegensatz zu Gewalt und selbstsüchtigem Angriff. Alle Völker der Welt sind in Wirklichkeit Teilhaber an diesem Interesse, und wir für unseren eigenen Teil sehen sehr klar, daß, wofern Gerechtigkeit den anderen nicht widerfährt, sie auch uns nicht widerfahren wird.
      Das Programm des Weltfriedens ist daher unser Programm, und dieses Programm, das einzig mögliche Programm nach unserem Dafürhalten, ist folgendes:
      I. Offene Friedensverträge, offen zustande gekommen, nach denen es keinerlei private Abmachungen mehr geben soll, sondern nur mehr Diplomatie, die stets freimütig und angesichts der Öffentlichkeit vorgeht.
      II. Vollständige Freiheit der Schiffahrt auf den Meeren außerhalb der Territorialgewässer, gleichermaßen im Frieden wie im Krieg, außer wenn die Meere kraft internationalen Vorgehens zur Durchführung internationaler Bündnisse ganz oder teilweise geschlossen werden.
      III. Größtmögliche Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken und Herstellung einer Gleichheit der Handelsbedingungen unter allen jenen Nationen, die dem Frieden zustimmen und sich zu seiner Aufrechterhaltung verbünden.
      IV. Angemessene Gewährleistungen, dafür gegeben und entgegengenommen, daß nationale Rüstungen auf den niedrigsten Grad, der mit der inneren Sicherheit vereinbar ist, herabgesetzt werden.
      V. Freie, offenherzige und vollständig unparteiische Ordnung aller kolonialen Ansprüche, gegründet auf strenger Befolgung des Grundsatzes, daß bei der Ent- [144] scheidung aller dieser Fragen der Oberhoheit die Interessen der beteiligten Bevölkerungen genau so gleiches Gewicht haben müssen wie die billigen Ansprüche der Regierung, deren Rechtstitel zu entscheiden ist.
      VI. Räumung des gesamten russischen Gebiets, und eine solche Erledigung aller Rußland berührender Fragen, wie sie die beste und freieste Zusammenarbeit der anderen Nationen der Welt sichern wird, um ihm eine ungehemmte und unbelastete Gelegenheit zur unabhängigen Bestimmung seiner eigenen politischen Entwicklung und nationalen Politik zu verschaffen und ihm eine aufrichtige Bewillkommnung in der Gesellschaft freier Nationen unter selbsterwählten Staatseinrichtungen zuzusichern; und mehr als eine Bewillkommnung, auch Beistand jeder Art, den es benötigen und selbst wünschen mag. Die Rußland seitens seiner Schwesternationen in den kommenden Monaten zuteil werdende Behandlung ist die Feuerprobe ihres guten Willens, ihres Verständnisses für seine Bedürfnisse, im Unterschied von ihren Interessen und ihres intelligenten und selbstlosen Mitgefühls.
      VII. Belgien muß, dem wird die ganze Welt beipflichten, geräumt und wiederhergestellt werden, ohne jeden Versuch, die Oberhoheit, die es mit allen anderen freien Nationen gemein hat, einzuschränken. Keine andere einzelne Handlung wird so dazu dienen, wie diese dazu dienen wird, Vertrauen unter den Nationen in diejenigen Gesetze wiederherzustellen, die sie selbst aufgestellt und für die Führung ihrer Beziehungen zueinander festgesetzt haben. Ohne diese heilende Tat wird die ganze Struktur und Gültigkeit des Völkerrechts für immer beeinträchtigt sein.
      VIII. Alles französische Gebiet soll freigegeben und die Teile, in die ein Einfall stattfand, wiederhergestellt werden, und das Frankreich durch Preußen im Jahr 1871 in Sachen Elsaß-Lothringens angetane Unrecht, das den Frieden der Welt nahezu fünfzig Jahre lang gefährdet hat, soll berichtigt werden, um den Frieden im Interesse aller wieder sicherzustellen.
      IX. Eine Bereinigung der Grenzen Italiens soll nach genau erkennbaren Linien der Nationalität bewerkstelligt werden.
      X. Den Völkern von Österreich-Ungarn, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, soll die freieste Gelegenheit selbständiger Entwicklung gewährt werden.
      XI. Rumänien, Serbien und Montenegro sollen geräumt, besetzte Gebiete zurückgegeben werden; Serbien soll ein freier und sicherer Zugang zur See gewährt werden, und die Beziehungen der verschiedenen Balkanstaaten zueinander sollen durch freundschaftliche Verhandlungen nach bestehenden historischen Linien der Zugehörigkeit und Nationalität geregelt werden; und internationale Gewährleistungen der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit und territorialen Unverletzlichkeit der verschiedenen Balkanstaaten sollen geschaffen werden.
      XII. Den türkischen Teilen des heutigen ottomanischen Reichs soll eine sichere Oberhoheit verbürgt werden, aber den andern Nationalitäten, die zur Zeit unter türkischer Herrschaft stehen, soll eine unbestrittene Sicherheit des Lebens und eine durchaus ungestörte Gelegenheit selbständiger Entwicklung verbürgt werden, und die Dardanellen sollen unter internationalen Gewährleistungen als freie Durchfahrt für die Schiffe und den Handel aller Nationen dauernd geöffnet werden.
      XIII. Ein unabhängiger polnischer Staat soll errichtet werden, der die von unbestreitbar polnischen Bevölkerungen bewohnten Gebiete umfaßt, dem ein freier und sicherer Zugang zum Meer verbürgt werden soll und dessen politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkeit durch internationalen Bund gewährleistet werden soll.
[145]     XIV. Eine allgemeine Vereinigung der Nationen muß gebildet werden mit besonderen Bundesverträgen zum Zweck der Gewährung gegenseitiger Bürgschaften politischer Unabhängigkeit und territorialer Unverletzlichkeit gleichermaßen für große und kleine Staaten.
      Wir haben hiemit gewiß in zu deutlichen Ausdrücken gesprochen, als daß weiterhin noch ein Zweifel oder eine Frage offenbleiben könnte. Ein klar ersichtlicher Grundsatz zieht sich durch das ganze Programm, das ich entworfen habe. Es ist der Grundsatz der Gerechtigkeit für alle Völker und Nationalitäten und ihr Recht, unter gleichen Bedingungen der Freiheit und Sicherheit miteinander zu leben, ob sie stark oder schwach sind. Wenn dieser Grundsatz nicht zur Grundlage gemacht wird, vermag kein Teil des Gebäudes internationaler Gerechtigkeit zu bestehen. Das Volk der Vereinigten Staaten konnte aus keinem anderen Grundsatz heraus handeln; und zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes ist es bereit, sein Leben, seine Ehre und alles, was es besitzt, hinzugeben. Dieser größte und letzte aller Kriege für menschliche Freiheit hat jetzt seinen moralischen Höhepunkt erreicht, und unser Volk ist bereit, die Probe auf seine eigene Stärke, seine eigenen höchsten Ziele, seine eigene Redlichkeit und Hingebung zu bestehen."


VI.

Der amerikanisch-deutsche Notenwechsel vom 5. Oktober bis zum 5. November 1918 wird allgemein als Vorvertrag bezeichnet. Man kann ihn füglich als "Wilson-Vorvertrag" bezeichnen. Am 11. November 1918 erfolgte der Waffenstillstandsvertrag. Von ihm ist hier nicht weiter zu reden. Derselbe berührte weder in irgendeiner Weise die in dem Vorvertrag enthaltenen Erklärungen, noch sonstwie den Inhalt des in Aussicht genommenen Friedensvertrages. Er gab lediglich die für den 36tägigen Waffenstillstand getroffenen Vereinbarungen, deren Ausführungen einer "ständigen internationalen Waffenstillstandskommission" "unter der obersten Leitung des Oberkommandos der Alliierten zu Wasser und zu Lande" übertragen wurde. Von den dann folgenden Trierer Verlängerungsabkommen (13. Dezember, 16. Januar, 16. Februar) braucht hier gleichfalls nicht die Rede zu sein. Genug, daß am 7. Mai 1919 der Ministerpräsident Clemenceau als "Vorsitzender des Friedenskongresses" der deutschen Friedensdelegation den fertigen Text eines Friedensvertrages überreichte, ohne daß Deutschland vorher irgendeine Gelegenheit gehabt hätte, darüber zu verhandeln. Darauf erklärte der Sprecher der deutschen Delegation:

      "Die alliierten und assoziierten Regierungen haben in der Zeit zwischen dem 5. Oktober und dem 5. November 1918 auf den Machtfrieden verzichtet und den Frieden der Gerechtigkeit auf ihr Panier geschrieben. Am 5. Oktober 1918 hat die deutsche Regierung die Grundsätze des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika als Friedensbasis vorgeschlagen, am 5. November hat ihr der Staatssekretär Lansing erklärt, daß die alliierten und assoziierten Mächte mit dieser Basis unter zwei bestimmten Abweichungen einverstanden seien. Die Grundsätze des Präsidenten Wilson sind also für beide Kriegsparteien, für Sie wie für uns bindend geworden."

[146] Am 9. Mai schrieb die deutsche Delegation an Clemenceau:

      "Die deutsche Friedensdelegation hat die erste Durchsicht der überreichten Friedensbedingungen vollendet. Sie hat erkennen müssen, daß in entscheidenden Punkten die vereinbarte Basis des Rechtsfriedens verlassen ist; sie war nicht darauf vorbereitet, daß die ausdrücklich dem deutschen Volke gegebene Zusage auf diese Weise illusorisch gemacht wird."

Hierauf entgegnete anderen Tages Herr Clemenceau:

      "Die Mächte haben sich bei der Festsetzung der Vertragsbestimmungen ständig von den Grundsätzen leiten lassen, nach denen der Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen vorgeschlagen worden sind. Sie können keinerlei Erörterungen ihres Rechts zulassen, die grundsätzlichen Bedingungen des Friedens, so wie sie sie festgesetzt haben, aufrechtzuerhalten."

Es folgte am 29. Mai eine deutsche Repliknote, in welcher es heißt:

      "Wir waren nach Versailles in der Erwartung gekommen, einen auf der vereinbarten Grundlage aufgebauten Friedensvorschlag zu erhalten. Wir hofften auf den Frieden des Rechts, den man uns verheißen. Wir waren entsetzt, als wir in jenem Dokument lasen, welche Forderungen die siegreiche Gewalt des Gegners an uns stellt."

In der Anlage zu der Note, die einen Rückblick auf die Verhandlungen mit Wilson wirft, heißt es:

      "Es besteht also zwischen beiden Parteien eine feierliche Vereinbarung über die Friedensgrundlage. Deutschland hat ein Recht auf diese Friedensgrundlage. Wenn die Alliierten sie verlassen wollten, würden sie ein völkerrechtliches Abkommen brechen. Wie sich ergibt, ist zwischen der deutschen Regierung einerseits und den Regierungen der alliierten und assoziierten Mächte andrerseits ein unzweifelhaft rechtsverbindliches pactum de contrahendo zustande gekommen. Im Vertrauen auf die zugesicherte Rechtsgrundlage für die Friedensverhandlungen hat das deutsche Volk die Waffen aus der Hand gelegt. Nahezu keine einzige Bestimmung des Vertragsentwurfs entspricht den vereinbarten Bedingungen."

Es erging nunmehr am 16. Juni 1919 ein Ultimatum der Alliierten, dessen Ablauf auf den 23. Juni gestellt wurde. Darauf erklärte die deutsche Regierung durch Note vom 22. Juni:

      "Die Regierung der Deutschen Republik hat von dem Augenblick an, wo ihr die Friedensbedingungen der alliierten und assoziierten Regierungen bekanntgegeben worden waren, keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie diese Bedingungen als im schroffen Widerspruch mit der Grundlage befindlich ansehen muß, die von den alliierten und assoziierten Mächten einerseits und Deutschlands andrerseits völkerrechtlich für den Frieden vor dem Abschluß des Waffenstillstandes angenommen worden war. Die alliierten und assoziierten Regierungen haben die Regierung der Deutschen Republik durch ein am 23. Juni ablaufendes Ultimatum vor die Entscheidung gestellt, den von ihnen vorgelegten Friedensvertrag zu unterzeichnen oder die Unterzeichnung zu verweigern. Für den letzteren Fall wurde ein völlig wehrloses Volk mit der zwangsweisen Auferlegung der geforderten Friedensbedingungen und der Vermehrung der schweren Lasten bedroht."

Hervorzuheben ist, daß die deutsche Delegation in dem Notenwechsel mit Nachdruck auf die beiden Umstände hingewiesen hatte, [147] daß einerseits verabredet worden war, über den Frieden zu "verhandeln" und daß die auferlegten Bedingungen das Maß dessen überstiegen, was Deutschland tatsächlich leisten könne.

Die Regierung der Deutschen Republik erklärte am 22. Juni schließlich, daß sie bereit sei, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne jedoch damit anzuerkennen, daß das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei.

Am gleichen Tage forderte Clemenceau die vorbehaltlose Unterfertigung, und tags darauf teilte die deutsche Delegation mit, sie unterzeichne ohne Vorbehalt, "der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben".


VII.

Für die völkerrechtliche Prüfung der Verbindlichkeit des Versailler Vertrages ist, ebensowenig wie hinsichtlich des Gesichtspunktes des Zwanges, hinsichtlich des Verhältnisses des sogenannten Vorvertrages (Notenwechsel 5. Oktober bis 5. November 1918) zu dem Vertrag vom 28. Juni 1919 die Pandektenlehre von der Ungültigkeit der Verträge oder irgendeine andere Regelung, welche in einem der verschiedenen Privatrechtssysteme gelehrt wird oder gesetzlich (z. B. Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich, österreichisches bürgerliches Gesetzbuch, "Code Napoleon", "Civil Code" California) oder gewohnheitsrechtlich (englisches Common Law) gilt, anwendbar. Keine dieser Regelungen hat Geltung für das völkerrechtliche Verhältnis der Staaten. Als positives Völkerrecht, d. h. als auf Staatsverträge oder internationale gewohnheitsrechtliche Übung gestütztes Recht haben sich aber gleichfalls keine Normen gebildet. Nur die Natur der Sache, d. h. der aus dem Wesen der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten sich ergebende Maßstab der Vernünftigkeit und der Gerechtigkeit kann als Grundlage rechtlicher Beurteilung der hier zur Erwägung stehenden Rechtsfrage in Betracht gezogen werden.

Es muß gesagt werden, daß alles Wesentliche, was für die Maßgeblichkeit des Vorvertrages geltend zu machen ist, in der deutschen Note vom 22. Juni 1919 zusammengefaßt ist, nachdem es schon in der Erklärung vom 7. Mai und in den Noten vom 9. und vom 29. Mai gesagt worden war.

Als stärkste Unterstützung des deutschen Rechtsstandpunktes ist dazu festzustellen, daß die Alliierten Wert darauf gelegt haben, in dem Ultimatum vom 16. Juni zu behaupten: "c'est une paix de droit conforme aux principes admis au moment de l'armistice", daß sie also den deutschen Standpunkt im Prinzip anerkannt haben, und [148] ferner, daß Wilson als Wortführer und Beauftragter der Alliierten in dem Notenwechsel vom 5. Oktober bis 5. November das stärkste Gewicht darauf gelegt hat, daß Deutschland anerkenne, es handle sich bei der Ausarbeitung des Friedensvertrages nur noch um die Anwendung und Einzeldurchführung der von Wilson in seiner Proklamation aufgestellten Grundsätze ("practical details of their application").

Es sind aber trotzdem nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden, um auf die Abweichung des Friedensvertrages vom Vorvertrag einen Revisionsanspruch Deutschlands so zu gründen, daß derselbe nicht nur moralisch, sondern gemäß echtem Völkerrecht stichhaltig und wertbeständig auftreten kann.

Es wird nicht übersehen werden dürfen, daß die deutschen Protestnoten vom 9. Mai, 29. Mai, 22. Juni 1919, indem sie den Revisionsanspruch in der denkbar schärfsten Form zur Erörterung brachten, ohne damit einen anderen Erfolg, als die ebenso scharfe Ablehnung seitens der Alliierten zu erreichen, die Rechtslage Deutschlands zunächst nicht verbessert, sondern verschlechtert haben. Denn der Umstand, daß die Unterzeichnung des verhängnisvollen Textes von der deutschen Delegation schließlich dennoch vorgenommen wurde und nunmehr ausdrücklich ohne Vorbehalt erfolgte, ist unleugbar der Ausdruck des vertraglichen Verzichtes auf Geltendmachung des in dem vorhergegangenen Notenwechsel behaupteten Rechtes auf einen anderen, dem Vorvertrag entsprechenden Friedensvertrag aufgefaßt worden.

Dieser Verzicht ist, wie die Siegerstaaten selbst nicht leugnen, von diesen mittelst Drohung erzwungen worden. Ihn wegen dieses Zwanges für rechtlich wirkungslos zu erklären, ist aber nach geltendem Völkerrecht so wenig möglich, wie es ohne die Verzichterklärung und ohne den Vorvertrag rechtlich möglich wäre, den Versailler Vertrag als solchen wegen des Siegerzwanges für ungültig zu erklären. Professor Hold-Ferneck (Niemeyers Zeitschrift für internationales Recht Bd. XXX S. 110 ff.) hat es unternommen, aus der verpflichtenden Kraft des Vorvertrages das Recht Deutschlands zur Anfechtung des Versailler Vertrages wegen Zwanges auf einen besonderen Völkerrechtssatz zu stützen, welcher lauten soll: "Ein erzwungener Vertrag bindet nicht, wenn der Zwang geübt ward entgegen einer völkerrechtlichen Pflicht." Die Meinung des Wiener Völkerrechtsgelehrten ist die, daß zwar auch der Vorvertrag erzwungen, dennoch aber gültig sei, weil das Kriegführen und der darin enthaltene Zwang an sich nicht verboten sei. Der Vorvertrag habe aber den Krieg beendet und an seine Stelle den Rechtszustand gegenseitiger völkerrechtlicher Verpflichtung gemäß dem Inhalt des Vorvertrages gesetzt. Danach hätten die Feinde Deutschlands sich durch einen neuen [149] Krieg von den in dem Vorvertrag übernommenen Verpflichtungen frei machen können, aber nicht durch die Erzwingung einer neuen, den Vorvertrag verleugnenden Vertragserklärung Deutschlands.

Dem von Hold-Ferneck behaupteten Völkerrechtssatz fehlt aber nicht nur jede äußere Stütze für seine Geltung, sondern auch die innere rechtspolitische Rechtfertigung. Seine Anwendung wäre nicht nur wertlos, weil der Vorvertrag nur Programme für einen Friedensvertrag, aber keine konkreten Regelungen enthält; sie wäre aber eben deswegen nicht nur wertlos, sondern verhängnisvoll, weil sie die Fortsetzung des Kriegszustandes und die schrankenlose Willkürherrschaft der Feinde Deutschlands bedeuten würde.

Es ist das Härteste und zugleich das Notwendigste, was hier gesagt werden muß, daß jede, auch die ungerechteste, unvernünftigste, verabscheuungswerteste Art rechtlicher Regelung besser ist als der Zustand völliger Ungeregeltheit und schrankenloser Handlungswillkür des Siegers. Man darf nicht verkennen, daß es tatsächlich diese Einsicht auf seiten der Besiegten ist, deren sich der Sieger bedient, um seinen Willen durchzusetzen. Der Besiegte wählt, indem er sich schließlich, wenn es nicht anders geht, dem Diktat des Siegers unterwirft, das kleinere Übel.

Die Konsequenz des durch Siegerzwang erpreßten Friedensvertrages ist fast stets, daß der Besiegte nicht nur die stipulierten Bestimmungen tatsächlich gelten lassen, sondern daß er selbst sich auf Bestimmungen des verhaßten Friedensvertrages berufen muß. Deutschland hat dies bezüglich des Versailler Vertrages mannigfach getan und tun müssen. Es hat nicht nur in vielen Verhandlungen über die Ausführung der ihm auferlegten schweren Leistungen und Erduldungen sich auf Interpretationen und Limitationen der Vertragsbestimmungen stützen müssen, welche die Geltung dieser Bestimmungen voraussetzten. Es hat auch seinerseits aus eigner Initiative Forderungen gegen die Siegerstaaten auf Grund des Vertrages geltend gemacht, nicht nur solche, welche, wie die Abrüstung, das Korrelat gleichartiger ihm auferlegter Lasten bilden, sondern auch solche, welche, wie die schrittweise Räumung der Besetzungszonen, auf die vertragsmäßige Minderung ihm auferlegter Bürden gerichtet wird. Die Abkürzung der Besetzungszeit gemäß Artikel 431 und die Pflicht der Reparationskommission zur periodischen Prüfung der deutschen Zahlungskraft hinsichtlich der Reparationen unter Anhörung Deutschlands gemäß Artikel 234 stellen gleichfalls Positionen dar, welche Deutschland in die Lage bringen, Rechte aus dem Vertrage geltend zu machen. Der Vertrag weist bei genauestem Studium in Hinsicht solcher Positionen eine größere Ergiebigkeit auf, als gemeinhin bekannt ist.

[150] Wenn in der Literatur und in der Presse oder in politischen Verhandlungen der Standpunkt vertreten worden ist, daß jede Berufung auf den Versailler Vertrag von Seiten Deutschlands eine Anerkennung der Gültigkeit des Vertrages bedeute, oder anders ausgedrückt, den Verzicht auf Geltendmachung der Ungültigkeit desselben darstelle, so ist dem energisch entgegenzutreten. Denn wenn ein kriegerisch vergewaltigter Staat Positionen wahrnimmt, welche das Diktat des Siegers ihm belassen hat, und wenn der Besiegte sich dann der ihm durch den Friedensvertrag aufgezwungenen Ausdrucks- und Verhandlungsformen bedient, so ist dies die von seinem Willen unabhängige zwangsläufige Folge der durch den Siegerwillen geschaffenen Gesamtlage. Die von Vertretern der absoluten Ungültigkeit des Versailler Vertrages geprägte Formel, Deutschland sei gezwungen, sich so zu verhalten, als ob der Versailler Vertrag zu Recht bestände, ist eine dialektische Wendung, welche einen Vorbehalt ausdrückt, der hier nicht zurückgewiesen zu werden braucht, weil die "Als-ob-Formel" eine Deutung verträgt, welche der hier vertretenen und im folgenden näher darzulegenden Auffassung von der Revisionsbedürftigkeit und Revisionsmöglichkeit des Versailler Vertrages nicht vorgreift.


VIII.

Die vorstehend zurückgewiesene völkerrechtliche Anwendung der zivilrechtlichen Lehre von der Ungültigkeit (Nichtigkeit, Anfechtbarkeit) der Verträge wegen Zwanges ist nicht nur positivrechtlich falsch, praktisch undurchführbar, wertlos, sondern sie ist schädlich, irreführend und verhängnisvoll, weil sie von dem allein rechtlich begründeten und praktisch möglichen Wege abführt, auf welchem ein völkerrechtlicher Anspruch auf Revision des Versailler Vertrages zur Geltung gebracht werden kann.

Auch in der völkerrechtlich-wissenschaftlichen Diskussion ist vielfach nicht genügend beachtet, daß, wenn wirklich das Versailler Instrument gemäß dem rein juristisch formalen Begriff der Nichtigkeit behandelt werden würde, damit der Weg zu einer Revision des Versailler Vertrages endgültig verbaut wäre. Der Grund dafür liegt nicht sowohl in der Intensität der Rechtswirkung des angewendeten Gesichtspunktes der Nichtigkeit als vielmehr in der Totalität des Umfanges und des Inhaltes, welcher durch die Vernichtung ergriffen würde, d. h. in dem Umstande, daß die Unterschrift vernichtet wird und damit das ganze Schriftstück jede rechtliche Bedeutung verliert.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß, wenn man anstatt des Begriffes der Nichtigkeit im Sinn der privatrechtlichen Lehre [151] denjenigen der Anfechtbarkeit anwendet, dies die bezeichnete Folge nicht ändert, weil, wenn die Anfechtung erfolgt ist, nach der herrschenden Lehre die Wirkung der Nichtigkeit eintritt.

Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, daß der Ausdruck "Revision des Versailler Vertrages" in dem weiteren Sinn zur Verwendung kommen könnte, daß wenn irgendeine Instanz mit der Aufgabe befaßt würde, die ganze Materie des Friedens von Versailles kritisch zu prüfen, darin die Möglichkeit eingeschlossen würde, den Vertrag in seiner Totalität für nichtig zu erklären. Im Rahmen der gegenwärtigen Ausführungen ist dies nicht der Sinn des Ausdruckes. Vielmehr besagt derselbe hier prägnant, daß der Vertrag nicht nur als historische Tatsache, sondern als Grundlage bestehender Rechtsverhältnisse den Gegenstand einer Prüfung seines Inhaltes bilden solle, welche die Möglichkeit der Änderung von Einzelheiten seines Inhaltes in größerem oder geringerem Umfang, unter dem Gesichtspunkt gegenwärtiger Bedürfnisse und künftiger Gestaltungen ins Auge faßt.

Die Ausschließung des Gesichtspunktes der rechtlichen Nichtigkeit eröffnet die Möglichkeit und erleichtert die Ausführung solcher Änderungen mannigfach. Indem die Frage der Totalgültigkeit ausgeschieden wird, fällt die Prüfung einer großen Zahl von Bestimmungen automatisch fort, deren Anwendung entweder deswegen praktisch nicht in Betracht kommt, weil es sich um unabänderlich oder so gut wie unabänderlich existent gewordene Verhältnisse handelt, welche aus dem Vertrage hervorgegangen sind. Dazu gehört der Völkerbund, das internationale Arbeitsamt, der internationale Gerichtshof. Eine zweite Gruppe von Angelegenheiten scheidet automatisch aus, weil die Staaten von vornherein darüber einig sind, daß kein Interesse an der Änderung der in Betracht kommenden Bestimmungen besteht. Außerdem kann es nur förderlich sein, daß die Prüfung nach und nach von einem Teil zum andern Teil, von einer Materie zur anderen fortschreitet.


IX.

Wenn man den Versailler Vertrag im ganzen und im einzelnen unter dem Gesichtspunkt der Revisionsmöglichkeit zu kritisieren unternimmt, so muß man unterscheiden:

1. die Kritik der Art seines Zustandekommens,
2. die Kritik seines Inhaltes,
3. die Art seiner Ausführung.

Von der Kritik des Zustandekommens ist unter dem Gesichtspunkt der Ungültigkeit des Vertrages im Vorstehenden das wesentliche dargelegt worden. Einige Bemerkungen aber über bestimmte Punkte, in [152] welchen die öffentliche Kritik das Verfahren der Alliierten als Verletzung völkerrechtlicher Grundpflichten verurteilt, müssen hier noch Platz finden.

Es war unzweifelhaft eine gröbliche völkerrechtliche Verfehlung, daß die Alliierten die in dem Vorvertrag gegebene Zusage, mit Deutschland über die Friedensbedingungen zu verhandeln, was doch nur den Sinn haben konnte, daß Deutschland Gelegenheit gegeben werden solle, materiell zu den Entwürfen der Alliierten Stellung zu nehmen, stillschweigend und bewußt völlig beiseite ließen und Deutschland mit Diktat und Ultimatum überraschten.

Es war ferner unzweifelhaft ein schwerer Bruch der mit dem ersten der 14 Wilsonschen Punkte gegebenen Vertragszusage, also eine Verletzung völkerrechtlich übernommener Pflicht, daß die von den Alliierten monatelang geführten Verhandlungen über die Herstellung des Friedensentwurfes in methodisch durchgeführter Heimlichkeit stattfanden.

Diese beiden Momente, welche in der Bezeichnung des Friedensvertrages als "Diktat" ihre passende Charakterisierung finden, können nicht als Grundlage eines Prozesses oder einer rechtlichen Selbsthilfeaktion zur Geltung gebracht werden. Sie sind durch die deutsche Unterschrift vom 28. Juni 1919 formell erledigt. Aber sie haben für die Revisionsmöglichkeit und für die Ausführung des Versailler Vertrages eine andere Bedeutung, welche nicht unterschätzt werden darf. Sie schließen das Recht Deutschlands in sich, jederzeit diejenigen tatsächlichen Umstände zur Sprache und zur Geltung zu bringen, welche in den einseitigen Friedensverhandlungen der Alliierten nicht vorgebracht worden sind. Dies ist von besonderer Bedeutung auch für den in den Verhandlungen vom Oktober-November 1918 von Deutschland angemeldeten Gesichtspunkt, daß die ihm diktierten Bedingungen sein Leistungsvermögen überstiegen. Auch dieser Gesichtspunkt hat sowohl für die Revisionsmöglichkeit als für die Ausführung des Versailler Vertrages Bedeutung.


X.

Bei weitem mehr von der Kritik der öffentlichen Meinung beachtet und erörtert als die beiden soeben erwähnten Momente in der Entstehungsgeschichte des Versailler Vertrages ist das im breiten Strom der politischen Erörterungen des letzten Jahrzehntes zur Geltung gekommene Verhältnis der Wilson-Kundgebungen zu dem Versailler Vertrag.

Durch Ausscheidung der Ungültigkeitsthese ist die Bedeutung dieses Verhältnisses nicht erledigt. Welche entscheidende Rolle das [153] Wilson-Programm als Verhandlungsgegenstand in dem deutsch-amerikanischen Notenwechsel Oktober-November 1918 gespielt hat, braucht nicht noch einmal dargelegt zu werden. Nicht nur von den Organen der deutschen Politik und vom deutschen Volke, sondern von der ganzen Welt wurde es als eine den Versailler Frieden mit furchtbarem Makel behaftende Abkehr der Alliierten von dem Gedanken eines universalen Rechtsfriedens empfunden, als [in dem] Friedensdiktat von dem Wilson-Programm zwar die den Ententestaaten und deren Trabanten günstigen politischen Gestaltungen (Punkte 7-13), aber nicht die allgemeinen Grundsätze der Punkte l, 2, 3, 4, 5, 14, sowie das in den übrigen Kundmachungen Wilsons enthaltene Programm in Hinsicht der Aufrichtung einer neuen universalen Rechts- und Friedensordnung in den Versailler Vertrag aufgenommen waren.

Es muß als eine zwar verbreitete, aber schiefe und irreführende Auffassung bezeichnet werden, wenn man das Verhältnis des Vorvertrages zu dem Versailler Vertrag damit glaubt erfassen zu können, daß man punktweise die beiden Verträge nach dem Maßstabe vergleicht: Welche der einzelnen Wilson-Forderungen sind in dem Versailler Vertrage erfüllt worden?

Auf diese Frage ist zu antworten: die im besonderen Interesse der Ententestaaten liegenden konkreten politischen Forderungen sind in Versailles erfüllt worden. Entsprechende Forderungen im Interesse Deutschlands enthielt das Wilson-Programm gar nicht. In dieser Hinsicht kann man deswegen auch nicht sagen, daß der Versailler Vertrag Versprechungen des Vorvertrages nicht erfüllt habe. Dagegen ist der ganze Plan einer neuen Rechts- und Friedensordnung, welcher Deutschland und alle anderen Staaten kraft allgemeiner Durchführung gleichmäßig beglücken sollte, völlig gescheitert, mit Ausnahme der Genfer Völkerbundsatzung, auf welche zurückgekommen werden muß, und des vierten der 14 Wilsonschen Punkte (Abrüstung), wovon gleichfalls noch zu sprechen ist. Als Gesamtergebnis der Vergleichung ist festzustellen, daß, abgesehen von diesen beiden Stücken des Versuches einer Rechts- und Friedensordnung der Versailler Vertrag das gerade Gegenteil eines Rechts- und Friedensinstrumentes ist. In Hinsicht der erwähnten beiden Ausnahmen ist festzustellen, daß Deutschland im Völkerbunde erst am 10. September 1926 gleichen Anteil mit den anderen Staaten erhalten hat, sowie daß das Programm der allgemeinen Abrüstung in unerhörter Weise ersetzt ist durch die einseitige gewaltsame Abrüstung Deutschlands, welche der Versailler Vertrag als Hauptbürgschaft des Friedens hingestellt hat.

Daß die Fehlleistungen des Versailler Vertrages auf dem Gebiet der Weltorganisation in Hinsicht des Wilsonschen Programms und der diesem entsprechenden Zusagen des Vorvertrages nicht durch [154] eine auf Nachlieferung gerichtete "Revision" des Versailler Vertrages befriedigend repariert werden konnten oder können, das war schon im Jahre 1919 klar. Seitdem aber sind wir über die Natur des Problems und seine Tragweite durch die Entwicklung der Weltpolitik dahin belehrt worden, daß auch selbst dann, wenn alle Ententestaaten den ernstesten Willen gehabt hätten, Wilson zu folgen, es unmöglich gewesen wäre, den Rechts- und Friedensbau der Staatenwelt im Rahmen des Vertrages von Versailles wirklich zu fundamentieren. Man muß sagen, daß die Aufnahme der den Völkerbund statuierenden ersten 26 Artikel, welche Wilson mit Aufbietung höchster Energie und unter der von seinen Genossen in diesem Kampf, R. Lansing (The peace negotiations, London 1921), hart mißbilligten Preisgabe anderer Aufgaben durchsetzte, das äußerste war, was in Versailles in der Richtung der Wilsonschen Grundideen erreicht werden konnte.

Man muß die Entwicklung der europäischen und der amerikanischen Politik von Versailles bis zum Genfer Protokoll (2. Oktober 1924) zu den Verträgen von Locarno (16. Oktober 1925) und zum Kellog-Pakt (27. August 1928) verfolgen, dazu die Geschichte der namentlich seit Dezember 1921 geschlossenen Schieds- und Ausgleichsverträge, sowie die Entwicklung des Völkerbundes, um daran die Frage zu knüpfen, wie sich zu diesen Vorgängen der Gedanke einer durch einen Kongreß der Signatarstaaten des Versailler Friedens zu unternehmenden Revision des Versailler Vertrages stellt. Man wird dann ganz und gar überzeugt sein, daß das Schicksal des Wilsonschen Friedensplanes über den Vertrag von Versailles längst weit hinaus gewachsen ist, und daß kein ernsthafter Politiker daran denken kann, ihn zurückzupressen in den Rahmen des Versailler Diktates.


XI.

Die heute brennendsten Fragen in dem Gebiet des Versailler Vertrages sind die Materien der Abrüstung, der Räumung und der Reparationen. Alle diese Materien sind recht eigentlich Gegenstände des Versailler Vertrages, und zwar solche, deren Revision im besonderen Sinn des Wortes in Frage kommt, und zwar in der positiven Gestalt einer Revision der Artikel 159-213 (Abrüstung), 428-432 (Räumung), 232-247 (Reparationen).

Es ist bemerkenswert, daß die drei Materien darin übereinstimmen, daß die Lösung der für sie bestehenden höchst aktuellen Probleme und Kontroversen praktisch in erster Linie abhängig ist von der Verständigung speziell zwischen Frankreich und Deutschland, während an ihnen teils direkt (Abrüstung), teils indirekt (Reparationen, Räumung) auch andere Länder und Völker stark interessiert sind. In [155] allen drei Materien handelt es sich ferner praktisch nicht sowohl um die Aufhebung oder Abänderung von Bestimmungen des Versailler Vertrages, als vielmehr um die Ausführung von Bestimmungen des Vertrages. Endlich ist festzustellen, daß tatsächlich der Vorschlag einer Revision dieser Teile des Vertrages von Deutschland, soviel bekannt, bisher nicht gemacht worden ist. Die Erklärung hierfür liegt darin, daß die Abrüstungsfrage in die Hand des Völkerbundes gelegt ist, und daß für Reparationen und Räumung das Interesse Deutschlands sich nicht auf Änderung der Versailler Bestimmungen, sondern auf deren gerechte, vernünftige und angemessene Durchführung (Artikel 234 und 431 sind dabei von besonderer Bedeutung) richtet, über welche Deutschland fast ununterbrochen Verhandlungen geführt hat und noch führt, und für welche deswegen der Gesichtspunkt einer generellen Revision der Vertragsbestimmungen um so mehr zurücktritt, je entschiedener es sich um konkrete und lediglich bilaterale Angelegenheiten handelt, wie in erster Linie die Räumungsfragen, aber auch die Reparationsfragen. Man wird sich dabei erinnern müssen, daß insbesondere Ausführungsstreitigkeiten sich besser für schiedsgerichtliche oder international-gerichtliche Entscheidung als für Kongreßbehandlung eignen.

Mit der Abrüstungsfrage hat es eine besondere Bewandtnis, nicht nur insofern als diese durch die Artikel 1, 8, 9 des Versailler Vertrages verfassungsmäßig primär und generell dem Völkerbund überwiesen ist, sondern auch insofern als es sich dabei nicht um Ausführungen konkreter Bestimmungen des Versailler Vertrages, sondern um den Versuch der Verwirklichung eines der Wilsonschen abstrakten Programmpunkte handelt. Dieses Problem teilt das Schicksal des übrigen Wilsonschen Weltorganisationsprogrammes. Es geht über den Rahmen des konkreten Versailler Friedensvertrages hinaus. Aber es unterscheidet sich von anderen Punkten des allgemeinen Wilson-Programmes dadurch, daß es durch Artikel 159 des Versailler Vertrages mit der konkreten, in den Artikeln 160-213 geregelten Entwaffnung Deutschlands in ein Verhältnis gesetzt ist, aus welchem sich für Deutschland der völkerrechtliche Anspruch auf die Ausführung der allgemeinen Abrüstung ergibt. Zugleich aber ist der Weg für die Geltendmachung dieses Anspruches durch die Überweisung der Materie an den Völkerbund vorgezeichnet.

Die vorstehend noch nicht berührte Materie der kolonialen Mandate ist zufolge des Artikels 22 ebenso wie das Abrüstungsproblem dem Völkerbund überwiesen. Es muß für beide Materien die besondere Rechtslage betont werden, daß die sie betreffenden generellen Bestimmungen des Paktes (Artikel 1, 8, 9, 22) zufolge Artikel 26 [156] durch Beschluß des Völkerbundes (Einstimmigkeit des Rates und Majorität der Bundesversammlung) abgeändert werden können. Es ist also hier eine besonders vorgesehene, im Wege der Völkerbundverhandlungen realisierbare Revisionsmöglichkeit des Versailler Vertrages festzustellen.

Von der in den vorhergehenden Sätzen berührten besonderen Legitimation des Völkerbundes für Revision des Versailler Vertrages unterscheidet sich durchaus die Funktion, die der Bundesversammlung des Völkerbundes durch Artikel 19 zugewiesen ist, welcher lautet:

      "Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationaler Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte."

Für die Interpretation dieser Bestimmung ist erheblich, daß die alliierten und assoziierten Regierungen in ihrer Mantelnote vom 16. Juni 1919 folgendes erklärt haben:

"daß dieser Vertrag nicht nur eine gerechte Erledigung des großen Krieges darstellt, sondern daß er auch die Grundlage schafft, auf der die Völker Europas in Freundschaft und Gleichheit zusammenleben können. Er schafft aber auch gleichzeitig den Apparat für die friedliche Erledigung aller internationalen Fragen durch Aussprache und Übereinstimmung, wodurch die im Jahre 1919 getroffene Regelung selber von Zeit zu Zeit abgeändert werden kann, um neuen Ereignissen und neuentstehenden Verhältnissen angepaßt zu werden..."

Der von der zweiten Versammlung des Völkerbundes eingesetzte Juristenausschuß (Scialoja, Urrutia, de Peralta), welcher die von Bolivien beantragte Initiative der Bundesversammlung zur Revision des bolivianisch-chilenischen Vertrages vom 20. Oktober 1904 zu begutachten hatte, ist zu einem negativen Ergebnis, das heißt zu einer Ablehnung der Intervention gelangt. Dabei wurde hervorgehoben, daß die Bundesversammlung zu der Revision von Verträgen nicht befugt sei und nur eine (unverbindliche) Aufforderung zur Nachprüfung ergehen lassen könne. Bolivien, Chile, China haben (1920, 1921, 1925) sich vergeblich bemüht, beim Völkerbund die Initiative zur Revision eines Vertrages zu erreichen.

Man muß hiernach sagen, daß der Artikel 19 für die Revisionsmöglichkeit des Versailler Vertrages praktisch so gut wie gar nicht in Betracht kommt.

Es muß der Vollständigkeit halber bemerkt werden, daß der Völkerbund in der Lage ist, gemäß Artikel 26 seiner Satzung den Artikel 19 dahin zu ändern, daß seine Initiative die Revision von Staatsverträgen mit stärkeren Konsequenzen auf den Weg bringt. Damit [157] sind Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, welche für den Versailler Vertrag aber schwerlich praktische Bedeutung gewinnen würden.

Das Gesamtergebnis der vorstehenden Darlegungen ist dahin zusammenzufassen, daß die juristische Möglichkeit der Revision des Versailler Vertrages für wichtige und umfangreiche Teile des Vertrages zu bejahen ist, daß aber die politische Möglichkeit erfolgreicher Revision abhängt von der Entwicklung des Willens zum Frieden und zu dauernder völkerrechtlicher Ordnung auf der im Anfang dieser Abhandlung gezogenen Linie.

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1Staudinger, Kommentar zum deutschen bürgerlichen Gesetzbuch, Einleitung zu §§ 104 ff. und § [? Ziffer fehlt; Anm. d. Scriptorium] und 3; vgl. dazu Th. Kipp in der 8. Aufl. von B. Windscheids Lehrbuch des Pandektenrechts 1900 Bd. I S. 369 - 71. ...zurück...

2Jahrbuch des Völkerrechts Bd. VI. S. 303. ...zurück...

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger