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Deutschland, England und Frankreich nach dem Weltkrieg

Nun aber vollzogen sich eigenartige Wandlungen in jenen Gegnerschaftsverhältnissen zwischen Deutschland und den westlichen Nachbarmächten England und Frankreich, auf welche sich die deutsche Verständigungspolitik bezieht.

In den Jahren nach dem Kriege war als der eigentliche und unversöhnliche Gegner Deutschlands immer Frankreich aufgetreten, während England eine zunehmend versöhnliche Haltung gegenüber Deutschland einnahm oder einzunehmen schien und öfters die Rolle eines Vermittlers zwischen Frankreich und Deutschland spielte. Schon im Jahre 1919 war England den überspannten Sicherheitsforderungen Frankreichs, die auf Abtrennung der Rheinlande vom Reich oder auf seine militärische Dauerbesetzung abzielten, in gewissem Grade entgegengetreten.7 England gab dies als eine der Gerechtigkeit wie der Klugheit entsprechende Mäßigung im Siege aus.8 Auch lehnte England dann 1921 ausdrücklich ein gemeinsames Einkreisungsbündnis Frankreich-England ab, das Polen und die Tschecho-Slowakei im Rücken Deutschlands umfassen sollte.9

Als während der Niederschlagung der Spartakusrevolte 1920 im rheinisch-westfälischen Industriegebiet durch die Reichswehr Frankreich plötzlich die Stadt Frankfurt besetzte, da trat Lloyd George für die Rücknahme der französischen Truppen ein. Als Frankreich 1923 in das Ruhrgebiet einfiel, mißbilligte das die öffentliche Meinung Englands, und eine englische Note vom 14. April 1923 erklärte die Ruhrinvasion als vertragswidrig - freilich ohne daß es zu einem entsprechenden Druck auf das verbündete Frankreich kam. Im Locarnopakt von 1925 verpflichtete sich England sogar, gleich einem unparteiischen Friedensgendarmen, im Falle eines deutschen Angriffs gegen Frankreich alsbald Frankreich zu Hilfe zu eilen, im Falle eines französischen Angriffs auf Deutschland aber diesem den gleichen Beistand zu leisten.

Auf der Abrüstungskonferenz 1932/33 und in den nachfolgenden Verhandlungen über Rüstungsverständigung war England mehrfach als Vermittler zwischen den französischen und deutschen Forderungen zur deutschen Rüstung aufgetreten (freilich hatte Deutschland Ursache, nicht alle englischen Vermittlungsaktionen oder -erklärungen für so ehrlich anzusehen, wie wohl der Macdonald-Plan vom 16. März 1933 gemeint war). Als eigentlicher Gegner des deutschen Rechtskampfes im Wiedererlangen der Gleichberechtigung in Rüstung und Rüstungsverträgen erschien während dieser ganzen Zeit nicht England sondern Frankreich.

Man hat hervorgehoben, daß England auch in der "moralischen Abrüstung" nach dem Weltkrieg Frankreich voranging. Bekanntlich war die Pariser Friedenskonferenz von einer eigentümlichen Siegesverblendung beherrscht, kraft derer sie die schimpfliche und strafartige Behandlung des niedergebrochenen Gegners zum Grundgesetz des Friedensdiktates machte. Vernehmliche Stimmen der Politik, die sich gegen den ehrverletzenden Charakter des Versailler Diktats wandten, wurden eher in England laut als in Frankreich. Für eine versöhnliche Geste der nachträglichen Ehrung des militärischen Gegners im Kriege - wie etwa die Einladung von Lettow-Vorbeck zum Treffen der englischen Afrika-Krieger im Jahre 1931 - fehlte es an einer Parallele in Frankreich.10 Im übrigen mißbilligte die öffentliche Meinung Englands, daß Frankreich farbige Truppen zur Besetzung des Rheinlandes verwandte. Solche Regungen von rassischer Solidarität fehlten in Frankreich. Auch schien es der englischen Wissenschaft leichter zu fallen als der französischen, sich von den verblendeten Vorurteilen der Kriegszeit freizumachen, insbesondere die Kriegsschuldlegenden beiseite zu tun, um nun die Wahrheit über die Entstehung des Krieges zu ergründen und zu einer gerechten Würdigung der Schuldfrage zu kommen.

In den Jahren nach 1919 haben zahlreiche Engländer von Einsicht mehr oder weniger scharfe Kritik an dem Versailler Friedensvertrag geübt. Man verurteilte diesen Diktatvertrag als politische Torheit und als moralisches Unrecht, auch als völkerrechtlichen Rechtsbruch. Man sagte voraus, daß aus den Fehlern und dem Unrecht dieses Friedensvertrages - vor allem aus dem polnischen Korridor und der Danziger Frage - notwendig ein neuer Krieg entstehen müsse, wenn nicht baldmöglichst hier gerade das Diktat revidiert werde... Schließlich mehrten sich in England die Stimmen der öffentlichen Meinung, die sich für notwendige Revisionen aussprachen oder doch die Bereitschaft bekundeten, über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Revisionen zu diskutieren, die Deutschland forderte. Vereinzelt ließen sich sogar Stimmen vernehmen, die von einer notwendigen Wiedergutmachung des Unrechts sprachen, das Deutschland durch das Versailler Diktat geschehen ist.11

Freilich blieben solche Äußerungen ohne Einfluß auf die große Politik Englands, das ebensowenig wie Frankreich bereit war, freiwillig und in gütlicher Verständigung die Revisionen des Versailler Diktates zu gewähren, die Deutschland als von seinen Lebensinteressen geboten ansah und forderte.

Im ganzen betrachtet aber gewann es doch in den Jahren 1919 bis 1935 den Anschein, als ob England von den beiden westlichen Weltkriegsgegnern der versöhnlichere,12 versöhnungsbereiter als Frankreich sei.

Inzwischen aber bereitete sich ein Wandel in der Politik Englands gegenüber Deutschland vor: seit der nationalsozialistischen Revolution, und seit Deutschland offensichtlich zur inneren Einheit und Stärke kam, und nun aus eigener Machtbefugnis die lebenswichtigen Revisionen des Versailler Diktates zu vollziehen begann, die man ihm von der Gegenseite gütlich zu gewähren sich weigerte.

Bei der Abrüstungskonferenz 1932/33 war es im Grunde um die Frage der deutschen Rüstung gegangen. Das Versailler Diktat, Teil V, hatte Deutschland wehrlos und zur Selbstverteidigung unfähig gemacht; hatte Deutschland "unterhalb der Notwehrgrenze" entwaffnet. Nun forderte Deutschland auf dieser Abrüstungskonferenz das ihm vertragsbrüchig verweigerte Naturrecht der nationalen Selbstverteidigung im Rahmen einer bescheidenen Nachrüstung auf den Rüstungsstand der anderen wieder. Am offenen Widerstand Frankreichs dagegen scheiterte die Abrüstungskonferenz. England schien zunächst, wie erwähnt, auch eine entgegenkommende und vermittelnde Haltung gegenüber der nun beginnenden deutschen Nachrüstung bewahren zu wollen.13 Jedoch begann sich bald zu zeigen, daß England im Grunde sich den von Deutschland für lebenswichtig erachteten Revisionen nicht weniger widersetzte wie Frankreich.

Ein erstes fanalartiges Zeichen dessen war das englische Weißbuch Statement Relating to Defence vom 4. März 1935, das die deutsche Nachrüstung verantwortlich macht für die Aufrüstung der anderen Mächte und in diesem Sinne die englische Aufrüstung als Selbstverteidigungsaktion gegen die Drohung der deutschen Rüstung ausgibt.14

Mußte man nicht daraus die Folgerung ziehen, daß England in Deutschland den Gegner sieht, zu dessen möglicher Niederkämpfung es rüstet? Als dies von deutscher Seite ausgesprochen wurde, suchte man von England her zu beschwichtigen. Die deutsche Regierung aber mußte sich jetzt doch Fakten wie diese vergegenwärtigen: Schon im Jahre 1933 hatte ein Mitglied der englischen Botschaft in Paris in Gegenwart Ribbentrops gegen Franzosen den Vorwurf erhoben: daß Frankreich wegen der deutschen Aufrüstung nicht zum Präventivkrieg geschritten sei. England habe sein Möglichstes in dieser Richtung getan, aber die französische Regierung habe einfach nicht gewollt.15

Es kam dann unter den bekannten Umständen zum Zerfall des Locarno-Vertrages und zu dem Rumpf-Locarno-Pakt zwischen den Mächten Frankreich-England-Belgien durch den Notenwechsel vom 2. April 1935, der seinem politischen Gehalt nach eine Militärkonvention dieser Mächte gegen Deutschland darstellt. Dieser Pakt mitsamt den vorangegangenen Verhandlungen zwischen den drei Partnern brachte eine bemerkenswerte Reinigung der internationalen Atmosphäre von politischen Illusionen oder Fiktionen. Denn mit diesem dreiseitigen Militärabkommen Frankreich-England-Belgien16 kam nun der reale politische Kern des Locarno-Vertrages zum Vorschein, den man in die Fiktion einer doppelseitigen Beistandsverpflichtung Englands gekleidet hatte. Jeder Sachverständige der Politik wußte, daß es hier nur um eine leere Fiktion ging. Gewiß war es sicher, daß im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich eine englische Beistandsaktion erfolgen würde. Niemand aber konnte im Ernst annehmen, daß im Falle etwa einer zweiten Ruhrinvasion Frankreichs alsbald die englische Wehrmacht gegen Frankreich marschieren würde. Ein solcher Krieg Englands war politisch und militärisch eine gänzlich unwirkliche Hypothese. Politisch: weil weder das englische Volk noch Parteien oder Regierung in einem solchen Falle zu kriegsmäßiger Feindschaft gegen Frankreich bereit gewesen wären.17 Militärisch: weil bei der einseitigen Entwaffnung Deutschlands und der Entmilitarisierung des Rheinlandes das angreifende Frankreich die vollkommene Chance des Sieges hatte, und England selbst im Falle der unwahrscheinlichen Unterstützung durch belgische und italienische Streitkräfte schlechterdings keine Hilfsmittel besaß, um diesen französischen Sieg abzuwehren oder rückgängig zu machen. Die paritätische Beistandsverpflichtung Englands für Frankreich und Deutschland hätte, um glaubhaft zu sein, zum mindesten eine paritätische Entmilitarisierung sowohl der deutschen wie der französischen Grenze vorausgesetzt - wie sie Deutschland vorschlug (Punkt 9 des deutschen Friedensplanes vom 31. März 1936), um zu einem ehrlichen Ersatz-Locarno-Pakt18 zu gelangen...

Nun also ließ auch England die Locarno-Fiktion fallen und bezog durch die Militärkonvention vom 2. April 1935 eine Position offener Gegnerschaft gegen Deutschland. Eine Gegnerschaft freilich, die noch Möglichkeiten der Verständigung offen ließ.

Mehr und mehr trat nun aber als gewichtiges Moment der englischen Außenpolitik eine feindliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus hervor, durch den Deutschland erstarkte. Sie zeigte sich namentlich in den Oppositionsparteien, aber auch in anderen Gruppen, die der Regierung mehr oder weniger nahe standen. Man nahm in diesen Kreisen, wie bekannt, teils eine unversöhnliche Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland ein - vielfach in den Formen einer politischen Zusammenarbeit mit der deutschen Emigration von 1933 - oder aber eine eigentümliche Haltung von überheblicher Schulmeisterei.19 Nach alter politischer Tradition und Jahrhunderte alter Erfahrung mit dem englischen Parlamentarismus mußte Deutschland damit rechnen, daß diese wachsende Deutschfeindlichkeit sich auch auf die Regierungspolitik Englands auswirken würde und eines Tages gar die deutschfeindlichen Oppositionsparteien von heute als Regierungspartei die englische Politik bestimmen würde. Hitler hat das mehrfach ausgesprochen.20

Das nationalsozialistische Deutschland hatte klar sein Ziel ausgesprochen: Wiederherstellung der Wehrhoheit - vertragliche Gleichberechtigung in einer internationalen Ordnung der Sicherheit und Rüstungsbeschränkung. Deutschland hatte zunächst versucht (es wird davon sogleich noch zu sprechen sein), dieses Ziel im Wege des Verhandelns über die Revision des Versailler Diktats und den vertraglichen Ausbau der neuen Friedens- und Sicherheitsordnung zu erreichen. Da dieser Versuch vergeblich blieb, vollzog Deutschland die lebenswichtigste Revision: die Wiederherstellung seiner Wehrhoheit, aus eigener Machtbefugnis und gegen den Widerstand vornehmlich Frankreichs und Englands. Auch die großdeutsche Einigung - die Heimkehr Deutschösterreichs in das Reich - mußte sich gegen den Widerstand dieser Mächte durchsetzen.

Und nun geschah ein bedeutsamer Wandel in den westlichen Gegnerschaftsverhältnissen Großdeutschlands. Als eigentlicher Widersacher des deutschen Wiederaufstiegs trat mehr und mehr England hervor; während Frankreich sich mit den Tatsachen des deutschen Wiederaufstiegs abzufinden begann. In dem Maße, wie Großdeutschlands Macht wuchs, wuchs zugleich auch die Gegnerschaft Englands gegen Deutschland, während die Gegnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sich offensichtlich milderte.

Diese Entwicklung begann schon, ehe die Tschecho-Slowakei zerfiel und damit die Westmächte diese "Bastion gegen Deutschland" verloren. In Frankreich begann man wohl einzusehen, daß es auf die Dauer doch über Frankreichs Kraft ging, im Lebensraum des starken deutschen Volkes, sei es im Rheinland oder in Böhmen, deutschfeindliche Bastionen zu halten. Es kam zu einer Entwicklung, die man als "Rückzug Frankreichs aus Osteuropa" bezeichnet. Den Ausgleich dafür fand Frankreich, indem es sich nun um so mehr seinem eigenen Reich zuwandte. Es wurden Stimmen laut, daß das "ewige Schauen nach Westen" Frankreich von dem "imperialen Gedanken" abgelenkt habe, der seinem weltweiten Reich im Süden und anderen Erdteilen zugehört. Hinzu kam, daß die französischen Frontkämpfer ihre Stimme vernehmlich erhoben für den Frieden und die Achtung des Gegners; für den Frieden in Ehren, wie ihn ja gerade auch das nationalsozialistische Deutschland will. Noch immer ging es ja um die "moralische Abrüstung" nach dem Weltkriege; und nun begann hier Frankreich vor England voranzugehen. Hinzu kam, daß man in Frankreich, trotz aller Abneigung gegen den Nationalsozialismus, diesem im allgemeinen doch nicht mit jener wunderlich reizbaren Empfindlichkeit gegenübertrat, die die englische Gegnerschaft zum Nationalsozialismus kennzeichnet.

Es zeigten sich Möglichkeiten einer deutsch-französischen Verständigung, wie man sie in Deutschland nach dem Verhalten Frankreichs im Siege 1918/19 und in den folgenden Nachkriegsjahren nicht
Bertrand de Jouvenel
Bertrand
de Jouvenel

[Fotoarchiv Scriptorium]
erwartet hatte. Ein außenpolitisches Hauptziel des nationalsozialistischen Deutschland war ja seit 1933 auch die endgültige deutsch-französische Verständigung. Aus der langen Reihe von Worten und Handlungen, die diesem Ziel galten, mag hier nur die Unterredung Hitlers mit de Jouvenel vom 21. Februar 1936 hervorgehoben werden. In ihr sprach Hitler von der Korrektur, die er mit dieser Zielsetzung gegenüber Frankreich an seiner früheren Außenpolitik vorgenommen habe - das Mein Kampf noch als den unversöhnlichen Todfeind Deutschlands betrachtete.21

Die "Korrektur" jener Außenpolitik, die Hitler in Mein Kampf entwickelt hatte - niedergeschrieben zur Zeit der französischen Ruhrinvasion (1923) - diese Korrektur lag darin, daß der Führer seit 1933 zur Verständigung auch mit dem zuvor für unversöhnlich
Edouard Daladier
Edouard
Daladier

[Französisches Außenministerium, Abteilung Fotografien]
gehaltenen Gegner Frankreich zu kommen suchte. Wie Ribbentrop in seiner Danziger Rede vom 24. Oktober 1939 berichtete, war im Sommer 1933 zwischen Hitler und dem damaligen Ministerpräsidenten Daladier "ein politisches Treffen vereinbart worden, bei dessen Gelegenheit das deutsch-französische Verhältnis bereinigt und eine Rüstungsvereinbarung getroffen werden sollte. Der Führer war erfüllt von dem Gedanken der Verständigung mit Frankreich, aber der französische Ministerpräsident sagte im letzten Augenblick ab. Wenige Wochen später war er nicht mehr Ministerpräsident. Die Gründe zu seinem Sturz waren scheinbar innerpolitisch. In Paris jedoch pfiffen es die Spatzen von den Dächern, daß niemand anders als England für den Sturz des französischen Ministerpräsidenten verantwortlich war. England sah zu jener Zeit eine Gefahr in diesem Manne, der als Mann des Volkes und Frontkämpfer vielleicht mit dem Frontkämpfer und Mann des Volkes Adolf Hitler sich verständigen könnte..." Deutschland und Frankreich sollten nicht zusammenkommen - das wollte die englische Politik, die damals den Sturz Daladiers verursachte.22

Während die Aussichten auf eine Verständigung zwischen Großdeutschland und Frankreich günstiger wurden, begann sich der Widerstand Englands gegen den deutschen Wiederaufstieg zu verstärken. Er zeigte sich überall, wo Deutschland mit der Entfaltung seiner wirtschaftlichen und politischen Beziehungen vorwärts kam. So wurde insbesondere das Bestreben Deutschlands, seine wirtschaftlichen Beziehungen mit den Nachbarstaaten Südosteuropas auszubauen, vielfach durch englische Störungsaktionen gehemmt. Man hat die Art, wie England die Bemühungen Deutschlands um Sicherung lebenswichtiger Rohstoffquellen durchkreuzte, als Beginn des Wirtschaftskrieges gegen Deutschland schon im Frieden bezeichnet.

Die weitere Entwicklung ist bekannt. Im März 1939 begann England den Versuch der Einkreisungspolitik - d. h.: den Versuch, mit den Gegnern Deutschlands in dessen Rücken (Polen, Sowjetrußland, Rumänien) zu einer Kriegskoalition gegen Deutschland zu kommen, die sich zu einem Ring von Kriegsbündnissen rings um Deutschland ausbreiten sollte. In den englisch-französischen Verhandlungen mit den Partnern dieser erstrebten Kriegskoalition lag die Initiative durchaus bei England. England war es auch, das Polen als Pulverfaß zum Ausbruch des Koalitionskrieges gegen Deutschland praktizierte. Als schließlich bei Kriegsausbruch Mussolini einen letzten Vermittlungsversuch machte, da war es wiederum England, das den Vermittlungsvorschlag ablehnte, den Deutschland und auch Frankreich angenommen hatten.23

Doch damit greifen wir der Entwicklung vor. Hier galt es vorerst nur, aufzuzeigen, mit welchen Wandlungen der Gegnerschaft zu Deutschland Hitler in seiner Englandpolitik zu rechnen hatte. Mag man hier zwischen zwei Perioden der deutsch-englischen Politik unterscheiden. Die erste: in der Deutschland sich um Verständigung mit England bemühte, weil es bei diesem Gegner eine größere Verständigungsbereitschaft erwartete als bei Frankreich - wie in Mein Kampf niedergeschrieben (und wie wir es im vorangehenden Kapitel erörterten). Die zweite Periode: in der nicht Frankreich, sondern England sich als der eigentliche Gegner des deutschen Wiederaufstieges zeigte.

Wie antwortete Hitler auf diese nun sich zeigende Gegnerschaft Englands?...: Mit dem Versuch, nun erst recht mit diesem gefährlichen und letzthin schwer versöhnlichen Gegner zu einer endgültigen Verständigung zu kommen. Es ist nötig, die Gegnerschaft Englands zu Deutschland in ihren Veränderungen und in ihren bisher unveränderlichen Elementen deutlich ins Auge zu fassen, wenn man Hitlers Versuche um eine Verständigung mit England recht verstehen will.


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Anmerkungen

7Vgl. die Äußerungen von Kerr und Lloyd George vom 11. 12. 1919, 14. 3., 25. 3. (Memorandum), 2. 4., 6. 5. 1919 im englischen Blaubuch Papers respecting negotiations for an anglo-french pact, 1924. ...zurück...

8Clemenceau erwiderte darauf, England habe gut reden von Mäßigung im Siege, da es seine eigenen Kriegsziele: Vernichtung der deutschen Kriegsflotte, der deutschen Handelsflotte, Vernichtung des deutschen Welthandels zu 100% erreicht habe. Wenn England Deutschland beruhigen wolle, müsse es ihm Befriedigung seiner Wünsche auf kolonialem Gebiet, auf dem der Schiffahrt und der Ausdehnung des Handels anbieten. Franz. Memorandum vom 31. März 1919. ...zurück...

9Lloyd George in seiner Unterredung mit Briand am 21. Dezember 1921: Das britische Volk habe kein großes Interesse an dem, was an der Ostgrenze Deutschlands geschähe. Es würde nicht geneigt sein, in Streitigkeiten hineingezogen zu werden, die bezüglich Polens, Danzigs oder Oberschlesiens entstehen könnten. Im Gegenteil, es bestehe eine große Abneigung, irgendwie in diese Fragen verwickelt zu werden. Das britische Volk halte die Völker in jenem Viertel Europas für unbeständig und leicht erregbar; sie könnten zu irgendeiner Zeit Streitigkeiten anfangen, und es dürfte dann schwer zu entwirren sein, wer bei diesem Streit Recht oder Unrecht hat. Er glaube daher nicht, daß sein Land bereit sein werde, irgendwelche Garantien einzugehen, die es in militärische Operationen irgendwelcher Art in jenem Teile der Welt hineinziehen könnte... In dem genannten Blaubuch Nr. 33. ...zurück...

10Vgl. Rogge, Nationale Friedenspolitik. Handbuch des Friedensproblems und seine Wissenschaft, 1934, S. 611ff. ...zurück...

11So etwa: Will. Harbutt Dawson, Germany under the treaty, 1933; Daily Mirror, 11. 9. 1933; Bischof von Birmingham Barnes 25. 6. 1934. Weitere Nachweise: Gärtner, Zeugnisse der Wahrheit. Danzig und der Korridor im Urteil des Auslandes, 1939. ...zurück...

12Italien war in den Weltkrieg nicht als Gegner Deutschlands, sondern als Feind des Habsburger Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn getreten. Ähnlich die Kriegsteilnahme Serbiens, Rumäniens. ...zurück...

13Bezeichnend war die Unterhausrede Baldwins vom 28. November 1932, die darauf hinauslief, daß die Westmächte sich mit der Tatsache der begonnenen deutschen Nachrüstung abfinden und sie zum Gegenstand von Verhandlungen mit Deutschland machen sollten. Vgl. Frhr. v. Freytagh-Loringhoven, Deutschlands Außenpolitik 1933 bis 1939, 1939, S. 56f. ...zurück...

14Vgl. dazu v. Freytagh-Loringhoven, a.a.O. (Anm. 13), S. 63f. Auch: Wehrmacht, Frieden und Völkerrecht, in Deutsch. Jurist.-Ztg. 1935, S. 387ff. ...zurück...

15Mitgeteilt vom Reichsminister v. Ribbentrop in seiner Danziger Rede vom 24. Oktober 1939; vgl. v. R[ibbentrop], Die alleinige Kriegsschuld Englands, 1939, S. 18ff. ...zurück...

16Vgl. Memorandum der Westmächte vom 19. März 1936 (Berber, a.a.O. [Anm. 1], S. 334) über die Vereinbarung zwecks Zusammenarbeit der Generalstäbe. Wache, System der Pakte, 1938, S. 152. Vgl. auch die Bemerkung dazu im Friedensplan der deutschen Regierung vom 21. März 1936 (Berber, S. 383). Mit Bezug auf die Generalstabsbesprechungen England-Frankreich-Belgien tat der englische Außenminister Eden die Bemerkung: England könne es sich nicht leisten und nicht dulden, daß irgendwelche Zweifel an der Erfüllung solcher englischen Beistandsverpflichtungen gesetzt würden, welche die Unabhängigkeit und Unversehrtheit von solchen Ländern berühren, die England als lebenswichtig für sein Reich ansähe... "Nach diesen Worten (lag) wegen des Problems der Vertragstreue eine deutsche Rückfrage zu dem Vorschlag eines Ersatz-Locarno-Vertrages nahe: Inwieweit England die Unabhängigkeit und Unversehrtheit Deutschlands als lebenswichtig für England ansieht." Europ. Rev. 1936, July, S. 582. Vgl. Rogge, Kollektivsicherheit, Bündnispolitik, Völkerbund, 1937, S. 116f., 300. ...zurück...

17Für Deutschland lag die Erinnerung daran nahe, daß England - nach seinen eigenen Aktenpublikationen zum Weltkrieg Bd. 8, II Nr. 311 - in der Vorweltkriegszeit (1907) wegen einer Verletzung der belgischen Neutralität nur marschieren wollte, wenn es um einen deutschen Einmarsch nach Belgien ging, nicht im Falle eines französischen Einmarsches, der die von England garantierte Neutralität Belgiens verletzte. ...zurück...

18Rückschauend auf den zerfallenen Locarno-Vertrag erklärte der belgische Außenminister Spaak am 29. April 1937: Belgien hätte einmal die "kühnen Verpflichtungen" des Locarno-Vertrages übernehmen können, weil Deutschland abgerüstet war usw. und es damals die entmilitarisierte Rheinzone gab... Es war das die "Kühnheit" eines risikolosen Koalitionskrieges Frankreich-England-Belgien gegen das entwaffnete Deutschland, an die man dachte. Die Möglichkeit einer vertragsgerechten militärischen Beistandsleistung für Deutschland im Falle eines französischen Angriffs blieb in der realen Kalkulation des Kriegsfalles ausgeschlossen. Vgl. "Das deutsch-belgische Friedenswerk vom 13. 10. 1937," im Geist der Zeit, 1938, S. 46ff., 49. ...zurück...

19Bezeichnend dafür und für die groteske Fehlbeurteilung des nationalsozialistischen Deutschlands und der Möglichkeiten zwischen Deutschland und England ist die Diskussion im Royal Institute of International Affairs: "Germany and the Rhineland," April 1936. Dazu vergleiche man die Warnung vor einer Unterschätzung des nationalsozialistischen Deutschlands bei Rothermere, Warnungen und Prophezeiungen, 1939, S. 11ff. ...zurück...

20So in der Saarbrücker Rede vom [9]. Okt. 1938. ...zurück...

21Wiedergabe der Unterredung in Berber, a.a.O. (Anm. 1), S. 185ff. Zu beachten bleibt: Wenn Mein Kampf von "Frankreich als unerbittlicher Todfeind Deutschlands" spricht, so ist dabei wesentlich an eine Feindschaft Frankreichs gegen Deutschland, nicht an eine Feindschaft Deutschlands gegen Frankreich gedacht. So ganz deutlich S. 699. ...zurück...

22Es wird eine bedeutsame Aufgabe der Geschichtsforschung sein, diesen Tatbestand von Grund auf zu klären. ...zurück...

23Vgl. Dokum. 1939, a.a.O. (Anm. 1), Kap. 2. ...zurück...


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Hitlers Versuche zur Verständigung mit England