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[Bd. 2 S. 235]
6. Kapitel: Innere und äußere Sorgen,
Rathenaus Ermordung und ihre Folgen, Wirths Abgang.

In Deutschland zeitigte der Rapallo-Vertrag zunächst sehr zweifelhafte Folgen. Hier betrachteten sich die Kommunisten als seine rechtmäßigen Nutznießer, und sie hielten es für selbstverständlich, daß dem ersten Schritte der zweite auf dem Fuße folgen müsse: die Bolschewisierung Deutschlands. Nur so schien den Linksradikalen ein wahrer Frieden mit dem Sowjetreiche gesichert. Durch ein gewaltsames Auftreten begannen die Kommunisten ganz Deutschland zu beunruhigen.

  Bolschewistische Tätigkeit:  
Radek

Der Bolschewist Radek war wieder nach Deutschland gekommen und betrieb bei den Kommunisten mit großem Eifer den Staatsumsturz. Es wurde Rathenau von den bürgerlichen Parteien vorgeworfen, daß er im Vertrage mit Rußland keine Vorsichtsmaßregeln gegen die russische Propaganda aufgenommen habe. Die sogenannte Propagandaklausel, jene neue Erscheinung in den Verträgen europäischer Mächte mit Rußland, fehlte. Sie hätte sich nicht, wie bisher, auf die Staatsorgane Rußlands, sondern nach den gemachten Erfahrungen auch auf die in Moskau wirkenden Organe der Komintern erstrecken müssen. Der ungenügende Schutz gegen die staatszerstörenden Einflüsse von Seiten Rußlands war auch der Grund, weshalb die Deutschnationalen zum großen Teile mit dem Rapallo-Vertrag nicht einverstanden waren. Daher kam Radek und stellte den deutschen Kommunisten für ihre Propaganda im Jahre 1922 50 Millionen Mark zur Verfügung, das waren immerhin noch ¾ Million Goldmark. Neue Pläne und Dienstanweisungen wurden ausgegeben, von deren Charakter die "Dienstanweisung für die Abteilung Post" beredtes Zeugnis ablegte. Die "Abteilung Post" wurde als "Technische Gruppe während des Bürgerkrieges" bezeichnet, und auf ihr ruhte ein großer Teil der Verantwortung für die Vorbereitungen zum Bürgerkriege. Sie soll:

      "erstens, aktiv in die vorbereitenden Kampfhandlungen [236] eingreifen durch Verhinderung der technischen Nachrichtenübermittelung des Gegners;
      zweitens, bei vorgeschrittener Aktion bereits vorhandene oder neu herzustellende technische Nachrichtenmittel in den Dienst der Revolutionstruppe stellen. Für diese Aufgabe kommen in erster Linie die Telegraphenarbeiter in Frage. Natürlich werden Spionage und Erkundung nach Möglichkeit fortgesetzt.
      Die durch die Erkundung der technischen Nachrichtenmittel festgestellten Fernsprech- und Telegraphenleitungen einer anzugreifenden Truppe oder eines zu besetzenden Gebäudes (Behörde, Kaserne, Fabrik usw.) sind zu durchschneiden, damit der Gegner von der Außenwelt abgeschnitten ist und Hilfe nicht herbeigerufen werden kann. Es ist von Wichtigkeit, eine Funkenstation zu besetzen und durch dauerndes Senden von dieser die drahtlose Nachrichtenübermittelung des Gegners zu stören und zu verhindern.
      Ist bereits ein größeres Gebiet von uns besetzt, so ist es bei der räumlichen Entfernung der Kampftruppen und Kommandostellen voneinander unbedingt notwendig, telephonische Verbindung zu schaffen, um die Befehle an die Kampftruppen und Meldungen an die Kommandostellen so schnell wie möglich zu fördern (Feldtelephon).
      Die Abteilung Post hat als Grundlage einer technischen Truppe für den Bürgerkrieg auf räumlich ausgedehntem Gelände die hierfür nötigen Leute zu stellen. Das nötige Material ist in den Fernsprech- und Telegraphenämtern zu beschlagnahmen."

Die Hoffnung auf den Bürgerkrieg war durch den diplomatischen Schritt in Rapallo wieder stark angewachsen, und die kommunistische Presse redete in herausfordernden Tönen. Interessant für die Stimmung ist folgende Stelle aus der Stettiner Kommunistenzeitung vom 8. Mai 1922:

"Genosse! Beachte folgendes und handle sofort danach:
Du
bist Kommunist und hast die Pflicht, endlich aktiv zu werden, du
mußt sofort
[237] damit beginnen, lies deine Zeitung aufmerksam durch, denn sie ist
deine Waffe
im proletarischen Klassenkampf. Wirf die Zeitung nicht weg, sondern nimm sie
mit in den Betrieb
und gib sie deinem Arbeitskollegen. Diskutiere mit ihm über die politischen Tagesfragen, und er wird bald Anteil
nehmen
an unserer Bewegung. Genosse,
es ist
die heiligste Pflicht aller Kommunisten, mitzuwirken an der
Mobilmachung
aller proletarischen Kräfte zum gemeinsamen Kampf gegen die steigende Verelendung des Proletariats."

  Kommunistische  
Gewalttaten

Die steigende Verelendung des Proletariats war die Maske, hinter welcher die Errichtung der Räteherrschaft lauerte. Eine Erwerbslosendemonstration am 2. Mai vor dem Berliner Rathause machte den Anfang. Weitere Demonstrationen, Streiks und Gewalttaten ereigneten sich, ohne daß es zu einer großen Erhebung kam. Am 10. Mai wurde der im Volkshause zu Leipzig tagende deutsche Bauarbeiterkongreß gewaltsam gesprengt. In den Betrieben häuften sich die Fälle wilder Streiks und rücksichtslosen Terrors. So wurde in den Norddeutschen Kabelwerken ein Arbeiter, Familienvater, vom Betriebsobmann schwer mißhandelt, weil er am 1. Mai vorübergehend zur Arbeit gekommen war. Als die Direktion darauf dem Obmann kündigte, verließen sämtliche 500 Arbeiter das Werk. Bei Heidelberg wurde Anfang Mai das Zementwerk Lennen stillgelegt, nachdem es trotz des über das Werk verhängten Streikes von mehreren hundert Arbeitswilligen, Angehörigen des Deutschen Arbeiterbundes, bisher in Gang gehalten worden war. Die Streikenden sprengten die Drahtseilbahn und zerstörten andere Anlagen, so daß die Verwaltung das Werk schließen mußte, weil der polizeiliche Schutz nicht ausreichte. Im städtischen Elektrizitätswerk Rummelsburg war Anfang Juni ein Anschlag zu lesen, daß nur gewerkschaftlich organisierte Arbeiter und Angestellte [238] geduldet würden. Auch an andern Stellen waren solche Bekanntmachungen anzutreffen.

Berlin 1922: Kommunistische Massenkundgebung im Lustgarten.
[Bd. 2 S. 256a]      Berlin 1922:
Kommunistische Massenkundgebung
im Lustgarten.
      Photo Scherl.

Tätigkeit der
  vaterländischen  
Verbände

Diese Ereignisse und Vorkommnisse zeigten, daß die Kommunisten Anstrengungen machten, eine große Erhebung in Fluß zu bringen. Anweisungen und Geld aus Rußland waren hierfür genug vorhanden; aber der Bewegung fehlte nach den großen Fehlschlägen und Niederlagen der letzten Jahre das Vertrauen der Masse, des Gros der Arbeiterschaft. Die Sorge vor wirtschaftlicher Not überwog die Lust an politischen Abenteuern, und kaum einer hätte nach den kommunistischen "Aktionen" gefragt, wenn nicht gleichzeitig eine starke Tätigkeit der vaterländischen Parteien und Verbände die Öffentlichkeit bewegt hätte. Die Zeit der Monarchistenverfolgungen war vorüber und der Monat Mai und die erste Hälfte des Juni waren angefüllt von zahlreichen Regimentsfeiern und Kundgebungen, die schließlich in gewaltigen, über das ganze Reichsgebiet sich erstreckenden Protestkundgebungen gegen den Versailler Vertrag und den Artikel von der deutschen Kriegsschuld gipfeln sollten. Infolge dieses zeitlichen Zusammentreffens erhöhter Tätigkeit auf seiten der vaterländischen Verbände und der Kommunisten war die Atmosphäre des öffentlichen Lebens in Deutschland mit Zündstoff geradezu überladen, und es zeigte sich, daß die Sozialdemokraten gefühlsmäßig auf der Seite der Kommunisten standen, da sie in den Veranstaltungen der nationalen Kreise eine größere Gefahr für die Republik sahen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Braun sagte im Juni vor dem Preußischen Landtag folgendes:

      "Das deutsche Volk leidet schwer in seiner Wirtschaft unter dem Versailler Vertrage, die Staatsregierung wird daher bemüht sein, bei der Reichsregierung dahin zu wirken, daß alles versucht werde, um die Schuldlüge abzutragen, zu erschüttern, zu vernichten. Ich richte von dieser Stelle aus die ernste Mahnung an das Land, daß man mit geräuschvollen militärischen Feiern und Veranstaltungen, in denen das ancien régime gefeiert wird, Zurückhaltung üben möge. Diese sind nicht dazu angetan, den Haß des Auslandes abzubauen. Unter diesem Haß muß die Bevölkerung im besetzten Gebiet, besonders auch im Saargebiet, [239] leiden."

Die Dinge standen also so, daß weniger eine kommunistische Erhebung zu befürchten war, als vielmehr, daß eine große gemeinsame sozialistische Aktion gegen die Tätigkeit der "monarchistischen" Rechtsverbände einsetzte. Das war das Ergebnis von Wirths einjähriger Regierungsweise: sie hatte die nationalen Kreise zum Widerspruch gereizt, und dieser rief automatisch die sozialistisch-kommunistische Gegenbewegung hervor, welche dadurch stark war, weil sie einen gewissen Rückhalt an der Reichsregierung hatte.

  Zusammenstöße  

Das deutsche Volk befand sich also Ende des Frühjahrs in einem systematischen Kleinkrieg, der die Sozialisten aller Schattierungen einschließlich der Kommunisten als Verbündete gegen die vaterländischen Verbände vereinte und viele Opfer forderte. Raufereien und Schießereien waren an der Tagesordnung. Bereits Ende April kam es zu einem schweren Zusammenstoß zwischen dem deutschnationalen "Bismarckbund" und dem "Bunde der proletarischen Arbeiterjugend" in Berlin. Mit Totschlägern und Gummiknüppeln gingen die Kommunisten vor. Der schwer mißhandelte Führer des "Bismarckbundes" mußte in bewußtlosem Zustande nach der Unfallstation gebracht werden. Wenige Tage später wurde in Dresden eine Versammlung der Deutschsozialen Partei von den drei sozialistischen Parteien gesprengt. Der bestellte Redner kam nicht zu Wort, statt seiner sprachen je ein Vertreter der Mehrheitssozialisten, der Unabhängigen und der Kommunisten. Bei der Skagerrakfeier in Breslau am 1. Juni versuchten 3 000 bis 4 000 Sozialdemokraten, von ihrem Vorstand aufgewiegelt, gegen Abend gewaltsam in den Festsaal einzudringen. Einige mit Knüppeln Bewaffnete gelangten bis an die Eingänge und schlugen auf die Teilnehmer ein, die sich mit Stühlen wehrten. Die Schutzpolizei drängte zwar die Ruhestörer wieder hinaus, aber die Masse der Aufrührer wurde immer größer. Schließlich mußte auf Ersuchen des Polizeipräsidenten die Feier abgebrochen werden. Mitte Juni kam es in Chemnitz zu einem blutigen Handgemenge, weil ein Festzug der vaterländischen Verbände, der eine Sonnenwendfeier abhielt und damit eine Feier für die Gefallenen des Weltkrieges verband, von Kommunisten überfallen wurde. [240] 300 Kommunisten stürzten sich auf die tausend Teilnehmer, und über hundert Personen wurden teils leicht, teils schwer verletzt. Um dieselbe Zeit wurde in Eggesin in Pommern der Kreiskriegerbund bei seinem Verbandsfeste überfallen, an dem Generalfeldmarschall von Mackensen teilnahm. Nach dem Gottesdienst griffen 150 Kommunisten den Verein an, und es entspann sich ein Handgemenge mit Stöcken, so daß auch die Polizei mit der Waffe einschreiten mußte und es zum Blutvergießen kam. Gleichzeitig ereigneten sich in Stregda bei Eisenach Zusammenstöße. Das Heldendenkmal sollte eingeweiht werden. Die Kommunisten störten die Rede des Pfarrers durch lautes Johlen. Ihr Führer sprang auf das Denkmal und legte einen Kranz nieder mit roter Schleife und Inschrift: "Ich warne die Jugend vor Verführung von dieser Seite."

Es würde zu weit führen, im einzelnen all die gestörten Feiern, Fackelzüge und Paraden aufzuführen. In Karlsruhe und Darmstadt paradierten die ehemaligen Garderegimenter vor ihren ehemaligen Großherzögen. In Eisleben fand ein viele Tausende zählender Aufmarsch des "Stahlhelms" vor dem Grafen Goltz statt, dem ehemaligen General der Baltikumtruppen. Dabei wurde ein kommunistischer Provokateur blutig geschlagen. In Belgard in Pommern nahmen Mackensen und Prinz Sigismund von Hohenzollern an Regimentsfeiern teil, wozu auch Reichswehr erschienen war. Zu einer Feier in Königsberg war der Generalfeldmarschall von Hindenburg eingeladen, und die Reichswehr beteiligte sich trotz eines Verbotes. Hier gab es Tote und Verwundete.

Die Situation hatte sich seit Ende Mai noch dadurch verschärft, daß verschiedene Anschläge auf Persönlichkeiten und Zeitungen der Linksparteien versucht wurden. So wurde auf Scheidemann ein Blausäureattentat verübt, das jedoch keine Folgen hatte. In Hamburg wurden seit Ende Mai bis Mitte Juni fünf Bombenanschläge auf Arbeiterzeitungen und ‑führer unternommen. In München wurde die sozialdemokratische Münchener Post das Ziel eines Bombenanschlages. Die Flagge der Republik wurde heruntergeholt und verbrannt, vor dem Sitz der Interalliierten Kommission wurde demonstriert. [241] Das waren alles Dinge, die den Kommunisten sehr zustatten kamen. Sie wiesen in ihren Aufrufen auf die gefährliche Konterrevolution, auf die Gefahr des deutschen Faschismus hin.

All dies offenbarte eine trostlose Zermürbung und Zerrissenheit des Volkes, ohne daß es den leitenden Stellen möglich gewesen wäre, die mehr und mehr fortschreitende Zersetzung zu verhindern. Mit Naturnotwendigkeit drängte die Gewitterstimmung zu einer Entladung, einer Katastrophe; und sie kam, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

  Rathenaus Ermordung  

Am 24. Juni, um die zehnte Morgenstunde, es war ein warmer, sonniger Sommertag, fuhr der Reichsaußenminister Dr. Rathenau wie gewöhnlich im Kraftwagen von seiner Wohnung ins Auswärtige Amt. Seinem Wagen folgte alsbald ein anderer, der von drei jungen Leuten besetzt war. Diese suchten Rathenau zu überholen, und als ihr Wagen in gleicher Höhe mit dem des Ministers lag, erhob sich einer der Insassen und feuerte auf Rathenau mehrere Revolverschüsse ab. Der schwer Getroffene sank in sich zusammen und starb. In der allgemeinen Aufregung und Verwirrung gelang es den drei Attentätern, welche der Geheimorganisation "Consul" angehörten und Hermann Fischer, Kern und Ernst Techow hießen – der letzte war noch Gymnasiast –, zu entkommen.

Die Kunde von diesem Morde löste Entsetzen und Entrüstung aus. Im Reichstag erhob sich ein gewaltiger Tumult. Als sich der deutschnationale Abgeordnete Helfferich auf seinen Platz begab, stießen die Unabhängigen und Kommunisten laute Verwünschungen gegen ihn aus und schrien: "Hinaus mit dem Mörder!" Nur mit Mühe konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Der Reichstagspräsident Löbe teilte den Meuchelmord an Rathenau mit.

      "Die Täter haben Gehilfen, haben Spießgesellen gehabt, haben eine Organisation von Mördern gehabt, sie haben eine Organisation von Mördern hinter sich, die sie schützen und die sie für ihre Taten unterhalten. Anders wäre es nicht möglich gewesen. Das Blut des Ermordeten, es fällt auf die, die dazu anreizen, es fällt auf die, die frühere Anschläge, wenn sie [242] nicht gelangen, mit Spott und Hohn begleiteten, es fällt auf die, die nach den gelungenen Anschlägen noch das Andenken der Opfer zu besudeln wagten."

Dies sei das Ergebnis der grenzenlosen und maßlosen Hetze gegen die Männer, die an der Spitze der Regierung stünden. Und nun machte er den Deutschnationalen und ihrer Presse schwere Vorwürfe:

      "Wie hat eine gewisse Presse gehetzt und gehöhnt, als das Attentat auf Scheidemann mißlang, gehöhnt bis auf den letzten Augenblick, bis heute, wo es gelungen ist. Und es scheint keinen Schutz dagegen zu geben! Die Mörder hatten Helfer, die sie haben verschwinden lassen, sie haben Helfer, die sie immer wieder aufs neue beschützen. Und einer nach dem andern von uns erliegt der kaltblütigen Mörderhand! Neben uns sinkt ein Freund nach dem anderen dahin!"

Als Löbe geendet hatte, rief der unabhängige Abgeordnete Wels: "Es lebe die Republik!" und die übergroße Mehrheit des Hauses stimmte brausend in den Ruf ein.

Jetzt kam der Reichskanzler zu Worte. Wirth rühmte die Verdienste Rathenaus, um dann in die allgemeine Klage einzustimmen.

      "Und von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird ein Gift mit Millionengeldern in unser Volk hineingepumpt. Es bedroht von Königsberg bis Konstanz eine Mordhetze unser Vaterland, dem wir unter Aufgebot all unserer Kräfte aufrichtig dienen."

Dann wandte auch er sich an die Rechtsparteien und erklärte: "Geehrte Herren von rechts! so wie es bisher gegangen ist, geht es nicht mehr in Deutschland."

Am selben Tage erließ die Regierung einen Aufruf an das Volk: dem wachsenden Terror und Nihilismus, der sich vielfach unter dem Deckmantel nationaler Gesinnung verberge, dürfe nicht mehr mit Nachsicht begegnet werden. "Die Republik ist in Gefahr!" In jenen bitteren Tagen wurde das verhängnisvolle Wort geprägt, in dessen Zeichen die Regierung Wirth bis weit in den Kommunismus hinein ihre Anhänger um sich scharte: "Der Feind steht rechts!"

Hergt, der Sprecher der Deutschnationalen, erklärte am folgenden Tage im Reichstag, daß seine Partei dem Morde [243] vollkommen fernstünde und ihn verabscheue. Sie müsse es aber als verfassungsmäßige Partei ablehnen, unter die beabsichtigte Verordnung zum Schutze der Republik gestellt zu werden.

Verordnung zum
  Schutz der Republik  

Am 26. Juni erließ der Reichspräsident die Verordnung zum Schutze der Republik. Vereine, Versammlungen, Aufzüge und Kundgebungen dürfen verboten und aufgelöst werden, wenn die Gefahr besteht, daß in ihnen ein republikfeindlicher Geist gepflegt wird. Zum Schutze der Republik wird mit Gefängnis von drei Monaten bis zu fünf Jahren und außerdem mit einer Geldstrafe von einer halben Million Mark bestraft, wer öffentlich Gewalttaten gegen die Republik und ihre Staatsmänner verherrlicht, billigt, belohnt oder begünstigt, ferner wer zu Gewalttaten auffordert, aufwiegelt oder verabredet, ferner, wer die jetzigen oder frühere Regierungsmitglieder verleumdet oder öffentlich beschimpft, schließlich, wer öffentlich die republikanische Staatsform oder die Reichs- und Landesfarben beschimpft. Ein Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik soll beim Reichsgericht errichtet werden und aus sieben Mitgliedern bestehen, von denen drei vom Präsidium des Reichsgerichts aus seinen Mitgliedern, vier vom Reichspräsidenten ernannt werden sollen. Diese vier letzten dürfen auch Laien sein. Ferner wurden Druckschriften verboten, die gegen die Republik und ihre Regierungsmitglieder gerichtet waren. Schließlich wurden die geplanten Veranstaltungen der vaterländischen Verbände untersagt, so die für den 28. Juni vorgesehenen Protestversammlungen gegen den Versailler Vertrag und die Regimentsfeiern.

Inzwischen hatte man den am Rathenaumord beteiligten Gymnasiasten Ernst Techow verhaftet, und seine Aussagen bewogen den Reichspräsidenten, die Verordnung zum Schutze der Republik am 29. Juni in wesentlich verschärfter Form zu verkünden. Der drakonische Artikel 1 lautete:

      "Personen, die an einer Vereinigung teilnehmen, von der sie wissen, daß es zu ihren Zielen gehört, Mitglieder einer im Amt befindlichen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reiches oder eines Landes durch den Tod zu beseitigen, [244] werden mit dem Tode oder lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. Ebenso werden bestraft Personen, die eine solche Vereinigung wissentlich mit Geld unterstützen. Dritte Personen, die um das Dasein einer solchen Vereinigung wissen, werden mit Zuchthaus bestraft, wenn sie es unterlassen, von dem Bestehen der Vereinigung, den ihnen bekannten Mitgliedern oder deren Verbleib den Behörden oder der durch das Verbrechen bedrohten Person unverzüglich Kenntnis zu geben. Zuständig ist der auf Grund der Verordnung vom 26. Juni gebildete Staatsgerichtshof."

Tätigkeit der
  Landesregierungen  

Die preußische Regierung war entschlossen, mit aller Energie gegen die ihrer Meinung nach monarchischen Verbände vorzugehen. Der sozialdemokratische Innenminister Severing kündigte eine große Säuberung der Beamtenschaft und die Auflösung der nationalen Verbände an, worunter auch der bisher verschonte "Stahlhelm", Bund der Frontsoldaten, begriffen war. – Anders Bayern. Dies erhob Widerspruch gegen die Verordnung des Reichspräsidenten und nahm besonderen Anstoß an ihren unmoralischen Folgen. Sie befördere die Bespitzelung und Angeberei.

Mit besonderem Eifer nahm sich Sachsen, wie schon im Vorjahre, der Sache der Republik an. Bei der Eröffnung der Landtagssitzung am 28. Juni kam es zu erregten Auftritten, weil die Kommunisten und beiden sozialistischen Parteien verlangten, daß der deutschnationale Vizepräsident Dr. Wagner seinen Platz verlasse. Der aber weigerte sich, und nun verließ die gesamte Linke unter Protestrufen den Saal. Der Innenminister Lipinski erklärte, die Regierung werde alles tun, um die Verordnung zum Schutze der Republik mit allem Nachdruck in Sachsen durchzuführen. Die Regierung habe aber noch ein weiteres getan: sie habe in einer Protestnote an die Reichsregierung darauf hingewiesen, daß die Reichswehr die monarchistisch-nationalistische Agitation durch Stellung von geschlossenen Formationen zu Regimentsfeiern usw. begünstigt habe und dies vom Reichswehrministerium angeordnet sei, ohne der sächsischen Regierung hiervon Kenntnis zu geben. Sie habe darauf aufmerksam gemacht, daß die Reichswehr trotz des Mordes keine Vorbeugungsmaßnahmen [245] getroffen habe, und verlange, daß Demonstrationen der Reichswehr bei Regimentsfeiern und die Agitation für letztere verboten würde. Am Schlusse der Note heiße es: "Die sächsische Regierung hält es für geboten, durch einen Wechsel in der Person des Reichswehrministers die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Reichswehr ein Mittel zum Schutze der Republik wird." Man müsse Vorsorge treffen, indem man die Ordnungspolizei zeitweise durch die republikanisch gesinnte Bevölkerung verstärke. Wenn alle überzeugten Republikaner und Sozialisten zusammenstünden, dann werde die Lust zu monarchischen Erhebungen bald vergehen. Durch die sozialistische Regierung Sachsens habe ja das werktätige Volk die Regierung übernommen. Lipinski schloß:

      "Wir rufen die republikanisch gesinnte Bevölkerung auf, zusammenzustehen in der Abwehr der Feinde der Republik und der Regierung und ihren Organen zu helfen, die Begünstiger und Förderer der Meuchelmörder aus ihren Schlupfwinkeln herauszuholen, damit sie zur Verantwortung gezogen werden können. Sie erwartet insbesondere von der Arbeiterklasse als der treuesten Stütze der Republik, daß sie allen Feinden zum Trotz die Republik verteidigt und erhält. Es lebe die Republik!"

Lipinski ließ keinen Zweifel darüber, daß er alle Beamten, die den vaterländischen Verbänden nahestanden, entfernen würde. Auch deutete er bereits die Bewaffnung der Arbeiterschaft an, eine Maßnahme, die später in die Tat umgesetzt wurde und zur Bildung der Roten Hundertschaften führte.

Auch in Baden versprach man, tatkräftig die Republik zu schützen, und Thüringen stand an Sachsens Seite in dem Gelöbnis, die "Monarchisten" auszurotten. Der unabhängige Sozialist Herrmann, welcher thüringischer Innenminister war, verkündete scharfe Maßregeln zur Säuberung der Verwaltungsorganisationen von monarchistischen und antisemitischen Beamten. Man werde den "Völkischen Schutz- und Trutzbund", den "Stahlhelm", den "Nationalen Pfadfinderbund" und andere ähnliche Organisationen auflösen.

  Streiks und Demonstrationen  

Während die Regierungen diese Pläne schmiedeten, wogte das Volk auf und ab. Die Kommunisten gaben ein Flugblatt heraus mit der Aufforderung: "Handeln ist Pflicht." Und [246] man handelte. Im ganzen Reich wurden Proteststreiks abgehalten. Tausende und aber Tausende gingen auf die Straße und demonstrierten unter roten Fahnen für die Erhaltung der Republik. Die Betriebe waren geschlossen, es wurde kein Geld verdient, und der Massen hatte sich eine Stimmung bemächtigt wie zur Zeit des Kapp-Putsches. In allen Teilen, in allen großen und kleinen Städten des Reiches streikten und demonstrierten Männer und Frauen und Kinder. Es kam zu Ausschreitungen und blutigen Zusammenstößen in Darmstadt am 27. Juni, in Mannheim, Frankfurt, Düsseldorf, Magdeburg, Gleiwitz, Halle, Lörrach, Singen, Durlach, Gotha und in andern Orten. Größeren Umfang nahm eine Revolte in Zwickau in Sachsen am 4. Juli an. Nach Schluß einer Kundgebung gegen die Lebensmittelteuerung begab sich ein Haufe vor das Haus des Vorsitzenden der Deutschnationalen Partei, während ein zweiter Haufe sich gegen die Polizeiwache wandte, mit der Aufforderung, daß die bei der städtischen Polizei delegierte grüne Polizei von der blauen Polizei nicht unterstützt werden dürfe. Dies wurde abgelehnt, und die Aufrührer stürmten die Polizeiwache im Rathaus. Darauf wurde Schutz von der Landespolizei erbeten. Jedoch die Polizeiabteilung, die sich zum Rathaus begab, wurde umringt, entwaffnet und zurückgedrängt. Nun richtete sich der Kampf gegen die Kaserne der Landespolizei, und am Abend wurden verschiedene Angriffe auf das Gebäude unternommen. Beim ersten Angriff wurde das Kasernentor eingedrückt, jedoch die Angreifer wurden mit der Waffe zurückgeschlagen. Die Polizei war völlig abgeschlossen, und die in der Stadt befindlichen Beamten konnten nicht zurückkehren. In der Stadt wurden stellenweise Lebensmittelgeschäfte geplündert. Erst nachdem in der Nacht Polizeiverstärkungen aus Dresden, Chemnitz und Glauchau eingetroffen waren, konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Die Aufrührer hatten 14 Tote und 70 Verwundete, die Landespolizei 10 Vermißte und 6 Verwundete verloren.

Rücksichtslos wurde die Meinungsfreiheit Andersgesinnter geknebelt, wie ein wenige Tage später vom Betriebsrat der Deutschen Werke in Kiel an die Direktion gerichteter [247] "Erlaß" bewies. Dieser hatte folgenden Wortlaut:

      "In der heute morgen um acht Uhr unter dem Vorsitz von Elm stattgefundenen Versammlung der Betriebsobleute wurden folgende Beschlüsse gefaßt: Die Arbeit wird am Dienstag um 12½ Uhr niedergelegt, und die gesamte Belegschaft verläßt die Werke geschlossen. Um 1 Uhr werden aus jeder Werkstelle fünf Mann als Sperrkommando vor dem Werfttore Aufstellung nehmen und die Zugangsstraßen absperren, so daß ein Entweichen von Arbeitern und Angestellten unmöglich ist. Der Zug soll die ganze Breite der Straße umfassen und sollen alle ihm etwa Entgegenkommenden, gleichviel ob Beteiligte oder nicht, gezwungen werden, an demselben teilzunehmen. Aus jeder Werkstelle sollen Abordnungen durch die Büros und Betriebe gehen, um sich zu überzeugen, daß die Betriebe geräumt sind und alles an dem Zuge teilnimmt. Etwa Angetroffene sollen gegebenenfalls mit Gewalt entfernt werden. Die Nebentore Ellerbecker, Julien- und Agnethabadtor sollen gleichfalls geschlossen werden, damit durch diese Tore niemand entweichen kann. Sollten sich die Pförtner einer Einmischung entgegenstellen, sollen sie mit Gewalt entfernt werden. Bezüglich der Probefahrt des 'Wilhelm Hemsoth' ist mit allen gegen zwei Stimmen beschlossen worden, dieselbe nicht stattfinden zu lassen, da sie als Notstandsarbeit nicht angesehen wird."

Wenn auch die nichtsozialistischen Angestellten dem angekündigten Terror dadurch auswichen, daß sie an dem betreffenden Tage nicht zum Dienst erschienen, so zeigte sich doch, wie sehr die Leidenschaften aufgepeitscht waren und welche Rechte sich einige Teile des Volkes anmaßten, um die Republik zu schützen.

  Hetze der Linksparteien  

Es wurde geradezu in breitester Öffentlichkeit als selbstverständlich betrachtet, daß jeder Angehörige einer Rechtspartei als Teilnehmer des Mordes an Rathenau geächtet war, nachdem die Regierung in aller Form erklärt hatte: "Der Feind steht rechts!" Es ist unmöglich, all die Pressestimmen anzuführen, die diese Ansicht verbreiteten. Als besonders charakteristisch sei nur ein Absatz wiedergegeben, den die mehrheitssozialistische Volksstimme in Duisburg Ende Juni brachte:

      "Wenn ein Deutschnationaler sein verlogenes Maul [248] auftut, muß er niedergeknüppelt werden. Jede öffentliche Feier der Deutschnationalen muß mit Gewalt gesprengt werden. Das deutschnationale Mördergesindel muß fortan vogelfrei sein. Durch Gesetze und Verordnungen dürfen wir uns daran nicht mehr hindern lassen. Das Maß ist voll. Wir rufen zur brutalen Gewalt auf gegen jeden deutschnationalen, deutschvölkischen oder nationalistischen Rummel. Man kann diesen vertierten Kerlen nur imponieren, indem man sie zusammenhaut. Helfen wir uns nicht dazu auf, die deutschnationale Mörderclique niederzuknüppeln, so verdienen wir es, wenn das Ausland das deutsche Volk für eine Gesellschaft verkommener Hunde hält! Wir sagen das alles im vollen Bewußtsein der Folgen, die daraus entstehen können. Wir wollen diese Folgen. Folgt daraus der Bürgerkrieg, so müssen wir ihn eben durchfechten."

Die Rote Fahne stimmte diesen sozialdemokratischen Ausführungen bei und forderte die zentralen Instanzen der beiden sozialistischen Parteien auf, nicht länger vor Handlungen zurückzuschrecken, sondern dem Zaudern ein Ende zu machen. Die Kommunisten forderten Auflösung des Reichstages und Neuwahlen unter der Losung: Arbeiterregierung. Ernster, schlimmer als in vergangenen Jahren drohte der Bürgerkrieg, hatten sich doch Sozialdemokraten und Kommunisten zu gemeinsamer Front verbunden, deren Kühnheit noch dadurch wuchs, daß die Reichsregierung selbst stark mit ihnen sympathisierte. Nur die rapid fortschreitende wirtschaftliche Zerrüttung verhinderte, daß die Massen sich wie in den vorhergehenden Jahren zusammenschlossen und den Bürgerkrieg eröffneten. Die Not um das tägliche Brot fesselte die politische Aktionskraft.

Gewalttaten
  und Blutvergießen  

So machte sich die Erregung gegen die rechtsstehenden Kreise in zahlreichen spontanen Gewalttätigkeiten Luft. Wir wollen versuchen, in Kürze diese Julimeute zu charakterisieren. Der Bruder des bekannten deutschnationalen Abgeordneten Helfferich, ein Fabrikant in Neustadt a. H., wurde anläßlich der Ermordung Rathenaus angegriffen und beleidigt. In Freiburg i. B. drang bei einer Regimentsfeier der Pöbel ein, riß die Fahnen von den Wänden, verbrannte [249] sie, stieß mit Orden gezierte alte Kriegsteilnehmer vom Wagen und mißhandelte sie. In Frankfurt a. M. verfolgten streikende Demonstranten den Direktor der Adlerwerke, der infolge der Aufregungen

  Julimeute  

einem Herzschlag erlag; der Sohn eines Baurats wurde durch Schüsse schwer verletzt; der Polizeipräsident von Frankfurt erklärte, um Schutz angegangen, achselzuckend, er sei machtlos. In Gera (Reuß) wurden der Fabrikant Zeiske und sein Sohn gezwungen, im Demonstrationszuge rote Fahnen zu tragen. In Buxtehude kam es bei einem Schützenfeste zu schweren Ausschreitungen gegen die Teilnehmer. In Dortmund wurde die Annakirche geplündert, wobei Heiligenbilder zertrümmert wurden. In Sommerschenburg haben sozialdemokratische Demonstranten das Gutshaus des Besitzers Grafen Gneisenau nach förmlicher, eine ganze Nacht andauernder Belagerung gestürmt, geplündert, den Gutsverwalter und einen Feldhüter tödlich mißhandelt. Der Landrat in Neuhaldensleben und der Regierungspräsident in Magdeburg, die persönlich eingriffen, haben der Revolte stundenlang keinen Einhalt getan, eine Gruppe der aus Magdeburg herbeigeholten Schutzpolizei zuerst mit viel zu geringen Kräften eingesetzt, eine andere Gruppe in der Nachbarschaft lange Zeit zurückbehalten. In Heidelberg wurde am 4. Juli Professor Lenard, ein einzigartiger Forscher von internationaler Berühmtheit, weil er während des Demonstrationsstreiks in seinem physikalischen Institut weiterarbeiten ließ, aus dem Institut herausgeholt, durch die Straßen geschleift, mißhandelt, verhöhnt und bespuckt. In Clausthal fanden am 22. Juli blutige Ausschreitungen der kommunistischen Jugend gegen Studenten und studentische Verbindungshäuser statt; dabei gab es zwei Tote und viele Verwundete. In Siegen bestürmte und verwüstete der Pöbel im Juli die Wohnung des Direktors der Aluminiumwerke, welcher eingeschriebenes Mitglied der Demokratischen Partei war. In Marienburg (Ostpreußen) wurde die Ehefrau des Hauptschriftleiters des rechtsstehenden Marienburger Anzeigers erschossen; das Attentat galt dem Ehemanne. In Jena fand im Juli ein förmliches Kesseltreiben gegen die Studenten statt, wogegen die Behörden keinen Schutz gewährten; [250] das Jenaer Burschenschafterdenkmal wurde schwer beschädigt. In Lichtenberg wurden auf eine deutschnationale Bezirksverordnete drei Schüsse abgegeben, als sie von einer Eisenbahnerversammlung heimkehrte, in der sie sozialdemokratischen Rednern entgegengetreten war. In Hamburg stürzten am 4. Juli Teilnehmer eines sozialdemokratischen Demonstrationszuges ein Boot um, in welchem Schüler mit schwarzweißroten Schleifen saßen; Rettungsversuche wurden gewaltsam verhindert. In Striegau wurden bei der Demonstration im Juli ein Rechtsanwalt aus seiner Wohnung geholt und blutig geschlagen, eine Frau und ihr Sohn, ein Gymnasiast, zwei ehemalige Offiziere und andere Bürger schwer mißhandelt, ihre Wohnungen wurden geplündert. In Reichenbach (Schlesien) fanden schwere Ausschreitungen statt; der Landrat wurde gezwungen, im Demonstrationszuge mitzumarschieren. In Bautzen wurde der Schriftleiter des demokratischen Bautzener Tageblatts auf einen Wagen gesetzt und im Zuge durch die Straßen gefahren.

Doch genug der schaurigen Blütenlese! So also sah die Selbsthilfe aus, zu der die sozialistischen und kommunistischen Zeitungen zum Schutze der Republik aufriefen. In allen Teilen des Reiches wurden roheste Schandtaten begangen gegen Deutsche, die den Mut hatten, ihre auf alte Ideale gegründeten, von der herrschenden Ansicht abweichenden Meinungen zu vertreten. In der Tat waren die Angehörigen der Rechtsparteien vogelfrei. Die Polizei und der Staat gewährte ihnen ungenügenden oder gar keinen Schutz, hatte doch der Reichskanzler Wirth selbst durch sein Wort "der Feind steht rechts!" die nationalgesinnten Kreise außerhalb des Gesetzes gestellt. Ein wüstes Chaos entfesselter Leidenschaften zerrüttete das Volk und verschlang viele unschuldige Opfer.

Es dauerte einen ganzen Monat, bis sich der Sturm legte, der durch die Ermordung Rathenaus das deutsche Volk aufwühlte. Es war der Polizei nicht gelungen, die beiden Haupttäter, Fischer und Kern, zu verhaften. Wie ein gehetztes Wild flohen die beiden durch Deutschland, und als ein Entweichen vor den Beamten der Gerechtigkeit nicht mehr [251] möglich war, erschossen sie sich am 18. Juli auf Burg Saaleck in der Nähe der Rudelsburg. Fünf Tage später verkündete die Reichsregierung auf Grund der Juniverordnungen das Gesetz zum Schutze der Republik, dem die Deutschnationalen ihre Zustimmung versagten. Die bayerische Regierung jedoch weigerte sich, das Gesetz in ihrem Machtbereich durchzuführen und erließ statt seiner am folgenden Tage eine landesrechtliche Verordnung. Dagegen protestierte die Reichsregierung. "Zum erstenmal seit der Gründung des Reiches ist damit der Zustand eingetreten, daß eine Landesregierung einem verfassungmäßig zustande gekommenen Reichsgesetz für ihr Gebiet die Geltung verweigert." So wurde der Rathenaumord noch zur Quelle eines ernsten Verfassungskonfliktes zwischen dem Reich und Bayern, der auch in den folgenden Jahren nicht behoben wurde.

  Verfassungskonflikt  
mit Bayern

Die bayerische Regierung erklärte Anfang August, das Reich könne nicht die Hoheitsrechte der Länder ohne deren Zustimmung beseitigen oder einschränken, wie dies durch die Bildung des Staatsgerichtshofes und der Abgrenzung seiner Kompetenz geschehe. Am 9. und 10. August verhandelten in Berlin die Vertreter der Reichsregierung mit den bayerischen Vertretern, und der Konflikt wurde beigelegt, indem das Reich zu Bayerns Gunsten Zugeständnisse machte. Die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes wurde nur für einige außerordentliche Fälle anerkannt, welche ein Interesse des Reiches beanspruchen, es soll sonst das regelmäßige Verfahren vor den ordentlichen Gerichten nicht berührt werden. Wenn der Oberreichsanwalt polizeiliche Hilfe in Anspruch nehme, solle er sich der Polizeibehörden des betreffenden Landes bedienen. Auch wurde für Bayern die Bildung eines besonderen, süddeutschen Senates beim Staatsgerichtshof vorgesehen. Bayern gab zu, daß bestimmte Reichsbeamte in leitender Stellung jederzeit aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt werden könnten, jedoch solle den Landesregierungen vorher Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden. Die Einrichtung von Landeskriminalpolizeistellen sollte ausschließlich Angelegenheit der Länder sein, eine selbständige Ermittlungstätigkeit nichtbayerischer Stellen in Bayern sollte grund- [252] sätzlich ausgeschlossen sein. Der bundesstaatliche Charakter des Reiches und die Staatspersönlichkeit der Länder wurde ausdrücklich anerkannt. Die Reichsregierung erklärte, über die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Reiches hinaus Hoheitsrechte der Länder nicht an sich ziehen zu wollen. – Es ergab sich, daß Bayern siegreich den bundesstaatlichen Charakter des Reiches verteidigt hatte, und nach einigen Rückfragen in Berlin hob es Ende August seine Verordnung vom 24. Juli wieder auf.

  Radikale Maßnahmen  
in Sachsen

Sachsen dagegen entwickelte sich zielbewußt zu einer Vormacht der radikalen Sozialdemokratie mit bedenklich kommunistischem Einschlag. Bereits am 14. Juli hatten sich die Mehrheitssozialdemokratie und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Ihr Ziel war, die Republik zu schützen und die Mark zu stabilisieren. Doch wurde eine Zusammenarbeit mit der Deutschen Volkspartei abgelehnt. Das sächsische Vorbild wirkte auf die sozialistischen Parteien im ganzen Reiche. In Nürnberg schließlich verschmolzen sich beide sozialistischen Parteien Deutschlands am 24. September zur "Vereinigten sozialdemokratischen Partei Deutschlands". Dies bedeutete eine Radikalisierung der Mehrheitssozialisten und war eine weitere Folge des Rathenaumordes.

In Sachsen hatte ein am 12. Juli statt gefundenes Volksbegehren ergeben, daß 80 Prozent von einer Million nichtsozialistischer Stimmen die Auflösung des Landtages wünschten. Es dauerte zwei Monate, bis der Landtag zu dem Beschluß kam, dem Volksbegehren stattzugeben und sich sofort aufzulösen. 53 Stimmen der Deutschnationalen, Deutschen Volkspartei, Demokraten, Zentrum und Kommunisten stimmten für die Auflösung gegen 39 sozialistische Stimmen. Wieder zwei Monate später, am 5. November, fanden die Neuwahlen statt. Die Bürgerlichen verloren einen Sitz, sie erhielten nur noch 46, die Sozialdemokraten behaupteten sich auf 40, während die Kommunisten ein Mandat gewannen und jetzt zehn Vertreter in den Landtag sandten. Die sächsische Sozialdemokratie war über dieses Ergebnis hochbefriedigt und [253] forderte am 11. November die Kommunisten auf, in die Regierung mit einzutreten. Diese waren nicht abgeneigt und stellten schon nach drei Tagen die Bedingungen für ihre Regierungsteilnahme: erstens, Versorgung der Arbeiter mit verbilligten Lebensmitteln, Brot, Kartoffeln, Kohlen, zweitens, Beschaffung der notwendigen Geldmittel hierfür durch sofortige Einziehung der Steuern von den Besitzenden und Ausschreibung einer Zwangsanleihe in Höhe von 30 Prozent des Besitzes, drittens, Beschaffung ausreichender Wohnungen durch Beschlagnahme der Luxuswohnungen, viertens, verschärfte gesetzliche Bestimmungen zur Sicherung des Achtstundentages und Produktionssteigerung durch Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht von 18 bis 58 Jahren, fünftens, sofortiger Erlaß einer Amnestie für politische und aus Not begangene Delikte und Abtreibungsprozesse unter Ausschluß der Konterrevolutionäre, sechstens, Verbot des Einsetzens der Teno [Scriptorium merkt an: Technische Nothilfe], siebentes, Ergänzung der Polizei und ihrer Verwaltung aus freigewerkschaftlichen, organisierten Arbeitern und Angestellten und Bildung von Arbeiterwehren, achtens, sofortiges Verbot und strenge Bestrafung aller monarchischen und antirepublikanischen Agitation, Auflösung der monarchischen Verbände, rücksichtslose Entfernung aller reaktionären Beamten in Justiz, Polizei und Verwaltung, neuntens, Unterbreitung aller für proletarische Interessen wichtigen Gesetzesvorlagen der Vollversammlung der Betriebsräte und dem Landesbetriebsrätekongreß durch die Regierung, und zehntens schließlich wurde verlangt, im Reich die Massen gegen die Koalitionsregierung zu mobilisieren und für eine Arbeiterregierung zu wirken. Der kommunistische Parteitag, der am 25. und 26. November in Dresden tagte, bezeichnete diese zehn Forderungen als Mindestforderungen für den Eintritt in die Regierung, an denen unbedingt festzuhalten sei. In der Tat waren diese "Mindestforderungen" höchst bedenklicher Natur und konnten, wenn sie von der Sozialdemokratie angenommen wurden, die öffentliche Ruhe und Ordnung aufs schwerste gefährden.

Nachdem am 18. November in Dresden bereits kommunistisch-syndikalistische Erwerbslosenkrawalle stattgefunden [254] hatten, kamen am 28. November die Vertreter der Sozialisten und Kommunisten zusammen, um die Regierungsverhandlungen zu beenden. Die Sozialisten brachten ein Programm mit, wonach sie versprachen: Schutz der Republik mit allen gesetzlichen Mitteln, besonders in Beamtenschaft und Polizei, Gemeindegesetze auf der Grundlage freiester Selbstverwaltung, Amnestie, wie sie die Kommunisten verlangten, Arbeitnehmerkammern als Kontrollbehörden, steuerliche Entlastung der Arbeiter unter gleichzeitiger Belastung der Besitzenden, Förderung der Sozialisierung, des Wohnungsbaues, Bekämpfung des Wuchers, Sicherstellung der Ernährung, beschleunigte Trennung von Staat und Kirche und Reform des gesamten Schulwesens. Die Kommunisten beharrten jedoch auf ihren zehn Forderungen und erklärten, daß sie mit ein oder zwei Ministersitzen nicht zufrieden seien. Als die Sozialdemokraten die Unnachgiebigkeit der Radikalen erkannt hatten, brachen sie die Verhandlungen als aussichtslos ab. So wurde Sachsen zunächst vor dem Schicksal einer kommunistischen Herrschaft bewahrt. Damit hatten allerdings die Gewaltmaßnahmen der sozialdemokratischen Machthaber keine Linderung erfahren. Es wurden nach wie vor unbequeme Beamte beseitigt und die Mitglieder der nationalen Parteien und Verbände bedrängt und bedrückt. Das Proletariat hatte die Macht, und der Besitzende galt jedem Proletarier als Monarchist, als Reaktionär, als Feind der proletarischen Republik.

  Radikale Maßnahmen  
in Thüringen

Ähnlich verhielt es sich in Thüringen. Richter, Lehrer, Verwaltungsbeamte, die irgendwie verdächtigt waren, mit der monarchischen Reaktion in Verbindung zu stehen, wurden ihrer Ämter enthoben und durch überzeugte Republikaner ersetzt, die weniger Sachkenntnis als politische Linie besaßen. Aber gerade das letzte war das Wesentliche bei allen Bestrebungen, die Republik zu schützen. Diese Regierungsmaßnahmen wurden jedoch nicht unwidersprochen hingenommen. So hören wir, daß sich in Meiningen eine Abstimmungsvereinigung "Los von Thüringen" gebildet hatte, die Mitte November einen Aufruf veröffentlichte und den Willen, sich von Thüringen zu trennen, kundgab. Was seien in Thüringen für Schulverhältnisse eingerissen! Nicht mehr Wissen und [255] Können und erzieherische Leistungen seien die Merkmale, nach denen die Fähigkeit der Lehrer beurteilt werde, sondern nur der Parteistandpunkt sei maßgebend. In der Weise, wie man das Gesetz zum Schutze der Republik durchführe, trete man die heiligsten Rechte des Volkes mit Füßen. Mit mustergültigen Finanzen sei Meiningen 1920 in das Land Thüringen eingetreten, jetzt müsse es für die Schulden anderer Vertragsstaaten aufkommen. – Die meiningischen Loslösungsbestrebungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt, – ebensowenig wie die Autonomiebestrebungen in Oberschlesien. Hier hatte am 3. September eine Volksabstimmung über die Frage: "Preußische Provinz oder selbständiger Staat?" stattgefunden, und 513 000 Stimmen waren für die preußische Provinz, dagegen nur 50 000 für den autonomen Bundesstaat abgegeben worden.

Katastrophe
  der Erfüllungspolitik  
und deutsche Not

Bei alledem stieg Deutschlands Not von Tag zu Tag mit einer Geschwindigkeit, die lähmenden Schrecken über das Volk ausgoß. Mit entsetzlicher Deutlichkeit offenbarte sich die Katastrophe, welche die Erfüllungspolitik herbeiführte. Noch am 20. Juni bekam man für eine Goldmark nur 73 Papiermark, zwei Monate später mußte man die Mark Goldes bereits mit 205 Papiermark aufwiegen, Ende Oktober mit 900, am 10. November mit 1300! Ein Kapitalvermögen von einer Million Mark war also auf 770 Goldmark zusammengeschrumpft! Es entwickelte sich ein Kampf ums Dasein, der nie gekannte, brutale Formen annahm. Die Wirtschaftsstarken jagten nach ausländischem Gelde und speicherten Devisen auf, trotzdem dies verboten war. Kaufleute spekulierten in Lebensmitteln und hielten sie zurück, um sie teurer verkaufen zu können. Die Sachwerte wurden in zunehmendem Maße der Wertmesser für den Austausch der Güter, und vielfach schon wandte man sich bei Handelsgeschäften von der hoffnungslos sinkenden Mark ab und kehrte zu dem primitiven Tauschhandel in Naturalien zurück. Der Kaufmann tauschte seine Waren gegen Kohlen und Lebensmittel ein, und der Bauer bezahlte seine Anzüge und Kleider mit Getreide und Fleisch. Besonders drückend lastete der Zustand [256] auf dem Hausbesitz. In den großen Städten, besonders aber in Oberschlesien, Schleswig und am Rhein, gingen sehr viele Häuser in den Besitz valutastarker Ausländer über.

Die allgemeine Teuerung wurde noch dadurch verschärft, daß die Landwirtschaft nicht in der Lage gewesen war, ihre Betriebe voll auszunutzen. Die hohen Kosten für künstlichen Dünger machten es unmöglich, solchen einzukaufen. So war in Preußen die Anbaufläche um etwa 400 000 Morgen zurückgegangen, was einen Ausfall von rund 6 000 000 Zentner Brotgetreide bedingte. Der Ernteausfall betrug mehr als ein Fünftel gegen das vergangene Jahr. Nur für die Ausländer mit vollwertigem Gelde entwickelte sich Deutschland zu einem Paradies. Sie überfluteten das geplagte Land in hellen Haufen und kauften für billiges Geld große Schätze zusammen.

Für die Wissenschaft wurde die Not zu einer qualvollen Drosselschlinge. Die Privatdozenten der Hochschulen verrichteten in ihren Mußestunden Schreiberdienste, um die nötigsten Mittel zum Lebensunterhalte zu erwerben. Wissenschaftliche Laboratorien mußten den Betrieb einstellen, weil sie keine Anschaffungen mehr machen konnten. Verleger lehnten es ab, große Werke zu übernehmen. Unter staatlichem Schutz hatte sich eine Notgemeinschaft der Wissenschaft organisiert, die auf der Grundlage der Selbstverwaltung beruhte und den hungernden Gelehrten kleine Beihilfen verschaffte. Das Reich selbst hatte 20 Millionen zur Verfügung gestellt und verdoppelte schon in Kürze den Betrag, indem es versprach, bald weitere 40 Millionen zu beschaffen. All diese Maßnahmen waren aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, da schon der nächste Tag eine gespendete Summe zum größten Teile entwertet hatte. Noch schlimmer stand es um die Künstler.

Fortschreitender
  Verfall des Bürgertums  

Viele geachtete und gutgestellte Familien des Bürgertums versanken im Chaos. Die Alten erhielten Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln, während die Jungen, Söhne und Töchter, danach trachteten, eine Anstellung im Büro eines kaufmännischen Unternehmens oder, in untergeordneter Stellung, in einem Staatsbetriebe zu erhalten. Unterernährte [257] Schulkinder, hungrige Studenten, Arme und Alte erhielten Speisungen aus öffentlichen Mitteln, um ihre furchtbare Lage etwas zu lindern. Die wirtschaftliche Freiheit, welche die gesunde und wohlwollende Mutter aller kulturellen Entwicklung ist, war erschlagen, getötet, das deutsche Volk wurde zu einem Volk von Lohnsklaven, die um Geld und nacktes Leben Frondienste taten. Dagegen blühte das dunkle Gewerbe gewissenloser Schieber, die, vielfach aus bettelarmen Kreisen hervorgegangen, auch als Bettler vom Auslande eingewandert, aus der Not des großen Volkes ihren schmutzigen Vorteil zogen.

Forderungen
  der Gewerkschaften  

Auch die Angestellten und Arbeiter erkannten, daß dauernde Erhöhung der Gehälter und Löhne sie nicht vor dem drohenden Elend schützen konnte. Die monatliche Gehaltszahlung, die selbst bei den Beamten eingeführt war, erwies sich als ein Hindernis und wurde durch vierzehntägige Zahltermine ersetzt. Die Vertretungen der Arbeitnehmer wandten sich an den Reichskanzler mit Vorschlägen um Verbesserung der allgemeinen Wirtschaftslage. Am 24. August trugen die Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Organisationen, der Allgemeine deutsche Gewerkschaftsbund, der Gewerkschaftsring und Afa, dem Reichskanzler Wirth ihre Wünsche und Vorschläge durch ihre Vertreter persönlich vor. Wirth entrollte ein Bild der trostlosen Lage. Der Dollarkurs betrage 2 000. Mit der Wiedergutmachungskommission verhandle man um Kohle und Holz, um die Abtretung von Kohlengruben und Forsten. Aber die Erfüllung fände da eine Grenze, wo das deutsche Volk ernstlich anfange, Hunger zu leiden. "Erst Brot, dann Reparationen!"

Nun entwickelten die Gewerkschaften ihr Programm: die Einfuhr müsse bis zum äußersten eingeschränkt werden, besonders die Einfuhr von Luxusartikeln müsse durch Verbot oder scharfe Anspannung der Zölle verringert werden. Als solche Luxusartikel wurden bezeichnet Zigarren, Zigaretten, Tabak, Bier, Tee, Schokolade, Pelze, Seide; die Ausfuhrabgabe sollte erhöht werden; der Devisenhandel müsse kontrolliert werden, jede Devisenspekulation sei zu verbieten und alle darin erzielten Gewinne müßten beschlagnahmt werden; eine innere Goldanleihe müsse unter Heranziehung der Sachwerte aufgelegt werden; ferner [258] solle man die Mark stabilisieren und die Einkommensteuer einziehen, ehe sie entwertet sei; die Kartoffelversorgung müßte sichergestellt und Viehhandel und Fleischexport aufs schärfste überwacht werden; Trinkbranntwein dürfe nicht von Kartoffeln, Getreide, Reis oder Mais hergestellt werden; auch die Bierbrauerei sei einzuschränken, Zuckerrüben dürften nicht dazu verwandt werden; die Wiedereinführung der Zuckerzwangswirtschaft wurde verlangt und zugleich ein Verbot für Herstellung der Schokolade und anderer Luxusartikel gefordert; auch der Milchverbrauch und Milchpreis sollte gesetzlich geregelt werden; das Brotgetreide sollte stärker ausgemahlen und die Seefische dem Volke in größerem Umfange zugeführt werden; in den Gast- und Speisestätten, Bars, Dielen, Kabaretts und Konzertcafés sollten Aufwand und Luxus eingeschränkt werden; auf dem Gebiete des Bau- und Wohnungswesens seien durchgreifende Maßnahmen erforderlich; Wucher sei streng zu bestrafen, insbesondere müsse gegen die Zurückhaltung von Waren in gewinnsüchtiger Absicht eingeschritten werden; schließlich sollten Speise- und Wärmeanstalten für Arbeitslose, Sozialrentner, verarmte Kleinrentner, rentenlose Erwerbsunfähige und Empfänger von Armenunterstützungen vermehrt und vergrößert werden. – Beredter als jedes andere Dokument legt dieses Zeugnis ab von der gewaltigen Not, die sich über dem deutschen Volke zusammenzog.

Die Reichsregierung hatte den besten Willen, zu helfen, nachdem sie, allerdings zu spät, erkannt hatte, wohin sie es durch ihren bedingungslosen Erfüllungswillen gebracht hatte. Sie gab den Regierungen der Länder entsprechende Weisungen. Die Ernährungsminister der einzelnen Staaten kamen im September zusammen und berieten sich über die Maßnahmen, die zu ergreifen seien. Der Getreideverbrauch für Bierherstellung und der Zuckerverbrauch in der Likör- und Schokoladenindustrie müßten eingeschränkt werden. Auf die Verfütterung von Brotgetreide sollten schwere Strafen gesetzt werden. Da die Lebensmittel 300mal so teuer wie im Frieden seien, sollten namhafte Beiträge zur Unterstützung der Sozial- und Kleinrentner gegeben werden, die öffentlichen und [259] Kinderspeisungen sollten ausgestaltet und an besonders Bedürftige Lebensmittel zu billigen Preisen abgegeben werden.

Die Regierungen des Reiches und der Länder hatten wohl den Willen, aber nicht mehr die Macht, dem Volke zu helfen. Offen und geheim wurden ihre Gesetze umgangen und verhöhnt, und wie eine elementare Naturgewalt schlug die stürzende Mark alles, was in Deutschland Wohlfahrt und Wirtschaft und Anstand hieß, in Trümmer. Die Gründe des Unheils aber lagen nicht nur bei der Regierung Wirth, sondern auch in dem unerbittlichen Vernichtungswillen Frankreichs, und wir müssen uns nun der weiteren Entwicklung der Wiedergutmachungsfrage seit der Konferenz von Genua zuwenden.

Poincaré.
[Bd. 2 S. 272b]      Poincaré.
Photo Scherl.

Frankreichs
  Vernichtungswille  

Die Beziehungen Deutschlands zu den Verbandsmächten wurden durch die Tatsache, daß Poincaré der Leiter Frankreichs geworden war, außerordentlich verschärft. War der Wiedergutmachungsausschuß schon hartnäckig in der Verfolgung seiner Ziele, so begann jetzt Poincaré durch Drohungen, Forderungen und Erpressungen eine ausgesprochen französische Reparationspolitik. Die Rede, die er am 24. April in Bar-le-Duc hielt, ließ klar erkennen, daß Frankreich in seiner unbeugsamen Wiedergutmachungspolitik nicht nur gegen Deutschland, sondern gegebenenfalls auch gegen England vorgehen würde.

      "Wenn Deutschland die Bedingungen der Reparationskommission nicht erfüllt, und wenn die Kommission erklärt, daß ein Verschulden vorliegt, werden die Alliierten das Recht und daher die Pflicht haben, ihre Interessen durch Maßnahmen zu schützen, deren gemeinsame Anwendung unendlich wünschenswert sein würde, die jedoch, falls notwendig, von jeder beteiligten Nation einzeln ergriffen werden können. Es ist unser heißer Wunsch, die Eintracht unter den Alliierten zu erhalten; doch werden wir die französische Sache in voller Unabhängigkeit verteidigen und keine einzige von den Waffen, die uns der Vertrag bietet, vernachlässigen. Wir werden nicht dulden, daß unser unglückliches Land unter der Last des Wiederaufbaus zusammenbricht in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Deutschland, das sich weigert, die nötigen Anstrengungen zur Bezahlung seiner Schulden zu machen."

[260] Solche Worte mußten den maßvollen Lloyd George, der sich gerade bemühte, in Genua den europäischen Frieden herzustellen, bedenklich stimmen, und sie ließen ahnen, daß Frankreich seinen Herzenswunsch, ins Ruhrgebiet einzufallen, noch nicht aufgegeben hatte. Im Rheinland mußten vier Eisenbahnlinien zum Teil wieder zerstört werden, nachdem sie erst aus wirtschaftlichen Gründen gebaut worden waren.

Der Wiedergutmachungsausschuß zeigte sich gekränkt, daß er von Deutschland nicht vorher über den Abschluß des Rapallo-Vertrages unterrichtet worden sei. Er hoffe, daß dem Reiche daraus keine Belastungen erwachsen, z. B. in bezug auf Entschädigungen für enteignete Deutsche. Er behalte sich das Recht vor, von Zeit zu Zeit die Auswirkungen des Vertrages zu prüfen und gegebenenfalls durch Maßnahmen seine Vorrechte gegenüber dem Rapallo-Vertrage zu schützen. Immerhin gelang es den Vertretern der deutschen Regierung in Paris, eine Verlängerung des Zahlungsaufschubes zu erreichen. So entschied der Ausschuß am letzten Tage des Mai, er erkenne "in Berücksichtigung der von der deutschen Regierung gegebenen Erklärungen an, daß das, was die deutsche Regierung bereits getan hat, und die neuen Maßregeln, zu deren Ergreifung sie sich verpflichtet, eine ernstliche Anstrengung bilden, um den Forderungen der Kommission zu entsprechen. Infolgedessen beschließt sie, den am 21. März bewilligten vorläufigen Aufschub auf einen Teil der während des Jahres 1922 in Ausführung des Zahlungsplanes zu bewirkenden Zahlungen zu bestätigen. Dieser Aufschub für das Jahr 1922 wird also mit dem 1. Juni endgültig".

Zur gleichen Zeit regte Deutschland wieder beim Wiederherstellungsausschuß an, er möge sich für das Zustandekommen einer Auslandsanleihe einsetzen. Dies war eine Initiative der Regierung, ohne daß sie darüber den Reichstag befragt hätte. Die Deutschnationalen warfen der Reichsregierung vor, sie habe nicht den Mut, den Reichstag über die Anleiheverhandlungen zu unterrichten und lasse ihn deshalb im unklaren. Unter diesen Umständen brachten die Deutschnationalen einen Antrag ein mit folgendem Wortlaut:

      "Der Reichstag mißbilligt, daß die Regierung bei den Verhandlungen über die Repa- [261] rationsfrage in einer Weise verfährt, die mit den Rechten und der Verantwortlichkeit des Reichstages nicht vereinbar ist. Unter diesen Umständen versagt der Reichstag der Regierung das nach der Verfassung erforderliche Vertrauen."

Die Partei stand aber, wie schon einmal im Januar, mit ihrem Mißtrauensantrag allein, so daß er ohne Folgen blieb.

Neue vergebliche
  Anleiheverhandlungen  

Der Wiedergutmachungsausschuß hatte einen besonderen Anleiheausschuß gebildet, der vom 24. Mai bis 10. Juni in Paris versammelt war und die Möglichkeiten und Bedingungen für eine deutsche Auslandsanleihe untersuchen sollte, oder, wie es vom Komitee selbst ausgedrückt wurde:

      "Die Bedingungen, nach welchen die deutsche Regierung unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen auf Grund des Versailler Vertrages und insbesondere des Zahlungsplanes vom 5. Mai 1921 auswärtige Anleihen zur Verwendung zur Ablösung eines Teiles des Kapitals der Wiedergutmachungsschuld aufnehmen könnte."

Es sollten die Bedingungen und Höhe der Anleihe, sowie ihre Sicherstellung und die Überwachung der Sicherheiten beraten werden. Dieses Bankier-Komitee bestand aus je einem Engländer, Amerikaner, Deutschen, Holländer, Italiener, Belgier und Franzosen. Als Bedingungen für eine Anleihe wurden zunächst gefordert Stabilisierung der deutschen Währung, Beseitigung der Unsicherheit in den deutschen Wiedergutmachungsverpflichtungen und Beteiligung sämtlicher verbündeter Nationen an der Unterbringung der Anleihe. Jedoch die Beratungen der Sachverständigen, die sich länger als zwei Wochen hinzogen, kamen zu einem negativen Ergebnis. Erstens habe Deutschland im Auslande wegen der Inflation überhaupt keinen Kredit. Zweitens wären die Kapitalisten von vornherein einer Anleihe abgeneigt, die nicht eine endgültige Regelung des Reparationsproblems herbeiführe. Eine solche Anleihe sei höchstens eine kurze Atempause; wenn sie verbraucht sei, würde sich Deutschland seinen unverminderten Reparationsleistungen gegenübersehen mit dem weiteren Hindernis, daß seine besten Sicherheiten bereits für den Dienst der Anleihe verpfändet wären. Schließlich aber hätten die Kapitalisten der neutralen Länder ernstlich unter der Entwertung der Mark zu leiden, da sie hohe Beträge [262] darin investiert hätten, auch sei die deutsche Außenhandelskonkurrenz für die Neutralen infolge der Inflation zu groß. Interesse für eine Anleihe, welche für den Aufbau der deutschen Finanzen auf stabilisierter Grundlage keine Aussicht biete, sei nicht vorhanden. Infolge dieser drei gewichtigen Gründe kam der Ausschuß "zu der Erkenntnis und zu dem Schluß, daß eine auswärtige Anleihe nicht durchführbar ist". Der Franzose Sergent im besonderen konnte sich nicht damit einverstanden erklären, daß Deutschlands Wiedergutmachungsverpflichtungen, insonderheit gegen Frankreich, unter Umständen herabgesetzt werden sollten, um Deutschland eine Auslandsanleihe zu verschaffen. "In Übereinstimmung mit den französischen Delegierten der Reparationskommission ist er (Sergent) der Meinung, daß es nicht zur Zuständigkeit des Bankier-Komitees gehörte, die Frage von Abänderungen der deutschen Verpflichtungen, so wie sie im Vertrage von Versailles und insbesondere im Zahlungsplan vom 5. Mai bestimmt sind, zu untersuchen."

So war zum zweitenmal der Versuch, Deutschlands Mark durch eine Auslandsanleihe zu retten, fehlgeschlagen. Im Dezember 1921 beschäftigte sich die deutsche Industrie erfolglos mit dem Problem. Diesmal hatte der Wiedergutmachungsausschuß selbst kein Ziel erreicht. Es blieb also alles beim alten: Deutschland mußte, um seine Ausgleichszahlungen in bar zu beschaffen, weiter die deutsche Mark zum Ankauf von Devisen verwenden. Ein neuer Sturz der deutschen Währung war die Folge.

Mitte Juli sah sich die Regierung Wirth durch die immer groteskere Formen annehmende deutsche Not gezwungen, bei den Verbandsmächten eine Herabsetzung der in Cannes beschlossenen monatlichen Zahlungen von zwei Millionen Pfund Sterling oder 40 Millionen Goldmark auf eine halbe Million Pfund Sterling oder zehn Millionen Goldmark zu beantragen und um Befreiung von einem Teile der Entschädigungsleistungen (Artikel 297e des Versailler Vertrages) zu bitten. Die Mark falle sehr schnell, und eine finanzielle Katastrophe sei unvermeidlich, wenn Deutschland weiterhin gezwungen sei, umfangreiche Devisenkäufe abzuschließen. [263] Während England den deutschen Vorschlag nicht ohne weiteres ablehnte, verlangte Poincaré unerbittlich die festgesetzte volle Summe, Deutschland solle bis zum 5. August mittags erklären, daß am 15. August die fällige Summe gezahlt werde. Wirth wies darauf hin, daß eine Goldmark bereits 160 Papiermark betrage und daß Deutschland seinen Verpflichtungen beim besten Willen nicht nachkommen könne. Es wurde ein Moratorium bis 1924 verlangt. Frankreich jedoch beharrte unerschütterlich auf den 40 Millionen, sonst müßte man neue Zwangsmittel anwenden. Die deutsche Regierung mache nicht die geringsten Anstrengungen, um die Zahlung der geschuldeten Summen an die Verbündeten durch die wirklichen Schuldner, das heißt durch die deutschen Privatleute, sicherzustellen. Gerade diese deutschen Privatleute hätten, wie Frankreich aus sicherer Quelle wisse, durch ihren Ankauf fremder Devisen zu dem gegenwärtigen Markkurs beigetragen. Poincaré ordne gleichzeitig an, daß sämtliche Bankkonten deutscher Reichsangehöriger in Elsaß-Lothringen beschlagnahmt werden sollten, eine Maßnahme, die eine Verletzung des Völkerrechts darstellte, soweit es sich um Bankkonten handelte, die nach dem 10. Januar 1920, dem Tage der Ratifizierung des Friedens, errichtet worden waren.

  Konferenz von London  

Nachdem sich die Frage der Barzahlungen so zugespitzt hatte, traten am 7. August in London Lloyd George, Poincaré, der italienische Außenminister Schanzer, der belgische Finanzminister Theunis und der Japaner Hayashi zusammen, um einen Ausweg zu finden aus dieser Sackgasse des Wiederaufbaus und der Ausgleichszahlungen. Die Atmosphäre der Konferenz war mit Zündstoff bis zum Zerspringen geladen. Lloyd George wies auf Deutschlands hoffnungslose Lage hin. Es solle nicht frei kommen von seinen Schulden; aber man müsse eine tragbare Methode dafür finden. Auch Sir John Bradbury, der englische Vertreter in der Reparationskommission, trat für ein vollständiges Moratorium für Barzahlungen von 1922 bis 1924 ein. Poincaré dagegen erklärte, er könnte ein Moratorium nicht billigen, da Deutschlands Schuld bereits auf das mindeste festgesetzt sei. Frankreich bringe noch genug Opfer, Deutschland aber habe nur bösen Willen. Wenn ein Zahlungs- [264] aufschub bewilligt würde, dann sollten die Alliierten wenigstens produktive Pfänder fordern: innere Kontrolle, Ausbeutung der staatlichen Bergwerke und der Domänenforsten, Beteiligung an den großen Industriegesellschaften. Sein Programm bestand demnach in folgenden Punkten: Kontrolle der Reichsbank, der Ein- und Ausfuhr, des Devisenhandels in Deutschland, eine Sondersteuer auf die Ruhrkohle zugunsten des Reparationskontos, Wiederherstellung der Rheinzollgrenze von 1920 und 1921 und westlich der Ruhr, Kontrolle der Einnahmen aus staatlichen Bergwerken und Wäldern und Beteiligung an der deutschen Industrie durch Vermehrung des Aktienkapitals um 26 Prozent und Abgabe dieser neuen Aktien an die Wiedergutmachungskommission.

Nun wurde ein Sachverständigenausschuß beauftragt, diese Vorschläge zu prüfen. Dieser Ausschuß erkannte die Forderungen Poincarés zum Teil an und rühmte ihre Vorteile: es werde eine Institution für Einnahmen geschaffen, die gegebenenfalls in Tätigkeit treten und große Ergebnisse zeitigen könnte, wenn Deutschland die von ihm verlangten notwendigen Reformen nicht durchführe, sodann aber würde ein deutsches Aktivvermögen in die Hände der Verbündeten gelegt, das eine sofortige Ausbeutung gestatte. Großbritannien aber wollte nichts von alledem wissen, und Belgien und Italien standen auf Englands Seite. Es wurde keine Einigung in der Reparationsfrage erzielt. Lloyd George, welcher der Ansicht war, Deutschland brauche den Zahlungsaufschub, wollte die Entscheidung darüber dem Wiedergutmachungsausschuß überlassen, während Frankreich darauf bestand, daß Deutschland gezwungen werde, am 15. August 40 Goldmillionen zu entrichten. Es kam ein, unter französischem Druck, letzter Beschluß zustande, daß jedes Land in Zukunft direkt mit Deutschland über diese Frage verhandeln könne. Der Zusammenhalt der Alliierten hatte einen tiefen Riß bekommen: Frankreich hatte gesiegt, und Poincaré hatte sich freie Hand gegen Deutschland erzwungen. Mit lautem Groll ging man auseinander.

Deutschland, das sich inzwischen mit den Vereinigten Staaten dahin geeinigt hatte, ein Schiedsgericht zur Feststellung [265] der deutschen Schulden für Amerika einzusetzen, sah den verhängnisvollen 15. August heranrücken, ohne daß es in der Lage gewesen wäre, den fälligen Betrag zusammenzubringen; so wurden denn in der Tat nur zehn Millionen Goldmark gezahlt. Rücksichtslos ließ Poincaré jetzt seine angedrohte Maßnahme ausführen, die darin bestand, daß tausend deutsche Reichsangehörige aus Elsaß-Lothringen ausgewiesen wurden. Die Unglücklichen mußten, ohne daß ihnen eine Frist gegeben wurde, sofort das Land verlassen und durften nur Handgepäck mitnehmen. Außerdem war den Verheirateten die Mitnahme von 10 000 Papiermark gestattet, während den Unverheirateten, die älter als 25 Jahre waren, nur die Hälfte freigegeben wurde. Dieser Geldbetrag hatte noch nicht einmal den Wert von 50 bzw. 25 Mark, so daß die Vertriebenen tatsächlich wie Bettler von Haus und Hof flüchten mußten, während ihr gesamtes zurückgelassenes Hab und Gut und Vermögen von Frankreich beschlagnahmt wurde.

Deutsche Vertreter vor dem
  Wiederherstellungsausschuß  

Ende August trafen zwei Vertreter Deutschlands beim Wiederherstellungsausschuß in Paris ein und schilderten die furchtbare Not des deutschen Volkes. Der Dollar sei innerhalb zweier Monate von 300 auf über 2 000 gestiegen, und daher sei es unmöglich, Devisen anzukaufen. Schon heute könne man sagen, daß das gesamte mobile Kapital Deutschlands vernichtet sei. Auch die Inhaber von Aktien hätten ungeheure Einbuße erlitten, denn nur wenige der Aktien seien auf den 20fachen Friedensbetrag gestiegen, während die meisten nur den drei- bis vierfachen Friedenswert erreicht hätten. Da man aber allen Ernstes in Deutschland daran dachte, die Mark zu stabilisieren und vor weiterem Sturz zu bewahren, erklärte sich der Wiederherstellungsausschuß einverstanden, daß die weiteren deutschen Zahlungen für 1922 in Schatzbons erfolgen könnten, welche sichergestellt und binnen sechs Monaten in Gold eingelöst werden müßten. Auch über die Sachlieferungen wurde verhandelt. Von deutscher Seite wurde vorgeschlagen, daß diesbezügliche Lieferungsverträge bis zum Ende des Jahres 1923 unmittelbar mit den Produzenten, statt mit der deutschen Regierung [266] abgeschlossen werden sollten. Es sollten deswegen sofort unmittelbare Verhandlungen zwischen den abnehmenden Stellen der verbündeten Mächte und den liefernden Syndikaten Deutschlands, vertreten durch Hugo Stinnes, Peter Klöckner, Lübsen und Silberberg, unter Beteiligung der Reichsregierung aufgenommen werden. Als Verhandlungsort wurde Wiesbaden ausersehen.

So war nach Rathenaus Tode für Stinnes wieder der Augenblick gekommen, die deutsche Politik zu beeinflussen. Die Regierung Wirth war gezwungen, sich Stinnes, dem mächtigsten Manne des deutschen Wirtschaftslebens, zu nähern, ein Vorgang, der außenpolitisch ein Abschwenken von Sozialdemokraten und Gewerkschaften und ein Hinwenden zu deutscher Volkspartei und Kapitalismus zur Folge hatte. Dieser Kurswechsel, der durch den eisernen Druck der Not erforderlich wurde, gab der Regierung des Deutschen Reiches im Herbst 1922 das Gepräge.

  Stinnes-Lubersac-Abkommen  

Stinnes betrat den von Rathenau in Wiesbaden eingeschlagenen Weg der Sachlieferungsverpflichtungen und bemühte sich, aufs neue die Gedanken zu beleben, die durch widrige Einflüsse solange brachgelegen hatten. Bereits Mitte August war er auf der Heimburg bei Niederheimbach am Rhein mit Guy Jean Marquis de Lubersac, Präsident der Confédération générale des Coopératives de Réconstruction des régions devastées, zusammengetroffen. Die beiden Großindustriellen hatten hier folgendes beschlossen: Als Vermittlungsstelle für die Ausführung der für den Aufbau der zerstörten Gebiete notwendigen Sachlieferungen sollte die "Aktiengesellschaft für Hoch- und Tiefbau" in Essen gelten. Diese war berechtigt, für allgemeine Unkosten und Nutzen einen Aufschlag zu berechnen, der nicht höher als sechs Prozent des Preises sein dürfe, der in Deutschland für die gelieferten Waren bezahlt worden sei. Dieser Aufschlag werde dem Deutschen Reiche für die tatsächlichen Sachlieferungen mit gutgeschrieben. Die Hoch- und Tiefbau hatte die Materialien zu prüfen, und die Confédération sollte in der Prüfungskommission vertreten sein mit dem Recht, die Materialien anzunehmen oder abzulehnen. Jedoch dürften die in Deutschland geprüften und abgenommenen [267] Materialien in Frankreich dann nicht zurückgewiesen werden. Die Hoch- und Tiefbau sollte die Aufträge weitergeben an deutsche Firmen, wobei die von der Confédération bezeichneten bevorzugt werden sollten.

Dies war die Grundlage, auf welcher dann Anfang September in Berlin zwischen Stinnes und den französischen Wiederaufbaugesellschaften der Vertrag geschlossen wurde. Daraufhin kam es auch zu einem Abkommen zwischen der Lehrer-Siemensschen Baustoffindustrie Berlin-Düsseldorf und der Chambre Syndicale des constructeurs en ciment armé, der 88 der bedeutendsten französischen Bauunternehmergruppen angehörten.

  Markstabilisierungsversuche  
in Berlin

Aber mit zunehmender Gewalt drängte sich ein Problem in den Vordergrund, das eine Lösung verlangte und nicht nur Deutschland, sondern auch vor allem England interessierte: Die Wiederherstellung der deutschen Mark. Trotzdem es in Deutschland Leute gab, die mit stiller Genugtuung und heimlicher Freude die Währungskatastrophe begrüßten, um sich von ihren lästigen Schulden zu befreien, so war doch die Mehrzahl des gesamten Volkes von Sorge über die Zukunft erfüllt. Nicht nur die Arbeiter und Angestellten, das besitzlose Proletariat, spürte die zunehmende Not trotz dauernder Lohnerhöhungen, auch die Industrie war einsichtig genug, um sich nicht durch den scheinbar blühenden Außenhandel über den Schwund ihrer Substanz hinwegzutäuschen. Von allen europäischen Völkern war das englische am meisten in Mitleidenschaft gezogen. Der Außenhandel ging zurück, denn Deutschland, einer der Hauptabnehmer englischer Waren, konnte nicht kaufen, die Produktion stockte, und die Erwerbslosen betrugen fast zwei Millionen. England hatte deshalb ein lebhaftes Interesse, diesen unangenehmen Zustand zu beseitigen. Frankreich dagegen spürte kaum etwas von der großen Not, und deshalb bestand es beharrlich und unerbittlich auf der Erfüllung des Friedensvertrages.

Selbst im Wiederherstellungsausschuß war keine Einmütigkeit über die Mittel und Wege, die Deutschland gegenüber einzuschlagen seien. Barthou war nach wie vor der Ansicht, daß Deutschland kein Moratorium brauche. Der Wohlstand der deutschen Industrie sei ja durch die hohen Ausfuhrziffern [268] erwiesen, es herrschte keine Arbeitslosigkeit wie in England. Deutschland sei nur von bösem Willen beseelt. Die Alliierten müßten produktive Pfänder nehmen, über Reich und Länder strenge Aufsicht üben. Demgegenüber betonte Sir John Bradbury, man müsse Deutschland eine Atempause, einen Zahlungsaufschub bis 1924 gewähren, dann erst könne man damit rechnen, Reparationen in größerem Umfange zu erhalten. Barzahlungen sollten vollständig, Sachlieferungen fast vollständig für zwei oder vier Jahre ausgesetzt werden, um den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen und die Mark zu stabilisieren. Der Wiedergutmachungsausschuß sollte seinen Sitz von Paris nach Berlin verlegen, um die Erholung Deutschlands zu beaufsichtigen und zu beschleunigen.

Die Reparationskommission begab sich Ende Oktober nach Berlin, um mit der deutschen Regierung über die beiden brennenden Fragen: die Festigung der Mark und den Ausgleich des Reichshaushaltes, zu verhandeln. Wirth, der deutsche Reichskanzler, wies in seiner Begrüßungsansprache darauf hin, daß das deutsche Volk vor einem furchtbaren Winter des Hungers und der Kälte stehe, da Nahrungsmittel und Kohle fehlen. Man dürfe nicht mehr aus Deutschland herausholen, sondern erst müsse die kranke Wirtschaft geheilt werden, dann könnten auch wieder Leistungen aufgebracht werden. Die Reichsregierung hatte gleichzeitig eine Anzahl internationaler Sachverständiger nach Berlin eingeladen, um die Frage der Markbefestigung zu untersuchen. Es waren dies Vissering, Cassel, Brand, Keynes, Dubois und Jenks. In Deutschland selbst war man nämlich geteilter Ansicht. Während die einen meinten, man müsse erst den Staatshaushalt und die Handelsbilanz ausgleichen, ehe man die Mark stabilisieren könne, vertraten andere die umgekehrte Ansicht. Und nun wollte man hören, wie das Ausland über diese Frage dachte. So wurden den Sachverständigen folgende Fragen vorgelegt: Ist unter den gegenwärtigen Umständen eine Stabilisierung der Mark möglich? Wenn nein, welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um die Stabilisierung zu ermöglichen? Und welche Maßregeln müssen getroffen werden, sobald die Voraussetzungen vorliegen?

  Sachverständigengutachten  

[269] Schon nach wenigen Tagen teilte Wirth dem Wiederherstellungsausschuß mit, daß eine wirksame und dauernde Stabilisierung der Mark nur möglich sei, wenn die Reparationsfrage entsprechend der deutschen Leistungsfähigkeit endgültig geregelt sei. Jeder Zeitverlust bedeute eine neue Gefährdung der deutschen Währung und mache ihre Festigkeit und Besserung immer schwieriger. Nur ein internationaler Bankkredit von mindestens einer halben Milliarde Goldmark könne die weitere Zerrüttung der Mark aufhalten. Deshalb schlage man der Reparationskommission die Berufung eines internationalen Sachverständigenausschusses zur Prüfung der Anleihefrage vor. Diese Gedanken waren bereits von den Sachverständigen inspiriert, denn vier Tage später, am 8. November, überreichte die Reichsregierung der Reparationskommission die Gutachten der Sachverständigen. Das eine von Vissering, Dubois und Brand gipfelte in dem Gedanken, Deutschland müsse einen Vorschuß von 500 Millionen Goldmark zum Zwecke der Markstabilisierung erhalten und bis zur vollständigen Zurückzahlung dieses Vorschusses von sämtlichen Reparationszahlungen und Sachlieferungen befreit sein. Brand jedoch neigte im besonderen der pessimistischen Ansicht des Bankier-Komitees vom Juni zu hinsichtlich der Schwierigkeiten, eine solche Anleihe zu beschaffen.

Das zweite Gutachten von Brand, Cassel, Keynes und Jenks erkannte folgende wichtige Voraussetzungen für eine Stabilisierung der Mark: ein zweijähriges Moratorium und Einstellung sämtlicher Reparationen bis zu dem Zeitpunkte, wo sie aus Überschüssen des Reiches, nicht mehr aus einer neuen Inflation bezahlt werden könnten, ferner müßte das Reparationsproblem bald und in durchführbarer Weise geregelt werden. Jedoch war man hier der Ansicht, daß die Markstabilisierung weniger von äußeren Faktoren, von Reparationszahlungen und internationaler Anleihe abhänge als vielmehr von einer durchgreifenden Reorganisation des Staatshaushaltes und besserer Gestaltung der Produktionsverhältnisse. Mit diesen Dokumenten in der Tasche reiste der Wiederherstellungsausschuß am 9. November von Berlin ab. Die Reichsregierung stellte auf Grund der Gutachten den Antrag, die endgültigen [270] Verpflichtungen Deutschlands festzusetzen, ein Gesamtmoratorium für Bar- und Sachleistungen von drei bis vier Jahren zu gewähren und einen internationalen Bankkredit von mindestens 500 Millionen Goldmark zur Verfügung zu stellen.

  Schikanen Poincarés  

Während sich die deutsche Regierung im Verein mit dem Wiedergutmachungsausschuß und den auserlesensten Köpfen der Wissenschaft und Wirtschaft abmühte, die wichtigste Lebensfrage des deutschen Volkes zu lösen, bemühte sich der unversöhnliche Poincaré, immer neue Demütigungen und Drangsale über Deutschland zu häufen. So wärmte er Ende August die "Kriegsverbrecher"angelegenheit wieder auf. Er teilte im Namen der Botschafterkonferenz der deutschen Regierung mit, daß er mit den Kriegsverbrecherprozessen in Leipzig ganz unzufrieden sei. Die Verbündeten würden von jetzt ab die deutsche Strafverfolgung der vor dem Reichsgericht bisher nicht erschienenen Beschuldigten völlig außer acht lassen. Sie nähmen infolgedessen alle ihnen kraft des Vertrages von Versailles gegenwärtig und zukünftig zustehenden Rechte wieder auf oder behielten sie sich vor. Insbesondere behielten sie es sich vor, selbst, nötigenfalls im Abwesenheitsverfahren, die Kriegsbeschuldigten zu verfolgen. – Der französische Ministerpräsident betrachtete es als seine Hauptaufgabe, im französischen Volke Haß zu säen und anzufachen. Er hielt zahllose Reden in aller Öffentlichkeit, die stets nur in dem einen Gedanken gipfelten, zu beweisen, wie verbrecherisch und abscheulich Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart war. Mit Vorliebe besuchte er das verwüstete nordfranzösische Kriegsgebiet, wo er gewissermaßen an den Trümmern anschaulich den deutschen Geist der Barbarei und Verbrechen demonstrieren konnte.

  Militärkontrolle  

Auch die Militärkontrolle wurde wieder nachdrücklicher betrieben. Ende September verlangte eine Kollektivnote der alliierten Regierungen von Deutschland Antwort auf fünf Fragen, ob die Polizei nach Artikel 162 des Versailler Vertrages und gemäß der Entscheidung der Konferenz von Boulogne im Juni 1920 reorganisiert sei, ob die Fabriken, das heißt vor allem die Deutschen Werke, nach Artikel 168 [271] umgestellt seien, ob der Rest des nicht zugelassenen Materials gemäß Artikel 169 ausgeliefert sei, ob die Schriftstücke, welche sich auf die Bestände an Kriegsmaterial zur Zeit des Waffenstillstandes und auf die Tätigkeit der Fabriken während des Krieges und nach dem Waffenstillstande bezögen, gemäß Artikel 206 Absatz 2 und Artikel 208 Absatz 4 ausgeliefert seien, und ob die erforderlichen Gesetzesbestimmungen oder Verordnungen veröffentlicht wären, wonach die Ein- und Ausfuhr von Kriegsmaterial nach Artikel 211 und 170 wirksam verboten würden und die Rekrutierung und Organisation des Heeres mit den Bestimmungen des Versailler Vertrages in Einklang zu bringen sei nach den Artikeln 211, 160, 161, 173–175 und 178, insbesondere aber in bezug auf die Aufhebung verschiedener Maßregeln, die gegenwärtig noch vorgesehen seien und sich auf die Mobilisierung bezögen. – Von Deutschland wurde hierauf geantwortet, daß die Entwaffnung vollendet sei, und was noch vorhanden sei an Truppen, Waffen und Fabriken, sei unbedingt notwendig für die Lebensnotwendigkeiten der deutschen Volkswirtschaft und zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung im Reichsgebiet.

  General von Seeckt  

Der von den Alliierten meist gehaßte und zugleich der mächtigste Mann Deutschlands war der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt. Im Kriege hatte er sich als Mackensens Generalstabschef einen ruhmvollen Namen erworben. Ihm gebührte das Verdienst, die neue kleine Reichswehr ebenbürtig und würdig im Geiste der alten Armee konstituiert zu haben, und er war unermüdlich, die Schwungkraft großer Tradition zum Fundament des neuen Heeres zu machen. Es war sein Verdienst, daß eine hochwertige, gediegene, wohlorganisierte und gut disziplinierte Truppe entstand, die dem Ausland aufs neue Grund zur Beunruhigung wurde. Scharfsinn, Standhaftigkeit und eine sichere, gewandte Art des Auftretens zwangen seine Gegner, ihn zu achten, ja zu bewundern. Der Engländer Gooch sagt von Seeckt, er habe "die Republik als wenn auch zeitlich nur begrenztes, so doch unvermeidliches Stadium im Leben seines Landes akzeptiert." Ihm mißtrauten die Franzosen, daß er sich kaltblütig [272] über die Bedingungen von Versailles hinwegsetze, daß er geheime Waffenlager besitze, daß er Waffen und Munition anfertigen lasse, daß er das Heer heimlich durch Anwerben sogenannter Schwarzer Reichswehr vermehre, daß er einen Einfluß auf die militärische Schulung der Polizei ausübe.

  Zusammenstöße mit  
alliierten Offizieren

Trotzdem es nichts mehr zu entwaffnen gab, waren die Mitglieder der Militärkontrollkommission, durch Poincarés Rippenstöße aufgescheucht, sehr eifrig. In den Kasernen der Reichswehr und der Polizei, in Munitionsanstalten und Arsenalen tauchten die englischen und französischen Offiziere auf, um zu prüfen und zu untersuchen. Ihr Erscheinen, besonders in Uniform, brachte dem Volke immer wieder aufs neue seine Demütigung vor Augen und erweckte seinen Groll. Der Grimm und die Erbitterung weiter Volkskreise gegen die fremden Offiziere wuchs, je größer die seelischen und wirtschaftlichen Nöte des Volkes wurden. Denn die öffentliche Meinung führte diese Zustände auch auf die über Deutschland verhängte Kontrolle zurück und machten die zahlreichen interalliierten Offiziere als deren Organe dafür verantwortlich. So ereigneten sich denn im Herbst zwei schwere Zusammenstöße zwischen Offizieren der Kommission und der Bevölkerung. Am 24. Oktober nachmittags gegen drei Uhr kamen vor der Kaserne des 20. Infanterie-Regiments in Passau ein englischer und ein französischer Offizier in Uniform, begleitet von einem deutschen Reichswehroffizier, mit dem Auto angefahren. Etwa 20 Zivilisten hatten sich vor dem Kasernentor angesammelt und beschimpften laut die Ausländer. Während diese in die Kaserne gingen, sammelten sich ein Haufe von etwa 600 Menschen vor der Kaserne an und versperrte die Tore durch Balken und Mauersteine. Als die Kommission den Kasernenhof wieder verlassen wollte, war ihr dies unmöglich, und drohendes Geschrei drang zu ihr hinein. 25 Polizeibeamte wurden herbeigerufen, und als die Dämmerung hereingebrochen war, gegen halb sieben Uhr abends, verließ das Auto den Kasernenhof. Auf jedem Trittbrett stand ein Polizist, trotzdem wurde der Wagen mit Steinen und Holzstücken beworfen, so daß die Scheiben zertrümmert wurden. Der französische Offizier [273] wurde leicht an der Nase verletzt, und die beiden Polizeibeamten, gegen die sich die Wut der Menge noch besonders richtete, trugen Verwundungen davon. Dieselbe Kommission besuchte einen Monat später, am 22. November, in Zivil die Munitionsanstalt in Desching bei Ingolstadt. Als sie hier vormittags um 11 Uhr eintraf, stürzten sich etwa 20 Menschen auf das Auto, hielten die Bremse fest, so daß der Wagen sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen konnte, beschimpften die Offiziere und versuchten sogar, gewalttätig zu werden. Die Türen wurden aufgerissen und die Fenster mit Stöcken zertrümmert. Der Engländer wurde leicht an der Nase verletzt, jedoch in weit größerem Maße wurde der deutsche Verbindungsoffizier mißhandelt. Die Kommission mußte unverrichtetersache wieder abfahren.

Der geschäftstüchtige Poincaré wußte auch aus diesen Ereignissen seinen Vorteil zu ziehen. Er verlangte von Passau und Ingolstadt je eine halbe Million Goldmark als Sühne und drohte, wenn ihm diese nicht bezahlt würden, eine Million aus dem besetzten Gebiete zu erpressen. Da die Städte nicht in der Lage waren, diesen völkerrechtlich in keiner Weise gerechtfertigten Tribut aufzubringen, sah sich das Deutsche Reich genötigt, von sich aus die geforderte Million zu zahlen, um seine Angehörigen im Rheinland vor brutalen Maßnahmen zu schützen. –

  Regierungskrisis  

Im Spätjahr 1922 hatte sich in Deutschland wieder eine Regierungskrise entwickelt. Die letzte Ursache hiervon war die Ermordung Rathenaus, und daher gingen die Anfänge bereits bis zur Mitte des Jahres zurück. Seit Juli hatte sich die Sozialdemokratie, welche Regierungspartei war, den Unabhängigen zugewandt, und diese waren bereit, zum Schutze der Republik in die Regierung einzutreten. Die Beziehungen zwischen Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen wurden im Laufe der Zeit so innig, daß sich, wie wir sahen, beide Parteien Ende September in Nürnberg zur Vereinigten Sozialdemokratischen Partei wieder zusammenschlossen. Gingen die Sozialisten infolge der Sorgen um die Republik nach links, so suchten die andern Regierungsparteien infolge der Reparationssorgen den Anschluß nach rechts. Die Notwendigkeit, [274] die Reparationsverhandlungen über Sachleistungen weiterzuführen, näherte Wirth dem deutschen Industriekapital und ihrem Führer Stinnes, deren politisches Organ die Deutsche Volkspartei war. Diese wiederum verlangte um den Preis ihrer Hilfe Einfluß und Teilnahme an der Reichsregierung, und die von der Reichsregierung seit Oktober 1922 gepflogenen Stabilisierungsverhandlungen sind ebensosehr unter stillschweigender Mitwirkung der Deutschen Volkspartei wie der Sozialdemokratie zustande gekommen.

Auch bei einer anderen Gelegenheit versagte sich die Deutsche Volkspartei nicht der Reichsregierung. Am 24. Oktober brachte die Regierung Wirth eine Gesetzesvorlage ein, wonach unter Abänderung der Reichsverfassung die Amtsdauer des Reichspräsidenten nicht Ende Juni 1923, sondern erst Ende Juni 1925 ablaufen sollte. Bayern erhob zwar Widerspruch und ebenso die Deutschnationale Volkspartei, aber am gleichen Tage nahm der Reichstag das Gesetz an mit 314 Stimmen. Da nur 76 Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei und der Kommunisten dagegen waren, war die durch die Verfassung für diesen Fall geforderte Zweidrittelstimmenmehrheit vorhanden. Dieses Gesetz, das den Einfluß des sozialdemokratischen Reichspräsidenten auf zwei weitere Jahre ausdehnte, bildete gewissermaßen den Abschluß der Maßnahmen des Reiches zum Schutze der Republik. Auch die Deutsche Volkspartei glaubte dem Gesetz zustimmen zu dürfen in der Erwartung, in Kürze an der Regierung teilnehmen zu dürfen.

  Gedanke der Großen Koalition  

Es war ein eigentümliches Ringen um die politische Macht, welches zwei ganz verschieden geartete Tendenzen Anfang November führten. Dr. Stresemann, der Führer der Deutschen Volkspartei, hatte vorwiegend außenpolitische Gesichtspunkte im Auge, als er den Eintritt in die Regierung verlangte. Er war sich aber bewußt, daß innenpolitisch die Sozialdemokratie nicht ausgeschaltet werden könne, da sie es war, auf die sich die neuen Zustände im Reiche gründeten. Um im Innern Frieden zu haben und mit ganzer Kraft eine versöhnliche Außenpolitik treiben zu können, deswegen strebte Stresemann nach der Großen Koalition. Die Sozialdemokratie dagegen, die [275] durch ihre Vereinigung mit den Unabhängigen stark radikalisiert war, sah den Schwerpunkt aller Politik in der Konsolidierung der inneren Verhältnisse, ohne einen Grund dafür einzusehen, daß man außenpolitisch von der bisher befolgten bedingungslosen Erfüllungspolitik abweichen sollte. Dem Zwiespalt dieser beiden Auffassungen unterlag die Regierung Wirth, die, wie wir sahen, seit Rathenaus Tode innenpolitisch mit der Sozialdemokratie, außenpolitisch mit der Deutschen Volkspartei regierte, wobei sie von der Notwendigkeit dieser Regierungsweise überzeugt war. Den bisher formlosen Zustand, der durch die Divergenz der Faktoren hemmend, ungesund wirkte, suchte Wirth jetzt zu legalisieren, indem er sich den Anschauungen Stresemanns näherte und Deutsche Volkspartei mit Sozialdemokratie in einer Regierung der Großen Koalition zu vereinigen suchte. Diese auch erschien ihm als die einzig mögliche Grundlage, seine Markstabilisierungspläne innen- wie außenpolitisch verwirklichen zu können.

Rücktritt
  der Regierung Wirth  

Am 10. November fanden beim Reichskanzler Wirth die entscheidenden Besprechungen mit den Parteiführern wegen der Regierungsumbildung statt. Vertreten waren die Deutsche Volkspartei, die Bayerische Volkspartei, die Demokraten, das Zentrum und die Vereinigte Sozialdemokratie. Wirth forderte die große Koalition, das heißt die Einbeziehung der Deutschen Volkspartei in die Regierung. Da aber die Reichstagsfraktion der Sozialdemokratie mit Dreiviertelstimmenmehrheit jede Zusammenarbeit mit der Deutschen Volkspartei in der Regierung nach wie vor ablehnte, schieden die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder aus dem Kabinett aus, und die Regierung Wirth übernahm nun am 14. November ihre Entlassung: sie war über dem selbstverschuldeten Unvermögen, zwischen innerer und äußerer Politik eine gewisse und erträgliche Übereinstimmung herbeizuführen, zu Fall gekommen.

Die Regierung Wirth verschwand von der Bildfläche und hinterließ ein Andenken bitteren Leides. Hervorgegangen aus der katastrophalen Lage der Maitage 1921, hatte sie ein aussichtsloses Experiment begonnen, – ein Experiment, welches die Regierung Fehrenbach nicht verantworten zu können glaubte, nämlich durch äußerste Willfährigkeit die [278] drakonischen Wiedergutmachungsforderungen der Alliierten ad absurdum zu führen. Das Experiment war vollständig mißglückt, und das deutsche Volk hatte seine Rechnung zu bezahlen in Gestalt der Inflation, ohne daß die Alliierten den Beweis für die Absurdität ihrer Forderungen als erbracht ansahen. Aus diesem Erfüllungswillen der Regierung ergaben sich mit zwingender Notwendigkeit all die anderen Erscheinungen und Ereignisse jener Ära. Da das deutsche Kapital von vornherein den unbedingten Erfüllungswillen als wirtschaftlichen Wahnsinn erklärte, befand es sich im Gegensatz zur Regierung Wirth, und diese mußte mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften zusammenarbeiten. Diese Zusammenarbeit war so intensiv, daß man zeitweise von einer gewerkschaftlichen Nebenregierung sprach. Der erste Versuch, sich dem Kapital zu nähern, wurde im November und Dezember 1921 unternommen und mißglückte. Ein Rückschlag trat ein, der sich in um so engerem Anschluß an die Gewerkschaften äußerte. Eine Folge des Erfüllungswillens war die Ermordung Rathenaus, deren unselige Konsequenzen das Volk sich zum Schutze der Republik zerfleischen ließen. Letzten Endes war die Regierung Wirth doch genötigt, ernstlich die Hilfe des deutschen Kapitals in Anspruch zunehmen, da die Erfüllungspolitik mit einem vollständigen Bankrott endete, und über diesem Willen, die Koalition nach rechts zu erweitern, wurde die Regierung Wirth von ihrer eigenen Bundesgenossin, der Sozialdemokratie, gestürzt.

Das Schicksal der Regierung Wirth bewies, daß es unter dem Drucke der Reparationsverpflichtungen nicht möglich war, auf die Dauer Deutschland nach den revolutionären Grundsätzen von 1918 und 1919 gegen das Kapital zu regieren. Mit zwingender Notwendigkeit drängten die außenpolitischen Zustände auf eine Regierungskonstellation hin, in welcher die Deutsche Volkspartei, die Vertreterin des reparationszahlenden deutschen Kapitals, Sitz und Stimme hatte.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra