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[Bd. 4 S. 552]
Karl Helfferich, 1872-1924, von Otto Hoetzsch

Karl Helfferich.
[576a]      Karl Helfferich.
Mit noch nicht zweiundfünfzig Jahren wurde Karl Helfferich dem deutschen Leben und der großen Aufgabe, die ihm darin gestellt war, entrissen. Das Schicksal hat ihm die krönende Schlußleistung seines Lebens nicht vergönnt, auf die Freund und Feind gerade im Jahr seines Todes erwartend blickten. Und doch tritt auch er gleichberechtigt neben die anderen Gestalten in diese Halle deutscher Führer, die die Entwicklung ihres Volkes bestimmt, jedenfalls unvergängliche Spuren in ihr hinterlassen haben.

Diese Blätter gründen sich auf Erinnern und Miterleben, in den letzten Jahren des Mannes aus seiner nächsten Nähe. Aber Erinnerungen im üblichen Sinne sind sie nicht. Und der Versuch, die Persönlichkeit plastisch-biographisch zu gestalten, steht erst recht unter dem Druck der Distanz. Nicht im subjektiven Sinn – die Freundschaft, die den Schreibenden mit dem Toten verband, bleibt in ungeminderter Kraft lebendig, und zum guten Teile ist, was hier zu behandeln ist, ein Stück des eigenen Lebens von dem, der darüber schreibt. Wohl aber im Sinn des Risses zwischen Gegenwart und Vergangenheit, des Auseinanderfallens, Auseinanderlebens der Generationen, der Zeitalter, der Revolution eben, und der Schnelligkeit der Umgestaltung, in der wir leben. Gar manches von dem, was darzustellen ist, ist nicht nur verblaßt, sondern schon kaum mehr verständlich. Vieles von dem, was Helfferich mit heißer Seele umfaßte, gestalten wollte, ist für immer tot und vergangen. Das wesentliche aber, wofür er stritt und litt, ist heute herrlich erfüllt.

Eine große Reihe literarischer Zeugnisse, literarisch-wissenschaftlicher Arbeiten liegt aus der Feder Helfferichs über Gegenstände der großen Politik vor. Im Unterschied zu den meisten handelnden Staatsmännern hat er in allen Zeiten seines Lebens Lust, Kraft und Zeit gefunden, zu schreiben. Er war Forscher und "Schreiber", Buchverfasser nicht nur, sondern auch Publizist im besten Sinne des Wortes.

Er war neben- und nacheinander Gelehrter und akademischer Lehrer, Staatsbeamter, Wirtschafts-, das heißt Bank- und Geldpolitiker, Bankier, Publizist und Schriftsteller. Alles das war er gewesen, noch ehe ihn der Weltkrieg an höchste und verantwortungsvollste Stellen im Reiche stellte. War darin nicht eine große Zersplitterung? Hatte dies Leben in solcher Sprunghaftigkeit überhaupt einen Mittelpunkt: im Wechsel zwischen Katheder und Bürostube, Bankgeschäft und [553] Ministeramt, Fraktionszimmer und Volksversammlung, im Wechsel auch der Auffassungen, selbst der Parteistellung? Wurde das nicht nur durch einen verzehrenden persönlichen Ehrgeiz zusammengehalten, der immer höher steigen, der beeinflussen, führen, herrschen wollte? Absichtlich oder unabsichtlich ihn nicht verstehende Gegner haben geglaubt, sein Wesen damit abtun zu können, wenn sie auch wohl ausnahmslos alle anerkannten, daß es sich bei ihm jedenfalls um einen Ehrgeiz ganz großen Stiles handelte und daß selbstische Interessen und Motive im großen oder im kleineren oder gar gemeinen Sinne diesen Mann in allem Wechsel seines Lebens niemals bestimmt haben.

Indes: man brauchte ihn gar nicht besonders tief zu kennen, um zu wissen, daß das kein Flattergeist war. Mit dreißig Jahren schon, nämlich als er neben der akademischen Tätigkeit in die Kolonialabteilung des Auswärtigen Armes eintrat, war er über seinen Weg entschieden: nicht endgültig in die Studierstube oder den Hörsaal, sondern in die Praxis, in das Handeln. Und zwar in das Handeln für den und in dem Staat, im unabhängigen und wachsenden deutschen Großstaate, den er mit aller Kraft einer leidenschaftlichen, auch leidenschaftlicher Liebe fähigen Natur, mit einer glühenden Vaterlandsliebe erfaßte und umfaßte. Dem er dienen wollte, wie er ihm dann auch gedient hat: mit unermüdlicher Arbeitskraft, mit einer glänzenden Begabung für besondere Gebiete, mit dem kritischen Verstand und der schöpferischen Phantasie, die ihm für das Leben mitgegeben waren.

Darum drehte sich sein Sinnen und Denken. Davon war er gleichsam "besessen". Was sich wandelte, war nicht seine Grundanschauung. Die war eigentlich schon früh in ihm sehr fest und ist fest geblieben, wies darum auch bis zum Ende sehr bestimmte Begrenztheiten und Schranken auf. Es wandelten sich die Umwelt, die Aufgaben, die Formen und Möglichkeiten seines Wirkens. Und diese letzteren waren ihm sekundär neben dem einen Großen und Bestimmenden. Darum zog das ja auch die anderen an ihm so an, den Reichskanzler von Bethmann Hollweg, der ihn bestimmte, in den Reichsdienst zu treten, oder die Deutschnationale Partei, deren Anschauungen rein parteimäßig genommen er nicht einmal nahestand und deren ältere Mitglieder ihn als praktischen Staatsmann sogar bekämpft hatten. Von hier aus, von diesem Punkt aus ist die Persönlichkeit zu fassen, wirkt sie als geschlossene Einheit in allem Auf und Ab und Hin und Her eines erstaunlich bewegten Lebensganges.

Karl Helfferich war am 22. Juli 1872 in Neustadt a. d. Hardt geboren. Das Blut des Rheinpfälzers, das in ihm flutete von Vater- und Mutterseite her, war und blieb die erste bestimmende Kraft seines Wesens. Nicht nur im Äußeren, wie dem leichten Anklang des Dialektes, den er nie ganz verlor, viel mehr noch in den tieferen Zügen, auch in der Wärme, der Hitze, dem Feuer eines Temperaments, das bei jeder Gelegenheit emporschoß, losschoß, wenn ein Zwischenruf kam, ihn angriff, eine Aufgabe, eine Auseinandersetzung lockte. Im Guten und auch [554] in den Schattenseiten ist Helfferich ein echtes Kind dieses deutschen Stammes sein Lebtag geblieben.

Karl Helfferich.
Karl Helfferich.
Bronzebüste von Max Bezner, 1922.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 466.]
Am wenigsten vielleicht nach der Seite von Scherz und Humor. So fröhlich er lachen konnte oder einen Scherz verstand, der eigentliche Sinn für Humor fehlte ihm: das Blut des Rheinpfälzers war schwer in ihm. Leicht hat Helfferich nichts genommen, nichts im eigenen Leben und nichts in dem seines Volkes und Staates. Eher neigte er dazu, in einem starken sittlichen Ernst, der ihn charakterisierte, die Dinge zu schwer zu nehmen. Die Büste von der Hand [Max] Bezners, die den Freunden seine Züge am besten erhält, gibt diesen Ernst und dazu das Willenselement in dem mächtigen, geradezu cäsarischen Kopfe vollendet wieder. Aber die Wärme des Stammeswesens war in ihm, wenn auch nur wenige, die ihm näher standen, das Weiche und Gemütvolle in ihm kannten. Nur das Leichte, das Schwingende, das – ohne jeden Vorwurf und Nebenklang – Leicht-Sinnige oder der leichte Sinn ging ihm von der Stammeszugehörigkeit ab.

Aus dem deutschen Westen, dem deutschen Mutterland kam er; mit dem deutschen Osten verband ihn wenig oder nichts. Aus dem großbürgerlichen Lebenskreise einer Mittelstadt und einer Industriellenfamilie kam er, von der er Wesentliches in seinem Sein in sich trug. Ein Glied des westlichen deutschen Bürgertums war er, wie es seit den dreißiger Jahren entstanden war und im neuen Kaiserreich sich ganz ausbildete zur "Bourgeoisie" Deutschlands, mit allem auch an Bildung und Kultur, was dieses Bürgertum, hier das Bürgertum einer rein deutschen und tief im deutschen Wesen wurzelnden Familie, seinem Sproß geben konnte und mitgegeben hat.

Nach der Reichsgründung war er geboren. Ein Kind des kaiserlichen Deutschlands, an dem er mit allen Fasern seines Wesens hing, war er und ist er geblieben. Ihm schien auch sein Leben zusammenzubrechen, als das Reich in der Kriegsniederlage zusammenbrach und dann auseinanderzufallen drohte. In einem Privatbrief am 29. November 1918 hat er das erschütternd gefaßt: "So groß ist der Wandel der Dinge – ein Absturz, wie ihn in einer so kurzen Spanne nie ein Volk in der Geschichte erlebt hat. Ich empfinde es vielleicht mehr als die meisten anderen. Denn mein ganzes Leben, meine ganze Arbeit und mein ganzes Sinnen und Trachten war, seit ich ein bewußter Mensch bin, ganz eingestellt auf die großen Dinge, die jetzt zusammenbrechen. Und wenn es noch innere politische Notwendigkeit wäre! Aber wie wenig hat gefehlt, und es wäre anders gekommen. Es waren vermeidbare Fehler, leicht vermeidbare Irrtümer und Dummheiten, und in dem entscheidenden letzten Jahr der Mangel einer politischen Führung, die schließlich in diesem Schicksalsringen den Ausschlag gegen uns gaben. Ich bilde mir ein, noch im August wäre, wenn man, schon am Abgrund stehend, meinen Vorstellungen Gehör gegeben hätte, das Schlimmste abwendbar gewesen. Nun müssen wir den Kelch bis zur Neige leeren. Denn nur ein Narr kann auf Gnade hoffen."

[555] 1890 hat er die Universität bezogen. So wuchs er in das Deutschland unter Wilhelm II. hinein, dessen Diener er später in unwandelbarer Treue wurde. Das Deutschland, das im Wirtschaftsaufschwung der neunziger Jahre die Glieder reckte, seine Kolonien entwickelte, sich eine Flotte schuf, Weltmacht sein oder werden sollte oder mußte – das zog Helfferich an, die Gegenwart und die Zukunft des kaiserlichen Deutschlands, nicht seine Vergangenheit. In der langen Liste seiner Schriften findet man keine Festrede zum 18. Januar, und man findet auch wenig Erinnerungen etwa an Bismarck oder an andere deutsche Vergangenheit.

Auf der Universität ergriff ihn schnell seine eigentliche Begabung, die ihn in die bestimmende Linie seines wissenschaftlichen und praktischen Lebens und Handelns trieb, die Begabung für die Staatswissenschaften von deren wirtschaftlicher Seite aus, und zwar in erster Linie nach der Seite des Geldes, der Finanzen und dann auch des Handels und überhaupt der Wirtschaftspolitik. Der große Lehrer, der für ihn entscheidend wurde, war Georg Knapp in Straßburg, als der Theoretiker des Geldes. Von hier geht die Linie von Helfferichs Doktorarbeit über den Deutsch-Österreichischen Münzverein weiter in sein Buch vom Gelde, aber auch in die Arbeit im Kolonialamt und in der Deutschen Bank, ins Reichsschatzamt und in den Kampf gegen die Reparationslast nach dem Kriege. Das Gebiet weitet sich immer mehr, aber es behält seinen Mittelpunkt, das, was der Straßburger Meister im Schüler zum Leben erweckt hatte als eine ganz außerordentliche spezielle geniale Begabung, die, wie bei den wenigsten auf diesem Gebiete, Theorie und Praxis vollendet miteinander zu verbinden wußte. Von Anfang an trat bei ihm die ungewöhnliche Schärfe eines kritischen und logischen Verstandes hervor, der die größten Unklarheiten zu entwirren verstand. Das hat auch der schärfste Gegner stets anerkannt: alles, was Helfferich sagte und schrieb, und waren es die verwickeltsten Dinge über Währung und Wechselkurse, über Anleihen, über Etat und Steuern und Finanzen, war von einer unvergleichlichen, kristallnen Klarheit, und – immer vorwärtsführend. Und ebenso von Anfang an: es geht gleich in die Praxis, in das Handeln, in den Kampf, in den Kampf um die Goldwährung oder in die polemische Auseinandersetzung um die finanzielle Beurteilung des Russisch-Japanischen Krieges 1904/1905. Überall aber schlugen durch die finanzpolitischen Erörterungen sogleich die großen staatspolitischen Gesichtspunkte durch, das sichere Gefühl für den Staat in seinen Beziehungen zu den anderen Staaten und für den Zusammenhang zwischen den rein wirtschafts- oder finanzpolitischen Dingen und der Position in den Machtkämpfen des Staates.

Den jungen Mann zog es freilich zuerst in die Wissenschaft und ihre Lehre. Er wurde 1899 Privatdozent der Staatswissenschaften an der Universität Berlin, erhielt später auch den Professortitel, den er mit Stolz trug und auf den er sich späterhin noch als Minister und Exzellenz gern berief. Er hat der Berliner Hochschule vier Jahre angehört. Frühzeitig an ihn ergehende Rufe an andere Universitäten bewiesen, daß er schnell Ansehen im Fachkreise erworben hatte. Aber [556] noch schneller riß ihn die Praxis an sich: im Oktober 1901 wurde er in die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes einberufen.

Helfferich nahm Abschied von der Gelehrten- und Lehrertätigkeit. Die letztere hatte er wenig ausbauen können, die erstere hat er aber nie ganz fallenlassen. Der großen Leistung: Die Reform des deutschen Geldwesens nach der Begründung des Deutschen Reiches, die weithin Anerkennung fand als eine wirkliche Geschichte der deutschen Geldreform, sind viele Aufsätze und Schriften seiner Feder über Geld- und Bankfragen gefolgt und dann vor allem 1903 sein Lebenswerk auf diesem Gebiete: Das Geld. Es eroberte sich einen ersten Platz, den es behielt. Noch 1923 erschien die sechste Auflage, die die Entwicklung des Geldwesens seit Ausbruch des Weltkrieges einbezog und die erste systematische Darstellung der gewaltigsten Umwälzung des Geldwesens überhaupt gab. Staunend sahen die Fraktionsgenossen im Reichstag zu, wenn während der Debatte der Kommission oder im Kampf des Plenums der Mann die Korrekturbogen davon las und dabei jeden Augenblick bereit war, in die Auseinandersetzung einzuspringen. Auch das Werk über Deutschlands Volkswohlstand von 1888 bis 1913, das Helfferich bei Gelegenheit des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums Wilhelms II. schuf, gehört in seine Gelehrtenarbeit hinein.

Man darf diese nicht in eine Schulmeinung, überhaupt in eine Schule pressen. Wird man im ganzen sagen können, daß Helfferich zur unbedingt privatkapitalistischen, liberalen Nationalökonomie gehörte, so banden ihn doch Dogma und Schulweisheit auch als Gelehrten nicht. Er war auch keineswegs, wenn er etwa in seinen Hamburger Vorträgen 1901 in der damaligen Lage so auftrat, ein Anhänger des Freihandels nach Überzeugung oder aus Prinzip. Dergleichen Fragen wie Freihandel oder Schutzzoll prinzipiell zu nehmen oder gar als Evangelium – dazu war er, auch von Haus aus, zu praktisch, zu real. Aber er war in den wirtschaftlichen Dingen ein ausgeprägter Individualist. Es gab für ihn von vornherein keine Diskussion darüber, daß das private Eigentum an den Mitteln der Produktion aufrechterhalten werden müsse als Grundlage jeder staatlichen Existenz und jeder kulturellen Arbeit. So war er dem politischen Sozialismus aufs schärfste entgegengesetzt, und so bedurfte es auch für ihn keines Nachdenkens und keines Entschlusses dazu, ein Gegner des Klassenkampfes als beherrschenden Prinzips im politischen Leben zu sein. Denn er sah, um an einen Ausdruck von Treitschke zu erinnern, allzeit seines Lebens den Staat von oben an, den Staat als geschlossene Potenz in seiner Stellung, in seinen Lebensbedingungen und ‑möglichkeiten und ‑notwendigkeiten vornehmlich nach außen.

In der Kolonialabteilung stieg er schnell auf. Er wurde bald Vortragender Legationsrat und die rechte Hand des Chefs in Währungs- und Eisenbahnfragen. Er war Beamter geworden, der im Ministerium auch rasch die Technik der Außenpolitik im kleinen und großen lernte – wie er diese beherrschte, hat man später im Reichstag, vornehmlich in seinen Reden im Auswärtigen Ausschuß, gespürt.

[557] 1906 wieder ein Wechsel: er tritt in die Deutsche Bank ein, im besonderen in deren Aufgabenkreis in der Türkei, den Georg von Siemens mit dem Bau der Anatolischen, später sogenannten Bagdadbahn begründet hatte. Zwei Jahre arbeitete er darin für die Deutsche Bank in Konstantinopel. Seit 1908 war er in Berlin als Direktor der Deutschen Bank tätig, besonders auf dem Gebiet der Eisenbahnkonzessionen in der Türkei und allem, was damit geldlich und auch hochpolitisch zusammenhing. An manchen Stellen redet die deutsche Aktensammlung Die Große Politik von dieser seiner Tätigkeit in der Verbindung von Finanz- und großer Politik. In der schönen Biographie, die er Georg von Siemens, dem Schöpfer dieses Bauunternehmens, gewidmet hat, steht nicht nur das Leben des Mannes, dessen Tochter er später zur Gattin gewann, sondern die Geschichte der entscheidungsschweren Jahre der Konzessionen und der Verwickelung Deutschlands in die orientalische Frage überhaupt und steckt darum auch viel von Helfferichs eigenem Leben.

Darum ist er auch in die Reihe der deutschen Imperialisten unter Wilhelm II. einzureihen. Gegen die Bezeichnung hätte er sich gewehrt, aber der imperialistische Wille der zwei Jahrzehnte zwischen 1894 und 1914 war ihm selbstverständlich für seinen Staat. Dem hat er an wichtiger Stelle jahrelang gedient. Wie er zur Bagdadbahn stand, hat er selbst nach dem Kriege in einer Schrift Die deutsche Türkenpolitik (1921 erschienen) ausgeführt. Sie ist knapp und klar wie alles, was er schrieb, und läßt darum auch Schwäche und Gefahr des Unternehmens hervortreten, obwohl oder gerade weil er das nicht wollte, er die Schrift der Verteidigung der deutschen Bagdadbahnpolitik und der deutschen Türkenpolitik überhaupt gewidmet hatte. Die Idee von Georg von Siemens hatte er natürlich voll ergriffen und erkannt, daß das Unternehmen, der Türkei ein solches Bahnsystem zu bauen, nur international und unter der Zustimmung von England durchgeführt werden konnte. "Ich möchte Sie sehr bitten, sich die Frage, ob und wie eine baldige, mit unseren Interessen verträgliche Einigung mit England über die Bagdadbahn möglich ist, durch den Kopf gehen zu lassen. In der glücklichen Lösung dieser Frage liegt der Schlüssel der gesamten Situation", heißt es in einem Privatbrief von ihm an Arthur von Gwinner vom 30. November 1908 aus Konstantinopel. Helfferich war von dem absolut friedlichen Charakter der deutschen Türkenpolitik durchdrungen, die nicht auf Eroberungen ausging, und faßte das in jener kleinen Schrift nach dem Kriege zusammen: "Ich möchte sagen, daß unsere Politik in bezug auf die Türkei tatsächlich im großen ganzen so geführt worden ist, daß sich trotz aller gelegentlichen Reibungen und Verstimmungen ein eigentlicher Konfliktsstoff aus ihr nicht entwickelt hat... Der Erfolg unserer soliden, das türkische und das deutsche Interesse gleicherweise wahrnehmenden Arbeit war eine starke Zunahme des deutschen Einflusses in der Türkei und eine wachsende Kräftigung der Türkei von innen heraus... Die geschichtlichen Tatsachen, an denen nicht gerüttelt und nicht gedeutelt werden [558] kann, zeigen also in aller Klarheit, daß der deutschen Türkenpolitik keinerlei 'Schuld' an dem Ausbruch des Weltkrieges zugeschrieben werden kann. Die unumstößliche geschichtliche Wahrheit ist vielmehr: Die von Deutschland bis an die Schwelle des Weltkrieges in bezug auf die Türkei verfolgte Politik war ausschließlich auf den berechtigten und selbstverständlichen Schutz friedlicher deutscher Wirtschafts- und Kulturarbeit gerichtet. Sie war auch in ihren Formen nichts weniger als aggressiv und provozierend. Sie hielt sich stets innerhalb des Rahmens, der durch den Wunsch nach guten Beziehungen zu den an der Türkei interessierten Großmächten gezogen war. Sie hat dabei den Erfolg erreicht, daß es zu ernstlichen Konflikten mit einer Großmacht über deutsch-türkische Interessen niemals gekommen ist, daß vielmehr durch eine vorsichtige Behandlung aller eine Reibungsgefahr in sich bergenden türkischen Fragen und durch die Bereitwilligkeit zu weitgehendem Entgegenkommen jede ernste Konfliktsfrage stets im Keime erstickt worden ist."

Das ist alles absolut richtig, aber ist es vollständig? War die Anlage eines rein wirtschaftlichen Finanzgeschäftes mit kultureller Wirkung ohne politische Nebenabsichten oder wenigstens Nebenwirkungen vorstellbar? Ließ sich die Idee, daß hier nur ein wirtschaftliches Geschäft betrieben werde, aufrechterhalten, während der Sultan die Bahn unter militärisch-politischem Gesichtspunkt förderte und damit gerade die politischen Gegensätze hervortrieb? War die Durchführung der Bahn von Konstantinopel nach Bagdad möglich zwischen England und Rußland? Hier ist sich Siemens völlig klar gewesen: nur im Wege einer Verständigung und Zusammenarbeit mit England. Das hieß also: die Option zwischen England und Rußland. Wenn man darüber klar war und sich dazu entschloß, war angesichts der englisch-russischen Verständigung über die Türkei seit 1908, der Schwenkung Englands gegen die Türkei, eine Option noch möglich für eine Politik, die ausgesprochenermaßen die Türkei innerlich gesund, also stärker machte, also vor der Zerstörung durch England oder Rußland retten wollte? Mußte es dann nicht vielmehr – das ist 1899 schon von deutscher diplomatischer Seite konstatiert worden – gerade das zielbewußte Streben der Pforte sein, durch weitestes Entgegenkommen deutsche Interessen in der Türkei in einem Grade zu engagieren, der im Falle einer Bedrohung der türkischen Integrität durch Rußland oder durch England Deutschland zum natürlichen Bundesgenossen der Türkei gegen beide werde machen müssen? Konnte man, wenn die Situation schon Ende der neunziger Jahre so klar lag, die politische Seite der Lage nur mit der "freien Hand" bewältigen? Man durchkreuzte mit der Richtung Berlin–Bagdad die englische Richtung Kalkutta–Kairo, obwohl schon 1903 Lord Lansdowne Herrn von Gwinner sagte, mit dem Bau der Bagdadbahn habe England den kürzesten Weg nach Indien nicht mehr in der Hand. Und man stellte sich mit dieser Politik, die die Konsolidation der Türkei förderte und fördern wollte, gegen die bekannten Ziele der russischen Orientpolitik. Man [559] verfolgte keine politischen oder kolonisatorischen Zwecke, man wollte lediglich friedliche wirtschaftliche Arbeit betreiben und dabei verdienen. Aber was man tat, war Kolonisation, und was man erreichte, war die militärisch-politische Festigung der Türkei, die zwangsläufig Deutschland immer stärker für die Integrität der Türkei engagierte.

Die grundsätzliche Schwenkung, die der Bericht des Botschafters von Marschall aus Konstantinopel vom 3. Februar 1899 klassisch aussprach – Helfferich hat ihn als erster in der Siemens-Biographie benutzt –, hat Helfferich natürlich begriffen. Er wußte, daß damit die Bismarcksche Türken- und Orientpolitik verlassen wurde. Es war nicht seine Sache, in seiner damaligen Stellung nun darauf hinzuweisen, welch zwingende Konsequenzen damit der rein politischen Weiterbehandlung auferlegt waren. Aber man wundert sich, daß auch nach dem Zusammenbruch, wo die Veranlassung war, darüber nachzudenken, die eben gestellten Fragen in Helfferichs Ausführungen nicht nur nicht anklingen, sondern von ihm überhaupt als unberechtigt zurückgewiesen wurden. Daß Deutschland der Bundesgenosse, der Garant der Türkei wurde und ebenso unweigerlich damit Gegner sowohl der englischen wie der russischen Orientpolitik, die beide die Zerstörung der Türkei wollten – Helfferichs Äußerungen während seiner Tätigkeit daran und nachher zeigen nicht, daß ihm wie überhaupt dem ganzen Kreise der daran Arbeitenden die furchtbar harten Realitäten der reinen Politik darin ganz deutlich geworden sind.

Eine glänzende Laufbahn lag schon hinter ihm, als der Krieg ausbrach. Der Gelehrte und der Forscher in ihm waren zurückgetreten. Er war der Bankdirektor, der Finanz- und Wirtschaftspolitiker, der Praktiker. Er war schon eine sehr fest umrissene Persönlichkeit, die auf solcher Höhe der Stellung sich nicht nach einem Ministerposten zu drängen brauchte und sich auch nicht dazu gedrängt hat. Der Krieg zwang ihn, Staatsmann zu werden, und er machte ihn dazu.

Ein schwerer Unfall schon in früher Jugend schloß seine Tauglichkeit für den Dienst mit der Waffe aus, wie er überhaupt immer eine schwankende, gar nicht sichere Gesundheit mit eiserner Energie in den Dienst einer immer riesigere Ausmaße annehmenden Arbeit gezwungen hat.

Im Dezember 1914 kam völlig überraschend die Aufforderung des Reichskanzlers an ihn, die Leitung des Reichsschatzamtes zu übernehmen. Es war wie immer in seinem Leben: er drängte sich nicht dazu, es kam auf ihn zu, und als er seine Einwendungen machte, schlug der Appell des Kanzlers bei ihm durch: "Betrachten Sie das Reichsschatzamt als Ihren Schützengraben!" So übernahm er im Februar 1915 dieses Amt, vorbereitet und ausgerüstet dafür wie wenige, nicht nur in den Sachfragen, auch in der Fähigkeit, einen großen Apparat zu leiten. Und sofort wie stets bei ihm erklingt das Wort "positive Mitarbeit".

Der Arbeitskreis weitete sich von selber: über das rein Finanzielle von Währung und Anleihen in die Steuern und Kriegskosten und in den Komplex der Kriegs- [560] wirtschaftsaufgaben überhaupt hinein. Mit ungebrochener Energie einer ungeheuren Arbeitskraft warf er sich hinein. Er nahm die Regelung der Kriegskosten fest in seine Hand und drückte sie auf einen Satz herunter, auf den er später mit Stolz hinweisen konnte. Er behandelte die Währungsfrage von seinem Geld- und Goldbegriff aus. Er organisierte die Werbung für die Kriegsanleihen. Die Frage, ob die finanzielle Kriegsführung mehr auf Anleihen oder auf Steuern zu basieren gewesen wäre, ist schon während seiner Waltung Gegenstand des Streites gewesen und erst recht nachher, als man ihm vorwarf, er habe leichtsinnig alles auf die Zukunft gestellt, die die Anleihen schon realisieren werde, und die Anspannung der Steuern vernachlässigt. Helfferich konnte sich dagegen darauf berufen, daß er immerhin einige Steuern durchgesetzt habe, daß aber das Bemühen in dieser Richtung sich an dem verwickelten Apparat unserer Verfassungseinrichtungen und gerade an dessen unerfreulichstem Erbteil gestoßen habe. Er konnte sich auf seine gute Kenntnis der finanziellen Kräfte der eigenen Volkswirtschaft berufen, die er in jenem Werke von 1913 abzuschätzen versucht hatte, auf seine Kenntnis dessen, was der Bankier die "stillen Reserven" nennt. Er hatte auch die feste Zuversicht, daß das deutsche Volk den Riesenkampf siegreich bestehen würde und daher allerdings die Finanzfragen später leichter liquidiert werden könnten. Die Kritik war in seiner aktiven Zeit und noch mehr nach dem Kriege stark vom Parteistandpunkte bestimmt, aber sie kann nicht schlechthin als sachlich unberechtigt abgewiesen werden.

Davon aber abgesehen mußte jedermann anerkennen, daß diese Führung des Ministeriums eine Glanztätigkeit war. Die Fähigkeiten und Eigenschaften des Mannes dehnten und reckten sich. Die ganze Art, wie er sich auf diesem ihm vertrauten Gebiete bewegte, gab ihm eine Schwungkraft, die auf die anderen unmittelbar und aufs stärkste wirkte. Und wie fühlte man ihm den Ärger nach über die Kraftvergeudung in den Verhandlungen des Reichstags: "Ich mag im Reichstag manchmal kurz angebunden und schroff gewesen sein, aber das war dann meistens der Ausfluß einer mühsam unterdrückten inneren Auflehnung gegen die Vergeudung von Zeit und Kraft in unfruchtbaren Debatten, während die dringendsten und wichtigsten Arbeiten warten mußten und zu Schaden kamen."

Staatssekretär Dr. Helfferich.
Staatssekretär Dr. Helfferich
nach dem Leben gezeichnet
von Prof. Arnold Busch.
[Nach Staatsbibliothek Berlin.]
Aus diesem Aufgabenkreis riß ihn schon im Frühjahr 1916, nach knapp fünfvierteljähriger Tätigkeit, abermals eine Aufforderung des Kanzlers, nämlich das freiwerdende Staatssekretariat des Innern und damit die Stellvertretung des Reichskanzlers zu übernehmen. Dem damaligen Vorsitzenden der Konservativen Reichstagsfraktion, Grafen Westarp, setzte Helfferich die Gründe auseinander, warum er dieses Amt übernehme, und Graf Westarp schrieb in seinem Lebensbilde Helfferichs dazu: "Ich machte ihm kein Hehl daraus, daß ihm der Übertritt in der öffentlichen Meinung schaden werde und daß auch ich gewünscht hätte, ihm wäre die riesige Aufgabe der Reichsfinanzen verblieben, ein Gebiet, auf dem er erste [561] Autorität sei; aber ich konnte ihm ehrlich sagen, daß ich keinen Augenblick an der Aufrichtigkeit seiner Darstellung zweifelte, die durch die späteren Urkundenwerke bestätigt worden ist, und nach welcher er den Amtswechsel nicht betrieben hat, sondern von Bethmann unter scharfem moralischen Druck veranlaßt worden ist, Staatssekretär des Innern und Stellvertreter des Reichskanzlers zu werden. Er hatte schon als Schatzsekretär vielfach auf die allgemeine Politik eingewirkt und das Ohr Bethmanns ganz gehabt, und dieser suchte ihn sich als Stütze seiner schon damals recht unterwühlt erscheinenden Stellung zu gewinnen." Daß der Aufstieg in eine Stellung von derartigem Einfluß und so weitgehender Wirkungsmöglichkeit den Ehrgeiz des nun Vierundvierzigjährigen locken mußte, ist selbstverständlich. Die Schwierigkeiten hat er sich nicht verhehlt; in seinen Erinnerungen spricht er selbst davon, daß er "noch viel stärker als bei Übernahme des Schatzamtes das Gefühl des Sprunges ins Dunkle gehabt habe".

Der Umfang der neuen Aufgaben war noch eine geringere Schwierigkeit. Daß die Klagen über die Kriegswirtschaft nicht befriedigend abgestellt werden konnten, war nicht Helfferichs Schuld. Aber schwerlich kann man sagen, daß Befähigung, Neigung, auch Kenntnisse und Erfahrungen ihn genügend für die vornehmlich taktischen Aufgaben des Amtes geeignet machten. Man hatte manchmal das Gefühl, besonders im Streit mit dem Reichstag, daß hier reiche und fruchtbare Kraft an der falschen Stelle und zu ihrem eigenen Schaden eingesetzt und vernutzt wurde, weil sie sich auf einem Felde tummeln mußte, für das sie nicht geschaffen war. Das Temperament des Ministers verschärfte das noch, manchmal unnötig, und trug ihm schnell eine wachsende Unpopularität ein.

Wesentlicher noch war die Bindung an die Person des Reichskanzlers, die Helfferich damit einging. Herr von Bethmann sah – mit Recht – in der großen geistigen und Willenspotenz des Jüngeren, den er so auf höchste Stellen im Staate führte, eine Unterstützung, die er, der Kanzler, schon in dieser Zeit sehr nötig hatte. Helfferich hat sich auch alle Zeit auf das lebhafteste und mit seiner ganzen Persönlichkeit für den Kanzler eingesetzt. Er hat sich sicher nicht über die Qualitäten Bethmanns getäuscht, die diesen zur Führung des Reiches immer weniger geeignet machten. Er kann sich auch nicht darüber getäuscht haben, daß sich Herr von Bethmann Hollweg in einem eigensinnigen Doktrinarismus gleichwohl für befähigt hielt, seine Stellung festzuhalten, und in ihr doch zu durchgreifenden Entschlüssen nicht kam, daß ihm die große politische Linie genau so fehlte wie der feste Wille. In der Bindung an eine solche Persönlichkeit, in der Unterordnung unter sie, die er geistig übersah, die sich aber nicht von ihm beherrschen und lenken ließ, mußte sich der Vizekanzler hoffnungs- und wirkungslos verstricken und abnutzen. Er wurde in die innerpolitischen Kämpfe hineingezogen, die ihm von Haus aus gar nicht lagen. Er litt unter ihnen in vorderster Linie, weil er eben der Sprechminister war. Er litt an vorderster Stelle unter der verhängnisvollen Halbheit, daß man im Kriege nicht diktatorisch [562] regierte, daß man die Mitarbeit, richtiger gesagt das Mitreden des Reichstages unausgesetzt heranzog und doch nicht das Parlament im Reich und in Preußen mit der vollen Verantwortung belastete. Er wurde weiter in die Spannungen zwischen Kanzler und Heeresleitung hineingezogen, der er naturgemäß sozusagen als der "Junge Mann" des Kanzlers erscheinen mußte.

Er wurde schließlich auch, als Staatssekretär des Innern, tief in die auswärtige Politik hineingezogen. Er hatte, was Herr von Bethmann nicht besaß, Kenntnis des Auslandes, Erfahrungen in der Arbeit mit dem Auslande. So wurde er geradezu ein Exponent dessen, was Herr von Bethmann auswärtige Politik des Deutschen Reiches nannte. Das wieder zog die starke Opposition gegen den Kanzler auch auf Helfferich. Jeder, der diese Jahre miterlebt hat, erinnert sich daran, wie Helfferich als ein Führer der sogenannten westlichen Orientierung galt, der Verständigung mit England, und als Gegner der Einsetzung des letzten Kampfmittels, des U-Boot-Krieges. Das letztere war er auch und ist er geblieben. Er glaubte nicht an die entscheidende Wirkung des U-Boot-Krieges im Kampf gegen England. Er sagte im Streit darum im Herbst 1916 brüsk und scharf heraus, es war im Hauptausschuß des Reichstages: "Wenn die Karte des rücksichtslosen U-Boot-Krieges ausgespielt wird und sie sticht nicht, dann sind wir verloren, dann sind wir auf Jahrhunderte hinaus verloren!" Als dann gegen sein Votum bis zum letzten im Großen Hauptquartier in Pleß am 9. Januar 1917 der uneingeschränkte U-Boot-Krieg doch beschlossen wurde, ist er im Amt geblieben. Im Augenblick einer schwerwiegenden Entscheidung aus dem Amt scheiden und vor der ganzen Welt mit dem Urteil eines der schärfsten und klügsten Köpfe der Reichsregierung von vornherein den U-Boot-Krieg diskreditieren – das war unmöglich. Das erfaßte Helfferich sofort, danach handelte er, deshalb blieb er. Vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstages und noch eindruckvoller vor dem Reichstag selbst (am 23. Juni 1922) setzte er dies auseinander, gegen die immer sich erneuernden Angriffe mit einer so erschütternden männlichen Offenheit, daß der Ausbruch und die Wucht der sittlichen Persönlichkeit auch auf die Gegner tiefen Eindruck machte. Es war einer der größten Tage in seiner parlamentarischen Tätigkeit und nicht etwa als rednerischer Erfolg, sondern als Wirkung des Mannes, der in schweren inneren Kämpfen, das Vaterland über alles stellend, sich den Entschluß abgerungen hatte.

Die Frage bleibe offen, inwieweit ihn die Bindung an Herrn von Bethmann davon abgehalten hat, sich überhaupt eine politische Konzeption vom Kriege im Zusammenhang zu machen. Genug: die Verdienste, die sich Helfferich als Innensekretär erworben hat, sind sehr groß – man denke auch an seinen Kampf gegen die schädlichen Seiten und Folgen des Hilfsdienstgesetzes von 1916! Aber: wenn Helfferich Bethmanns Aufforderung abgelehnt hätte, wenn er mit alleiniger Verantwortlichkeit an die Spitze gekommen wäre zu anderer oder späterer Gelegenheit, wäre das nicht besser gewesen?

[563] So war es für ihn ein Glück, daß er mit der Annahme des Kanzleramtes durch den Grafen Hertling zurücktrat, der vorwärtsdrängenden parlamentarischen Strömung, der Strömung, vom Reichstag her auf die Führung einzuwirken, geopfert wurde. Seitdem war er im letzten Jahre des Krieges trotz gelegentlicher anderer Verwendung "kaltgestellt". Er konnte nichts aufhaltend oder rettend tun, als der Wagen dem Abgrunde zurollte. Mit leidenschaftlichem Schmerz begleitete er die einzelnen Phasen, besonders in den letzten Monaten. Aber für ihn war es ein Segen und eine Bürgschaft für die Wirkung später, daß er nicht an entscheidender Stelle in die letzten Kämpfe und Dinge verwickelt war. Ihn traf nichts an Schuld oder Verantwortung für den Zusammenbruch. So wurde ihm nach dem Zusammenbruch die Bahn schnell wieder frei für ein großes, neues Wirken, für die größte Zeit seines Lebens, Arbeitens und Kämpfens überhaupt.

Daß Helfferich zur Revolution, zum Frieden von Versailles, zur daraus folgenden neuen Gestaltung der deutschen Staats- und Regierungsform nur in schärfste Opposition treten konnte, war ihm selbstverständlich, wobei ihm die Gegnerschaft gegen Versailles weitaus an erster Stelle stand. Vom ersten Augenblick an kämpfte er gegen die Kriegsschuldlüge, für die Befreiung von Versailles und die Revision des Vertrages: im Auftreten vor dem Untersuchungsausschuß, im Kampf gegen Erzberger, den er unter dem Gesichtspunkt der Reinlichkeit und Sauberkeit im öffentlichen Leben leidenschaftlich, aber im Grunde unpersönlich, sachlich führte. Schnell rückte er in der wogenden und aufgeregten Zeit, in der alles nach Führern Umschau hielt, wieder in die erste Reihe.

Er schloß sich der Deutschnationalen Volkspartei an, die die verschiedenen Gruppen auf der Rechten zur nationalen Opposition auf der Grundlage eines positiven nationalen, sozialen und christlichen Programms zusammenfaßte. An der Gründung der Partei ist er nicht beteiligt gewesen. Erst Ende des Winters 1919/1920 trat er ihr nahe. Aber schon 1920, im Wahlkampf nach dem Kapp-Putsch, rissen sich die Wahlkreise um ihn als einen der schlagkräftigsten und wirksamsten Redner und Kämpfer. Drei Wahlkreise stellten ihn auf. Für Hessen-Nassau trat er in den neuen Reichstag, den ersten der Republik, ein und wurde in ihm sofort eine der ersten und führenden Figuren.

Die Deutschnationale Partei war nicht einfach die Fortsetzung der alten Konservativen Partei, wenn auch ein ganz Teil der alten konservativen Politiker und ihrer Gedanken in sie eingegangen waren. Indes: in jedem Falle stand sie rechts. Wie kam Helfferich dazu, sich ihr anzuschließen? Nach seiner politischen Grundhaltung gehörte er nicht zu den Konservativen, weder im alten noch im neuen Sinne. Aber er war überhaupt nie ein Parteimann, wollte keiner sein, ist auch keiner geworden. So leidenschaftlich er in den Reihen der Deutschnationalen focht, für ihre Sache und ihre Gedanken, so sehr die Gegner darum gegen ihn anliefen, Parteiauseinandersetzung im üblichen Sinne ist das bei Helfferich nie gewesen. Dazu war und blieb er viel zu frei und zu selbständig. [564] Auf die Partei kam es ihm nur an, weil ein Organ nötig war, durch das für seine Ziele zu wirken war. Da sah er vor sich die, die er dafür verantwortlich machte, die Deutschland regierten, die den Frieden von Versailles unterschrieben, die, wie das resignierte Wort eines der damaligen Regierungsführer lautete, mit der Unterschrift nun "den vierzigjährigen Marsch durch die Wüste" antreten wollten, den Marsch nämlich der Erfüllung der Friedensbedingungen. Er sah vor sich die Fesseln des Vertrages, das Parteigezänk, die parlamentarische Wirtschaft, das demokratische Regierungssystem, das er ablehnte, die marxistische Linke und die marxistische Gefahr, die er noch schärfer bekämpfte. Dagegen bäumte sich alles in ihm elementar auf. Dagegen wandte sich eben geradezu die "Besessenheit" in ihm für ein freies, ein unabhängiges, ein starkes, ein gleichberechtigtes Deutschland.

Er blieb Monarchist, aber diese Frage war für ihn nicht aktuell. Er war ein Gegner der Staatsform von Weimar, aber er nutzte diese, wie sie einmal da war, in der Opposition für seine Kämpfe um die Revision des Versailler Vertrages und die Freiheit. Und dazu bot sich ihm die Partei, die die Rechte bildete und die sich unter der Fahne des Kampfes gegen den Friedensvertrag und für Deutschlands Freiheit und Gleichberechtigung gesammelt hatte. Wenn er es aus persönlichem Ehrgeiz gewollt hätte, er hätte leicht zum Leiter der Partei aufsteigen können. Das aber kümmerte ihn nicht. Mitglied des Parteivorstandes war er wie zahlreiche andere. Er hatte keine bestimmte Gruppe, wie etwa die Christlich-Sozialen oder die Landbündler, hinter sich. Aber von selbst kam die Führung da in seine Hand, wo er es wollte, und er wollte es nach dem sachlichen Gesichtspunkte, nach dem einen Leitgedanken, der ihn trug und seine Befähigung aufs höchste entwickelte.

Ohne daß er die schmerzlich tiefgreifenden Fragen der neuen Grenzziehungen mit ihren Verlusten, Abstimmungen und Kämpfen gering schätzte oder gar über die Fesselung der deutschen Wehrhoheit hinweggesehen hätte – das Nächste, worum zu kämpfen war, war die unsinnige Belastung unseres Vaterlandes mit den Kriegskosten, der Kriegsentschädigung, für die der Lügenname der "Reparation" erfunden wurde. Worum und warum hat er den Kampf in der Reparationsfrage gekämpft, in dem er jahrelang im Reichstag einfach führend war? Auch der Gegner mußte zugeben, daß lange Zeit hindurch der ganze Reichstag und damit die öffentliche Meinung überhaupt von Helfferichs eindringender Behandlung dieser Frage geradezu lebten. Man braucht nur an die zahlreichen Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses 1920 bis 1923 zu denken und Helfferichs Reden darin, wie, ohne daß er es selbst wollte, er ganz von selbst nach der Eröffnung durch den Minister die Diskussion begann und führte, ausgerüstet wie keiner sonst zur Behandlung dieser Frage. Er wußte, daß ein Mehr oder Weniger an wirtschaftlichem Reichtum für ein Volk und einen Staat nicht viel bedeutet. Aber er nahm den Kampf auf, weil die Fesselung durch die Reparationslast, die alle Lebenskräfte [565] aus Deutschland herauszog, nicht nur im Augenblick, sondern auf unabsehbare Jahre den Staat als solchen ohnmächtig und unfrei machte, ihn auch der Gefahr aussetzen mußte, mit dem materiellen Verlust, mit dem Blutverlust überhaupt die Möglichkeit zu Wiederaufstieg und Freiheit völlig zu verlieren. Das war der große Hintergrund seiner Kämpfe. Darum wehte aus seinen Reden, in denen die Zahlen bataillonsweise aufmarschierten und kritisch beleuchtet wurden, der befreiende Luftzug eines mächtigen, vom Staatsbewußtsein getragenen Freiheitswillens.

Hörte man ihn so, dann konnte man glauben, daß seine Stärke nur in der Kritik, in der Negation, im Angriff läge. Oft wurde ihm das auch entgegengehalten: er möge sagen, wie es besser und anders zu machen sei. Aber man brauchte dann nur seine Reden zu hören zum Etat, zur Gestaltung der Finanzen und Steuern, dann zur Währungsfrage, brauchte nur an seiner eindringenden Sachmitarbeit im Auswärtigen Ausschuß und in der Budgetkommission teilzunehmen. Alle spürten, wie bereit er zur Mitarbeit war, zum positiven Mithelfen, wie schnell er aus dem schärfsten polemischen Zusammenstoß mit dem Gegner zur Mitarbeit an irgendeiner Formulierung, einem Antrag überging und damit dann sofort auch wieder die Gegner mindestens zum Respekt zwang. So wirkte er übrigens auch auf seine Fraktion, ohne zu schulmeistern und ohne das Übergewicht seiner Persönlichkeit fühlen zu lassen, höchst erziehlich ein. Wobei ihm eine Eigenschaft zugute kam, die der parlamentarische Politiker im allgemeinen nicht hatte. Der geniale und dabei im höchsten Maße kritisch veranlagte Führer, dem es durchaus nicht an Selbstbewußtsein fehlte, bewies stets Achtung vor Meinung und Überzeugung des anderen. Die Rücksicht, die der kampfesfrohe, in der öffentlichen Diskussion vorwärtsstürmende und zuschlagende Mann im persönlichen Verkehr, im Gespräch mit dem anderen, gegen dessen Meinungen und Überzeugungen übte, war oft geradezu zart und rührend.

Aber natürlich, vorerst und vor allem war er der Vertreter der nationalen Opposition, der er die schärfsten und geschliffensten Waffen lieferte, und er war einer der ersten, in vielen zentralen Fragen der führende Vertreter der Opposition. Das konnte gar nicht anders sein. Positiven Einfluß im politischen Sinne hat er üben können, als das Kabinett Cuno-Rosenberg im Amte war. Er ist mit seinem Rat – dem Kabinett selbst gehörte er nicht an – sehr gewichtig mittätig gewesen. Er war mit dem Diplomaten, der damals Außenminister war, Herrn von Rosenberg, eng befreundet. Er hat mit aller Wärme sowohl das Zustandekommen dieser Regierung begrüßt wie den Entschluß, sich mit den Mitteln des passiven Widerstandes gegen den Bruch des Versailler Vertrages durch Poincaré im Ruhrgebiet zur Wehr zu setzen. Er hat gerade hinter diese Politik des Widerstandes im Ruhrkampf die ganze Wucht seiner Persönlichkeit gestellt. Aber verantwortlich für die Führung der Geschäfte in dieser Regierung, wie man öfter behauptete, war er nicht, konnte er gar nicht sein. Jedermann, der in diesen Monaten mitgearbeitet hat, [566] weiß, wie die Position des Kabinetts Cuno gegenüber dem Reichstag war, wie die Machtverhältnisse lagen, wie wenig entschieden im Grunde der Einfluß der Deutschnationalen und damit ihres Exponenten Helfferich in den Reichsgeschäften trotz allem damals wirken konnte.

Der Kampf um die Reparation und um die Ruhr, in dem Helfferich leidenschaftlich gegen das Unrecht für die nationale Selbsthilfe stritt, hatte Deutschland in die Inflation in größtem Ausmaß hineingerissen. Aus dieser Not schrie alles, suchte alles nach einem Ausweg. Gar manche sind auf die Vorschläge gekommen, die dann verwirklicht worden sind: die Rückkehr zum Gold, die Stabilisierung der Mark. Die Praxis griff in der Not ja von selbst schon zu derartigen Lösungsversuchen. Hinterher, als die Rentenmark da war, segensreich wirkte, das Werk schließlich mit der Stabilisierung abgeschlossen werden konnte, da wurde es auch ein Stück des politischen Streites, wem das Verdienst daran zuzuschreiben sei. Im Reichstagswahlkampf Frühjahr 1924 gehörte es zum selbstverständlichen Inventar des Versammlungsverlaufs, daß der Gegner Helfferichs Verdienst daran bestritt und der Anhänger es energisch für ihn in Anspruch nahm und den Dank des Volkes für diese wahrhaft rettende Tat.

Diesen Dank war ihm auch das deutsche Volk schuldig. In der stillen Bergeinsamkeit des Engadins machte er den Entwurf für eine Festigung der heillos zerrütteten deutschen Währung. Gewiß, er stellte ihn ab auf den Roggen, einfach weil Gold dafür nicht genug da war, aber nach seinem eigenen Wort war das von ihm nur als "Notbrücke" gemeint. Für das Endgültige dachte er von vornherein an die Goldwährung – entsprechend seinem ganzen Denken in dieser Frage –, wie er es gleichzeitig in der sechsten Auflage seines Buches vom Gelde (das Vorwort ist vom Mai 1923 datiert) ausgesprochen hatte: "So bleibt einem Lande in unserer Lage – es mag phantasielos klingen, aber es ist das Ergebnis unerbittlicher Logik –, abgesehen von kleinen Notbehelfen, nur die Arbeit an der Wiederherstellung der Goldbasis für seine Währung." Was er danach und demgemäß, auf der Höhe der Krisis – es war in der Woche zwischen dem 12. und 18. August 1923 – der Deutschnationalen Fraktion dazu vortrug, das war nicht eine allgemeine Rede über die Inflation und die Aufforderung an die Regierung, das Übel abzustellen. Es war eine messerscharfe und meisterhafte Analyse des Währungsverfalls, unbarmherzig klar und erstaunlich sicher in den Voraussagen, getragen von stärkster Kenntnis und noch mehr von einer sehr festen, bestimmten und klaren Auffassung, was dabei wesentlich war und was anders werden sollte und wie es anders werden sollte. Schon in dieser Beherrschung der Materie, in der doch alles unsicher geworden war, wie alle überlieferten Begriffe und Lehren von Gold und Geld, von Währung und so weiter, konnten sich wenige mit ihm messen. Keiner aber konnte das, was dem folgte und was bei den Hörern durchschlug als Eindruck eines genialen Vorstoßes zur Tat. Er legte den bis ins einzelne durchdachten und ausgearbeiteten Gesetzesentwurf in Paragraphen vor, der überhaupt [567] das Ganze erst faßbar, real machte, in den Bereich der Möglichkeit rückte, wenn der Entschluß dazu überhaupt gefunden wurde. Das ist und das bleibt sein einzigartiges Verdienst an der Rettung aus dem Währungselend. Die späteren Änderungen an seinem Entwurf berühren nichts Grundlegendes. So ist er in Wahrheit der Schöpfer der Rentenmark geworden.

Und diesen Entwurf stellte er, der Oppositionsführer, mit Zustimmung seiner Partei der Regierung zur Verfügung. Die lehnte ihn ab. Erst der Finanzminister Luther führte dann das Werk zu Ende, und dieser hat Helfferichs Bedeutung und Verdienstanteil an dem Werk stets mit aller Offenheit anerkannt.

Alle diese Kämpfe und Arbeiten, neben denen der notgedrungene Streit mit den persönlichen Angriffen und Anwürfen der Gegner einherlief, hatten ihn müde und mürbe gemacht. Im Winter 1923/1924 mußte er nach Vorschrift des Arztes im Süden Erholung und Kur suchen und der Arbeit daheim fehlen. Aber das alte Feuer brannte in ihm um so stärker, je höher die Auseinandersetzung um das Eintreten der Vereinigten Staaten in die Repararionsfrage und um den daraus erwachsenden sogenannten Dawes-Plan stieg, die Auseinandersetzung, die zugleich Gegenstand des Reichstagswahlkampfes im Frühjahr 1924 wurde.

Aller Wahrscheinlichkeit nach mußte der Ausfall dieser Wahl der Partei Helfferichs eine große Verstärkung bringen, mußte sie damit auch – darüber war er sich ganz klar – entscheidend vor die Frage stellen, ob sie bereit sein würde, nach der parlamentarischen Situation in einer Koalition mit den anderen bürgerlichen Parteien an der Regierung teilzunehmen. Helfferich bejahte diese Frage. Das Wesen einer Partei sah er im Streben nach Macht. Nach seiner Meinung mußte seine Partei zur entscheidenden Einflußnahme auf die Reichsgeschicke streben, und wenn ihr dabei der ihr zukommende Einfluß gesichert war, war er bereit zur Mitarbeit. In ihr hätte er sicherlich eine der ersten Stellen eingenommen: ob als Kanzler, als Außenminister, als Wirtschaftsminister, das stand dahin und kam auch erst in zweiter Reihe.

Das war die Aussicht, die in jenem Frühjahr vor seiner Partei und vor ihm selbst stand. Wie er sich dabei den Weg im einzelnen taktisch, im Kampf um den sogenannten Dawes-Bericht dachte, darüber hat er sich wohl zu niemand ausgesprochen. Wenigstens sind Äußerungen von ihm dazu nicht in Erinnerung, und es war zu Beginn des Wahlkampfes dazu auch noch zu früh. Auf diesen galt es sich zu rüsten, sich und seine Parteifreunde. Alles tat er dazu. Alles war bereit zum Start, der Redeplan für die letzte Phase des Kampfes festgelegt, in dem natürlich alles in der Partei vor anderen diesen Redner haben wollte. Er schied von der Stätte stiller Erholung in Stresa, gegen den Willen des Arztes, aus dem Kreis der Angehörigen, von der Frau, die er erst vier Jahre vorher gewonnen hatte und mit der ihn tiefste und innigste Kameradschaft verband. Er schied zusammen mit der Mutter, an der er in warmer Liebe hing, fuhr weg von Stresa und fand wenige Stunden [568] darauf – es war am 23. April 1924 – den Tod bei einem Eisenbahnunglück in der Nähe von Bellinzona. Ein noch nicht zweiundfünfzig Jahre langes Leben hatte im Flammenmeer der Explosion sein Ende gefunden, in unfaßbarer Tragik, noch ehe es die letzte und größte Probe hatte ablegen können, noch ehe die Geschichte ein letztes und endgültiges Urteil über seine Leistung hatte gewinnen können, zu der Wesen und Anlage und Lebensgang ihn befähigten.

Unfruchtbar aber war dies Leben bis dahin wahrhaftig nicht gewesen. Trotz aller Vielseitigkeit der Anlagen und Betätigung war es nicht zersplittert worden. Die großen Anlagen des kritischen Verstandes, der theoretischen Forschung, des starken Gedächtnisses, der erstaunlichen Arbeitskraft waren – das schlummerte doch von früh in ihm – zusammengefaßt durch den Drang zur Tat, zur Praxis, zum Handeln, zum Kampf. Darein trieb ein leidenschaftliches, oft aufbrausendes Temperament, eine "tätige Unruhe", die ihn nie stillsitzen ließ oder gar sich zu "verliegen" gestattete, die ihn immer unter Dampf hielt, immer bereit, aufzufahren, dem Gegner an die Gurgel zu springen, die ihm oft genug etwas Sprunghaftes gab, nicht nur im täglichen Kampf des Wortes und der Feder, sondern auch in den Entschlüssen über Taktik und Richtung und Weg, bis zur Überschnelle und zur Übereilung.

Aber es war nicht das Temperament des Fechters oder gar des Klopffechters, es war das Temperament des Helden. Jenes "Lebe gefährlich" Mussolinis stand auch über Helfferichs Dasein. Gebändigt und immer auf das Beherrschende gerichtet wurde alles durch die Liebe zum Vaterland und durch einen Begriff der nationalen Pflichterfüllung, einer Verpflichtung zur Arbeit für den Staat, dem alles andere untergeordnet blieb und der auch den starken Ehrgeiz in ihm immer auf dem rechten Wege hielt. Getragen wurde alles und bestimmt durch einen unwandelhaft lauteren Charakter. Kein Spritzer von Unsauberkeit oder Untreue war an dieser Gestalt. Sittlich rein und treu im tiefsten, bei allem Wandel der Verhältnisse und der Meinungen, ist er gewesen, treu gegen die Menschen und treu gegen die Sache – nur die, nicht allzu viele, die ihn wirklich näher kannten, wußten auch diese sittliche Größe seiner Persönlichkeit ganz zu werten.

Karl Helfferich.
Karl Helfferich,
Bildnis von Otto Seeck.
[Nach Staatsbibliothek Berlin.]
Ist eine Leistung von ihm geblieben, die Anspruch auf dauerndes Gedächtnis hätte? Dieser biographische Versuch hat wohl die Antwort darauf gegeben. Man wird bei ihm, bei aller Verschiedenheit der Figuren, an Namen erinnert wie Colbert oder Witte, oder aus der preußischen Geschichte an Miquel, und dann wieder an ganz andere große Namen der deutschen Geschichte: an Pufendorf oder auch – an den hat er selbst manchmal mit Zitaten erinnert, dem sich wohl auch verwandt gefühlt – an Ulrich von Hutten. Das, dieses sich selbst verzehrende, leidenschaftliche nationale Pathos, das aber vom nationalen Ethos gebändigt und getragen war in voller Reinheit und Kraft, das erhält die Gestalt lebendig, erhält sie den folgenden Generationen als Vorbild, wenn sonst alles vergessen ist, was ihn ausfüllte, wofür er stritt und was ihn umtobte. Die einfachen und starken Antriebe [569] der vaterländischen Pflichterfüllung für den Staat, in Kampf und Einsatz der eigenen Persönlichkeit, in einer Verantwortung, die als sittliche Pflicht ganz instinktiv und selbstverständlich empfunden wurde, das, was im Leben dem Redenden und Kämpfenden und Handelnden bei Freund und Feind sofort die Aufmerksamkeit erzwang, was wie ein Fluidum von ihm ausging zu denen, zu denen er sprach und mit denen er arbeitete – das ist das Unverlierbare im Gedächtnis an ihn, und das ist zugleich die Brücke, die den Mann der Vergangenheit mit der Gegenwart und auch der Zukunft verbindet. So gehört auch er zu dem großen Erbgut, das die Geschichte unserem Volk überliefert hat und das es sich im Gedächtnis an seine großen Führer wahren muß für seine Zukunft.




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz