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III. Die Kolonialfrage als Wirtschaftsfrage

Seit dem 16. Juni 1919, an dem die Alliierten und Assoziierten Mächte die koloniale Schuldlüge dokumentarisch vor der Welt festlegten, haben sich die Anschauungen eben dieser Welt, soweit sie objektiv zu denken vermag und guten Willens dazu ist, über die Berechtigung der gegen Deutschland erhobenen Anschuldigungen geändert. Es sind seit Kriegsende zu viele Siegel von Geheimarchiven und Aktenschränken gerissen, zu viele Beobachtungen Unbeeinflußter bekannt geworden, als daß noch alles geglaubt würde, was damals ohne Widerspruch behauptet werden durfte. Selbst im Lager unserer erbittertsten Gegner, in Frankreich, werden heute Stimmen laut, die sich gegen die unserer Ohnmacht abgepreßte Anerkennung der deutschen Alleinschuld und der darauf aufgebauten schmählichen Bedingungen wenden. So veröffentlichte – was ein Jahr früher noch undenkbar gewesen wäre – Victor Margueritte in der Pariser Ere Nouvelle vom 9. Juli 1925 einen von 102 französischen Schriftstellern, Gelehrten, Politikern und Militärs unterzeichneten "Aufruf an das Gewissen", der sich gegen die Behauptung von der einseitigen Kriegsschuld Deutschlands wendet und die Aufhebung der Artikel 231, 227 und 230 des Versailler Spruchs fordert, die die Anerkennung der Kriegsschuld und die Sanktionen betreffen. Und aus den Berichten der Mandatarstaaten über unseren ehemaligen Kolonialbesitz, mit denen wir uns in einem späteren Abschnitt zu beschäftigen haben werden, ergibt sich mit großer Deutlichkeit, wie wenig begründet die Vorwürfe im besonderen gegen unsere kolonisatorische Tätigkeit waren. Noch immer aber geben die auf jene Behauptungen gegründeten Bestimmungen die Richtschnur für die Behandlung ab, die man uns angedeihen läßt. Es gilt daher, die Erkenntnis des wahren Sachverhalts in der Welt mit allen Mitteln zu fördern. Dies verstehen wir unter dem Kampf gegen die koloniale Schuldlüge. Wir führen ihn im Namen der Gerechtigkeit und erheben auf Grund unseres beweisbaren moralischen Rechts den Anspruch, zurückzuerhalten, was Willkür und Ausnutzung unserer Ohnmacht uns genommen haben.

Indessen ist die Kolonialfrage für uns nicht etwa schlechthin eine Prestigefrage. Sie ist für Deutschland im Kern eine Wirtschaftsfrage.

[31] Zwischen dem Erwerb unserer Kolonien und ihrem Verlust liegt die nicht zuletzt durch den starken Bevölkerungszuwachs bewirkte Umwandlung Deutschlands vom vorwiegend agrarischen Staat zum Industriestaat, der zur Erhaltung seiner wachsenden Einwohnerzahl in immer stärkerem Maße auf den Bezug von Rohstoffen angewiesen wurde, die die Heimat nicht zu liefern vermochte. Aus diesem Grunde mußte schon in der Vorkriegszeit, um nicht gänzlich von fremden Rohstofflieferanten abhängig zu sein, notwendigerweise eine Ergänzung der deutschen Wirtschaft durch eigene Rohstoffquellen angestrebt werden. Es ist, wie weiter unten näher dargelegt werden wird, nicht zu erwarten, daß diese wirtschaftliche Entwicklung in irgendwie absehbarer Zeit sich rückläufig gestalten kann. Wohl haben sich in der Nachkriegszeit Umschichtungen innerhalb der deutschen Wirtschaftsorganisation vollzogen. Gewisse Industriezweige haben an Bedeutung verloren, andere, auch handwerklich organisierte, Erwerbszweige sind stärker in den Vordergrund getreten. Das bedeutet indessen im wesentlichen nur eine Veränderung in sich, nicht eine grundsätzliche Umstellung. Ein Neu-Deutschland von Ackerbürgern mit geringen Bedürfnissen kann es ebensowenig geben, wie es weltwirtschaftlich denkbar ist, die deutsche Industrie etwa lediglich, soweit sie nicht aus einheimischen Rohstoffquellen schöpfen kann, zu einer für fremde Rechnung arbeitenden Lohnindustrie umzugestalten, der die Rohstoffe zur Weiterverarbeitung geliefert werden. Bleibt aber die wirtschaftliche Struktur Deutschlands, wie sie vor Kriegsausbruch vorhanden war, in ihren Grundzügen bestehen, so bleiben es auch die Voraussetzungen, die zur Sicherung ihres Bestehens erfüllt werden müssen. Zu ihnen aber gehört eben vornehmlich die unbehinderte Verfügung über Rohstoffquellen, teils um die Industrie zu speisen, teils um die Bevölkerung zu ernähren.

Wenn wir sagten, daß die starke Steigerung der Bevölkerung, die auf gleicher Bodenfläche ihr Auskommen finden mußte, die Haupttriebkraft für die industrielle Entwicklung Deutschlands gewesen ist, so gilt natürlich auch, daß umgekehrt diese Bevölkerungszunahme wiederum durch die Industrie begünstigt worden ist. Es steht außer Frage, daß Deutschland durch seine Industrialisierung vor dem Kriege von Jahr zu Jahr wohlhabender wurde, daß die Lebensverhältnisse seiner Einwohner sich ständig besserten, daß ihre Lebenshaltung sich hob, und daß diese Umstände selbstverständlich die Bevölkerungszunahme von sich aus förderten. Wir sehen indessen davon ab, diese Wechselwirkungen hier eingehender darzulegen und beschränken uns auf die Betrachtung ihrer Auswirkung. [32] Folgende Zahlen, die die Ergebnisse der jeweiligen Volkszählungen sind, kennzeichnen das Bevölkerungswachstum vor dem Kriege. Es wurden jeweils gezählt:

1875 ..... 42,7 Millionen Einwohner     1895 ..... 52,3 Millionen Einwohner
1880 ..... 45,2 " "   1900 ..... 56,4 " "
1885 ..... 46,9 " "   1905 ..... 60,6 " "
1890 ..... 49,4 " "   1910 ..... 64,9 " "

Auch in der Folgezeit hat die Bevölkerungszahl nicht stillgestanden. Auf dem Gebiet des jetzigen Deutschen Reichs – jedoch ohne das Saargebiet, in dem 1919 und 1925 nicht mehr gezählt werden konnte – lebten nach den Volkszählungen von

1910 ..... 57,8 Millionen Einwohner
1919 ..... 59,2 " "
1925 ..... 62,5 " "

Rechnet man die Bevölkerung des nach wie vor zum Deutschen Reich gehörenden, wenn auch auf 15 Jahre seiner Oberhoheit entzogenen Saargebiets, die nach einer Zählung des dortigen Statistischen Amtes am 6. April 1922 713 105 Köpfe betrug, hinzu, so kommt man auf eine deutsche Gesamtbevölkerung von zur Zeit 63,2 Millionen. Trotz der Kriegsverluste an Menschen (2 Millionen), an Blockadeopfern (¾ Millionen) und an Geburtenausfall infolge des Krieges (2½ Millionen), und obwohl Deutschland durch den Versailler Spruch mehr als 70 000 qkm oder 13 v. H. seiner Gesamtfläche mit rund 6½ Millionen Einwohnern oder 10 v. H. seiner Gesamtbevölkerung einbüßte, hat das heutige kleinere Deutschland – wenn auch in anderem Altersaufbau – bereits wieder nicht viel weniger Menschen zu ernähren als das alte Reich im Jahre 1910, ungefähr ebensoviel wie nach dem Ergebnis der Fortschreibung etwa Ende 1908. Schon vor dem Kriege hatte die Bevölkerung immer enger zusammenrücken und immer größere Ansprüche an die Intensität der deutschen Wirtschaft stellen müssen. Da der Versailler Spruch uns gerade der landwirtschaftlichen, verhältnismäßig dünn bevölkerten östlichen Landesteile beraubte, verengerte sich die Ellenbogenfreiheit in der Nachkriegszeit um so mehr. Auf 1 qkm Fläche entfielen:

Im Deutschen Reich
früheren Umfangs
1875 ..... 79 Einwohner
1880 ..... 84 "
1885 ..... 87 "
1890 ..... 91 "
1895 ..... 97 "
1900 ..... 103 "
1905 ..... 112 "
1910 ..... 120 "
[33]
Im Deutschen Reich
jetzigen Umfangs
ohne Saargebiet
1910 ..... 123 Einwohner
1919 ..... 126 "
1925 ..... 133 "

Die Umschichtung der Erwerbsverhältnisse der rasch wachsenden Bevölkerung vollzog sich vor dem Kriege unter dem Druck dieses Wachstums außerordentlich schnell. Nach den drei großen Berufszählungen vor dem Kriege verteilten sich, auf das alte Reichsgebiet bezogen, die Berufszugehörigen, das sind die Erwerbstätigen einschließlich ihrer Familienangehörigen – soweit diese nicht anderweitig berufstätig waren – und Dienstboten, auf die Hauptberufsarten folgendermaßen:


Jahr      Land- und Forst-  
wirtschaft
  Industrie und  
Bergbau
  Handel und  
Verkehr
  Sonstige Berufe  

über-
haupt
Mill.
v.H. der
Gesamt-
bevölke-
rung
über-
haupt
Mill.
v.H. der
Gesamt-
bevölke-
rung
über-
haupt
Mill.
v.H. der
Gesamt-
bevölke-
rung
über-
haupt
Mill.
v.H. der
Gesamt-
bevölke-
rung

1882 19,2 42,5 16,1 35,5 4,5 10,0 5,4 12,0
1895 18,5 35,7 20,3 39,1 6,0 11,5 7,0 13,7
1907 17.7 28,7 26,4 42,8 8,3 13,4 9,3 15,1

Die Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches hat sich danach in dem 25 Jahre umfassenden Zeitraum 1882 bis 1907 um 16½ Millionen oder 36,5 v. H. vermehrt. Dabei ist die landwirtschaftliche Bevölkerung um 1,5 Millionen oder 7,8 v. H. zurückgegangen, die industrielle um 10,3 Millionen oder 63,6 v. H. und die auf Handel und Verkehr entfallende um 3,8 Millionen oder 84,4 v. H. gestiegen. Im Jahre 1882 waren von 100 Personen im Reiche 42,5 der Landwirtschaft, 35,5 der Industrie, 10,0 dem Handel wirtschaftlich und sozial zuzurechnen. Die Landwirtschaft gewährte also damals noch mehr als zwei Fünfteln der Gesamtbevölkerung den Lebensunterhalt. Im Jahre 1907 dagegen entfielen von 100 Personen nur noch 28,7 auf die Landwirtschaft, indessen 42,8 auf die Industrie, 13,4 auf den Handel. Somit hatten Landwirtschaft und Industrie ihre Rollen in der Bedeutung für das deutsche Volksleben miteinander getauscht, und entsprechend diesem Entwicklungsgang hatte der Handel einen steigenden Anteil an der Gesamtbevölkerung gewonnen. Innerhalb des durch den Versailler Vertrag neu abgegrenzten deutschen Wirtschaftskörpers trat die Industriebevölkerung 1907 noch mehr in den Vordergrund, als es die letztgenannten Zahlen zeigen. Auf dem jetzigen Reichsgebiet lebten im Jahre 1907 nur [34] 55,5 Millionen Menschen. Von ihnen entfielen – in der gleichen Weise wie oben berufsmäßig gegliedert – auf:

Land- und Forstwirtschaft ....... 15,1 Millionen oder 27,1 v. H.
Industrie und Bergbau 24,4 " " 44,0 "
Handel und Verkehr 7,7 " " 13,8 "
Sonstige Berufe 8,3 " " 15,1 "

Wie sich die Entwicklung seit der letzten allgemeinen Feststellung der Berufsverhältnisse der deutschen Bevölkerung gestaltet hat, ist außerordentlich schwer zu sagen. Amtliche Schätzungen aus dem Anfang des Jahres 1924 sprechen sich dahin aus, daß die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft etwa der von 1907 entsprechen dürfte, während für Industrie und Bergbau eine Zunahme von etwa 20 v. H., für Handel und Verkehr eine wohl noch stärkere Vermehrung der Erwerbstätigen anzunehmen sei. Auf die Zahl der Berufszugehörigen lassen sich diese geschätzten Steigerungswerte infolge der veränderten Alters- und Familienstandsverhältnisse der Bevölkerung naturgemäß nicht übertragen. Ohne sich auf Zahlenwerte festzulegen, wird man indessen sagen können, daß die Entwicklung, die durch die Ergebnisse der drei letzten Berufszählungen vor dem Kriege gekennzeichnet wurde, nicht zum Stillstand gekommen ist. Der Anteil der Gesamtbevölkerung, die aus landwirtschaftlicher Eigenproduktion sich selbst zu ernähren und über ihren Eigenbedarf Nahrungsmittel und Rohstoffe zur Verfügung zu stellen vermag, ist heute fraglos geringer als vor dem Kriege. Dies um so mehr, als nach dem Versailler Spruch rund ein Siebentel (29 854 419 ha = 14,2 v. H.) der landwirtschaftlich benutzten Fläche des Deutschen Reiches abgetreten werden mußte. Noch mehr als früher sind Industrie und Handel die Erwerbsquellen der deutschen Bevölkerung geworden, zumal wenn berücksichtigt wird, daß auf sie bis auf einen sicher nicht großen Bruchteil auch die Schicht der berufslosen Selbständigen (Rentner, Pensionäre), die mit der steigenden Wohlhabenheit Deutschlands vor dem Kriege im Wachsen begriffen war, hingewiesen worden ist. Im Jahre 1882 entfielen auf diese Rentnerschicht 2,2 Millionen oder 5,0 v. H. der Gesamtbevölkerung, im Jahre 1907 bereits 5,2 Millionen oder 8,4 v. H. Die große Mehrzahl dieser inzwischen Verarmten hat wieder Eingang in das Berufsleben suchen müssen.

Einem Entente-Staatsmann wird das Wort zugeschrieben, es gäbe 20 Millionen Deutsche zu viel, und es ist von Feindesseite nichts unterlassen worden, um im Wege der Hungerblockade und mit anderen Mitteln das große Sterben über uns zu bringen. Der Lebens- [35] wille des deutschen Volkes hat das überstanden. Und wenn auch die Rate des Geburtenüberschusses gegenüber der Vorkriegszeit – wie übrigens in anderen Ländern auch – niedriger geworden ist, so ist doch noch, und wohl für lange Zeit, mit einem solchen Überschuß zu rechnen. Im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege nahm Deutschland jährlich um rund 800 000 Menschen zu. Im Durchschnitt des Jahrzehnts 1901 bis 1910 stellte sich, auf 1 000 Einwohner berechnet, der jährliche Geburten-Überschuß auf 14,3. Die gleiche Ziffer betrug 1911: 11,3; 1912: 12,7; 1913: 12,6. Überspringen wir die Kriegsjahre, so finden wir, auf den jeweiligen Gebietsumfang des Deutschen Reiches berechnet, für die späteren Jahre folgende Ziffern: 1919: 4,5; 1920: 10,8; 1921: 11,3; 1922: 8,5; 1923: 7,1; 1924: 8,2.1 Diese Ziffern täuschen insofern, als sie nur den verhältnismäßigen Geburtenüberschuß angeben, absolut betrug die natürliche Bevölkerungsvermehrung 1920: 666 358; 1921: 700 248; 1922: 518 617; 1923: 432 961; 1924: 508 878 Köpfe. In dieser Summe fehlt aus dem früher angegebenen Grunde seit 1921 das Saargebiet. Im Durchschnitt des letzten Jahrfünfts hatten wir also jährlich eine natürliche Bevölkerungsvermehrung von rund 560 000 Köpfen. Dieser Zuwachs ist entstanden aus einem stärkeren Sinken der Sterbeziffer gegenüber dem der Geburtenziffer, was wiederum zum Teil durch die gegen früher geänderte Altersgliederung der Bevölkerung bedingt war. Im Vergleich zur Vorkriegszeit treten die Altersklassen von 20 bis 40 Jahren mit an sich geringerer Sterblichkeit mehr hervor. Das wird sich später wieder ändern, und ob es gelingt, die allgemeine Sterblichkeit künftig weiter dauernd herabzudrücken, ist schwer zu sagen. Man kann auch nichts Sicheres darüber aussagen, ob die im Jahre 1924 beobachtete Hebung der Geburtenziffer zu einer dauernden werden wird, oder ob an ihre Stelle schon in näherer Zukunft ein weiteres Absinken der Gebürtigkeit treten wird. Wir wissen, daß bei dem Sinken der Geburtenziffer außer vielen anderen Gründen die wirtschaftliche Not und das Wohnungselend eine große Rolle spielen. Ist hier eine Besserung zu erzielen, so ist es nicht ausgeschlossen, daß sie sich auch in einer Vermehrung der Geburten ausdrückt. Vielleicht ist die höhere Geburtenzahl im Jahre 1924 schon dadurch herbeigeführt worden. Kurz und gut, es läßt sich [36] heute nicht mit Sicherheit voraussagen, wie die natürliche Bevölkerungsvermehrung sich künftig gestalten wird. Daß sie stark ansteigt, ist nicht gerade wahrscheinlich. Daß sie besonders schnell abnimmt, ist es ebensowenig. Wir müssen auf vorerst nicht absehbare Zeit hinaus noch immer mit einer natürlichen Vermehrung der deutschen Bevölkerung rechnen.

Noch viel weniger ist von einer Abwanderung Deutscher in das Ausland eine Dezimierung der deutschen Bevölkerung zu erwarten. Bekanntlich hatte Deutschland noch in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hohe Auswanderungszahlen aufzuweisen. Der Nahrungsmittelspielraum war eng geworden, die Industrie steckte, gemessen an der Zahl der versorgungsbedürftigen Arbeitsfähigen, noch in den Kinderschuhen, der Überschuß an Arbeitskräften konnte in der Heimat keine befriedigende Ausnutzung finden. So trieben Unternehmungslust und Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserung in noch unerschlossenen oder an Arbeitskräften armen Gebieten Hunderttausende über See.

Im Jahre 1881 verließen 220 902 Deutsche – das ist die Höchstzahl in einem Jahre, die fast fünf vom Tausend der damaligen Gesamtbevölkerung darstellt – vornehmlich aus ausgesprochen landwirtschaftlichen Gebieten (Westpreußen, Pommern, Posen) die Heimat. Diese Zahl ist in der Folgezeit im Zusammenhang mit dem steigenden Arbeiterbedarf der deutschen Industrie rasch gesunken. Sie betrug 1885: 110 119, 1890: 97 103, 1895: 37 498, 1900: 22 309, 1905: 28 075, 1910: 25 531 und im letzten Friedensjahr 1913: 25 843. In der Nachkriegszeit war das Ausland, abgesehen von wenigen Gebieten, der deutschen Auswanderung zunächst so gut wie völlig verschlossen. Wir finden demgemäß sehr niedrige Zahlen, die dann aber ziemlich schnell ansteigen. Die Zahl der Deutschen, die jährlich über See auswanderten, betrug:

1919 ......... 3 144     1923 ......... 115 416
1920 8 458   1924 58 328
1921 23 451   19252 62 643
1922 36 527

In schnellem Anstieg erreichte die Zahl der Deutschen, die die Heimat verließen, im Inflationsjahre 1923 eine Höhe, wie sie seit der ersten Hälfte der achtziger Jahre nicht mehr beobachtet worden war. Die Triebfeder zur Auswanderung war indessen jetzt nicht so sehr Unternehmungslust, sondern die fortschreitende und, wie es schien, [37] hoffnungslose Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands und damit breiter Schichten der Bevölkerung. Aber bereits das Jahr 1924 brachte einen Rückschlag. Wenn auch die mitgeteilte Zahl die Auswanderung – wegen Fehlens von Angaben für einige fremde Häfen – nicht restlos erfaßt und die Zahlen für 1925 auch noch nicht vollständig vorliegen, so ist doch an ihrem starken Sinken in den beiden letzten Jahren nicht zu zweifeln. Die Verringerung der amerikanischen Einwanderungsquote von 67 000 Deutschen für 1923/24 auf 51 000 Deutsche für 1924/25 kann diese Erscheinung allein nicht begründen; sie wird in der Hauptsache durch die Überwindung der schlimmsten innerpolitischen und wirtschaftlichen Zerrüttung der Heimat zu erklären sein.

Aber auch wenn dieser Rückgang der Auswanderung nur vorübergehend wäre, so muß es angesichts der früher mitgeteilten Zahlen über die natürliche Bevölkerungsvermehrung doch als ausgeschlossen gelten, daß in absehbarer Zeit der freiwillige Menschenabfluß aus der Heimat zu einer spürbaren Erweiterung des Nahrungsmittelspielraums für die Zurückbleibenden führen könnte. Überdies ist es fragwürdig, ob dies Ziel auf dem Wege der Auswanderung überhaupt erreicht werden kann. Wohl stammten im Jahre 1923 rund vier Zehntel der Abgewanderten aus der Industrie. Sonst aber stellten stets die landwirtschaftlichen Gebiete das Hauptkontingent zur Auswanderung. Das war auch 1924 bereits wieder der Fall. Während der Strom der Auswandernden aus der Industrie versiegte, floß er aus der Landwirtschaft mit nur wenig geminderter Stärke. Ein einseitiger Verlust landwirtschaftlicher Arbeitskräfte erheblichen Umfangs wäre indessen am wenigsten geeignet, unsere Lage zu bessern.

Aus dem bisher Erörterten ergibt sich somit für das Deutschland von heute das Bild eines dichter als je besiedelten Industriestaates, dessen Bevölkerung im weiteren Wachstum begriffen ist. Durch den Krieg verarmt, ist für sie die weitestmögliche Steigerung der Erzeugung verwertbarer Güter mehr noch als vor dem Kriege eine Lebensfrage. Die Vorbedingung dafür ist die Verfügung über Rohstoffe, sei es, um unmittelbar Industrieprodukte für den Eigenbedarf und – zur Bezahlung der fremden Rohstoffe – für die Ausfuhr zu erzeugen, sei es, um mittelbar durch Steigerung der landwirtschaft- [38] lichen Produktion der Ernährung der Bevölkerung die feste Grundlage zu geben.

Die Industrialisierung Deutschlands und ihr Einfluß auf die Lebenshaltung der Bevölkerung kommen in der Entwicklung des deutschen Außenhandels der Vorkriegszeit sinnfällig zum Ausdruck. Der gewaltig ansteigende Rohstoffbedarf führte von der Mitte der achtziger Jahre ab zu einer dauernden starken Steigerung der Einfuhr, die mit etwa einem Viertel bis einem Fünftel der gesamten deutschen Gütererzeugung bezahlt wurde. Während in der Zeit von 1872 bis 1885 der Wert des Außenhandels (Einfuhr + Ausfuhr) im großen und ganzen stabil blieb, stieg er von 5,89 Milliarden im letzteren Jahre auf 21,41 Milliarden im Jahre 1913. Er hat sich also in der Zeit von knapp drei Jahrzehnten, in der die deutsche Gesamtbevölkerung um rund 43 v. H. anwuchs, auf das reichlich Dreieinhalbfache erhöht. Damit war Deutschland, das mit dem Wert seines Handels in den achtziger Jahren hinter England, Amerika und Frankreich an vierter Stelle stand, an die zweite Stelle unter den Welthandelsmächten gerückt. Der Wert seines Außenhandels kam 1913 dem Englands (24,16 Milliarden M) bereits ziemlich nahe und hatte den Amerikas (17,67 Milliarden M) und Frankreichs (12,31 Milliarden M) weit hinter sich gelassen. Gleichzeitig – und das ist für unsere Betrachtung das wichtigste – hatten sich Ein- und Ausfuhr in ihrer Zusammensetzung wesentlich geändert, und zwar in ähnlicher Weise, wie sich die Zusammensetzung der erwerbtätigen Bevölkerung änderte.

Die nachstehende Übersicht zeigt diese Entwicklung in Milliarden M:


im
Jahre
Einfuhr Ausfuhr


ins-
gesamt
davon ins-
gesamt
davon


Rohstoffe
und
Halb-
fabrikate
Fabri-
kate
Nah-
rungs u.-
Genuß-
mittel
Rohstoffe
und
Halb-
fabrikate
Fabri-
kate
Nah-
rungs u.-
Genuß-
mittel

1885 2,98 1,20 0,83 0,89 2,91 0,53 1,80 0,53
1890 4,27 1,77 0,98 1,40 3,41 0,71 2,15 0,47
1895 4,25 1,81 0,93 1,39 3,42 0,72 2,18 0,42
1900 6,04 2,80 1,20 1,76 4,75 1,11 2,98 0,52
1905 7,44 3,46 1,33 2,34 5,84 1,40 3,82 0,51
1910 9,31 5,23 1,22 2,48 7,64 1,98 4,74 0,76
1911 10,01   5,42 1,29 2,99 8,22 2,09 5,22 0,80
1912 11,02   6,08 1,41 3,20 9,10 2,40 5,76 0,80
1913 11,21   6,24 1,48 3,05 10,20   2,66 6,40 1,04

[39] Was die Einfuhr anlangt, so ist die von Fabrikaten in dem fast dreißigjährigen Zeitraum ihrem Gesamtwert nach nur auf das Eindreiviertelfache gestiegen. Dagegen ist der Import an Rohstoffen und Halbfabrikaten auf reichlich das Fünffache angewachsen. Und im Zusammenhang mit der steigenden Vermehrung und dem wachsenden Wohlstand der Bevölkerung hat sich der Bezug von Nahrungs- und Genußmitteln aus fremden Produktionsquellen auf das Dreieinhalbfache erhöht.

Innerhalb der gesamten Ausfuhr hat sich die von Nahrungs- und Genußmitteln kaum verdoppelt. Dagegen ist die Ausfuhr von Fabrikaten auf das Dreieinhalbfache, die von Rohstoffen und Halbfabrikaten auf das Fünffache gestiegen; und zwar entfiel im Jahre 1913 vom Ausfuhrwert dieser Gruppe fast die Hälfte (1,12 Milliarden) allein auf Kohle und Koks (0,66 Milliarden) und Eisenhalbzeug (0,46 Milliarden).

Das Gesamtergebnis der eingetretenen Verschiebungen läßt sich aus folgenden Zahlen ablesen: Vom Gesamtwert des deutschen Außenhandels entfielen

bei der Einfuhr       bei der Ausfuhr
1885    1913 1885    1913
auf Rohstoffe und Halbfabrikate       40,3 v.H. 55,7 v.H. 18,2 v.H. 26,1 v.H.
" Fabrikate 27,9 " 13,2 " 61,9 " 62,7 "
" Nahrungs- und Genußmittel 29,9 " 27,2 " 18,2 " 10,2 "

Im Rahmen der Gesamteinfuhr war schließlich die Einfuhr von Rohstoffen und Halbfabrikaten beherrschend in den Vordergrund getreten, während die von Fabrikaten in ihrer relativen Bedeutung sehr stark eingebüßt hat. Der Anteil der Nahrungs- und Genußmittel an der Gesamteinfuhr ist fast unverändert geblieben, wenn sich auch die Zusammensetzung dieser Gruppe – wovon später noch gesprochen werden wird – stark geändert hat.

Bei der Ausfuhr hat sich der Anteil der Fertigfabrikate gegen früher noch etwas gesteigert. Wesentlich erhöht hat sich die Bedeutung der Rohstoff- und Halbfabrikatausfuhr, innerhalb welcher Kohle und Eisen die Hauptrolle spielen. Stark zurückgegangen ist der Ausfuhranteil, der auf Nahrungs- und Genußmittel entfällt.

Die Einfuhr und dementsprechend auch die Ausfuhr des Jahres 1913 entsprachen den Bedürfnissen eines Volkes von rund 66 Millionen Menschen und der wirtschaftlichen Struktur eines rasch zur Weltgeltung emporgestiegenen Industriestaates. Wir haben gesellen, daß Deutschlands heutige Bevölkerung noch dichter ge- [40] worden ist, als sie damals war, und daß seine wirtschaftliche Struktur sich nur insofern verändert hat, als die gewerbliche Betätigung noch mehr als früher in den Vordergrund getreten ist. Wie stellt sich dazu nun heute unser Güteraustausch mit dem Auslande?

Ehe wir das zahlenmäßig betrachten, müssen wir uns daran erinnern, daß Deutschland durch die Kriegswirtschaft nicht nur seiner Vorräte an irgendwie entbehrlichen Rohstoffen vollkommen entblößt worden ist, sondern daß tiefe Eingriffe selbst in den lebenden und arbeitenden Wirtschaftsapparat nicht umgangen werden konnten. Die Faust der Kriegswirtschaft griff bis in den Maschinensaal der Fabrik, aber auch bis in die Küche der Hausfrau und bis in den Kleiderschrank selbst des Minderbemittelten. Was irgendwie gegen unterwertigen Ersatz ausgewechselt werden konnte, wurde ausgewechselt und entschwand auf Nimmerwiedersehen aus dem Bereich der heimischen Wirtschaft. An irgendeinen auch nur annähernd vollständigen oder vollwertigen Ersatz war nicht zu denken. Als der Krieg zu Ende war, stand Deutschland wirklich nackt und bloß da, und auch die ersten Nachkriegsjahre deckten seine Blöße nicht. Ersatz und Rationierung herrschten weiter und züchteten einen ungeheuren Warenhunger. Eine völlig anormale Rohstoffnot auf allen Gebieten blieb auch dann noch bestehen, wenn, wie es sich ein unterlegenes Volk schließlich gefallen lassen mußte, alles irgendwie Entbehrliche auf der Bedarfsliste der heimischen Volkswirtschaft gestrichen wurde. Das muß bei der Bewertung der nachstehend gegebenen Zahlen berücksichtigt werden.

Vorweg muß noch darauf hingewiesen werden, daß es nur unvollkommen möglich ist, statistisch den Anschluß an die Nachweisungen der letzten Friedenszeit zu finden. Zunächst ist durch die internationale Übereinkunft, betreffend die Einrichtung einer internationalen Handelsstatistik, vom 31. Dezember 1913 eine in ihrer Zusammensetzung von der früheren etwas abweichende Gruppeneinteilung der Ein- und Ausfuhr nach Rohstoffen, Halbfabrikaten, Fabrikaten usw. zur Anwendung gekommen. Indessen sind die Abweichungen von der früheren nicht sehr erheblich und ließen sich durch Umrechnung der Zahlen von 1913 für unsere Betrachtung ausscheiden. Betrüblicher ist, daß die Zuverlässigkeit der deutschen Handelsstatistik an sich in der Nachkriegszeit erheblich gelitten hat. Das durch den Ruhreinbruch und die Ausschaltung der deutschen Verwaltung im besetzten Gebiet geschaffene Loch im Westen hat bis in den letzten Teil des Jahres 1924 hinein die lückenlose Erfassung von Ein- und Ausfuhr verhindert. Erst Ende Oktober 1924 ist dieser [41] Zustand durch Wiedereinsetzung der deutschen Verwaltung im besetzten Gebiet beendet worden. Der Vergleich mit 1913 wird ferner dadurch getrübt, daß in den damaligen Zahlen die auf die abgetretenen Gebiete entfallende Ein- und Ausfuhr von und nach dem Ausland mit enthalten ist, während gegenwärtig diese Gebiete für uns handelspolitisch zum Ausland gehören. Weiterhin fehlt in den Ausfuhrnachweisen alles, was wir an Sachlieferungen auf Reparationskonto zu liefern hatten. Ganz besondere Schwierigkeiten bietet endlich die Feststellung des Wertes des Außenhandels für die Nachkriegsjahre, vor allem für das Inflationsjahr 1923. Bei der Einfuhr, der von jeher Schätzungswerte zugrunde lagen, trifft das noch mehr zu als bei der Ausfuhr, die der Verpflichtung zur Wertanmeldung unterworfen ist. Wir müssen uns indessen mit den gegebenen Unterlagen abzufinden versuchen und können das um so eher, als es uns in erster Linie darauf ankommt, die Tendenz unseres Außenhandels, vom Gesichtspunkt der Versorgung Deutschlands aus gesehen, festzustellen.

Wir gehen zu diesem Zweck beim Vergleich mit dem letzten Friedensjahr, mit dem wir unsere bisherige Darstellung abschlossen, zunächst von den ein- und ausgeführten Mengen aus und berechnen die Wertergebnisse bei der Ein- und Ausfuhr, um den hier störenden Faktor der Verteuerung auszuschließen, auf Grund der Einheitswerte des Jahres 1913.

Nach dem Schema des erwähnten Brüsseler Internationalen Abkommens betrug, in tausenden Tonnen ausgedrückt, die


im
   Jahre   
Einfuhr von Ausfuhr von

  Rohstoffen  
u. Halb-
fabrikaten
  Fabri-  
katen
  Nahrungs-  
u. Genuß-
mitteln
  Rohstoffen  
u. Halb-
fabrikaten
  Fabri-  
katen
  Nahrungs-  
u. Genuß-
mitteln

  1913 59 701,0 1 336,1 11 880,5   59 025,5 9 372,0 5 369,9
  1923 41 253,6 1 583,8 3 734,5   7 434,2 4 279,5 1 012,9
  1924 30 705,1 1 567,5 6 536,2   9 659,8 4 302,7 1 946,4
  19253 41 737,7 1 370,0 8 874,5 29 900,5 6 003,5 2 420,4

Die Übersicht zeigt auch noch für die letzten Jahre sehr deutlich das Bild des ausgehungerten und in seiner technischen Ausrüstung schwer beeinträchtigten Deutschland. Die Fabrikateinfuhr ist höher als vor dem Kriege. Die Rohstoffeinfuhr ist ganz wesentlich geringer und übersteigt 1924 kaum die Hälfte der des Jahres [42] 1913; dabei enthält sie noch Bestandteile, die uns aufgedrängt waren, z. B. die 6 Millionen Tonnen Kohle, die wir vertragsmäßig den Polen abnehmen mußten. Ihre Steigerung 1925 beruht im wesentlichen auf der erhöhten Einfuhr von Erzen, die sich um 9,72 Millionen Tonnen hob. Die Einfuhr von Nahrungs- und Genußmitteln stellte sich 1923 der Menge nach auf ein Drittel, 1924 auf etwas mehr als die Hälfte des letzten Friedensjahres und stand auch 1925 noch erheblich hinter dieser zurück. Die Ausfuhr war bei den Rohstoffen und Halbfabrikaten auf einen Bruchteil gesunken; die Zunahme im Jahre 1925 ist in erster Linie auf eine Ausfuhrsteigerung bei Kohlen um 14,80 Millionen Tonnen zurückzuführen. Der Export von Nahrungs- und Genußmitteln war 1923 ebenfalls auf ein Sechstel zurückgegangen und hat sich erst in den beiden letzten Jahren erhöht, bleibt aber auch 1925 noch um mehr als die Hälfte hinter 1913 zurück. Verhältnismäßig am umfangreichsten stellt sich die Fabrikatausfuhr, unser Hauptzahlungsmittel, gegenüber dem Frieden dar; sie hatte der Menge nach 1925 annähernd zwei Drittel derjenigen von 1913 erreicht, wobei die Sachlieferungen auf Reparationskonto, wie oben erwähnt, nicht berücksichtigt sind.

Auf Grund der Einheitswerte des Jahres 1913 ergeben sich für den Wert unseres Außenhandels in der Nachkriegszeit folgende Zahlen (in Milliarden M):


Im Jahre  Einfuhr 
ins-
gesamt
Darunter  Ausfuhr 
ins-
gesamt
Darunter


 Rohstoffe 
und
Halb-
fabrikate
 Fabri- 
kate
Nah-
 rungs u.- 
Genuß-
mittel
 Rohstoffe 
und
Halb-
fabrikate
 Fabri- 
kate
Nah-
 rungs u.- 
Genuß-
mittel

1913 11,21 6,26 1,42 3,09 10,20 2,24 6,78 1,08
1923   4,82 2,99 0,66 1,16   5,35 0,69 4,52 0,13
in % v. 1913  43,0  47,8   46,5   37,5   52,5  30,8   66,7   12,0  
1924   6,96 3,43 1,15 2,21   5,15 0,79 3,98 0,35
in % v. 1913 62,1  54,8   81,0   71,5   50,5  35,3   58,7   32,4  
1925   9,70 4,74 1,40 2,86   6,64 1,44 4,72 0,43
in % v. 1913 86,5  75,7   98,6   92,6   65,1  64,3   69,6   39,8  

Der gewaltige Rückschlag des deutschen Handels zeigt sich in dieser Gegenüberstellung, bei der die irreführende Verteuerung der Waren ausgeschaltet ist, in aller Klarheit. Der Währungsverfall des Jahres 1923 drückt sich selbst in den fiktiven Wertzahlen aus. Die Rohstoffeinfuhr mußte auf weniger als die Hälfte der friedens- [43] mäßigen eingeschränkt werden, die Fabrikatausfuhr ("der Ausverkauf Deutschlands") betrug zwei Drittel derjenigen des letzten Friedensjahres. Im Jahre 1925, dem siebenten Jahre nach Kriegsende, hatte sich die Gesamteinfuhr der von 1913 bis auf 86,5 v. H. angenähert, die Fabrikateinfuhr aber hatte den Stand von 1913 erreicht. Die Gesamtausfuhr stellte sich auf zwei Drittel von der des Jahres 1913, und auch die Fabrikatausfuhr zeigte keinen höheren Anteilssatz. Betrachten wir die Übersicht vom Gesichtspunkt der Rohstoffversorgung aus, so muß hervorgehoben werden, daß innerhalb der Gesamteinfuhr die Gruppe der Rohstoffe und Halbfabrikate hinter der Einfuhr des Jahres 1913 am weitesten zurücksteht.

Die Zusammensetzung von Ein- und Ausfuhr zeigt nunmehr folgendes Bild: Vom Gesamtwert des deutschen Außenhandels entfielen

bei der Einfuhr     bei der Ausfuhr
1923    1924    1925 1923    1914    1925
auf Rohstoffe und
      Halbfabrikate    
60,2 v.H. 49,3 v.H. 48,9 v.H. 12,9 v.H. 15,3 v.H. 21,7 v.H.
auf Fabrikate 13,7 " 16,5 " 14,4 " 84,5 " 77,3 " 71,1 "
auf Nahrungs- und
      Genußmittel
24,1 " 31,8 " 29,5 "   2,4 "   6,8 "   6,5 "

Nach wie vor treten innerhalb der Einfuhr die Rohstoffe und Halbfabrikate am stärksten hervor, jedoch in den beiden letzten Berichtsjahren nicht mehr in dem Maße wie 1913, wo der Anteil an der Gesamteinfuhr 55,7 v. H. ausmachte. Dafür ist die Bedeutung der Nahrungs- und Genußmitteleinfuhr größer gewesen als früher. Die Ausfuhr wird beherrscht von den Fabrikaten. Sie waren 1913 mit 62,7 v. H. an der Gesamtausfuhr beteiligt, 1923 mit 84,5 v. H., 1924 mit 77,3 v. H. und im letzten Jahr mit 71,1 v.H., immer ohne die auf Reparationskonto abgegebenen Waren.

Für unsere Betrachtung ergibt sich aus den mitgeteilten Zahlen trotz aller Einschränkungen, die bei ihrer Benutzung gemacht werden müssen, folgendes:

Wir haben gesehen, daß schon in der Vorkriegszeit die Frage der Eröffnung von Rohstoffquellen für die Erhaltung unserer Wirtschaft, die sich mehr und mehr auf gewerbliche Betätigung eingestellt hatte und einstellen mußte, von außerordentlicher Bedeutung war. Sie war für die Wirtschaftlichkeit des Gesamtbetriebes der deutschen Volkswirtschaft schlechthin entscheidend. Sie war letzten Endes auch die Triebfeder für unsere kolonialwirtschaftlichen Bestrebungen. Es kann nicht bezweifelt werden, daß das, was schon vor dem Kriege als eine Notwendigkeit für uns angesehen werden mußte, es durch den Ausgang des Krieges erst [44] recht geworden ist. Die deutsche Wirtschaft ist mehr denn je darauf angewiesen, Werte zu erzeugen, und zwar Ausfuhrwerte. Konnte sie in der Vorkriegszeit auf einen starken Zufluß aus Zinserträgen ihrer Anlagen im Ausland rechnen, so ist das für ihre gegenwärtige Wirtschaftsbilanz kein Posten mehr. Niemand schuldet uns, wir aber sind in ein Schuldverhältnis zu aller Welt hineingezwungen worden. Nur der Verkauf unserer Produkte an das Ausland schafft uns die Möglichkeit, selbst vom Ausland zu kaufen. Und was wir kaufen müssen, sind in erster Linie Rohstoffe. Mag man den mitgeteilten Nachkriegszahlen noch so viele Mängel zuschreiben, so lassen sie doch erkennen, daß unsere Fabrikatausfuhr so stark wie möglich angespannt wird, während unsere Rohstoffeinfuhr durchaus unzulänglich ist. Berücksichtigen wir, daß ein nicht unwesentlicher Teil dieser Rohstoffe zu Fabrikaten umgewandelt werden muß, die neben der eigentlichen Ausfuhr als Sachlieferung in das Ausland gehen, ohne uns irgend etwas einzubringen, so erhellt, daß die Frage der Beschaffung von Produktionsmitteln in Wirklichkeit noch brennender ist, als es sich aus den mitgeteilten Zahlen ablesen läßt. Das letztere würde sich auch ergeben, wenn wir nicht, wie wir es um des Vergleichs mit der Vorkriegszeit willen getan haben, die Verteuerung gegenüber dem Jahre 1913 ausgeschaltet hätten. Setzt man für das Jahr 1924 statt der hier aus guten Gründen gewählten Vorkriegswerte die Gegenwartswerte ein, so ergibt sich für unsere Gesamteinfuhr ein Wert von 9,32 Milliarden, für unsere Gesamtausfuhr ein Wert von 6,57 Milliarden. Für 1925 ergeben sich nach vorläufiger Wertberechnung 13,15 und 8,84 Milliarden. Ein Vergleich mit den früher angegebenen Vorkriegswerten zeigt, daß sich die Einfuhr, und zwar im besonderen die von Rohstoffen, sonach erheblich stärker verteuert hat als die Ausfuhr, das heißt, daß wir schon, um uns überhaupt die Produktionsmittel beschaffen zu können, sehr viel mehr fertige Waren im Ausland absetzen müssen als früher. Und aus alledem ergibt sich immer wieder das eine: Unsere Wirtschaftslage zwingt uns heute mehr denn je, nach ergiebigen und wenn möglich, eigenen Rohstoffquellen zu suchen.







Die Bedeutung kolonialer Eigenproduktion
für die deutsche Volkswirtschaft

Dr. Max Warnack