SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[129-130=Trennbläter] [131]
Das Jahr 1938

Im Anschluß an den Besuch von Lord Halifax fand am 26. Januar 1938 eine Unterredung zwischen dem Reichsaußenminister von Neurath und dem britischen Botschafter in Berlin, Sir Nevile Henderson, statt, die ein klares Licht auf die englische Haltung in jenen Verhandlungen wirft. Mit aller Deutlichkeit trat hervor, daß man auf englischer Seite das Wort Verständigung ausgiebig brauchte, zu irgendeinem sachlichen Entgegenkommen aber nicht bereit, sondern offenbar bewußt entschlossen war, durch eine solche Haltung die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen.


 49. 
Aufzeichnung des Reichsaußenministers Freiherrn von Neurath vom 26. Januar 1938 über seine Unterredung mit dem britischen Botschafter Henderson

Der englische Botschafter suchte mich heute auf und teilte mir mit, er sei von seiner Regierung nach London berufen zu einer Aussprache über die von Seiten Englands auf Grund der Halifax-Unterredung zu machenden Schritte. Henderson wiederholte die schon öfter gemachten Bemerkungen, daß die englische Regierung, insbesondere der Premierminister, fest entschlossen sei, Deutschland in der Kolonialfrage entgegenzukommen. Er habe natürlich große Schwierigkeiten, denn es gäbe viele Leute in England, die nichts hergeben wollten. Es würde die Arbeit des Premierministers sehr erleichtern, wenn er bei den Verhandlungen schon irgendwelche Gegenleistungen von deutscher Seite in Aussicht stellen könnte.

Ich sagte dem Botschafter, er habe doch schon wiederholt und auch aus dem Munde des Führers gehört, daß unser Anspruch auf Rückgabe der Kolonien kein Handelsobjekt sei. Der Botschafter fuhr fort zu fragen, ob wir denn wenigstens bereit seien, in irgendeine Diskussion über Rüstungen und Bombenabwürfe usw. einzutreten. Ich sagte ihm darauf, die Frage des Bombenabwurfs könne gegebenenfalls unabhängig davon einmal erörtert werden, jedenfalls aber nicht im Zusammenhang mit der Kolonialfrage. Als Henderson dann auch wieder die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund erwähnte und eine Zusicherung haben wollte, daß wir eventuell die Frage des Wiedereintritts in einen reformierten Völkerbund diskutieren würden, erklärte ich ihm, ich wünschte diese Frage überhaupt nicht zu disku- [132] tieren. Über unsere Stellung zum Völkerbund hätte ich mich klar genug ausgedrückt. Im übrigen ersähe ich aus den jetzigen Verhandlungen in Genf, daß England nicht einmal mehr den Mut aufbringe, die Diskussion über die Reform des Völkerbundes fortzusetzen.

Sodann frug Henderson noch nach unseren Plänen gegenüber der Tschechoslowakei und gegenüber Österreich. Ich sagte ihm, er wisse aus verschiedenen Konversationen mit mir, welche Beschwerden wir gegen die Tschechoslowakei hätten. Wenn diese von tschechischer Seite behoben wären, so würde sich auch das Verhältnis zur Tschechoslowakei von selbst normalisieren. Was Österreich anbelange, so könnte ich ihm nur - und zwar mit der Bitte um Wiederholung in London - erklären, daß wir uns in die Regelung der Beziehungen zu Österreich auch von England nicht hineinreden lassen würden. Diese Regelung sei eine ausschließlich deutsch-österreichische Frage, und wir würden jede Einmischung ablehnen.

Als der Botschafter noch frug, ob ich nicht glaubte, daß der Führer ihm irgendeine Zusicherung für die von Deutschland einzunehmende Haltung im Falle eines Entgegenkommens in der Kolonialfrage geben könne, sagte ich ihm, ich sei überzeugt, daß der Führer ihm auch nicht mehr sagen würde, als ich getan hätte. Mit Zusicherungen von deutscher Seite hätten wir bisher noch nicht das mindeste erreicht. Wir würden abwarten, bis wir von der anderen Seite konkrete Angebote hätten. Dann könne man sich darüber unterhalten, ob und welcher Beitrag von unserer Seite geleistet werden könne.

Henderson reist morgen abend nach London ab und glaubt etwa in der zweiten Hälfte der nächsten Woche nach Berlin zurückzukommen.

Freiherr v. Neurath
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)

Nachdem sich die englische Presse am Ausgang des Jahres 1937 mit Rücksicht auf den Besuch von Lord Halifax und auf den Verlauf der deutsch-englischen Besprechungen eine gewisse Zurückhaltung auferlegt hatte, schlug dieser Zustand am Anfang des Jahres 1938 wieder völlig in sein Gegenteil um. Die Maßnahmen des Führers vom 4. Februar 1938, die zu einem Umbau der Wehrmachtsführung, zur Bildung eines Geheimen Kabinettsrates und zur Übernahme des Außenministeriums durch den bisherigen Botschafter von Ribbentrop führten, lösten in England eine wüste und hemmungslose Pressehetze aus. Der Führer sah sich infolgedessen genötigt, in seiner Reichstagsrede vom 20. Februar 1938 das deutsch-englische Problem unter dem Gesichtspunkt dieser ständigen Vergiftung der Atmosphäre durch eine planmäßige und ständige Presseagitation zu erörtern.


[133]
 50. 
Aus der Reichstagsrede des Führers und Reichskanzlers
vom 20. Februar 1938

Deutschland hat auch mit England keinerlei Streitigkeiten, es seien denn unsere kolonialen Wünsche. Es fehlt jedoch jeder Anhaltspunkt für einen auch nur irgendwie denkbaren möglichen Konflikt. Das einzige, was das Zusammenleben dieser Staaten vergiftet und damit belastet, ist eine geradezu unerträgliche Pressehetze, die im diesen Ländern unter dem Motto "Freiheit der persönlichen Meinungsäußerung" getrieben wird.

Ich habe kein Verständnis dafür, aus dem Munde ausländischer Staatsmänner und Diplomaten immer wieder zu vernehmen, daß in diesen Ländern keine gesetzliche Möglichkeiten bestünden, der Lüge und der Verleumdung ein Ende zu bereiten. Denn es handelt sich hier nicht um Privatangelegenheiten, sondern um Probleme des Zusammenlebens von Völkern und von Staaten. Und wir sind nicht in der Lage, diese Vorgänge auf die Dauer auf die leichte Schulter zu nehmen. Wir können auch nicht vor den Folgen dieser Hetze die Augen verschließen. Denn es könnte sonst nur zu leicht sein, daß in gewissen Ländern durch niederträchtige dauernde internationale Lügenfabrikation ein so starker Haß gegen unser Land entwickelt wird, daß dort allmählich eine offene feindselige Stimmung gegen uns entsteht, der vom deutschen Volk dann nicht mit der notwendigen Widerstandskraft begegnet werden könnte, weil ihm selbst durch die Art unserer Pressepolitik jede Feindseligkeit gegenüber diesen Völkern fehlt. Und dies ist eine Gefahr, und zwar eine Gefahr für den Frieden. Ich bin deshalb auch nicht mehr gewillt, die zügellose Methode einer fortgesetzten Begeiferung und Beschimpfung unseres Landes und unseres Volkes unwidersprochen hinzunehmen. Wir werden von jetzt ab antworten, und zwar mit nationalsozialistischer Gründlichkeit antworten.

(Verhandlungen des Reichstages, Bd. 459, S. 39)

Indessen ließ man es auf englischer Seite mit dieser Einmischung in innerste deutsche Angelegenheiten nicht genug sein und fühlte sich bemüßigt, den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich zum Anlaß einer offiziellen diplomatischen Einmischung zu machen.


 51. 
Note des Präsidenten des Geheimen Staatsrates
Freiherrn von Neurath vom 12. März 1938
an den britischen Botschafter in Berlin

Herr Botschafter!

Mit Schreiben vom 11. März haben Euer Exzellenz mitgeteilt, der Königlich-Britischen Regierung sei die Nachricht zugegangen, daß in Wien ein deutsches Ultimatum gestellt worden sei, in dem der Rücktritt des Bundeskanzlers, seine Ersetzung durch den Minister des Innern, die Bildung eines neuen Kabinetts mit einer Zweidrittelmehr- [134] heit von nationalsozialistischen Mitgliedern und die Wiederzulassung der österreichischen Legion gefordert worden sei. Für den Fall, daß diese Nachrichten zuträfen, hat die Königlich-Britische Regierung gegen einen derartigen auf Gewalt gestützten Zwang protestiert, der auf einen unabhängigen Staat ausgeübt worden sei, um eine mit seiner nationalen Unabhängigkeit unvereinbare Lage zu schaffen.

Namens der deutschen Regierung muß ich demgegenüber darauf hinweisen, daß der Königlich-Britischen Regierung nicht das Recht zusteht, die Rolle eines Beschützers der Unabhängigkeit Österreichs für sich in Anspruch zu nehmen. Die Deutsche Regierung hat die Königlich-Britische Regierung im Laufe der diplomatischen Unterhaltungen über die österreichische Frage niemals darüber im Zweifel gelassen, daß die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Reich und Österreich lediglich als eine dritte Mächte nicht berührende innere Angelegenheit des deutschen Volkes angesehen werden kann.

Es erübrigt sich, die historischen und politischen Gründe dieses Standpunktes noch einmal darzulegen.

Aus diesem Grunde muß die Deutsche Regierung den von der Königlich-Britischen Regierung, wenn auch nur bedingt, eingelegten Protest von vornherein als unzulässig zurückweisen.

Gleichwohl will die Deutsche Regierung gegenüber der in Ihrem Schreiben erwähnten Nachricht, daß die Reichsregierung in Wien ultimative Forderungen gestellt habe, nicht unterlassen, zur Steuer der Wahrheit hinsichtlich der Vorgänge der letzten Tage folgendes festzustellen:

Vor wenigen Wochen hatte der Deutsche Reichskanzler in Erkenntnis der Gefahren, die sich aus der unerträglich gewordenen Lage in Österreich ergaben, eine Aussprache mit dem damaligen österreichischen Bundeskanzler herbeigeführt. Das Ziel war, noch einmal den Versuch zu machen, jenen Gefahren durch die Verabredung der Maßnahmen zu begegnen, die eine den Interessen der beiden Länder wie den Interessen des gesamten deutschen Volkes dienende ruhige und friedliche Entwicklung sicherstellen konnte. Die Vereinbarung von Berchtesgaden hätte, wenn sie auf österreichischer Seite im Geiste der Aussprache vom 12. Februar loyal durchgeführt worden wäre, eine solche Entwicklung tatsächlich gewährleistet.

Statt dessen hat der frühere österreichische Bundeskanzler am Abend des 9. März überraschend den eigenmächtig von ihm gefaßten Beschluß bekanntgegeben, mit einer Frist von wenigen Tagen eine Abstimmung zu veranstalten, die nach den obwaltenden Umständen, insbesondere nach den für die Durchführung der Abstimmung geplanten Einzelheiten, allein den Sinn haben konnte und sollte, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Österreichs politisch zu vergewaltigen. Dieses mit der Vereinbarung von Berchtesgaden in flagrantem Widerspruche stehende Vorgehen hat, wie vorauszusehen, zu einer äußersten Zuspitzung der inneren Lage in Österreich geführt. Es war nur natürlich, daß die an dem Abstimmungsbeschluß nicht beteiligten Mitglieder der damaligen österreichischen Regierung dagegen [135] schärfsten Einspruch erhoben. Infolgedessen ist es in Wien zu einer Kabinettskrise gekommen, die im Laufe des 1. März zum Rücktritt des früheren Bundeskanzlers und zur Bildung einer neuen Regierung geführt hat. Daß vom Reich aus auf diese Entwicklung ein gewaltsamer Zwang ausgeübt worden wäre, ist unwahr. Insbesondere ist die von dem früheren Bundeskanzler nachträglich verbreitete Behauptung völlig aus der Luft gegriffen, die Deutsche Regierung habe dem Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach dem dieser einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen und die Regierung nach den Vorschlägen der Deutschen Regierung zu bilden hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich in Aussicht genommen werde. In Wahrheit ist die Frage der Entsendung militärischer und polizeilicher Kräfte aus dem Reich erst dadurch aufgeworfen worden, daß die neugebildete österreichische Regierung in einem in der Presse bereits veröffentlichten Telegramm die dringende Bitte an die Reichsregierung gerichtet hat, zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung und zur Verhinderung von Blutvergießen baldmöglichst deutsche Truppen zu entsenden. Angesichts der unmittelbar drohenden Gefahr eines blutigen Bürgerkrieges in Österreich hat sich die Reichsregierung entschlossen, diesem an sie gerichteten Appell Folge zu geben.

Bei diesem Sachverhalt ist es völlig ausgeschlossen, daß das Verhalten der Deutschen Regierung, wie in Ihrem Schreiben behauptet wird, zu unübersehbaren Rückwirkungen führen könnte. Das Gesamtbild der politischen Lage ist in der Proklamation gekennzeichnet, die der Deutsche Reichskanzler heute mittag an das deutsche Volk gerichtet hat. Gefährliche Rückwirkungen könnten in dieser Lage nur dann eintreten, wenn etwa von dritter Seite versucht würde, im Gegensatz zu den friedlichen Absichten und legitimen Zielen der Reichsregierung auf die Gestaltung der Verhältnisse in Österreich einen Einfluß zu nehmen, der mit dem Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes unvereinbar wäre.

Freiherr v. Neurath
(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)

Chamberlain und Halifax gaben am 14. und 16. März 1938 in beiden Häusern des Parlaments zwar zu, daß der durch den Vertrag von St. Germain geschaffene Zustand nicht für alle Zeiten hätte aufrechterhalten werden können. Auch erkannte Großbritannien formell den Anschluß durch Umwandlung der Wiener Gesandtschaft in ein Generalkonsulat an. Gleichwohl kamen immer wieder deutliche Zeichen des Unwillens mit dem Lauf der Dinge zum Ausdruck. Noch in seiner Rede in Birmingham am 8. April 1938 glaubte Chamberlain eine Billigung der österreichischen Entwicklung mit kritischen Bemerkungen über die bei der Wiedereingliederung Österreichs zur Anwendung gekommenen "Methoden" einschränken zu müssen.


[136]
 52. 
Aus der Rede des britischen Premierministers Chamberlain
vom 8. April 1938 in Birmingham

Unsere Politik beruht auf zwei Erkenntnissen. Die erste ist: Wenn man sich einen dauernden Frieden sichern will, so muß man die Kriegsursachen ausfindig machen und beseitigen. Dies kann nicht dadurch geschehen, daß man die Hände in den Schoß legt und darauf wartet, daß etwas geschieht. Man muß sich andauernd darum bemühen. Man muß sich die Schwierigkeiten und die Gefahrenquellen, die Gründe für jede vermutliche oder mögliche Störung des Friedens klarmachen und, wenn man dies alles ausfindig gemacht hat, sich bemühen, ein Heilmittel zu finden.

Die zweite Erkenntnis ist: In einer bewaffneten Welt muß man selbst bewaffnet sein. Ein Land muß darauf bedacht sein, seine Vorbereitungen oder seine Verteidigungs- und Angriffswaffen so zu organisieren und aufzubauen, daß niemand in Versuchung gerät, einen Angriff zu wagen, sondern, daß im Gegenteil alle mit Achtung auf seine Stimme hören, wenn diese für den Frieden spricht. Dies also sind die beiden Säulen unserer Außenpolitik: Frieden zu suchen auf dem Wege freundschaftlicher Unterhaltung und Verhandlung und die Wehrmacht auf einer Basis zu erhalten, die unserer Verantwortung und der Rolle, die wir bei der Aufrechterhaltung des Friedens zu spielen wünschen, entspricht.

Man könnte mich fragen: Und wo bleibt hierbei der Völkerbund? Warum rufen Sie nicht die kollektive Sicherheit zu Hilfe? Müssen wir zugeben, daß die herrlichen Ideale, die uns erfüllten, als der Völkerbund gegründet wurde, preisgegeben werden? Wir haben den Völkerbund niemals lächerlich gemacht. Wir lassen uns durch niemanden davon abhalten, diesen großen und herrlichen Idealen treu zu bleiben. Wir wünschen noch immer, jede mögliche Gelegenheit zu ergreifen, den Völkerbund neu zu bauen und zu stärken und ihn wiederherzustellen, damit er einst nochmals ein wirkungsvolles Instrument zur Erhaltung des Friedens werden möge.

Aber heute müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen, heute, nachdem einige der mächtigsten Staaten der Welt sich daraus entfernt haben, müssen wir uns zunächst einmal über etwas klarwerden, ehe wir dem Völkerbund die hervorragende Aufgabe der Wahrung des Friedens aufzuerlegen versuchen. Kollektive Sicherheit kann nur erzielt werden durch die Bereitwilligkeit und Fähigkeit der Mitgliedstaaten zu einer Gemeinschaftsaktion, die wirkungsvoll genug ist, jeden Angriff aufzuhalten. Ist der Völkerbund tatsächlich in der Lage, dies zu tun?

Vor einiger Zeit richtete ich an die Opposition in diesem Hause eine Frage - und ich bitte sie sich zu erinnern, daß dies vor den letzten Ereignissen in Österreich war. Ich fragte sie, ob man mir einen einzigen kleinen Staat in Europa nennen könne, der, wenn er heute von einem mächtigen Nachbarn bedroht wäre, sich allein auf den Völkerbund verlassen könne, um kollektive Sicherheit zu erhalten. Ich erhielt keine Antwort auf diese Frage, ich konnte keine erhalten, denn man [137] wußte genau, daß die einzig aufrichtige Antwort wäre, daß es keinen solchen Staat gäbe, weil es keine kollektive Sicherheit gibt. Das ist kein Mangel an Loyalität. Wahrhafter Mangel an Loyalität zur Liga ist es, vorzugeben, daß diese heute Aufgaben erfüllen könne, die offensichtlich außerhalb ihres Machtbereichs liegen. Dieser Art von Treuebruch wollen wir uns nicht schuldig machen.

Aber lassen Sie uns auch nicht den Gedanken an einen größeren und besseren Völkerbund der Zukunft aufgeben. Lassen Sie uns vielmehr versuchen, eine neue Atmosphäre des Verständnisses in der Welt zu schaffen, denn das ist die grundlegende Vorbedingung für einen Völkerbund, der funktioniert. Ich erwähnte eben die Ereignisse, die sich vor genau einem Monat zugetragen haben und die durch die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich ihren Abschluß fanden. Ich glaube nicht, daß die Bevölkerung dieses Landes den Wunsch haben könnte, hemmend einzugreifen, wenn zwei Staaten sich zu vereinigen wünschen. Aber in diesem besonderen Fall der Vereinigung wurden Methoden angewandt, die der Regierung Seiner Majestät außerordentlich mißfielen und die die öffentliche Meinung schwer schockiert haben.

(E: Neville Chamberlain, The Struggle for Peace. London (1939), S. 167ff. - D: Eigene Übersetzung.)

Von deutscher Seite hat man sich - trotz der energischen Zurückweisung unberechtigter Proteste - bemüht, die englischen Interessen bei der Liquidierung des österreichischen Staates besonders zu berücksichtigen. Obwohl Deutschland grundsätzlich die Rechtsnachfolge in die österreichischen Staatsschulden ablehnte - und mit guten völkerrechtlichen Gründen ablehnen konnte -, traf es mit England besondere Vereinbarungen. Die Verhandlungen wurden von dem Wirtschaftsberater der britischen Regierung, Sir Frederick Leith-Ross, am 23. Mai 1938 in Berlin aufgenommen und führten zu einer vollkommenen Einigung und Unterzeichnung mehrerer Abkommen am 1. Juli 1938.


 53. 
Aus der Unterhauserklärung des britischen Schatzkanzlers
Sir John Simon vom 1. Juli 1938

Es freut mich, sagen zu können, daß die Delegationen Englands und Deutschlands, die über eine Revision des englisch-deutschen Zahlungsabkommens unter Berücksichtigung der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich verhandelt haben, heute zu einem Ergebnis gelangt sind. Die Grundlage dieser Regelung, unter dem Vorbehalt gesetzlicher Verbindlichkeit, ist, daß die deutsche Regierung der Regierung des Vereinigten Königreiches alle Beträge zurückzahlt, welche von dieser als Garantie für die österreichischen Garantie-Anleihen bezahlt worden sind und zugleich den gesamten Anleihedienst für die Obligationen, die am 1. Juli 1938 in britischen Händen waren, sicherstellt.

[138] Die Regelung bestätigt außerdem die Grundsätze eines Abkommens, das zwischen den deutschen Vertretern und dem Komitee der Gläubiger deutscher langfristiger Anleihen, betreffend die zukünftige Handhabung anderer deutscher und österreichischer langfristiger Schulden, getroffen wurde. Auf Grund dieser Regelung ist der Dienst der nachstehenden deutschen und österreichischen Anleihen wie folgt:

Für die Dawes-Anleihe und die österreichische siebenprozentige Anleihe von 1930: je 5 vom Hundert Zinsen und 2 vom Hundert kumulativer Tilgungsfonds.

Für die Young-Anleihe und die Saarbrücken-Anleihe: 4½ vom Hundert Zinsen und 1 vom Hundert kumulativer Tilgungsfonds, beginnend nach zwei Jahren.

Der Dienst der vierprozentigen Reichs-Tilgungs-Obligationen sowie der österreichischen Kreditanstalt-Obligationen wird für britische Eigentümer voll aufrechterhalten.

Bezüglich der übrigen mittleren und langfristigen Schulden Deutschlands und Österreichs wird eine zeitweilige Regelung getroffen, wodurch während der nächsten beiden Jahre Coupons, Dividenden usw. in bar zu 50 vom Hundert ihres Nennwertes mit höchstens vierprozentiger Verzinsung gezahlt werden.

(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 337, Sp. 2364f. [Scriptorium merkt an: im Original "2362."] - D: Eigene Übersetzung.)

Es ist vor allem die anmaßende Einmischung Großbritanniens in die Neuordnung der durch die Pariser Vorortverträge desorganisierten mitteleuropäischen Verhältnisse gewesen, die das deutsch-englische Verhältnis im Jahre 1938 belastet hat. - Stärker noch als in der österreichischen Frage trat dies in der tschechoslowakischen Krise zutage, die im Mai 1938 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Die tschechische Mobilmachung vom 21./22. Mai 1938 war ein Ereignis, das sich ohne englische Anstiftung und Beihilfe überhaupt niemals hätte ereignen können. Deutschland hatte damals allen Anlaß, auch die geringste Beunruhigung zu vermeiden. Konrad Henlein hatte noch am 13. Mai in London nicht nur dem diplomatischen Hauptberater der Regierung, Sir Robert Vansittart, sondern auch führenden Oppositionspolitikern wie Winston Churchill und Sir Archibald Sinclair einen Besuch abgestattet, um sie über die Lage im Sudetenland zu informieren. Die lange ausgesetzten Gemeindewahlen in der Tschecho-Slowakei standen vor der Tür, und die Sudetendeutschen hatten das größte Interesse daran, daß sie nicht unter dem Druck des militärischen Ausnahmezustandes stattfanden. Ein Bericht des bekannten französischen Journalisten Jules Sauerwein über ein Telephongespräch des britischen Geheimdienstes mit Prag am 20. Mai hat später darüber Aufschluß gegeben, wo die Quelle der gefährlichen Alarmnachricht über angebliche deutsche Truppenkonzentrationen an der tschechischen Grenze zu suchen war.

Rückblickend kann es nicht wundernehmen, daß die während des ganzen Sommers 1938 geleisteten "guten Dienste" der britischen Regierung zur Sicherung eines erträglichen Autonomiestatus für die Sudetendeutschen [139] einen so geringen Erfolg hatten. Die damalige Prager Regierung wußte nur zu gut, wieweit sie die Ermahnungen der Londoner Regierung ernstzunehmen hatte und wieweit nicht. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, das persönliche Urteil des tschechoslowakischen Gesandten in London, Jan Masaryk, über den Leiter der englischen Politik zu kennen.


 54. 
Aus dem Bericht des tschechoslowakischen Gesandten in London Jan Masaryk vom 24. Februar 1938

Neville Chamberlain ist ein vorsichtiger, erfahrener, aber hundertprozentig parteiischer Politiker. Das Schicksal der Konservativen Partei ist ihm sakrosankt, und damit die Partei keinen Schaden erleide, ist er bereit, ein und manchmal auch beide Augen vor einem nicht gerade sehr ehrlichen Vorgehen zu schließen. Ich will nicht sagen, Neville ist unehrlich. Im Gegenteil, seine Überzeugung, er handle gut, ist geradezu rührend ehrlich. Er wuchs in der Birminghamer Munizipalpolitik auf, wo er ein ausgezeichneter Bürgermeister war. Und seine politischen "kleinen Betrügereien" sind eher von munizipaler als von Staats- und Reichsgröße. Chamberlain ging spät in die Politik. Ministerpräsident wurde er mit 68 Jahren, auf den Kampfplatz der Außenpolitik trat er erst beinahe 70jährig mit der Überzeugung von der Heiligkeit seiner Sendung, aber weder mit technischer noch mit faktischer Schulung ausgerüstet.

(Aus den Akten des tschechoslowakischen Außenministeriums.)


 55. 
Aus dem Bericht des tschechoslowakischen Gesandten in London Jan Masaryk vom 26. September 1938

Chamberlain ist aufrichtig überrascht, daß wir eine Zurückziehung des Militärs aus den Befestigungen nicht beabsichtigen. Ich betonte, daß gestern die Befestigungen auf englischen und französischen Rat besetzt wurden und daß wir sie heute nicht wieder räumen können. Das wollte er nicht begreifen. Es ist ein Unglück, daß dieser dumme, uninformierte, kleine Mensch englischer Premier ist, und ich bin überzeugt davon, daß er es nicht mehr lange sein wird.

(Aus den Akten des tschechoslowakischen Außenministeriums.)

Ebenso ist es von Interesse, das Wachsen der Kriegsstimmung in England in dieser Zeit zu beobachten.


 56. 
Aus dem Bericht des deutschen Botschafters in London von Dirksen vom 5. Juli 1938

In meinen Berichten über die Wochenendkrise und die Zeit danach habe ich verschiedene Male darauf hingewiesen, daß die englische [140] Öffentlichkeit sich mit dem Gedanken eines bevorstehenden Krieges vertraut gemacht hat. Ich habe insbesondere in meinen Berichten über die Verstärkung der englischen Luftaufrüstung und über die in Aussicht genommene Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu Beginn eines Krieges darauf aufmerksam gemacht, daß die englische Regierung Kritik von seiten der Öffentlichkeit nur in der Hinsicht erfahren hat, daß die getroffenen Maßnahmen nicht weit genug gingen. Wenn man weiß, wie groß die Abneigung des einzelnen Engländers gegen alles ist, was mit der allgemeinen Wehrpflicht zusammenhängt, kann man erst ermessen, welches Ausmaß die Sorgenpsychose erreicht haben muß, um die Opposition gegen diese einschneidende Maßnahme völlig verstummen zu lassen.

Wie tief sich diese Stimmung in Bewußtsein und Unterbewußtsein des englischen Volkes festgesetzt hat, möchte ich durch einige Beobachtungen erläutern, die auf wirtschaftlichem Gebiet gemacht worden sind:

Die Vertreter großer deutscher Firmen haben mich darauf aufmerksam gemacht, daß in den letzten Wochen die Auftragserteilung für deutsche Fabrikate in auffälliger Weise zurückgegangen sei. Die Beobachtungen der hiesigen Vertretung von Siemens-Schuckert während der letzten Monate haben gezeigt, daß ein merklicher Rückgang der Aufträge nach Deutschland (etwa 25 v. H. geringer als normal) eingetreten ist, der seine Begründung nur teilweise in wirtschaftlichen Vorgängen findet, für den vielmehr politische und stimmungsmäßige Momente weitgehend verantwortlich sind. Von den Interessenten, die ihre Bestellungen nicht nach Deutschland vergeben wollen, werden diese Gründe mehr oder weniger offen angegeben. Dabei ergibt sich folgendes:

Aufträge werden nicht mehr nach Deutschland vergeben:

  1. aus Furcht vor einem baldigen Kriege, dessen Ausbruch die Lieferung verhindern würde;
  2. aus Besorgnis, daß innerdeutsche Maßnahmen die Lieferanten an der Lieferung hindern könnten;
  3. aus einer Abneigung gegen die deutschen Exportmethoden (Ausfuhrförderung), die man als "unfair" ansieht, weil sie die englische Ware auf dem Binnen-, aber auch auf dem Auslandsmarkt bedrängt.

Als Begründung für die weitverbreitete Furcht vor dem baldigen Ausbruch eines Krieges (gegen Deutschland) führt man hier das Verhältnis Deutschlands zur Tschechoslowakei an. Man begegnet häufig der Ansicht, daß das sudetendeutsche Problem nur mit Gewalt gelöst werden würde. Zu dieser Auffassung trägt die Tatsache bei, daß Reden maßgebender deutscher Persönlichkeiten häufig nur unvollständig und entstellt in der britischen Presse wiedergegeben werden. Es kommt hinzu, daß durch Regierung und andere amtliche britische Stellen vor Kriegsgefahr gewarnt worden ist, allerdings zu dem Zweck, den englischen Bürger aus seiner Lethargie zu wecken und ihn zur Beteiligung an den freiwilligen Schutzverbänden (Luftschutz, Frauenhilfsdienst usw.) aufzurütteln. Diese Verbände müssen angesichts des [141] Fehlens einer allgemeinen Dienstpflicht in Friedenszeiten ausschließlich durch freiwillige Beteiligung gebildet werden. Der Engländer beteiligt sich erfahrungsgemäß an solchen Einrichtungen erst dann freiwillig, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Es mag daher für die Durchführung der Aufrüstung und des Luftschutzes nötig sein, eine solche Gefahr an die Wand zu malen.

Die Besorgnis, daß innerdeutsche Maßnahmen die Lieferung verhindern könnten, ergibt sich aus der Tatsache, daß Lieferungssperren, wie sie z. B. gegen die jüdische Loewy Engineering Co., London, von den maßgebenden deutschen Stellen verhängt worden sind, zur Stockung der Ausführung von Aufträgen geführt haben. Der Boykott der Loewy Engineering durch Anweisung an deutsche Industrieunternehmen ist in weiten Kreisen bekannt. Die für die englische Mentalität unverständliche Tatsache, daß solche Maßnahmen getroffen werden können, erweckt Mißtrauen und führt zu Zurückhaltung bei Bestellungen nach Deutschland.

Die in den letzten Monaten besonders intensiv gewesene - und noch andauernde - Propaganda gegen die deutschen Exportförderungsmethoden wird nicht nur von der "Buy British"-Bewegung in England geschickt ausgenutzt, sondern die Industrie, z. B. die Autoindustrie, benutzt diese Propaganda, um Deutschland auch für den Rückgang des englischen Ausfuhrgeschäftes und für andere Vorgänge, z. B. für Arbeiterentlassungen in englischen Autofabriken, verantwortlich zu machen. Dabei wird letzthin auch auf die angebliche steigende Ausfuhr "subsidierter" deutscher Waren nach den Empire-Ländern verwiesen, wodurch die englische Industrie "schwer" geschädigt würde. Dies Argument ist zugkräftig, weil der Engländer - obwohl er es nicht gern zugibt -, instinktiv fühlt, daß sein Einfluß in den Dominien nicht mehr sehr stark ist. Für die deutsche Gegenpropaganda ist es besonders schwierig, mit Vernunftgründen gegen diese gefühlsmäßigen Reaktionen anzugehen.

In diesem Zusammenhang verdient auch die englische Propaganda gegen das wirtschaftliche Vordringen Deutschlands auf dem Balkan und im Nahen Orient Erwähnung. Im Zusammenhang mit dem englisch-türkischen Kreditabkommen ist weiten Kreisen klargeworden, daß diese Abkommen eine Spitze gegen den deutschen Handel haben. So verlautet z. B. hier, daß Deutschland türkisches "Chromerz" in Zukunft nur noch über die Anglo-Turkish Commodities Ltd., d. h. nur mit englischer Genehmigung wird beziehen können. (Hierüber soll in Berlin ein Bericht unserer Botschaft in Ankara vorliegen, der hier noch nicht bekannt ist.)

Bisher bestellte das britische War-Office Pharmazeutica für die Armee in großem Umfange in Deutschland. Wie ich von der Vertretung der I. G. Farbenindustrie höre, werden diese Bestellungen mehr und mehr nach den USA. verlegt, obwohl hier sehr wohl bekannt ist, daß diese Erzeugnisse qualitativ schlechter sind. Diese Verlegung der Bezüge wird begründet mit der Möglichkeit, daß ein ausbrechender Krieg weitere Bezüge aus Deutschland unmöglich machen würde.

[142] Das deutsche Reiseverkehrsbüro sowie die Firma Th. Cook haben mitgeteilt, daß seit Pfingsten der englische Reiseverkehr nach Deutschland um 60 v. H., stellenweise um 75 v. H. zurückgegangen sei. Insbesondere besuchen viele Engländer Österreich nicht mehr, weil sie befürchten, im Falle eines ausbrechenden Krieges von der Heimat abgeschnitten zu sein.

Die großen englischen Reisebüros bestellten bis vor kurzem häufig bei der deutschen Reichsbahn Sonderzüge für die von ihnen veranstalteten Wochenendfahrten. Bei einer Ausschreibung an die interessierten Büros in den letzten Tagen ergab sich, daß die Mindestbeteiligung (300 Personen) auch nicht entfernt erreicht wurde. Es meldeten sich auf allen Büros zusammen 14 Teilnehmer.

Ein Mitglied meiner Behörde, das vor kurzem hierher versetzt worden ist und eine Wohnung sucht, hat mir gemeldet, daß in zwei Fällen aussichtsreiche Verhandlungen über Miete eines Hauses abgebrochen worden seien, als die Hauseigentümer (Inhaber der lease) erfuhren, daß der Mieter Deutscher ist. Der Leiter einer Immobilien-Maklerfirma hat die Frau dieses Botschaftsmitgliedes offen gefragt: "Was tun Sie denn mit dem Haus, wenn ein Krieg ausbricht?"

(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)

Am 26. Juli 1938 kündigte Chamberlain in seiner Unterhausrede die Entsendung von Lord Runciman nach Prag als "unabhängigen Beobachter und Vermittler" an. Er beschloß diese Rede mit optimistischen Ausführungen über die Möglichkeit einer deutsch-englischen Verständigung nach einer friedlichen Regelung der tschechoslowakischen Frage, wobei er zwar die deutschen Vorleistungen für diese Verständigung anerkannte, sich über einen englischen Beitrag dazu aber wiederum ausschwieg.


 57. 
Aus der Unterhausrede des britischen Premierministers Chamberlain vom 26. Juli 1938

Wenn wir nur für diese tschechoslowakische Frage eine friedliche Lösung finden können, so würde ich persönlich glauben, daß der Weg für neue Bemühungen um eine allgemeine Befriedung frei ist, eine Befriedung, die nicht erreicht werden kann, bevor wir nicht die Gewißheit haben, daß kein größerer Fall von Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten unerledigt geblieben ist. Wir haben bereits faktisch bewiesen, daß zwischen einem demokratischen und einem totalitären Staat ein vollständiges Abkommen möglich ist, und ich kann persönlich keinen Grund sehen, warum dieser Versuch nicht wiederholt werden soll. Als Herr Hitler einen Flottenvertrag anbot, nach dem die deutsche Flotte auf ein gegenseitig vereinbartes Niveau beschränkt werden sollte, das sich in einem fest bestimmten Verhältnis zur Größe zur britischen Flotte hält, machte er eine bemerkenswerte Geste von [143] außerordentlich praktischer Bedeutung für den Frieden, und es scheint mir, daß die Bedeutung dieser Geste als einer auf diese allgemeine Befriedung abzielenden Handlung nicht immer voll anerkannt worden ist. Dieser Vertrag besteht nun als ein Beweis dafür, daß es zwischen Deutschland und uns möglich ist, in einer für uns beide lebenswichtigen Angelegenheit zu einer Verständigung zu gelangen. Und weil wir uns bereits über diesen Punkt verständigt haben, sollten wir es nach meiner Ansicht nicht für unmöglich halten, unsere Bemühungen um eine Verständigung fortzusetzen, Bemühungen, die, wenn sie erfolgreich wären, in so hohem Maße dazu beitragen würden, das Vertrauen wiederherzustellen.

(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 338, Sp. 2959f. [Scriptorium merkt an: im Original "2969."] - D: Monatshefte für Auswärtige Politik, 1938, S. 856f.)

Während die Mission Lord Runcimans ohne jedes praktische Ergebnis blieb, spitzten sich die Verhältnisse im Sudetengebiet immer mehr zu. Auf dem Nürnberger Parteitag nahm der Führer in grundsätzlichen Ausführungen zu dem sudetendeutschen Problem Stellung. Auch in dieser Rede wurde wiederum deutlich, wie er jedes einzelne Problem Mitteleuropas stets im Zusammenhang mit einer neuen europäischen Friedensordnung sah, die sich nach seiner Meinung auf der Verständigung mit den Westmächten und insbesondere mit England aufbauen mußte.


 58. 
Aus der Schlußrede des Führers auf dem ersten Reichsparteitag Großdeutschlands in Nürnberg vom 12. September 1938

Der nationalsozialistische Staat hat um des europäischen Friedens willen sehr schwere Opfer auf sich genommen, und zwar sehr schwere nationale Opfer. Er hat jeden sogenannten Revanchegedanken nicht nur nicht gepflegt, sondern im Gegenteil aus dem gesamten öffentlichen und privaten Leben verbannt.

Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat Frankreich das Elsaß und Lothringen dem alten Deutschen Reich mitten im tiefsten Frieden langsam genommen. 1870/1871 hat Deutschland nach einem schweren Krieg, der ihm aufgezwungen war, diese Gebiete zurückgefordert und erhalten. Nach dem großen Weltkrieg gingen sie wieder verloren.

Für uns Deutsche bedeutete das Straßburger Münster sehr viel. Wenn wir trotzdem hier einen endgültigen Strich gezogen haben, dann geschah es, um dem europäischen Frieden für die Zukunft einen Dienst zu erweisen. Es konnte uns niemand zwingen, solche Revisionsansprüche freiwillig aufzugeben, wenn wir sie nicht aufgeben wollten!

Wir haben sie aufgegeben, weil es unser Wille war, den ewigen Streit mit Frankreich einmal für immer zu beenden.

Auch an anderen Grenzen hat das Reich dieselben entschlossenen Maßnahmen verfügt und die gleiche Haltung eingenommen. Der Nationalsozialismus ist hier wirklich von höchstem Verantwortungsbewußtsein getragen vorgegangen.

[144] Wir haben die schwersten Opfer an Verzichten freiwillig auf uns genommen, um Europa für die Zukunft den Frieden zu erhalten und vor allem der Völkerversöhnung von uns aus den Weg zu ebnen.

Wir haben dabei mehr als loyal gehandelt. Weder in der Presse noch im Film oder auf der Bühne ist eine diesem Entschluß entgegenstehende Propaganda gemacht worden. Nicht einmal in der Literatur wurde eine Ausnahme geduldet.

Ich habe aus diesem selben Geiste heraus Angebote gemacht zur Lösung europäischer Spannungen, die einer Ablehnung verfielen aus Gründen, die uns heute noch unverständlich sind. Wir haben selbst unsere Macht auf einem wichtigen Gebiet freiwillig begrenzt, in der Hoffnung, mit dem im Frage kommenden Staat niemals mehr die Waffen kreuzen zu müssen.

Dies ist nicht geschehen, weil wir etwa nicht mehr als 35 v. H. Schiffe würden bauen können, sondern es geschah, um einen Beitrag zur endgültigen Entspannung und Befriedung der europäischen Lage zu geben.

Da in Polen ein großer Patriot und Staatsmann bereit war, mit Deutschland einen Akkord zu schließen, sind wir sofort darauf eingegangen und haben eine Abmachung getätigt, die für den europäischen Frieden mehr bedeutet als alle Redereien im Genfer Völkerbundstempel zusammengenommen.

Deutschland hat nach vielen Seiten hin vollständig befriedigte Grenzen und es ist entschlossen, und es hat dies versichert, diese Grenzen nunmehr als unabänderlich und endgültig hinzunehmen und anzunehmen, um damit Europa das Gefühl der Sicherheit und des Friedens zu geben. Diese Selbstbegrenzung und Selbstbeschränkung ist aber anscheinend von vielen nur als eine Schwäche Deutschlands ausgelegt worden.

Ich möchte deshalb heute diesen Irrtum hier richtigstellen:

Ich glaube, es kann dem europäischen Frieden nicht nützen, wenn darüber ein Zweifel besteht, daß das Deutsche Reich nicht gewillt ist, deshalb nun überhaupt sein Desinteressement an allen europäischen Fragen auszusprechen, und insonderheit, daß Deutschland nicht bereit ist, dem Leid und Leben einer Summe von 3½ Millionen Volksgenossen gegenüber gleichgültig zu sein und an ihrem Unglück keinen Anteil mehr zu nehmen.

Wir verstehen es, wenn England oder Frankreich ihre Interessen in einer ganzen Welt vertreten. Ich möchte aber hier den Staatsmännern in Paris und London versichern, daß es auch deutsche Interessen gibt, die wir entschlossen sind wahrzunehmen, und zwar unter allen Umständen.

Ich möchte sie dabei erinnern an eine Reichstagsrede vom Jahre 1933, in der ich zum ersten Male vor der Welt feststellte, daß es nationale Fragen geben kann, in denen unser Weg klar vorgezeichnet ist, daß ich dann jede Not und jede Gefahr und jede Drangsal lieber auf mich nehmen werde, als von der Erfüllung solcher Notwendigkeiten abzustehen.

[145] Kein europäischer Staat hat für den Frieden mehr getan als Deutschland! Keiner hat größere Opfer gebracht!

(DNB. vom 13. September 1938.)

Alle Reden und Schriftstücke, die im Verlaufe der September-Krise gewechselt wurden, sind neben der sudetendeutschen Frage immer wieder von der größeren deutsch-englischen Frage bestimmt.


 59. 
Mitteilung des britischen Premierministers Chamberlain an den Führer und Reichskanzler vom 14. September 1938

Im Hinblick auf die zunehmende kritische Lage schlage ich vor, sofort zu Ihnen herüberzukommen, um zu versuchen, eine friedliche Lösung zu finden. Ich schlage vor, auf dem Luftwege zu kommen und bin morgen zur Abreise bereit.

Teilen Sie mir bitte den frühesten Zeitpunkt mit, zu dem Sie mich empfangen können, und geben Sie mir den Ort der Zusammenkunft an. Ich wäre für eine sehr baldige Antwort dankbar.

Neville Chamberlain
(DNB. vom 14. September 1938.)


 60. 
Amtliche deutsche Verlautbarung vom 15. September 1938

Berchtesgaden, 15. September. Der Führer und Reichskanzler hatte am Donnerstag auf dem Obersalzberg mit dem britischen Premierminister eine Besprechung, in deren Verlauf ein umfassender und offener Meinungsaustausch über die gegenwärtige Lage stattfand.

Der britische Premierminister fährt am Freitag nach England zurück, um sich mit dem britischen Kabinett zu beraten. In einigen Tagen findet eine neue Besprechung statt.

(DNB. vom 16. September 1938.)


 61. 
Aufzeichnung über die Unterredung des Führers mit dem britischen Premierminister Chamberlain auf dem Obersalzberg vom 15. September 1938

Der Führer sagte: "Grundsätzlich könne er erklären, daß er seit seiner Jugend den Gedanken einer deutsch-englischen Zusammenarbeit gehabt habe. Der Krieg sei für ihn eine schwere, innere, seelische Erschütterung gewesen. Er habe aber nach 1918 stets den Gedanken an die deutsch-englische Freundschaft vor Augen gehabt. Der Grund, weshalb er derartig für diese Freundschaft eingetreten sei, liege darin, daß er seit seinem 19. Lebensjahr gewisse Rasseideale in sich selbst entwickelt habe, die ihn dazu veranlaßt hätten, sofort nach dem Ende [146] des Krieges grundsätzlich die Annäherung beider Völker wieder als eins seiner Ziele ins Auge zu fassen. Er müsse zugeben, daß in den letzten Jahren dieser idealistische Glaube an die deutsch-englische Rassengemeinschaft sehr schwere Schläge erlitten habe. Er würde sich jedoch glücklich schätzen, wenn es in letzter Stunde gelinge, die gesamte politische Entwicklung trotz allem wieder in den Rahmen der Gedankengänge zurückzuführen, die er seit anderthalb Jahrzehnten immer wieder in seinen Reden und Schriften verfochten habe."

(Aus den Akten des Auswärtigen Amtes.)


 62. 
Erklärung des britischen Premierministers Chamberlain nach seiner Wiederankunft in London vom 16. September 1938

Ich bin schneller wieder zurückgekehrt, als ich angenommen hatte. Ich hätte die Reise genießen können, wenn ich nicht zu beschäftigt gewesen wäre.

Gestern nachmittag habe ich eine lange Unterredung mit Herrn Hitler gehabt. Es war eine offene, aber freundschaftliche Aussprache, und ich bin darüber zufrieden, daß jeder von uns jetzt voll versteht, was der andere meint.

Sie werden natürlich nicht von mir erwarten, daß ich mich jetzt über das Ergebnis dieser Unterredung äußere. Alles, was ich jetzt zu tun habe, ist, mit meinen Kollegen Rücksprache zu nehmen, und ich gebe den Rat, nicht voreilig einen unautorisierten Bericht dessen, was sich in der Unterredung abgespielt hat, als wahr hinzunehmen.

Ich werde heute abend mit meinen Kollegen und anderen, besonders mit Lord Runciman, die Unterredung erörtern.

Später, vielleicht in einigen wenigen Tagen, werde ich eine weitere Aussprache mit Herrn Hitler haben. Dieses Mal aber, so hat er mir gesagt, beabsichtigt er, mir auf halbem Wege entgegenzukommen. Herr Hitler wünscht, einem alten Mann eine so lange Reise zu ersparen.

(DNB. vom 17. September 1938.)

Die zweite Begegnung zwischen dem Führer und Chamberlain, die am 22./23. September in Godesberg stattfand, war wiederum durch Begleitumstände gekennzeichnet, die für die Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen nur allzu bezeichnend sind. Während nämlich die Besprechungen in Godesberg noch im Gange waren - sie endeten bekanntlich am 24. um 1.30 Uhr nachts, ohne bereits eine Entscheidung nach der einen oder anderen Seite zu bringen - wurde in Prag am 23. September um 20 Uhr der Mobilmachungsbeschluß gefaßt und um 22.20 Uhr über den Prager Sender bekanntgegeben. Man hat später aus englischer Quelle erfahren, daß die tschechische Regierung vorher in London angefragt hatte. Im Foreign Office habe man daraufhin, so berichtete die "Times", die Meinung gefaßt, daß England dem tschechischen Drängen auf Mobilmachung nicht weiter widerstehen könne, wenn man nicht die moralische Verantwortung dafür auf sich nehmen wolle, daß man dann den Tschechen [147] bewaffnete Hilfe gewähren müsse, wenn es zu einem deutschen Einmarsch käme. Das heißt: England konnte weder einen Rat für noch gegen die Mobilisierung erteilen.

Aber die englische Regierung habe hinzugefügt, die Mobilisierung gehe allein auf tschechische Verantwortung, sie habe ferner eine Warnung vor den ernsten Konsequenzen hinzugefügt. Dieser Meinungsaustausch der Tschechen mit dem Foreign Office und der Schritt des englischen Gesandten in Prag haben demnach ohne Wissen Chamberlains stattgefunden. Außerdem habe weder das Foreign Office noch die Prager Regierung zu diesem Zeitpunkt Kenntnis davon gehabt, was zwischen Chamberlain und dem Führer vor sich ging.

Die Bestimmungen der Vorschläge Hitlers seien im Foreign Office noch nicht bekannt gewesen, als dort die Nachricht von dem endgültigen Beschluß der Tschechen eingetroffen sei, mobil zu machen.

"Es ist daher evident", so schließt die "Times" ihre sorgfältigen Untersuchungen, daß diese Entscheidung nicht nur ohne das Anraten und die Zustimmung, sondern auch sogar ohne Wissen der englischen Regierung getroffen wurde."

Die merkwürdige Haltung des Foreign Office, das hier hinter dem Rücken des Regierungschefs in unverantwortlicher Weise eine selbständige Politik machte und mit seiner zweideutigen Erklärung den Weg für die tschechische Mobilmachung und damit für die letzte Verschärfung der Krise freigab, konnte nicht dazu angetan sein, das deutsche Vertrauen in die Absichten und Methoden der britischen Politik zu erhöhen. Es zeigte sich auch hier wieder, daß die britische Politik einen doppelten Boden hatte. Hinter Chamberlain und seinen Friedensproklamationen stand jederzeit aktionsbereit, auf die erste Gelegenheit wartend, jene unversöhnliche Gruppe von Kriegspolitikern, die den Konflikt nicht schnell genug auf die Spitze getrieben sehen konnte. Trotz dieser abermaligen, zu höchstem Mißtrauen berechtigenden Erfahrungen nutzte der Führer auch die letzte Möglichkeit einer friedlichen Lösung der sudetendeutschen Frage. Nachdem er im Augenblick der höchsten Spannung, in der Sportpalast-Rede vom 26. September, noch einmal auf die prinzipiellen Voraussetzungen der deutsch-englischen Zusammenarbeit hingewiesen hatte, brachte die Münchener Konferenz in der Tat ein Ergebnis, das über die Lösung der aktuellen Krise hinauszuweisen schien: die deutsch-englische Friedenserklärung vom 30. September.


 63. 
Aus der Rede des Führers im Berliner Sportpalast
vom 26. September 1938

Ich habe in dieser Zeit nun versucht, auch mit den anderen Nationen allmählich gute und dauerhafte Verhältnisse herbeizuführen.

Wir haben Garantien gegeben für die Staaten im Westen und allen unseren Anrainern die Unversehrtheit ihres Gebietes von Deutschland aus zugesichert. Das ist keine Phrase. Es ist das unser heiliger Wille. Wir haben gar kein Interesse daran, den Frieden zu brechen.

[148] Diese deutschen Angebote stießen auch auf wachsendes Verständnis. Allmählich lösen sich immer mehr Völker von jener wahnsinnigen Genfer Verblendung, die - ich möchte sagen - nicht zu einer kollektiven Friedensverpflichtung, sondern zu einer kollektiven Kriegsverpflichtung wurde. Sie lösen sich davon und beginnen, die Probleme nüchtern zu sehen, sie sind verständigungsbereit und friedenswillig.

Ich bin weitergegangen und habe England die Hand geboten! Ich habe freiwillig darauf verzichtet, jemals wieder in eine Flottenkonkurrenz einzutreten, um dem Britischen Reich das Gefühl der Sicherheit zu geben. Ich habe das nicht etwa getan, weil ich nicht mehr würde bauen können, darüber soll man sich keiner Täuschung hingeben, sondern ausschließlich aus dem Grund, um zwischen den beiden Völkern einen dauerhaften Frieden zu sichern.

Freilich, eines ist hier Voraussetzung: Es geht nicht an, daß der eine Teil sagt: "Ich will mit dir nie wieder Krieg führen, und zu diesem Zweck biete ich dir eine freiwillige Begrenzung meiner Waffen auf 35 v. H. an" - der andere Teil aber erklärt: "Wenn es mir paßt, werde ich von Zeit zu Zeit schon wieder Krieg führen." Das geht nicht!

Ein solches Abkommen ist nur dann moralisch berechtigt, wenn beide Völker sich in die Hand versprechen, niemals wieder miteinander Krieg führen zu wollen. Deutschland hat diesen Willen! Wir alle wollen hoffen, daß im englischen Volk diejenigen die Überhand bekommen, die des gleichen Willens sind!

(DNB. vom 27. September 1938.)


 64. 
Deutsch-englische Erklärung von München
vom 30. September 1938

Wir haben heute eine weitere Besprechung gehabt und sind uns in der Erkenntnis einig, daß die Frage der deutsch-englischen Beziehungen von allererster Bedeutung für beide Länder und für Europa ist.

Wir sehen das gestern abend unterzeichnete Abkommen und das deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker an, niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen.

Wir sind entschlossen, auch andere Fragen, die unsere beiden Länder angehen, nach der Methode der Konsultation zu behandeln und uns weiter zu bemühen, etwaige Ursachen von Meinungsverschiedenheiten aus dem Wege zu räumen, um auf diese Weise zur Sicherung des Friedens Europas beizutragen.

30. September 1938       Adolf Hitler       Neville Chamberlain

(DNB. vom 30. September 1938.)

Was nach München kam, zeigte indessen nur allzu schnell, aus welchen Motiven das Einlenken Chamberlains geboren war; daß es einzig und allein das Bewußtsein war, die Aufrüstung noch nicht vollendet zu haben, das ihn abhielt, andere Worte zu finden. Der damalige Rüstungsagent der britischen Regierung, Lord Winterton, prägte dafür die charak- [149] teristische Formulierung, man dürfe von den britischen Staatsmännern nicht verlangen, daß sie mit einer auf dem Rücken festgebundenen Hand verhandelten. Die Reden und Äußerungen der britischen Staatsmänner nach München zeigen, daß mit diesem Bilde der Geist der Münchener Vereinbarungen treffend beschrieben war.


 65. 
Aus der Unterhausrede des britischen Premierministers Chamberlain vom 3. Oktober 1938

Ich glaube, es gibt viele, die mit mir der Ansicht sind, daß eine solche von dem deutschen Reichskanzler und mir unterzeichnete Erklärung etwas mehr ist als nur eine fromme Meinungsäußerung. In unseren Beziehungen zu anderen Ländern hängt alles davon ab, daß auf beiden Seiten Aufrichtigkeit und guter Wille vorhanden sind. Ich glaube, daß hier Aufrichtigkeit und guter Wille auf beiden Seiten vorhanden sind. Das ist der Grund, warum die Bedeutung dieser Erklärung für mich weit über ihren tatsächlichen Wortlaut hinausgeht. Wenn es eine Lehre gibt, die wir aus den Ereignissen dieser letzten Wochen ziehen können, so ist es die, daß ein dauernder Friede nicht dadurch erreicht werden kann, daß wir stillsitzen und auf ihn warten. Um ihn zu erlangen, bedarf es aktiver und positiver Bemühungen. Ich werde zweifellos viele Kritiker haben, die sagen, daß ich mich eines leichtfertigen Optimismus schuldig mache und daß ich besser täte, kein einziges Wort zu glauben, das von den Regierenden anderer großer europäischer Staaten geäußert wird. Ich bin zu sehr Realist, um zu glauben, daß wir unser Paradies in einem Tag erringen. Wir haben nur den Grundstein des Friedens gelegt. Mit dem Oberbau ist noch nicht einmal begonnen worden.

Wir sind in diesem Land bereits während eines langen Zeitraums mit einem großen Wiederaufrüstungsprogramm beschäftigt, das in Tempo und Umfang ständig zunimmt. Niemand soll glauben, daß wir es uns infolge der Unterzeichnung des Münchener Abkommens zwischen den vier Mächten leisten können, unsere Anstrengungen im Hinblick auf dieses Programm in dem gegenwärtigen Zeitpunkt zu verringern. Die Abrüstung kann seitens dieses Landes nie wieder eine einseitige sein. Wir haben das einmal versucht und haben uns dabei fast ins Unglück gestürzt. Wenn die Abrüstung kommen soll, so muß sie schrittweise kommen, so muß sie durch Übereinkommen und die aktive Mitarbeit anderer Länder kommen. Und bis wir dieser Mitarbeit sicher sind, bis wir uns über die tatsächlich zu unternehmenden Schritte geeinigt haben, müssen wir auf unserer Hut bleiben...

Und während wir erneut entschlossen sein müssen, die Lücken in unseren Rüstungen und in unseren Verteidigungsmaßnahmen zu schließen, um zu unserer Verteidigung bereit zu sein und unserer Diplomatie Wirksamkeit zu verleihen - ich bin Realist -, so sage ich nichtsdestoweniger mit dem gleichen Sinn für Realitäten, daß ich in der Tat neue Gelegenheiten zur Inangriffnahme dieser vor uns [150] liegenden Abrüstungsfrage sehe, und ich glaube, daß sie heute zum mindesten ebenso aussichtsreich sind, wie sie es jemals zu irgendeiner früheren Zeit waren.

(E: Parliamentary Debates. House of Commons. Bd. 339, Sp. 49f. - D: Monatshefte für Auswärtige Politik, 1938, S. 1091f.)

Die freundschafliche Atmosphäre von München war durch diese Rüstungsrede Chamberlains rasch wieder verflogen. Eine entsprechende deutsche Antwort konnte nicht ausbleiben: der Führer gab sie in seiner Saarbrückener Rede vom 9. Oktober.

Seite zurückInhaltsübersichtnächste Seite

Deutschland-England 1933-1939
Die Dokumente des deutschen Friedenswillens
Hg. von Prof. Dr. Friedrich Berber