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Bd. 3: Der deutsche Landkrieg, Dritter Teil:
Vom Winter 1916/17 bis zum Kriegsende

Kapitel 3: Die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht von Bayern
im Jahre 1917
  (Forts.)

Generalmajor Rudolf v. Borries

[91] 3. Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht bis zum Beginn der Siegfried-Bewegung: Vorbereitungen des Rückzugs.
Hierzu Skizze 2 (auf besonderer Beilage). [Scriptorium merkt an: verkleinerte Fassung nachfolgend im Text eingefügt.]

Nach dem Abflauen der Sommekämpfe hatte man deutscherseits noch längere Zeit damit gerechnet, daß der Gegner nach kurzer Erholungspause seine Angriffe wiederaufnehmen werde. Das trat nicht ein, vielmehr war der Feind vor der 1. Armee bis zum ersten Drittel des Dezember 1916 auffallend ruhig. Dann schwoll das englische Artilleriefeuer wieder mächtig an und machte einen Stoß auf den Stellungsteil nördlich der Ancre wahrscheinlich. Dazu kam es nicht, aber die 1. Armee blieb in den ersten Monaten des Jahres 1917 der Hauptzielpunkt des feindlichen Feuers und feindlicher Unternehmungen. Bei der Häufung von Kräften auf beiden Seiten wirkte die Spannung der Sommeschlacht nach.

Rückzug in die Siegfriedstellung

[Beilage]
      Skizze 2: Rückzug in die Siegfriedstellung ("Alberich").      [Vergrößern]

Gegen die Feuerüberfälle der Engländer boten die mangelhaften Stellungen wenig Schutz und gegen feindliche Anläufe geringen Halt. Als der Feind am 5. Januar 1917 begann, sich nicht nur in den üblichen Streifvorstößen, sondern auch in kleinen Angriffen zu betätigen, konnten die betroffenen Stellungsteile nicht immer behauptet werden. So ging am 5. Januar ein Grabenstück zwischen Serre und Beaumont-Hamel verloren, am 10. Januar ein vorspringender Stellungsteil bei letzterem Ort. Am 11. und 12. Januar setzte der Gegner seine Anstürme gegen die Linie Serre - Beaumont-Hamel - Beaucourt fort und nötigte zur Zurücklegung des Widerstandes in einen hinteren Graben. Am 27. Januar griffen die Engländer nach langer Beschießung südlich Le Transloy an und drängten die vorderen deutschen Postierungen auf 600 m Breite zurück.

Anfang Februar steigerte sich die feindliche Artillerietätigkeit und erfaßte unter Mitwirkung von Fliegern besonders die deutschen Batteriestellungen. Nach der Abwehr eines Stoßes bei Gueudecourt am 1. Februar folgten vom 4. an weitere englische Angriffe, die sich gegen die Stellungen zwischen Serre und der Ancre und zwischen der Ancre und Bouchavesnes richteten. Hierbei mußten beiderseits der Ancre einzelne Grabenstrecken, auch Ortschaften, dem Feinde überlassen werden; an anderen Stellen gelang glückliche Abwehr. Nachdem bei Beaumont-Hamel am 10. Februar eine Riegelstellung bezogen war, erlitt der Feind bei neuen Stürmen zwischen dem Flusse und Serre am 12. und 13. Februar schwere Verluste, ohne Gelände zu gewinnen.

Der Gegner suchte sich seine Angriffsziele nunmehr in der Gegend von Miraumont, Gueudecourt und Sailly-Saillisel, hatte aber nur am 16. Februar bei Miraumont einen kleinen Erfolg.

Nachdem der Entschluß zum Rückzug in die Siegfriedstellung gefaßt war, bestand für die 1. Armee keine Notwendigkeit mehr, die völlig zerschossenen [92] und verschlammten Gräben der ersten Linie zu halten; sie nahm daher die Truppen auf dem größten Teile ihrer Front in eine vorbereitete rückwärtige Stellung zurück, die von Essarts-les Bucquoi über Bucquoi, Achiet le Petit und den Wald südwestlich von Grévillers nach Le Transloy verlief. Die Artillerie gruppierte sich in den Nächten vom 20. zum 22. Februar um; dann räumte die Infanterie ihre Gräben, indem sie Offiziersstreifen und Sicherungsabteilungen am Feinde ließ. Der Gegner merkte den Abzug erst am 24. Februar, vergeudete bis dahin sein Artillerie- und Minenfeuer auf tot liegende Stellungen und begann erst am 25. vorsichtig nachzufühlen. Sein taktisches Ungeschick brachte ihm schwere Verluste durch die deutschen Nachhuten ein; allein an Gefangenen verlor er bis zum 1. März 11 Offiziere, 177 Mann. An starke Angriffe gegen die zurückgenommene Front konnte er nicht denken, bevor er nicht seine Artillerie nachgeschoben hatte.

Er richtete daher seine Stöße gegen den stehengebliebenen Frontteil zwischen Le Transloy und Bouchavesnes, wo er am 28. Februar, am 4. und 5. März angriff. Wenn auch ein Teil seiner Anläufe scheiterte und Gegenstöße die Lage wiederherzustellen suchten, so blieb er doch im Besitz von einzelnen Grabenstrecken.

Nach mehrtägiger Pause wandte sich der Feind wieder gegen den zurückgenommenen Frontteil und warf am 10. März die deutschen Vorposten bei Irles auf die Hauptstellung bei Grévillers zurück. Am 11. März belegte er den Abschnitt zwischen Achiet le Petit und vorwärts Bapaume mit Trommelfeuer. Dem kommenden Sturme wichen aber die deutschen Truppen durch Rückzug in eine zurückliegende Stellung zwischen Achiet le Petit, Westrand von Bapaume und Le Transloy aus. Erst am 13. März stellte der Gegner den Abmarsch fest, stieß zweimal nach und erlitt schwere Verluste, ohne Vorteile zu erringen. Ebenso stürmte er in der Nacht vom 13. zum 14. März vergeblich in breiter Front bei Bucquoi an.

In der gleichen Nacht räumten die deutschen Truppen auch den schwer umkämpften Frontteil zwischen Le Transloy und Bouchavesnes und bezogen die Linie Le Mesnil - Manancourt - Templeux la Fosse. Bis zum Beginn des Rückzugs in die Siegfriedstellung, am 16. März, wurden die verlassenen Gräben noch von Streifen gehalten.

Bei der 6. Armee lag seit Jahresbeginn das Artilleriefeuer hauptsächlich auf dem nördlichen Teil der Stellung. Starkes Minenfeuer beiderseits des La Bassee-Kanals machte die Bekämpfung der für die Gräben gefährlichen Batterien nötig.

Der Gegner wirkte außerdem durch gelegentliche Sprengungen und Abblasen von Gas. Seine Streiftätigkeit und Unternehmungslust war rege und nahm von Woche zu Woche zu. Im Januar griff er mit kleinen Abteilungen bei Beaurain, Lens, Angres, Fromelles, Hulluch, Neuville St. Vaast, [93] dicht südlich des La Bassee-Kanals und bei Houplines an, an letzter Stelle am 28. Januar dreimal hintereinander. Die Vorteile, die er gelegentlich gewann, wurden in der Regel durch Gegenstöße wieder ausgeglichen.

Ein beredtes Bild von dem furchtbaren, blutigen Ringen um La Bassée am Kanal.
Ein beredtes Bild von dem furchtbaren, blutigen Ringen um La Bassée am Kanal.      [Vergrößern]
Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 72.
Im Februar steigerte der Gegner sein Feuer, zeigte auf der Nordhälfte vermehrte Artillerie und bekämpfte die deutschen Batterien planmäßig. Seine Anläufe wuchsen an Zahl und Stärke. Bis zum 10. Februar suchte er sich seine Angriffsziele bei und südlich Souchez sowie beiderseits des La Bassee-Kanals. Dann verlegte er den Schwerpunkt an die Straße Armentières - Lille und in die Gegend von Givenchy les La Bassee; erst gegen Ende des Monats wurden auch die Stellungen südlich des La Bassee-Kanals von neuem betroffen. Mehr als vorübergehende Gewinne waren ihm nicht beschieden, da die Verteidigung kraftvoll entgegenwirkte; sie traten auch nur dann ein, wenn dem feindlichen Angriffe, wie am 17. Februar bei Warneton, längeres Trommelfeuer voranging.

Im März machte sich weitere erhebliche Mehrung der feindlichen Tätigkeit geltend. Namentlich im Abschnitt La Bassee-Kanal - Arras wurden Stellungen, Batterien und Hintergelände unter Fliegerbeobachtung beschossen. Auch die Bombenwürfe nahmen zu. Die Angriffe wurden zahlreicher und richteten sich gegen die Stellungen beiderseits des La Bassee-Kanals. Gelegentliche Einbrüche wurden durchweg von der deutschen Verteidigung zurückgewiesen.

Gegenüber diesen ungewöhnlich zahlreichen Anläufen blieben die Deutschen nicht tatenlos. Im Januar stürmten sie mehrfach bei Armentières und bei Fromelles; auch gelang ihnen am 11. Januar eine erfolgreiche Sprengung bei Souchez. Im Februar und März setzte sich der Kampf in lebhaftem Streifgang fort, der zahlreiche Gefangene erbrachte. Durch stärkere Vorstöße bei Armentières am 21. Februar und bei Souchez am 1. März erlitt der Feind schwere blutige Verluste.

Im ganzen stand die Kampfspannung bei der 6. Armee trotz der häufigen Zusammenstöße hinter dem gefahrdrohenden Ringen bei der 1. Armee zurück.

Bei der 2. Armee, die anfangs in der Hauptsache Franzosen sich gegenüber hatte, war es im Januar ziemlich still. Das feindliche Feuer richtete sich meist auf Péronne und Umgegend; Barleux und Beauvraignes wurden häufig mit Minen beschossen. Bei Beauvraignes griff der Gegner am 15. Januar mit geringem Anfangserfolge an, wurde aber wieder zurückgeworfen. Im Februar steigerte sich das Artilleriefeuer nördlich der Somme, griff auch gelegentlich auf das Südufer über. Auf dem nördlichsten Teil der Front, wo Engländer gegenüber lagen, wurde die Infanterie lebendiger. Auf deutscher Seite fühlten im Januar und Februar zahlreiche Streifen vor; eine Reihe gelungener Stoßtruppunternehmungen brachten Aufklärung über die feindliche Kräfteverteilung.

Im März nahmen Artillerie- und Infanterietätigkeit auch bei den Franzosen stark zu; sie zeigten häufige Neigung zu kleinen Unternehmungen, ohne [94] wesentliche Erfolge zu erzielen. Die Lage starken Artilleriefeuers auf dem Abschnitt zwischen Avre und Oise, die Feststellung neuer Batterien und sonstiger Vorbereitungen ergaben die Wahrscheinlichkeit eines großen Angriffs. Deutscherseits beabsichtigte man den Stoß kurz vor dem Rückzuge auf die Siegfriedstellung nicht anzunehmen. Als der Zeitpunkt des feindlichen Sturmes nahe zu rücken schien, wurde in der Nacht vom 12. zum 13. März, zwischen Avre und Oise, die vordere Stellung geräumt und die Verteidigungslinie in die Front Damery - Roye - Passel zurückverlegt.

In der folgenden Nacht zog auch der nördliche Teil des rechten Armeeflügels nördlich der Avre ab und besetzte den vorbereiteten Raum zwischen Templeux la Fosse, wo Anschluß an die 1. Armee genommen wurde, Doingt, St. Christ, Fresnes.

Dem Gegner blieb der Rückzug bis zum 15. März verborgen; er beschoß weiter die alten, nunmehr wesenlos gewordenen Ziele. Am 15. März begann er vorsichtig mit Streifen nachzufühlen.

Die Front der 7. Armee blieb die ruhigste der Heeresgruppe. Im Januar führten die Franzosen nur auf dem rechten Flügel bei Morsain und Nouvron gelegentliche Streifunternehmungen aus; im Februar lebte ihre Tätigkeit auch auf dem linken Flügel nördlich von Reims auf. Erst im März kam es zu häufigen Feuerüberfällen und Infanteriegefechten auf der ganzen Front, ohne daß sich größere Anläufe andeuteten.

Deutscherseits wurde öfter Gelegenheit gesucht, durch Vorstöße dem Feinde Beute und Gefangene abzunehmen und die Verhältnisse zu klären. Besonders erfolgreich waren die Januarangriffe bei Soupir, bei Craonne und bei Sapigneul - La Neuville.

Aufmerksamkeit erregten zahlreiche Neuanlagen des Gegners an Bahnen, Baracken, Depots usw. südlich der Front Vailly - Reims, wo auch lebhafter Verkehr stattfand. Im Februar und März schoß sich die feindliche Artillerie allmählich mit Fliegerbeobachtung auf die Stellung ein.

Es war also eine bewegte Zeit, in die die planmäßig am 9. Februar begonnenen Rückzugsvorbereitungen "Alberich" hineinfielen. Über die taktische Ausführung war sich die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht frühzeitig klar geworden.

Am letzten Alberichtage sollten die für den ersten Marschtag - den 16. März - bestimmten Nachhuten die in einfachster Weise aufzubauende erste Nachhutstellung in der Linie: Tilloy - Mercatel - St. Marc (6. Armee) - Hamelincourt - Béhagnies - Beugny - Ytres - Nurlu - Templeux la Fosse (1. Armee) - Doingt - Epénancourt - Etalon - Beaulieu les Fontaines - Salency (2. Armee) - südwestlich Pontoise - Caisnes - Laffaux - Condé (7. Armee) besetzen. Die Truppen hatten auf der Gesamtfront nach Einbruch der Dunkelheit, Offizierstreifen zur Täuschung des Gegners und zur scheinbaren Fortsetzung [95] des Widerstandes zurücklassend, aus den aufzugebenden Gräben bis in den Raum hinter der ersten Nachhutstellung zu rücken. Am 17. März abends war der Rückzug fortzusetzen, und zwar von der 6. und 1. Armee in die Siegfriedstellung, von der 2. Armee bis in und hinter die zweite Nachhutstellung Hargicourt - westlich Beauvois - westlich Ham - Berlancourt - Guivry - Abbécourt, von der 7. Armee, soweit ihre Siegfriedstellung nördlich des Oise-Aisne-Kanals verlief, in die zweite Nachhutstellung nördlich dieses Wasserlaufes. Für den 18. März war der 2. Armee für den rechten Flügel bis St. Quentin einschließlich der endgültige Abzug in die Siegfriedstellung vorgeschrieben; der linke sollte noch eine Vorstellung in der Linie St. Quentin - St. Simon - La Fère beziehen und die 7. Armee die Strecke Vauxaillon - Laffaux - Condé halten. Die Dauer der Besetzung dieser Vorstellungen blieb in der Schwebe.

Der Rückzug der Artillerie war so vorgesehen, daß die Truppen in jeder rückwärtigen Stellung die erforderlichen Batterien schon hinter sich eingebaut fanden. Um den Gegner zu täuschen, mußten in den ursprünglichen Stellungen noch möglichst lange einzelne Geschütze zurückgelassen werden, die das bisherige Feuer fortsetzten.

Eingehend erwog die Heeresgruppe die Möglichkeit, nach dem Rückzug durch Angriffsunternehmungen dem Feinde im offenen Felde entgegenzutreten. Sie hielt kleinere Ausfälle beiderseits der Oise gegen den verfolgenden Gegner für durchführbar, um ihn in den Crozat- und in den Oise-Aisne-Kanal zu werfen, und befürwortete eine große Offensive aus der Siegfriedstellung beiderseits von St. Quentin mit dem Ziel, die nachdrängenden Truppen zwischen Péronne und Ham gegen die Somme zurückzudrücken. Vorbedingung war aber das Vorhandensein von Verstärkungen und zahlreicher Munition; auch konnte der Gegner seinerseits in unbequemer Weise an den Stellen angreifen, wo die bisherigen Linien der 6. und 7. Armee in die Siegfriedstellung übergingen. An beiden Stellen mußte man stark sein, und diese Notwendigkeit stand voran.

Für die Rückzugsanordnungen empfahl die Heeresgruppe, sich auf den ungünstigsten Fall einzurichten, daß der Feind scharf nachdränge, obwohl dies nicht gerade wahrscheinlich war. Wichtig war es, in einem Zuge und möglichst unversehrt in die neue Linie zurückzukommen. Nachhutgefechte sollten sich deshalb nicht zu großen Kämpfen auswachsen, in die die zurückgegangenen Gros hätten eingreifen müssen.

Der 16. März wurde als erster Rückmarschtag den Stäben und Truppen erst sehr spät, aber doch einige Tage vorher bekanntgegeben, um für zuletzt sich häufende Einzelarbeiten Zeit zu lassen.

Mit der Zurückführung deutschen Eigentums aus dem zu räumenden Gebiet war schon vor der Alberich-Zeit begonnen worden, soweit es sich um solches Gerät und solche Einrichtungen handelte, die ohne Nachteil für die vorn fechtenden [96] Truppen abgeschoben werden konnten. Es kamen hierbei meist fabrikmäßige Anlagen in Betracht, die nicht aus besonderen Gründen an einen bestimmten Ort gefesselt waren. Die Hauptarbeit mußte aber in die Alberich-Zeit selbst hineingelegt und mit der Eisenbahn und, soweit es der Frost zuließ, auf Wasserstraßen bewältigt werden. Zurückzubringen waren Munition, Verpflegung, Landesvorräte, Pionier- und Stellungsgerät, Wohlfahrteinrichtungen, Werkstätten, landwirtschaftliche Maschinen, Sanitäts- und Etappeneinrichtungen, schließlich das freigemachte Bahnmaterial.

Die Räumung des Alberich-Gebiets gelang vollkommen; nichts Nennenswertes fiel dem Gegner in die Hand. Nur einzelne Baracken wurden als nicht abbauwürdig zerstört. In 163 Zügen rollte die zu bergende Masse hinter die Siegfriedstellung ab.

Außerordentlich viel schwieriger gestaltete sich die Räumung des Alberich- und des Gebiets unmittelbar hinter der Siegfriedstellung von den Landeseinwohnern, die nicht der Einwirkung kommender Kämpfe ausgesetzt werden durften. Wenn es auch erwünscht schien, die nicht arbeitsfähigen Leute dem Feinde zuzuschieben, so geboten doch Rücksichten der Menschlichkeit, hierbei Familienverbände nicht zu zerreißen, Insassen der gleichen Ortschaften nicht zu trennen und im eigenen rückwärtigen Gebiet die Landbevölkerung wiederum auf dem Lande, die Stadtbevölkerung in Städten unterzubringen. Für Altersschwache und Kranke mußte besonders gesorgt werden. Jeder Abschübling sollte für drei Tage Verpflegung erhalten.

Die Abbeförderung der Einwohner und der ihnen mitzugebenden tragbaren Habe geschah fast durchweg mit der Bahn, wozu 340 Züge erforderlich waren. 126 000 Köpfe wurden nach dem Osten in die Etappengebiete, später auch nach Belgien verschoben, 14 000 bei der 2. und 7. Armee in bestimmten Orten gesammelt und dem Feinde überlassen. Zuletzt wurde aus Gründen der Geheimhaltung die Stadt St. Quentin geräumt. Zurückgebliebene wertvolle und Kunstgegenstände wurden besonders geborgen.

Die weitgehende Rücksicht auf die Empfindungen und Wünsche der Einwohner trug den deutschen Dienststellen lebhafte Dankesbezeigungen ein.

Um dem Gegner die Verfolgung und das Dasein in den zu räumenden Bezirken zu erschweren, galt es in erster Linie, die Verkehrswege zu unterbrechen, Unterkunft und Wasserversorgung zu behindern. Es konnte keine Rede davon sein, das ganze Gebiet in eine Wüste zu verwandeln, in der dem Feinde bei jedem Schritt eine neue Hemmung entgegenstarrte. Dazu wären Kräfte und Materialien nötig gewesen, die nicht vorhanden waren. Im allgemeinen mußte man sich auf Unbrauchbarmachung der Eisenbahnen, Straßen, Kanäle, auf Verstopfung der Trinkwasserentnahmestellen, Versumpfungen, Überschwemmungen, Beseitigung der Unterkunfts- und Deckungsmöglichkeiten in der voraussichtlichen Unterbringungs- und Kampfzone vor der Siegfriedstellung [97] beschränken. Die Zeit hierzu war begrenzt, weil frühe Sprengungen den Rückzug verraten konnten; zum größten Teil mußten sie, zumal die Straßen- und Bahnzerstörungen, während des Rückzuges selbst vorgenommen werden. Es hat sich aber doch nicht ganz vermeiden lassen, daß der Gegner vorzeitig von ihnen Kenntnis erhielt.

Trotz dieser Beschränkung erwies sich die Wirkung dieser Maßnahmen auf den verfolgenden Gegner als groß. Er sah sich nicht nur zur Verlangsamung seines Voranschreitens, sondern auch zum Einsatz erheblicher Arbeitskräfte genötigt, um sich erträgliche Kampf- und Lebensbedingungen zu schaffen. Damit war der Zweck erreicht, starke feindliche Angriffe gegen die zurückgesteckte Front für einige Zeit unmöglich zu machen. Übrigens zeigten sich die Franzosen in der Überwindung der Hinderungen gewandter als die Engländer.

Beschießung von St. Quentin durch die französische Artillerie.
Beschießung von St. Quentin durch
die französische Artillerie.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 151.

Auf dem Trümmerfeld des abgebrannten Daches der Kathedrale von St. Quentin.
Auf dem Trümmerfeld des abgebrannten Daches
der Kathedrale von St. Quentin.
Am 19. August 1917.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 152.
Wie zu erwarten, haben die Verschiebung der Einwohner und die Schaffung von Hinderungen für den Feind zu den heftigsten Anklagen gegen die deutschen Barbaren geführt. Die Verzerrung selbstverständlicher Kriegsmaßnahmen in Taten der Grausamkeit und Zerstörungswut gehörte nun einmal zum Rüstzeug der Entente, die in der Verleumdung, leider mit Recht, eine Waffe erkannt hatte, deren Gift weiterfraß. Einer Widerlegung bedürfen die Beschuldigungen nicht; nur darauf sei hingewiesen, daß die Deutschen im Rückzugsgebiet liegende große Orte, wie Nesle, Ham, Noyon usw. schonten, während sich die Gegner nicht scheuten, in den kommenden Kämpfen die bedeutende Stadt St. Quentin mit ihrer herrlichen Kathedrale in Trümmer zu legen.

Seit dem Beschluß des Rückzugs wurde der weitere Ausbau der Siegfriedstellung unter Heranziehung starker Kräfte, auch rückwärtiger Divisionen, mit Hochdruck betrieben. Bis zum Einrücken der Besetzungstruppen war der Stand der Arbeiten folgender: Die Stellung besaß volle Verteidigungsfähigkeit mit breiten Hindernissen und durchlaufenden Gräben. Die Zahl fertiger und gegen starken Beschuß gesicherter Unterstände war so groß, daß sie auch für den Fall sofortigen feindlichen Angriffs ausgereicht hätte. Annäherungs- und Kabelgräben bestanden auf den Strecken, die voraussichtlich feindlicher Beobachtung unterlagen; hier war noch viel nachzuholen. Maschinengewehr- und Minenwerferstände - auch im Zwischengelände - standen fast vollzählig bereit. Für die Artillerie hatte man die meisten und wichtigsten Beobachtungsstellen, sowie die dem Feinde nächstgelegenen Batteriestellungen fertiggebaut; weiter rückwärts fehlte es noch an Munitions- und Mannschaftsunterständen. Die Sanitätseinrichtungen waren fast vollendet. Das Nachrichtennetz mit den wichtigsten Verzweigungen lag fest. Für die Wasserversorgung hatte man Feldbrunnen schußsicher eingedeckt.

Im ganzen genommen war noch nicht der Stand des Ausbaues erreicht, den die Führung erhofft hatte. Die Gründe lagen in häufigem Personal- und Arbeiterwechsel und in der sehr ungünstigen Winterwitterung, Umstände, die [98] mächtiger waren als der Wille, sie zu meistern. Unzweckmäßigkeit in Anlage und Ausführung kam auf einzelnen Strecken hinzu. Es fehlte vor allem die Tiefe im Ausbau. Die Artillerie-Sicherungslinie war fast überall nicht über die ersten Anfänge hinausgekommen. Die erwartete Ruheperiode nach dem Beziehen der Siegfriedstellung schuf die Möglichkeit, manches zu bessern.

Für den Bahnbetrieb waren die wichtigsten Neubauten so weit fertiggestellt, daß die Zufuhr hinter der Siegfriedstellung ebenso gesichert war, wie die Verschiebung von Truppen. Feld- und Förderbahnen zur Verteilung des Nachschubs wurden erst nach der Alberich-Zeit gestreckt. Die neuen Munitionsdepots und Magazine waren beim Einrücken der Besatzungstruppen gefüllt. Die Zufuhr vorwärts der Siegfriedstellung hörte am 4. März auf: der Bestand in den alten Depots und Magazinen war so geregelt, daß die Truppen ihn bis zum 15. März verbraucht haben konnten.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte