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[Bd. 2 S. 159]
2. Kapitel: Der Kampf um Oberschlesien.

Es war kein klirrender Kampf der Waffen, aber ein nervenzerrüttender Kampf der Meinungen, Hoffnungen und Befürchtungen, welcher der Tragödie Oberschlesiens voraufging. Der Kampf der Meinungen war auf der Seite derjenigen, welche die Macht hatten, auf der Seite der Alliierten, der Kampf der Hoffnungen und Befürchtungen auf seiten des ohnmächtigen Deutschland. Oberschlesien verursachte in der Tat in Paris und London erhebliches Kopfzerbrechen, und man feilschte um deutsche Seelen wie um eine Schafherde. Im Abstimmungsgebiet war inzwischen der von den Polen heraufbeschworene Aufstand ausgebrochen, und zu der Ungewißheit über das künftige politische Schicksal kamen für die Deutschen zahllose Leiden, Grausamkeiten und Bluttaten. Junge, grünende Saaten wurden zerstampft, Dörfer in Trümmerhaufen verwandelt und die Maschinen in den Fabriken zerstört. Menschenleben wurden für nichts geachtet. Als Bettler, nur mit dem Nötigsten bekleidet, zogen viele Hunderte von Flüchtigen von ihrer Heimat. Die Ehre ihrer Frauen und Töchter wurde mit Füßen getreten, und die Männer wurden meuchlings gemordet. Wilder Fanatismus zerfleischte das Land, und das Seufzen, das Stöhnen und Jammergeschrei erfüllte die einst so blühende Provinz der Arbeit und Wirtschaft, doch gab es keine Macht der Welt, die sich der Unglücklichen erbarmte. –

  Vier Abstimmungszonen  

Die Abstimmung am 20. März hatte in vier Zonen stattgefunden. Der Nordwesten hatte eine deutsche Mehrheit von vier zu eins, der Süden eine polnische von zwei zu eins. Das dicht bevölkerte Herz des Industriebezirks wies eine deutsche Mehrheit von fünf zu vier auf, das kleine Gebiet in der Mitte eine polnische im gleichen Verhältnis. Da die Teilung Oberschlesiens von vornherein bei den Alliierten feststand, machten ihnen die beiden ersten

  Französisch-englische  
Differenzen

Bezirke keine Sorgen. Um so größer waren die Schwierigkeiten bei den beiden letzten Zonen. Frankreich, welches Polen begünstigte, wollte diesem [160] Staate beide Teile ganz ausliefern. England, welches wirtschaftliche Faktoren in den Vordergrund stellte, wollte zum mindesten das Industrierevier bei Deutschland lassen. Italien beschritt den goldenen Mittelweg und hielt eine Grenzlinie in Bereitschaft, welche zwischen der französischen und englischen mitten durch das Industriegebiet verlief. Der Streit um die Grenze, über die sich die Alliierten nicht einigen konnten, füllte sechs Monate aus und nahm zeitweise sehr scharfe Formen an, während die Polen sich bemühten, ihre Korfanty-Linie, die der französischen am nächsten kam, zu verwirklichen. Deutschland dagegen behauptete, eine Teilung käme gar nicht in Frage. Die Abstimmung habe insgesamt eine deutsche Mehrheit gegeben und infolgedessen müsse ganz Oberschlesien beim Reiche bleiben. –

Lloyd George
  über Oberschlesien  

Lloyd George verbreitete sich am 12. Mai des längeren im Unterhause über das Problem Oberschlesien. "Es sei das Friedensproblem", sagte er.

      "Die Volksabstimmung, die gemäß dem Versailler Vertrag stattgefunden habe, hätte gezeigt, daß sich eine Mehrheit von etwa sechs zu vier zu Deutschlands Gunsten erklärt hätte. Die Lage sei einigermaßen kompliziert worden durch die Tatsache, daß in einigen Bezirken die Städte deutsch und das Land polnisch gestimmt hätten. Die Interalliierte Kommission sei zu dem Entschluß gekommen, daß die Gebiete mit überwiegend polnischer Bevölkerung den Polen zugewiesen werden sollten. Jetzt hätten nun die Polen einen Aufruhr eingeleitet, um die Alliierten vor eine vollendete Tatsache zu stellen. Aber so etwas bedeute eine Herausforderung dem Versailler Vertrag gegenüber. Wenn die Angelegenheit nicht streng unparteiisch behandelt werde, würden die Folgen für den europäischen Frieden verhängnisvoll sein. Polen sei das letzte Land, das den Versailler Vertrag zerreißen dürfe, denn Polen habe nicht durch eigene Kraft seine Freiheit gewonnen, sondern diese sei durch England, Frankreich und Italien errungen worden. Die polnische Regierung habe zwar die Verantwortung für den Aufstand abgeleugnet, aber derartige Beteuerungen seien schon öfter gegeben worden, und es sei schwer, zu glauben, daß diese Beteuerungen etwas mehr als [161] Redensarten seien. Für die Alliierten aber sei es sehr wichtig, daß der Vertrag von Versailles eingehalten würde. Wenn Polen gestattet werde, in die deutschen Provinzen einzufallen, so könnte das sehr üble Folgen haben. Deutschland könnte unter diesen Umständen mit Recht zu den Alliierten sagen: 'Sie haben mich gezwungen, meine Verpflichtungen einzuhalten; was aber haben Sie hinsichtlich Ihrer Verpflichtungen getan?'"

Der englische Minister fuhr fort:

      "Ich erkläre feierlichst, daß es nicht allein eine Ehrensache, sondern auch eine Sache der Sicherheit ist, daß wir uns zu dem Versailler Vertrag bekennen, gleichgültig, ob der Vertrag für oder gegen uns ist. Sie können sagen, es handle sich nur um Deutsche, aber ich sage, die Deutschen haben das Recht auf jeden Punkt, den ihnen der Versailler Vertrag gibt. Es gibt nur zwei Arten, diese Angelegenheit zu behandeln: erstens, können die alliierten Truppen die Ordnung wiederherstellen? zweitens, würde Deutschland von seinen Streitkräften Gebrauch machen können, um die Ordnung in seinem eigenen Gebiete wiederherzustellen? Ich sehe nicht ein, was die Alliierten dagegen einzuwenden haben würden. Das ist ehrliches Spiel – fair play –, und Großbritannien hat immer für ein ehrliches Spiel plädiert. Das einzige, was wir nicht gestatten können, ist, daß der Vertrag gebrochen wird. Das würde die schlimmsten Folgen haben."

Wie ein aufgerührter Wespenschwarm fiel die französische Presse über Lloyd George her. Seine ketzerischen, deutschfreundlichen Ausführungen wurden geradezu als ein Verrat an der Sache der Alliierten gebrandmarkt. Briand selbst wies am 14. Mai im Temps den Engländer zurecht. Polen sei unschuldig am Aufstande, denn die Polen hatten es ja selbst behauptet und mit scheinheiligem Augenaufschlag erklärt, der ganze Aufruhr sei nur davon gekommen, daß Deutschland falsche Nachrichten über die bevorstehende Teilung des Gebietes verbreitet hätte, Nachrichten natürlich, die für Polen ungünstig gewesen seien. Deshalb sei auch Deutschland verantwortlich für den Aufruhr. Auf keinen Fall jedoch dürfe man ein militärisches Eingreifen der Deutschen gestatten. Wo bliebe denn da die europäische Sicherheit? Und was die [162] Teilung anbelange, so brauche man sich jetzt darüber noch nicht den Kopf zu zerbrechen, die Interalliierte Kommission werde die Grenze schon festsetzen.

Für Lloyd George wurde Oberschlesien eine Quelle innerer Qual. Hier Versailler Vertrag, Ehre, Gewissen – dort Frankreich-Polen, politische Zweckmäßigkeit. Dem Reuterschen Nachrichtenbüro übermittelte er am 18. Mai folgende Erwiderung auf die französischen Vorwürfe:

      "Es wäre beklagenswert, wenn die französische Presse einen anderen Standpunkt einnehmen sollte... Der Standpunkt, den die englische, amerikanische und italienische Presse in der oberschlesischen Frage eingenommen hat, sollte Frankreich nicht anstößig sein. Sie stehen zum Vertrage von Versailles und wollen die Bestimmungen des Vertrages gerecht anwenden, ob sie nun für oder gegen Deutschland ausfallen. Das Schicksal Oberschlesiens muß durch den Obersten Rat entschieden werden, nicht durch Korfanty. Es darf den Kindern des Vertrages nicht gestattet werden, ungestraft in Europa Geschirr zu zerbrechen. Jemand muß ihnen die zügelnde Hand anlegen, andernfalls wird es ständige Schwierigkeiten geben... Die britische Regierung war bestrebt, die Frage einer Teilung Oberschlesiens auf der Londoner Konferenz zu regeln. Alle Tatsachen der Volksabstimmung waren bekannt. Unsere Bundesgenossen waren aber nicht bereit, mit der Besprechung fortzufahren. Wir werden treu zu der Entscheidung stehen, die von der Mehrheit der Mächte getroffen werden wird, die auf Grund des Vertrages bei der Festsetzung der schlesischen Grenze eine Stimme haben, wie auch immer der Spruch lauten möge. Wir nehmen die Volksabstimmung als Ausdruck der Wünsche der oberschlesischen Bevölkerung voll an. Da wir aber in den großen Krieg eingetreten sind und für die Verteidigung des alten Vertrages, an dem unser Land beteiligt war, gewaltige Verluste erlitten haben, kann Großbritannien nicht einwilligen, ruhig dabeizustehen, während auf dem Vertrag, den seine Vertreter vor weniger als zwei Jahren unterzeichnet haben, herumgetreten wird."

  Scharfe Gegensätze  
auf allen Seiten

Das Stadium der politischen Vorfeldgefechte zog sich bis gegen Mitte Juni hin, und man erkannte bereits den tiefen, [163] ja unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der englischen und der französischen Auffassung. Deutschland unterließ in London, Paris und Rom nichts, um immer wieder auf seinen nach Volksabstimmung und Versailler Vertrag gerechten Anspruch auf ganz Oberschlesien hinzuweisen. Man erklärte, die ganzen

Deutsche und
  polnische Ansichten  

Wiedergutmachungsverpflichtungen würden in Frage gestellt, wenn Deutschland das oberschlesische Industriegebiet einbüße. Deutschland war viel zu ohnmächtig, um anders als durch Worte sein Recht zu verteidigen. – Auch Polen, der andere Hauptbeteiligte, argumentierte für sein Recht. Mit herzerfrischender Unbefangenheit gab der Ministerpräsident Witos am 15. April im Sejm zu Warschau folgende Erklärung ab: Das Plebiszit stecke klar die Grenze des deutschen Dranges nach Osten sowie die Linie ab, auf der das polnische Element siegreich diesen Drang zum Stillstand gebracht habe. Die Hartnäckigkeit, mit der Deutschland den Kampf um Oberschlesien führe, habe ihren Grund darin, daß die Deutschen am Revanchegedanken hängen und der Besitz Oberschlesiens ihnen die Revanche ermöglichen würde! Darum liege der Anschluß Oberschlesiens an Polen direkt im Interesse des europäischen Friedens! – Eine klare, überwältigende Beweisführung. Den Polen dauerte die englisch-französische Diskussion schon viel zu lange. Darum kabelten sie am 17. Mai nach Washington, Amerika möge doch die Entscheidung über Oberschlesien in die Hand nehmen und beschleunigen. Doch postwendend kam schon nach zwei Tagen die Antwort, es vertrage sich nicht mit den Grundsätzen der amerikanischen Politik, sich in innere Angelegenheiten Europas einzumischen. Der Schmerz über diese Absage wurde etwas behoben, da gleichzeitig die französische Regierung in Warschau erklärte, sie werde unter allen Umständen eine Entscheidung nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages herbeiführen; auch würde sie keinesfalls zulassen, daß deutsche Truppen nach Oberschlesien gingen. Dies bedeutete soviel als: Oberschlesien wird polnisch. Darauf nahm der Sejm eine Entschließung an, in der man die Korfanty-Linie als Grenze forderte.

  Unüberbrückbare  
Gegensätze

Mit der Pariser Konferenz vom 18. und 19. Juni trat die [164] oberschlesische Frage in ihr zweites Stadium, da man ernsthaft eine Lösung versuchte. Frankreich war durch Briand vertreten, England durch Lord Curzon, und von Italien war Bonin Longare anwesend. Kurz und bündig, mit einer gewissen Trockenheit, die jeder blumenreichen Phrase entbehrte, erklärte der Engländer, daß nach Ansicht der englischen Regierung das oberschlesische Industriegebiet unteilbar sei und daß angesichts der deutschen Mehrheit im Industriegebiet dessen Zuteilung an Deutschland nicht vermieden werden könne. Mit einiger Schärfe kritisierte Lord Curzon das Verhalten Le Ronds, und er erwarte und hoffe, daß an seiner Stelle eine hohe, nichtmilitärische Persönlichkeit gewählt werde. Mit erregter Beredsamkeit verfocht demgegenüber Briand seinen Standpunkt, und als man auseinanderging, war man ebensoweit wie vorher: nichts war erreicht.

Immerhin dämpften die Pariser Besprechungen etwas die große Freude und Hoffnung in Warschau. Der Außenminister Skirmunt erklärte etwas resigniert fünf Tage nach Schluß der Konferenz, aller Wahrscheinlichkeit nach werde man das volle Programm nicht verwirklichen können.

      "Wir wissen", sagte er, "welche Differenzen zwischen den hierfür entscheidenden Faktoren entstanden sind und wünschen unsererseits eine Entscheidung entsprechend dem Versailler Vertrag und dem Ergebnis der Volksabstimmung. Der Vorschlag des Grafen Sforza (der sich dem englischen näherte) befriedigt uns zwar nicht, bietet aber eine Brücke zur Verständigung. Unser Bestreben wird dahin gehen, die von italienischer Seite vorgeschlagene Linie möglichst der von Frankreich vertretenen nahezubringen."

  Haltung Italiens  

Allerdings war das Verhältnis der Italiener zu den Polen einigermaßen gespannt. Hatten doch die Italiener, wie wir sahen, in verschiedenen oberschlesischen Gefechten zahlreiche Opfer zu beklagen. Als Sforza am 25. Juni in der italienischen Deputiertenkammer über Oberschlesien sprach, war er reserviert. Zweifellos werde man für das oberschlesische Problem eine befriedigende Lösung finden, meinte er. Die Bevölkerung der strittigen Zone habe Gewalt angewandt, um einen tatsächlichen Zustand zu schaffen, der die Alliierten [165] beeinflussen sollte. Dabei seien italienische Soldaten die ersten Opfer gewesen. Sie seien ihrer Pflicht in vollem Umfange gerecht geworden und hätten weit größere Blutopfer gebracht als die anderen Alliierten. Die polnische Regierung habe zwar einen scharfen Unterschied zwischen ihrer Verantwortlichkeit und der der Aufrührer gemacht, jedoch wäre es wünschenswert gewesen, wenn sie von vornherein eine unzweideutige Haltung eingenommen hätte. Polen müsse, wenn es gedeihen wolle, den Frieden über alles wünschen, das könne er den Polen nur raten. Das oberschlesische Problem sei ein Problem der Gerechtigkeit für alle. Die Abstimmung sei durch den Vertrag von Versailles gefordert, sie müsse in den Grenzen des Vertrages geregelt werden, ohne daß Gewalt, von welcher Seite auch immer, angewandt würde.

Etwas deutlicher drückte sich der italienische Nationalist Greco am 18. Juli in der Deputiertenkammer aus. "Polen sei der Schlüssel des französischen Hegemoniesystems, das sich gleichmäßig gegen Deutschland und die Stellung Italiens an der Adria richte. Deshalb hätte Italien gemeinsam mit England die französische Politik in Oberschlesien bekämpfen müssen, die übrigens die Hauptschuld am Vergießen italienischen Blutes trage." –

Die Interalliierte Kommission in Oppeln war Mitte Juli zu der Erkenntnis gekommen, daß sie ihre Truppen verstärken müsse, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Von Paris wurde die Forderung nach Truppenvermehrung eifrig unterstützt, um den Deutschen jede Möglichkeit der Einmischung zu nehmen. England war verstimmt und lehnte ab. Wozu sollten die alliierten Truppen vermehrt werden? Man sehe für diese Maßnahme keine Notwendigkeit ein. Wenig freundliche Worte liefen durch den Draht zwischen London und Paris, und es stand in jenen Julitagen schlimm um die englisch-französische Freundschaft.

Polen gegen
  Lloyd George  

Dies war die beste Gelegenheit, daß auch die Polen einmal ein offenes Wort mit Lloyd George reden konnten. Die "Aufständischen" hatten am 20. Juli von Scharley aus einen Aufruf herausgegeben, den die Warschauer Zeitungen am 27. Juli abdruckten. Lloyd George sei ganz allein schuld an [166] den unhaltbaren Zuständen in Oberschlesien, auf ihn komme all das polnische Blut, das dort vergossen worden sei und vergossen werde. Man fordere die polnische Regierung auf, nicht zuzulassen, daß dies weiterhin geschehe, sonst würden die oberschlesischen Aufständischen gewaltsam die trennenden Schranken zwischen Polen und Oberschlesien niederreißen. Zwei Tage später meinte der polnische Ministerpräsident Witos im Sejm, "der Stand der oberschlesischen Angelegenheit sei nicht befriedigend. Sollte der Oberste Rat in seiner Sitzung am 4. August eine Entscheidung treffen, die den Bestimmungen des Versailler Vertrages zuwiderlaufe und Polens Interessen gefährde, dann sehe sich die polnische Regierung gezwungen, sich hinsichtlich der Erfüllung der Entscheidung des Obersten Rates über Oberschlesien freie Hand vorzubehalten." Man drohte in Polen schon offen mit Gewalt.

  Pariser Konferenz  
August 1921

Am 8. August wurde in Paris die Ententekonferenz eröffnet, welche das Schicksal Oberschlesiens zu entscheiden hatte. Fromageot, der Vorsitzende des Sachverständigen-Ausschusses, eröffnete mit kurzen Worten die Verhandlungen, indem er etwa folgendes sagte: "Völlige Einmütigkeit herrscht über die fast vollständige Unteilbarkeit des Industriegebietes, aber der französische Vorschlag habe die Tendenz, dies Gebiet fast vollkommen Polen zuzuteilen, während England es zum größten Teile Deutschland zusprechen wollte." Darauf führte Sir Cecil Hurst, der juristische Beirat des Londoner Auswärtigen Amtes, folgendes aus:

      "678 Gemeinden hätten für Polen, 844 dagegen für Deutschland gestimmt. Es seien 479 000 polnische, dagegen 707 000 deutsche Stimmen abgegeben worden. Dies seien die tatsächlichen Grundlagen, auf welche England seine Ansicht stütze, und die sei folgende: erstens, da Frankreich die gemeindeweise Abstimmung als Basis für die Regelung annehme und da jede Gemeinde dem Lande zugeteilt werde, für das sie gestimmt habe, solle nur der Fall der Ausnahme zugelassen werden, wenn gute Gründe dagegensprechen; zweitens, Enklaven müsse man als unpraktisch und ungerecht für beide Teile vermeiden, die wirtschaftlich [167] untrennbaren Gemeinden könnten nicht voneinander getrennt werden; drittens, das Zentrum des Industriegebietes müsse an Deutschland übertragen werden, was den Rest der zu ziehenden Grenze anlange, so bestünden ja wenig Differenzen zwischen dem französischen und dem englischen Vorschlag. Im übrigen müsse er den französischen Vorschlag deswegen zurückweisen, weil er sieben Elftel der für Deutschland abgegebenen Stimmen an Polen, dagegen die vier Elftel der Stimmen, die für Polen abgegeben worden seien, an Deutschland zuteilen wolle."

Der Vertreter Italiens stimmte im wesentlichen dem Engländer zu, und man hatte am ersten Tage die Ansichten kennengelernt.

Am folgenden Tage kam Lloyd George zu Wort:

      "Die Entscheidung über Oberschlesien sei so ungeheuer wichtig, weil der Weltfrieden von ihr abhänge. Man dürfe diese Frage nicht auf Kosten der Mehrheit der oberschlesischen Bevölkerung regeln und nicht ein neues Elsaß-Lothringen aus Oberschlesien machen. Die gesamte Bevölkerung von etwa 5⅕ Million enthalte nur 1⅕ Million Polen. Das britische Reich werde niemals eine Lösung annehmen, die dies nicht berücksichtige. Es verstehe vollkommen Frankreichs Wunsch nach Garantien seiner Sicherheit, und der Oberste Rat werde sicher hierauf Rücksicht nehmen. Frankreich könne aber vollkommen versichert sein, wenn es aufs neue ungerecht angegriffen werde, so werde das gesamte britische Reich, wie in der Vergangenheit, an seiner Seite stehen. Aber Frankreich sei augenblicklich wirklich nicht in Gefahr. Es müsse von seinem Sieg in Mäßigkeit und Billigkeit Gebrauch machen. Er schlage vor, die Frage nochmals durch Sachverständige prüfen zu lassen auf folgender Grundlage: erstens, alle Stimmen müßten für die Zusprechung des Gebietes an die eine oder die andere Macht gezählt werden, die Zusprechung könne nicht gemeindeweise erfolgen, sondern entsprechend der Mehrheit, die sich herausgebildet habe; zweitens, einzig und allein das Industriegebiet, welches das Herz Oberschlesiens sei, würde als unteilbares Ganzes betrachtet; die Industriezone, die viel ausgedehnter sein solle, als es der französische Vorschlag vorbringe, sei keine [168] künstliche Schöpfung; das Industriegebiet müsse Deutschland zugesprochen werden, das die Mehrheit erlangt habe; drittens, die industriellen Gemeinden seien voneinander untrennbar, denn sie bildeten eine enge wirtschaftliche Einheit."

Demgegenüber hielt Briand in seinen Ausführungen hartnäckig an seinem Vorschlag fest. Während der Friedensverhandlungen hätte man einstimmig Oberschlesien den Polen zugesprochen. Stände doch im Lexikon von Brockhaus, daß die Bevölkerung von Oberschlesien polnisch sei. Außerdem hätten die Alliierten beschlossen, dem polnischen Volke zum Wiederaufbau zu verhelfen, deswegen müsse man auch dessen wirtschaftliche Lebensmöglichkeiten sicherstellen. Der Industriebezirk müsse Polen zugesprochen werden.

Eingreifen
  des Völkerbundes  

Es ließ sich unschwer voraussehen, daß man im August ebensowenig wie im Juni zu einem Ergebnis kam. Die Gegensätze zwischen England und Frankreich waren zu tief und geeignet, einen Bruch zwischen beiden Ländern herbeizuführen. Um die drohende Sprengung der Entente zu verhindern, faßte man am 12. August folgenden Beschluß:

      "Der Oberste Rat beschließt, bevor er die Grenze zwischen Deutschland und Polen gemäß Artikel 88 des Versailler Vertrages bestimmt, unter Anwendung des Artikels 12, Absatz 2 der Satzung des Völkerbundes, diesem Bunde die Schwierigkeiten darzulegen, welche die Festlegung der Grenze verursacht, und ihn zu ersuchen, seine Meinung über die Grenzlinie abzugeben, welche die alliierten und assoziierten Regierungen ziehen sollen. In Berücksichtigung der Lage in Oberschlesien wird der Rat des Völkerbundes gebeten, die Angelegenheit mit aller Dringlichkeit zu behandeln."

Damit war die oberschlesische Frage an den Völkerbund verwiesen, und sie trat in ihr drittes, ihr Endstadium.

Am 19. August nahm der japanische Graf Ishiu die oberschlesische Angelegenheit im Namen des Völkerbundsrates an und erbat sich höflich ein Schriftstück, in welchem die Schwierigkeiten der Grenzziehung dargelegt seien, und, wenn möglich, um eine geschichtliche Darstellung. Zehn Tage später trat der Völkerbundsrat in Genf zusammen und beschloß, eine Nachprüfung durch die Vertreter Belgiens, Brasiliens, [169] Chinas und Spaniens durchführen zu lassen. Acht Wochen brütete der Völkerbundsrat hinter verschlossenen Türen über Oberschlesiens Schicksal! –

Angesichts dieser Vorgänge hatte sich der Deutschen begreifliche Erregung bemächtigt. Der Reichskanzler Wirth machte Reisen und hielt Reden, in denen er betonte, Oberschlesien sei unser, aber uns fehle die Macht, wir dürfen nur auf die Gerechtigkeit hoffen. So sprach er am 8. Juli vor den Partei- und Gewerkschaftsführern Schlesiens in Breslau. Einen Monat später, am 2. August, sprach er vor der Handelskammer in Bremen: "Löst die oberschlesische Frage, nachdem das Volk gesprochen hat, gerecht, löst sie so, daß nicht im Osten ein neuer Brandherd entsteht, der Deutschland und die ganze Welt aufs neue dem Ruin entgegenführen kann." Die Hamburger Bürgerschaft hatte schon im Juli eine halbe Million Mark zur Linderung der oberschlesischen Not bewilligt. Am 5. August brachten die Bayerische Volkspartei, die Bayerische Mittelpartei und Deutsche Volkspartei, die Deutsche Demokratische Partei und der Bayerische Bauernbund im bayerischen Landtag eine Entschließung ein: "Im Namen von Recht und Freiheit fordern wir ein ungeteiltes deutsches Oberschlesien von denjenigen, in deren Macht die Entscheidung liegt." Das ganze Volk bangte und bebte.

  Unwille in Deutschland  

Anfang Oktober hörte man etwas von der Tätigkeit des Völkerbundes. So um den 10. herum übermittelte der Völkerbundsrat den Alliierten seinen Vorschlag, welcher dem des Grafen Sforza, dem italienischen, genau entsprach und die Grenze mitten durch das Industrierevier zog. Um die Einheit und Einheitlichkeit des Wirtschaftslebens sicherzustellen, wurde die Einsetzung einer "Gemischten Kommission" verlangt. In einem Sturm der Entrüstung brauste das deutsche Volk auf. Die Parteien faßten Entschließungen, so die Demokratische Partei Bayerns und Württembergs am 11. und 12. Oktober. Die Deutsche Demokratische Partei werde zusammen mit den Deutschen aller Parteirichtungen die Zerreißung Oberschlesiens als einen rechtlosen und ungültigen Gewaltakt erklären und in dieser Erkenntnis die heranwachsende Generation erziehen. Lloyd George habe vor sechs [170] Monaten im Hinblick auf Oberschlesien Deutschland feierlich fair play – ehrliches Spiel – versprochen und an die ehrliche Respektierung der Volksabstimmung glauben gemacht, als es galt, Deutschland zur Unterzeichnung einer erdrückenden Schuldsumme zu bestimmen. Der preußische Landtag erklärte am 13. Oktober mit Ausnahme der Unabhängigen und Kommunisten, Oberschlesien solle "nicht nur deutsch, sondern ungeteilt deutsch bleiben". Eine Teilung werde "als brutale Vergewaltigung des Volkswillens" empfunden. "Wir müssen uns auf das entschiedenste wehren, einen solchen Gewaltakt als Recht anzuerkennen." Im hessischen Landtag wurde eine Zerreißung als "blutiger Hohn auf das vom Völkerbund selbst laut betonte Recht der Selbstbestimmung der Völker" bezeichnet. Die Reichsorganisation der Demokratischen Partei sah in der Zerreißung Oberschlesiens "einen gegen das Recht verstoßenden Gewaltakt und eine schwere politische Versündigung an der Zukunft Europas". Der sozialdemokratische Ministerpräsident von Sachsen, Buck, erklärte in einer Rede, die er am 14. Oktober in Dresden hielt, durch die Teilung Oberschlesiens werde es uns unmöglich gemacht, unsere Reparationsverpflichtungen zu erfüllen, und der Landtag von Braunschweig erklärte die Maßnahme für eine Vergewaltigung des deutschen Volkes.

Die deutsche Regierung selbst hatte am 25. September an die Verbandsmächte Noten gerichtet, in der sie Anspruch auf ganz Oberschlesien erhob. Sie begründete dies mit Eingaben von fünf großen schlesischen Organisationen, die fast die Gesamtheit der Bevölkerung umfaßten: der Oberschlesische Berg- und Hüttenmännische Verein und die Handelskammer als Vertreter von Handel, Industrie und Gewerbe; die Oberschlesische Handwerkskammer als Vertreter des Handwerks; der Oberschlesische Landbund als Vertreter der Landwirtschaft; der Allgemeine deutsche Gewerkschaftsbund, der Gewerkschaftsbund und Gewerkschaftsring als Vertreter der Angestellten und Arbeiter und der katholische Klerus. Sie alle hatten sich an die Reichsregierung gewandt und ein ungeteiltes Verbleiben Oberschlesiens bei Deutschland gefordert. –

  Ehemalige Insurgenten  
gegen Polen

Inzwischen waren auch in Oberschlesien merkwürdige Dinge [171] vorgefallen. Die Polen waren äußerst unzufrieden über den Mißerfolg und die Niederlagen der Insurgenten und begannen diese abzuschütteln. Polen zahlte den Aufständischen keine Löhnung mehr, lieferte keine Lebensmittel, und wenn diese etwas nachdrücklich ihr Recht verlangten, wanderten sie nach Posen auf die Zitadelle. Darüber waren die oberschlesischen Aufrührer sehr ungehalten, und sie schlossen sich Ende Juli gegen Polen in einem "Verbande ehemaliger oberschlesisch-polnischer Insurgenten'' zusammen, deren Vorsitzender Franz Merik war, ehemaliger Insurgentenoffizier und Abschnittskommandeur, Beuthen, Hotel "Schlesischer Hof". Der Verband ehemaliger Insurgenten umfaßte über 8 000 Mitglieder und begann Anfang Oktober mit der Eröffnung der Feindseligkeiten gegen Polen. Am 1. Oktober ging von Beuthen aus folgendes Telegramm nach Oppeln an die Interalliierte Kommission:

      "Der Verband ehemaliger polnischer Insurgenten, der über achttausend Mitglieder umfaßt, richtet an die Hohe Interalliierte Kommission das dringende Ersuchen, gegen die Angehörigen der kongreßpolnischen Mordkommission und alle noch auf oberschlesischem Boden, besonders in Kattowitz, Beuthen und Myslowitz befindlichen kongreßpolnischen Offiziere und Mannschaften einzuschreiten, die einen neuen Aufstand organisieren. Ebenso verlangen wir die Entfernung der landfremden Orgeschleute. Namen und Wohnungen von Angehörigen der kongreßpolnischen Mordkommission werden gleichzeitig durch Einschreibebrief mitgeteilt."

Da Polen mit dem, was man von Paris und Genf über Oberschlesien gehört hatte, nicht zufrieden war, lag die Gefahr eines neuen Aufstandes durchaus im Bereich der Möglichkeit. Allerdings wurde seine Durchführung durch den Abfall der Insurgenten sehr erschwert.

Nach dem aufsehenerregenden Telegramm vom 1. Oktober war es für den Verband der ehemaligen Insurgenten nicht länger möglich in Beuthen zu verbleiben, und er siedelte bereits in den nächsten Tagen nach Oppeln über, in den unmittelbaren Schutz der Interalliierten Kommission. Von hier aus erging der Aufruf, den am 6. Oktober die oberschlesischen Zeitungen brachten und in dem die enttäuschten Aufrührer [172] ihrem gequälten Herzen Luft machten.

      "Wir oberschlesischen Insurgenten haben für unser Land gekämpft und geblutet. Wir sind in den Kampf gezogen, um die Freiheit für unsere oberschlesische Heimat zu erringen. Polen wollte uns dabei helfen. Wir haben unser Ziel nicht erreicht, unsere Hoffnungen sind getäuscht worden. Der Warschauer und der galizische Pole hat sich nicht als unser Freund und Bundesgenosse gezeigt, sondern als herrschsüchtiger und habgieriger Eindringling. Wir sind die Betrogenen."

Nach dem Aufstand sei man nach Polen gekommen, und da habe man von Tag zu Tag klarer erkannt, daß Oberschlesiens Glück nie mit diesem Lande verknüpft sein könne. "Wir mußten zu der niederschlagenden Überzeugung kommen: eine Vereinigung unseres oberschlesischen Landes mit Warschau bedeutet den Ruin unserer geliebten Heimat." Der Kongreßpole sei nicht der Bruder des Oberschlesiers, er stehe ihm wie ein Fremder gegenüber. Die Mitkämpfer des letzten Aufstandes haben dies am eigenen Leibe erfahren müssen. Keine Löhnung, schlechte Verpflegung, gemeine Behandlung, Fußtritte statt Lohn – das sei der Dank der Warschauer gewesen. Als man darauf zur Selbsthilfe gegriffen habe, bis aufs Blut gepeinigt, war Maschinengewehrfeuer und das blanke Bajonett die Antwort gewesen. Kaltblütig hätten die Polen viele Insurgenten hingemordet, noch jetzt schmachteten viele Oberschlesier in der Zitadelle von Posen. Aber Oberschlesien dulde immer noch Kongreßpolen in seinem Lande.

      "Noch ist Warschau nicht der Herr Oberschlesiens, aber in unseren besten Stellen sitzen Leute aus Warschau, Krakau und Posen, die durch ihr freches, unverschämtes Benehmen, besonders unsern oberschlesischen Schwestern gegenüber, uns zum Ekel geworden sind. Wir wollen los von Warschau. Hinaus mit den Kongreßpolen aus Oberschlesien! Das ist die Forderung von über achttausend oberschlesisch-polnischen Insurgenten." –

Soweit also war es gekommen, daß nun, wo die Entscheidung vor der Tür stand, die Spießgesellen Polens in Oberschlesien von ihren Freunden in Warschau nicht mehr das geringste wissen wollten.

Diese neue, interessante Konstellation war sehr geeignet, die Öffentlichkeit zu beunruhigen. Neuer Zündstoff hatte sich [173] in der unglücklichen Provinz angesammelt, der bei der nächsten Gelegenheit explodieren konnte. Auch drohte Gefahr, als der Völkerbundsvorschlag bekannt wurde. Darum machte die Interalliierte Kommission am 13. Oktober von Oppeln aus bekannt, daß sie ruhiges und besonnenes Verhalten verlange; sie werde rücksichtslos jede Unruhe unterdrücken, woher sie auch kommen möge. Man werde auch Zeitungen verbieten, wenn sie beunruhigende Nachrichten verbreiteten, öffentliche Kundgebungen würden nicht geduldet. – Jedoch, es ereignete sich nichts, was aufs neue das Land in Unruhe und Bürgerkrieg gestürzt hätte.

  Vökerbundsentscheidung  

Am 20. Oktober verkündete der Oberste Rat die Entscheidung, wie sie vom Völkerbundsrat formuliert worden war. Die Würfel waren gefallen. An Polen sollten fallen die Stadtkreise Kattowitz und Königshütte, Landkreis Kattowitz, Kreis Pleß, sowie große Teile der Kreise Rybnik, Ratibor, Gleiwitz, Hindenburg, des Landkreises Beuthen und der Kreise Tarnowitz und Lublinitz. Das waren 3467 Quadratkilometer mit 992 000 Einwohnern, darunter 400 000 Deutschen. Bei Preußen verblieben 9737 Quadratkilometer mit 1 300 000 Einwohnern. Dennoch hatte Deutschland einen unersetzlichen Verlust erlitten. Der Industriebezirk wurde mitten durchschnitten; überwiegend deutsche Städte, wie Kattowitz und Königshütte, und der wertvollste Teil der Bodenschätze kam in polnische Hand. Deutschland verlor 91 Prozent des Gesamtvorrates der im oberschlesischen Steinkohlenbecken anstehenden Kohlenmengen einschließlich der noch nicht in Angriff genommenen Kohlenflöze in den Kreisen Rybnik und Pleß, von insgesamt 61 Steinkohlengruben mußten 49½ abgegeben werden, die Eisenerzgruben mit einer jährlichen Förderung von 61 000 Tonnen gingen fast vollständig verloren (97 Prozent), von 16 Zink- und Bleierzgruben blieben vier zurück, von 37 Hochöfen nur 15, von 25 Eisen-und Stahlgießereien wurden 15 abgetreten, von 18 [174] Walzwerken neun; schließlich gingen sämtliche Zink- und Bleihütten sowie die beiden Blei- und Silberhütten in polnischen Besitz über, die Verluste Deutschlands an Forsten, Domänen, anderem landwirtschaftlichen und städtischen Besitz sollen nicht mitgerechnet werden. – Das Ergebnis war: der kleinere, aber industriell wertvollste Teil Oberschlesiens gehörte fortan zu Polen.

Zerreißung Oberschlesiens 1921.
[Bd. 3 S. 160a]   Zerreißung Oberschlesiens 1921.
Keystone View Comp.

Grenzziehung mitten durch eine Grube.
[Bd. 3 S. 160a]      Oberschlesien 1921:
Grenzziehung mitten durch eine Grube.

Keystone View Comp.

Erregung
  in Deutschland  

Der Eindruck in Deutschland war vernichtend.
"Niemals hat ein so hartes Geschick unser Land befallen, nicht im Frieden und nicht im Kriege. Es macht uns wieder einmal furchtbar klar, was es heißt, den Krieg verloren zu haben", erklärte Rathenau. Die Regierung Wirth trat darauf am 22. Oktober zurück. Fünf Monate lang habe das Kabinett eine Politik geführt, welche

  Rücktritt der  
Regierung Wirth

getragen gewesen sei von dem Gedanken, die Stellung des Deutschen Reiches zu den Alliierten zu regeln und durch den ernsten Willen der Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen bis an die Grenze der Leistungsmöglichkeit zur Wiedererstarkung Europas beizutragen. Es habe die dem deutschen Volke auferlegten überaus schweren Leistungen erfüllt, insbesondere den ungeheuren Barbetrag von einer Milliarde Goldmark zum 31. August abgetragen. Niemals werde das deutsche Volk den Verlust Oberschlesiens, den es wehrlos hinnehmen müsse, verschmerzen. Die Grenzen der deutschen Leistungs- und Erfüllungsmöglichkeit seien durch das schlesische Diktat erheblich verengert worden, und dadurch sei für die Politik des Reiches eine neue Lage geschaffen. In Würdigung dieser Tatsachen habe das Kabinett beschlossen, den Auftrag zur Führung der Reichsgeschäfte in die Hände des Reichspräsidenten zurückzugeben. In Ausführung dieses Beschlusses teilte Wirth dem Präsidenten die Demission des Kabinettes mit.

In den Landtagen Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs protestierte man gegen das oberschlesische Urteil. Die Reichsregierung richtete eine Note an die Botschafterkonferenz in Paris (27. Oktober), daß sie die Teilung Oberschlesiens nicht nur als eine Ungerechtigkeit, sondern als eine Verletzung des Versailler Vertrages betrachte. Aus Paris kam lediglich die kühle Antwort, man halte den deutschen Protest für [175] unbegründet, null und nichtig. Deutschland wurde höchstens noch aufgefordert, dafür zu sorgen, daß keine unruhigen Elemente nach Oberschlesien eindringen, denn für alle jetzt dort entstehenden Unruhen müsse man Deutschland verantwortlich machen.

Auch der polnische Sejm war unzufrieden. Nicht alle Wünsche Polens seien erfüllt worden. Ministerpräsident Ponikowski erklärte im Namen der Regierung am 27. Oktober, der Entscheidungstag sei leider nicht, wie erwartet, ein Tag der Freude, da viele Tausend Polen jenseits der Grenze blieben. Die polnische Regierung werde dafür sorgen, daß für die in Gleiwitz und Beuthen Verbliebenen alle Garantien und Rechte eingehalten würden, wie sie auch selbst die Rechte der zu Polen gekommenen Minderheit vertragsmäßig schützen werde. Polen nehme die Entscheidung des Botschafterrates an und wolle nach der nunmehrigen Festlegung seiner Grenze den Weg friedlicher Arbeit betreten.

  Nittis Urteil  

Nicht nur in Deutschland war die Erbitterung gegen die Entscheidung des Völkerbunds groß. Der spanische Abgeordnete Olascoaga nannte in der Deputiertenkammer die Entscheidung einen Hohn auf die Gerechtigkeit. In der Welt gelte nur noch die brutale Gewalt. Am schlimmsten aber äußerte sich Francesco Nitti, der von 1919 bis 1920 italienischer Ministerpräsident gewesen war und also zu einer ehemals feindlichen Macht gehörte. Seine Ausführungen in seinem Buch Das friedlose Europa sind interessant genug, daß sie wörtlich wiedergegeben werden sollen.

      "Alle Gewalttaten in Oberschlesien, die verhindern sollten, daß die Volksabstimmung günstig für Deutschland ausfiele, sind nicht nur geduldet, sondern von langer Hand vorbereitet worden.
      Als ich Chef der italienischen Regierung war, gab mir der Vertreter der deutschen Regierung in Rom, von Herf, beglaubigte Nachrichten über das, was im Werk war, und am 30. April 1920 lieferte er mir in einer Audienz, die ich ihm als Ministerpräsident gewährte, die Beweise, was eigentlich die polnische Organisation war, wohin sich ihre Ziele richteten, worin ihre Einnahmequellen bestanden.
[176]     Wie alle Welt weiß, ist die Volksabstimmung vom 20. März 1921 ungeachtet der Gewalttaten und ungeachtet des offiziell beschützten Räuberunwesens, günstig für Deutschland ausgefallen. Von 1 200 636 Stimmen gehörten 717 222 den Deutschen und 483 514 den Polen. Die 664 reichsten, blühendsten und bevölkertsten Gemeinden ergaben eine Mehrheit für die Deutschen, 597 Gemeinden ergaben eine Mehrheit für die Polen. Das Gebiet von Oberschlesien mußte nach dem Vertrage nach der Volksabstimmung, nach der elementarsten internationalen Ehrenhaftigkeit sofort Deutschland zugesprochen werden. Aber da man ja die oberschlesische Kohle Deutschland nicht überlassen wollte, und da eine neue Konzentration von Eiseninteressen vorlag, welche drängte und schob, wurde auch der Vertrag von Versailles zum chiffon de papier.
      Anstatt das Ergebnis der Volksabstimmung anzuerkennen, wie es erste Pflicht gewesen wäre, hat man zu Sophismen gegriffen, die auf ungemein schwachen Füßen standen. Artikel 88 des Versailler Vertrages besagt nur, daß die Einwohner Oberschlesiens aufgefordert werden sollen, mit Hilfe der Volksabstimmung kundzutun, ob sie mit Deutschland oder mit Polen vereinigt zu werden wünschten.
      Jetzt galt es, eine Spitzfindigkeit auszuklügeln!
      Der 'Annex' des Teiles VIII setzt die Art und Weise fest, wie man bei der geheimen Abstimmung zu Werke gehen soll und erklärt das ganze Verfahren. Sechs Artikel wurden darüber verfaßt. § 4 besagt, daß ein jeder in der Gemeinde, in der er wohnhaft ist, abstimmen soll oder in der, wo er geboren ist, wenn er keinen Wohnsitz in dem Gebiete hat. Das Ergebnis der Abstimmung soll gemeindeweise, entsprechend der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde, festgesetzt werden.
      Das bedeutete also, daß die Ergebnisse der Abstimmung, wie es bei den politischen Wahlen in fast allen Ländern üblich ist, Gemeinde für Gemeinde kontrolliert werden sollten: dies sind die Modalitäten der Abstimmung, wie die Anlage sie vorschreibt. Statt dessen hat man versucht, um Deutschland seiner Kohlen zu berauben, und versucht immer noch, den Vertrag nicht in Anwendung zu bringen, das Prinzip [177] der Unteilbarkeit der Lande zu verletzen und die erzhaltigen Bezirke Polen zuzuschieben. Die Volksabstimmung ist nicht als ausschlaggebend anerkannt worden, und da sich Frankreich und Großbritannien nicht einigen konnten und Italien in seiner Politik schwankte, hat man den Völkerbundsrat befragen wollen (worüber denn, nachdem die Volksabstimmung gesprochen hatte?). Und der Völkerbund hat eine Entscheidung getroffen, die ebensosehr dem Rufe seiner Lauterkeit wie dem seines sittlichen Verantwortlichkeitsgefühles schadet, was ja genau so schlimm ist...
      Es ist nicht das edle, das demokratische Frankreich, das die Fäden bei diesem Spiel in der Hand hat. Es ist vielmehr die gesamte neu entstandene plutokratische Struktur, die nun die gleichen schlimmen Allüren zur Folge hatte, wie sie vor dem Krieg die deutsche Eisenindustrie annahm. Es ist das nämliche Vorgehen, gegen das Lloyd George bei mehr als einer Gelegenheit auf das entschiedenste Einspruch erhoben hat und für das er so manches scharfe Wort gefunden hat, an das man nicht mehr zu erinnern braucht. Es ist dieselbe Bewegung, die in Italien mit Hilfe ihrer Organe Unruhen hervorgerufen hat und die nur einem Ziele zustrebt: die deutsche Industrie zu vernichten und dann im Besitz der Kohle die Eisenindustrie und die von ihr abhängigen Industrien in Europa zu monopolisieren...
      Man braucht nicht seine Zeit damit zu verschwenden, um nachzuweisen, aus welchen geographischen, ethischen und wirtschaftlichen Gründen Oberschlesien mit Deutschland vereint bleiben müßte. Es ist eine nutzlose und nach dem Ergebnis der Volksabstimmung für die Logik sogar beleidigende Beweisführung! Wenn nicht etwa Vertragsverletzung als Recht des Siegers angesehen wird, so kann wahrlich nach der Abstimmung, bei der ungeachtet der Gewalttätigkeiten drei Viertel der Bevölkerung für Deutschland stimmten, für eine Diskussion kein Stoff mehr vorhanden sein...
      Polen ist das letzte Land in Europa, das sich das Recht anmaßen darf, über den Vertrag zu klagen, weil Polen sich nicht den Versailler Vertrag erobert hat. Polen hat sich seine Freiheit nicht selbst verdient und müßte mehr als jedes andere [178] Land das kleinste Komma des Vertrages respektieren. Es verdankt seine Freiheit Italien, Frankreich und Großbritannien."

Ein vernichtenderes Urteil über die oberschlesischen Dinge, als es hier ausgesprochen ist, läßt sich kaum denken, und das oberschlesische Urteil raubte dem Völkerbund die Mehrzahl seiner Sympathien. Zwar sagt der englische Geschichtsschreiber Gooch, der Zorn auf den Völkerbund sei nicht am Platze gewesen, denn er hätte die ihm übertragene schwierige Aufgabe mit Sorgfalt und Unparteilichkeit gelöst, und seine Bewegungsfreiheit sei durch die Bestimmungen des Friedensvertrages beschränkt, für den er nicht verantwortlich wäre. Dennoch aber will es uns scheinen, daß der Völkerbund sehr wohl und im Sinne des Versailler Vertrages die Macht gehabt hätte, Oberschlesien restlos den Deutschen zuzusprechen, nachdem England und Frankreich ihre gegensätzlichen Vorschläge fallen ließen, indem sie ihn als Schiedsrichter anriefen. –

Der Verlust Oberschlesiens war der letzte, aber der schmerzlichste Gebietsverlust Deutschlands nach dem Weltkriege. Man hatte sich abgefunden mit dem Verlust Elsaß-Lothringens, und Nordschleswig war zu verschmerzen. Auch Eupen-Malmedy hätte die Öffentlichkeit nicht besonders stark ergriffen, wenn nicht die Volksbefragung so barbarisch gehandhabt worden wäre. Schlimmer und schmerzlicher wirkte der Verlust der Provinzen Posen und Westpreußen, aber auch darein fügte man sich schließlich, da diese Gebietsabtretungen in Versailles kategorisch diktiert worden waren. Und wenn nun schließlich der Versailler Vertrag den Deutschen ein Recht in die Hand gab und Deutschland mit gutem Gewissen nach der Abstimmung dieses Recht geltend machte in Oberschlesien, und man ihm dennoch sein Recht und sein Land raubte, so war das ein Verbrechen! Deutschland konnte anklagen und wettern, und schließlich mußte es sich doch in seine trostlose Ohnmacht fügen. Es empfand den Verlust Oberschlesiens nicht nur politisch, territorial, wirtschaftlich, es empfand ihn, was viel schlimmer war, moralisch als einen Verlust seiner Ehre.

Der Völkerbund setzte ein Dreimännerkollegium ein, bestehend aus einem Deutschen, einem Polen und dem Vorsitzenden Calonder, der früher Präsident des Schweizer [179] Bundes war, und dieses Komitee hatte die Aufgabe, die über Oberschlesien getroffenen Bestimmungen durchzuführen. Den ganzen Winter hindurch dauerten die Verhandlungen, und im Mai 1922 kam zu Genf ein Vertrag von 606 Artikeln zwischen Polen und Deutschland zustande. Im Juli verließen die alliierten Truppen das Abstimmungsgebiet, und Deutschland und Polen besetzten ihre Gebietsteile. Eine ständige gemischte Kommission und ein Schiedsgericht hatten über den Schutz der Minderheiten zu wachen und wurden dem Völkerbund unterstellt. Durch eine Art wirtschaftlichen Kondominiums wurde die gewaltsame Zerreißung des Industriegebiets vermieden und das Chaos von Oberschlesien abgewendet. –

  Bedrückung der Deutschen  
in Westpreußen und Posen

Auch in den anderen ehemals deutschen Gebieten hatten die Deutschen stark unter polnischer Willkür zu leiden. Durch einen rücksichtslosen, beispiellosen Terror wurde deutsche Kultur in Westpreußen und Posen vernichtet. Deutsche Familien wurden enteignet und ausgewiesen, in Wind und Wetter hinausgetrieben. Deutsche Domänenpächter mußten das Land als Bettler verlassen, ihr Eigentum und Vermögen wurde eingezogen. Im Jahre 1910 gab es in Posen-Westpreußen 1 112 000 Deutsche, im September 1921 waren es deren nur noch 547 000. Sie, die als Bettler von ihrer Heimat, von Haus und Hof vertrieben waren, trugen ihr Elend nach Deutschland hinein, das ihnen nicht helfen konnte. Am 19. Oktober 1921 teilte das polnische Ansiedlungsamt in Posen weiteren tausend deutschen Ansiedlerfamilien mit, daß ihr Besitz Eigentum des polnischen Staates sei und daß sie bis zum 1. Dezember, innerhalb sechs Wochen, ihre Anwesen zu räumen hätten. Es war eine grausame Härte. Wo sollten die Unglücklichen bei der herrschenden Wohnungsnot in dieser kurzen Zeit Wohn- und Unterkunftsräume finden, wo sollten sie, ohne Hab und Gut, als Bettler, Zuflucht suchen? Zusammengebrochene Männer, kranke Frauen und jammernde Kinder schrien nach Gerechtigkeit. Deutschland war zu schwach und arm, um seinen Kindern zu helfen. Wo war die Macht der Welt, die sich ihrer erbarmt hätte?



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra