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[Bd. 2 S. 131-132 = Trennseiten] [133]
1. Kapitel: Vom Londoner Ultimatum zum Wiesbadener Abkommen.

Als im dritten Jahre der deutschen Republik der schöne Monat Mai ins Land zog, hingen düstere Wolken des Unheils und der Katastrophe über Deutschland, so etwa wie zwei Jahre zuvor, als die deutsche Delegation zur Entgegennahme der Friedensbedingungen nach Versailles gegangen war. In Oberschlesien tobte der polnische Aufstand, der doppelt schmerzlich empfunden wurde, weil er Gewalttat an Stelle von Recht setzte und das deutsche Wirtschaftsleben schwächte und gefährdete. Die Regierung Fehrenbach trat zurück, weil sie den ehrlichen Willen gehabt hatte, Deutschland aus seiner durch den Versailler Vertrag bedingten furchtbaren Lage der Ausplünderung herauszureißen, und schließlich an Amerikas Ablehnung, zwischen Deutschland und den Alliierten zu vermitteln, gescheitert war.

  Londoner Ultimatum  

Da fuhr aus dunklem Gewölk am 6. Mai der langerwartete Blitzstrahl hernieder, und die Erschütterung, die er verursachte, war nicht geringer als die Bekanntgabe der Friedensbedingungen von Versailles. Dieser Blitzstrahl war das Londoner Ultimatum, das auf Beschluß des Obersten Rates der Alliierten am 5. Mai Lloyd George dem deutschen Botschafter Sthamer überreichte. Dies denkwürdige Schriftstück hatte folgenden Wortlaut:

      "Die Verbandsregierungen stellen fest, daß trotz der wiederholten Zugeständnisse, welche von den Verbündeten seit Unterzeichnung des Vertrages von Versailles gemacht worden sind, ungeachtet der Warnungen und Zwangsmaßregeln, die in Spa und Paris beschlossen wurden, wie auch der in London angekündigten und seither in Kraft getretenen Maßregeln, die deutsche Regierung mit der Erfüllung der Verpflichtungen im Rückstande ist, die ihr nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages obliegen, und zwar in folgenden Punkten:

1. Entwaffnung.

[134] 2. Zahlung der 12 Milliarden Goldmark, die gemäß Artikel 235 des Friedensvertrages am 1. Mai 1921 noch fällig waren und deren Begleichung von der Reparationskommission bereits für den genannten Zeitpunkt verlangt worden ist.

3. Aburteilung der Kriegsverbrecher unter den Bedingungen, wie sie erneut durch die Verbandsnoten vom 13. Februar und 17. Mai 1920 festgelegt wurden.

4. Einige andere wichtige Fragen, in erster Linie diejenigen, welche die Artikel 264 bis 267, 269, 273, 321, 322, und 327 des Friedensvertrages berühren.

Sie beschließen deshalb:

A) Heute bereits alle vorbereitenden Maßregeln zu ergreifen, welche zur Besetzung des Ruhrtales durch die verbündeten Truppen am Rhein nötig sind, und zwar unter den in D) vorgesehenen Bedingungen.

B) Gemäß Artikel 233 des Friedensvertrages die Reparationskommission aufzufordern, der deutschen Regierung unverzüglich Zeiten und Bedingungen für die Begleichung der Schuld in ihrer Gesamtheit mitzuteilen und ihre darauf bezügliche Entschließung der deutschen Regierung bis spätestens 6. Mai bekanntzugeben.

C) Die deutsche Regierung aufzufordern, innerhalb einer Frist von 6 Tagen nach Empfang der obigen Entschließung klipp und klar zu erklären, daß sie entschlossen ist:

  1. ohne Vorbehalt oder Bedingungen ihre Verpflichtungen zu erfüllen, so, wie sie von der Reparationskommission festgelegt werden,
  2. ohne Vorbehalt oder Bedingungen hinsichtlich ihrer Verpflichtungen die von der Reparationskommission vorgeschriebenen Sicherheiten anzunehmen und durchzuführen,
  3. ohne Vorbehalt und unverzüglich die Maßregeln zwecks Abrüstung zu Wasser, zu Lande und in der Luft, die der deutschen Regierung durch die Verbandsmächte durch Schreiben vom 29. Januar 1921 aufgegeben worden sind, durchzuführen, soweit die Durchführung dieser Maß- [135] regeln bereits fällig geworden ist, und unverzüglich die weiteren Maßregeln zu Ende zu führen, die zu bestimmten Fristen verwirklicht sein müssen,
  4. ohne Vorbehalt und unverzüglich die Aburteilung der Kriegsverbrecher vorzunehmen, sowie die Erfüllung der übrigen Teile des Vertrages, denen bisher noch nicht Genüge getan ist und wovon im § 1 dieser Note die Rede ist.

D) Am 12. Mai zur Besetzung des Ruhrtales zu schreiten und alle anderen militärischen Maßregeln zu Wasser und zu Lande zu ergreifen bei Nichterfüllung der obigen Bedingungen durch die deutsche Regierung. Diese Besetzung wird so lange dauern, bis Deutschland die unter C) aufgezählten Bedingungen erfüllt haben wird.

London, 5. Mai 1921.

Lloyd George. Briand. Sforza. Jaspar. Hayachi."

  Reparationsprotokoll  

Das gleichzeitig überreichte Reparationsprotokoll verlangte folgendes:

Deutschland wird in der in diesem Plan bestimmten Weise seine Verpflichtungen, den in Übereinstimmung mit Artikel 231, 232 und 233 des Vertrages von Versailles durch die Kommission festgesetzten Gesamtbetrag zu zahlen, erfüllen, nämlich 132 Milliarden Goldmark abzüglich a) des bereits auf Reparationskonto bezahlten Betrages, b) derjenigen Summe, welche von Zeit zu Zeit Deutschland hinsichtlich des Staatseigentums in den abgetretenen Gebieten usw. gutgebracht werden können und c) aller der Summen, welche von anderen feindlichen oder früher feindlichen Mächten eingehen und hinsichtlich deren die Kommission entscheiden kann, daß sie Deutschland gutgebracht werden sollen, zuzüglich der belgischen Schuld an die Alliierten. Die Schuld sollte in 37 Jahren abgetragen werden.

Für die Zahlungsweise wurde folgendes bestimmt: Deutschland soll jedes Jahr bezahlen zwei Goldmilliarden für den Zinsen- und Amortisationsdienst, ferner eine Summe, welche 25 Prozent seiner Ausfuhr in jedem Zeitraum von zwölf [136] Monaten nach dem 1. Mai 1921, so wie von der Kommission festgesetzt, entspricht, oder wahlweise einen entsprechenden Betrag, so wie er in Übereinstimmung mit jedem andern von Deutschland vorgeschlagenen und von der Kommission angenommenen Index festgesetzt werden würde, und schließlich eine weitere Summe, entsprechend 1 Prozent des Wertes seiner Ausfuhr. Innerhalb 25 Tagen jedoch, also bis zum 31. Mai, sollte eine Goldmilliarde, entsprechend den ersten beiden Vierteljahresraten, gezahlt werden. Außerdem sollten Schuldverschreibungen über 12 Milliarden Goldmark bis zum 1. Juli 1921 ausgestellt werden, desgleichen Schuldverschreibungen über 38 weitere Milliarden bis zum 1. November 1921 und über 82 Milliarden je nach Zahlungsfähigkeit. Diese Schuldverschreibungen umfaßten also die gesamte Wiedergutmachungssumme, auf welche die einzelnen Tribute aufgerechnet wurden. Hierin waren auch die von Deutschland zu leistenden Sachlieferungen enthalten.

Natürlich wurden auch Sicherheiten gefordert, damit man jederzeit eine Handhabe hatte, um die Reparationssummen von Deutschland einzutreiben. Es sollten infolgedessen von Deutschland an die Alliierten verpfändet werden die Einnahmen der deutschen See- und Landzölle und ‑abgaben und insbesondere die Einnahmen aus allen Ein- und Ausfuhrabgaben, ferner die Erträgnisse der Abgabe von 25 Prozent auf den Wert aller Ausfuhr und schließlich die Erträgnisse der direkten und indirekten Steuern, welche von Deutschland zu diesem Zwecke vorgeschlagen würden. Zur Überwachung würde ein Garantiekomitee gebildet werden, dessen Befugnisse Deutschlands staatliche Souveränität weitgehend beschränken sollte, indem es ein Aufsichtsrecht über die Steuergesetzgebung erhielt.

Man stellte den Deutschen einige kleine Erleichterungen in Aussicht: Frankreich werde fortan für die deutsche Kohle nunmehr den Inlandpreis zahlen müssen und diese zu Wasser oder zu Lande geliefert erhalten, und die Besatzungskosten sollten vermindert werden dadurch, daß die englischen Truppen geringere Zahlungen erhalten sollten. Das Protokoll schloß zusammenfassend:

[137] Vor dem 31. Mai muß Deutschland die Einsetzung des Garantiekomitees annehmen,

vor dem 31. Mai muß Deutschland ferner 1 Milliarde Goldmark entweder in Gold oder ausländischen Devisen bezahlt haben,

bis zum 15. Mai muß die Auslieferung des Flugzeugmaterials,

bis zum 31. Mai die Auflösung der Einwohnerwehren und die Zerstörung der im Bau befindlichen Kriegsschiffe beendet sein.

Drohung des
  Ruhreinmarsches  

Es bestand nach der Lage der Dinge gar kein Zweifel mehr, daß die Alliierten unbedenklich ins Ruhrgebiet einmarschieren würden, falls Deutschland die Annahme des Ultimatums verweigerte. Frankreich rief seinen Jahrgang 1919 zu den Fahnen. Die Rheinlandkommission führte im besetzten Gebiet bereits seit Wochen eine Bestandsaufnahme und Vormusterung der Pferde, Fahrzeuge, Kraftwagen und Fabriken durch und zwang sogar deutsche Bürgermeister, Landräte und Gemeindevorsteher, ihr dabei behilflich zu sein! Ja, es wurden sogar Automobile requiriert, und deren Führer, Chauffeure oder Besitzer, erhielten Gestellungsbefehle! Diejenigen, die mit ihren Fahrzeugen sich ins unbesetzte Deutschland begeben hatten, wurden telegraphisch zurückberufen. Die Alliierten waren entschlossen, despotisch Deutsche gegen Deutsche in den Krieg zu schicken.

Das Damoklesschwert der Ruhrbesetzung war für die Verbündeten das sicherste Mittel, eine ausgesprochene bürgerliche Regierung wie die des Reichskanzlers Fehrenbach in Deutschland unmöglich zu machen. Eine solche Regierung war den Engländern und den Franzosen unbequem, denn sie förderte die Selbstbesinnung der Deutschen, sie erweckte das Selbstbewußtsein zu neuem Leben und erschütterte dadurch die Stellung der alliierten Regierungen in ihren Ländern. Man wußte sehr gut in London und Paris, daß eine bürgerliche Regierung in Deutschland das Ultimatum ablehnen würde. Sie würde, so glaubte man, unter dem drohenden Londoner Ultimatum sich auch gar nicht halten können, selbst wenn sie aufs neue gebildet würde, denn, so sagte man sich, die Angst der [138] Deutschen, auch noch das letzte Kohlenrevier an der Ruhr zu verlieren, ist zu groß, als daß sie eine Regierung dulden würden, die diesen Verlust in Kauf nähme. Den Franzosen allerdings war die Ablehnung sympathischer als die Annahme; wäre doch dann der Vorwand für den schon lange erhofften und ersehnten Einmarsch ins Ruhrgebiet gegeben.

Dr. Joseph Wirth, Erfüllungskanzler.
[Bd. 2 S. 240b]      Dr. Joseph Wirth,
Erfüllungskanzler.
      Photo Scherl.

  Regierung Wirth  

Und in der Tat, die Rechnung, die man in London und Paris gemacht hatte, stimmte dieses Mal. Der 9. und 10. Mai waren zwei bewegte Tage im Reichstage. Während das eine Lager, bestehend aus Zentrum, Sozialdemokratie, Unabhängigen und einem Teil der Demokraten für die Annahme des Ultimatums waren, widersetzten sich die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei. Diese verlangten, man müsse mindestens, wenn man sich schon unter das Kaudinische Joch beuge, die Gewißheit haben, daß Oberschlesien ganz bei Deutschland verbleibe und daß die alliierten Truppen aus dem neubesetzten Gebiet zurückgezogen würden. Eine neue Regierung wurde gebildet, Dr. Wirth, der dem linken Zentrum angehörte, übernahm das Reichskanzleramt, vier Zentrumsminister, vier Demokraten und drei Sozialdemokraten bildeten sein Kabinett; es war also wieder die Koalition der Mitte auferstanden, wie sie seit dem 13. Februar 1919 bis zum 24. Juni 1920 die Geschicke Deutschlands leitete mit der kurzen Unterbrechung vom 21. Juni bis zum 3. Oktober 1919, als die Demokraten infolge der Annahme des Versailler Vertrages ausgeschieden waren.

Es darf bei dieser Gelegenheit nicht übergangen werden zu erwähnen, daß in jenen kritischen Maitagen der Führer der Deutschen Volkspartei, Dr. Stresemann, durch den englischen Botschafter Lord d'Abernon in London anfragen ließ, ob ein Kabinett Stresemann angenehm wäre und mit welchen Bedingungen es rechnen könne. Es war erklärlich, daß bei der ungeheuren Bedeutung der Reparationsfrage für die deutsche Industrie und Wirtschaft die Deutsche Volkspartei ihren Einfluß in der Regierung nicht so ohne weiteres opfern wollte, daß anderseits aber auch eine Regierung der Großen Koalition unter Einschluß der Sozialdemokratie notwendig war, um nicht immer durch die Opposition dieser großen Partei [139] behindert zu werden. Schließlich glaubte Stresemann auch, auf dem Umwege über England eine bessere Verbindung mit Frankreich zu erhalten. Ohne Zweifel kann man annehmen, daß damals bereits in Stresemann der Gedanke einer großen inneren Befriedung (Große Koalition) und außenpolitischer Verständigung (England, Frankreich) herangereift war. Vielleicht hoffte er auch auf diesem Wege das Schicksal Oberschlesiens günstig zu beeinflussen. England jedoch hatte starkes Mißtrauen nach den Erfahrungen mit der Regierung Fehrenbach, deren Hintermann Stinnes war, und Stinnes würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch hinter der Regierung Stresemann stehen. England wünschte, ebenfalls wie Frankreich, ein klar erkennbares Erfüllungsministerium nach dem System Erzberger – und verzögerte die Antwort also solange, bis infolge der drängenden Zeit vor dem Ablauf des Ultimatums die Regierung Wirth auf der Grundlage der Weimarer Koalition gebildet worden war. –

Annahme
  des Ultimatums  

Der neue Reichskanzler Wirth nahm umgehend Stellung zum Ultimatum der Alliierten und führte in seiner Reichstagsrede vom 10. Mai etwa folgendes aus:

      "Es bleibt uns keine andere Möglichkeit als Annahme oder Ablehnung... Um das Reich und seine Einheit zu retten, um deutsches Land vor der Gefahr feindlicher Invasionen zu bewahren und die deutsche Freiheit zu erhalten, dafür ist das deutsche Volk zu den höchsten materiellen Opfern bereit. Die deutsche Regierung nimmt aus diesem Grunde das Ultimatum an."

Man wolle den Gegner durch Leistungen von der Aufrichtigkeit und dem guten Willen der Deutschen überzeugen; aber die Aufhebung der Sanktionen und Gerechtigkeit in Oberschlesien seien die Voraussetzung für die Annahme des Ultimatums. Wirth bezeichnete als das Programm seiner Regierung "Verständigung, Wiederaufbau und Versöhnung", und sein Kabinett erhielt vom Volke die Bezeichnung "Erfüllungsministerium".

In der Nacht vom 10. zum 11. Mai nahm der Reichstag mit 220 Stimmen das Londoner Ultimatum an. Das Zentrum, die Sozialdemokratie und die Unabhängigen, sechs Abgeordnete der Deutschen Volkspartei und [140] siebzehn Demokraten hatten ihre Ja-Stimmen abgegeben. 172 Abgeordnete lehnten ab, ein Zentrumsabgeordneter enthielt sich der Stimme. Am 11. Mai teilte die deutsche Regierung den Alliierten die vorbehalt- und bedingungslose Annahme des Ultimatums durch Deutschland mit.

Auflösung der
  Selbstschutzverbände  

Das Erfüllungsministerium berechtigte in Paris und London zu den besten Hoffnungen. Schon gleich am 12. Mai richtete General Nollet als Vorsitzender der Interalliierten Militärkommission eine Note nach Berlin, worin er Ausführung der Entwaffnungsbestimmungen, vor allem soweit sie Polizei und Einwohnerwehren betraf, forderte. Bis zum 30. Juni müßten sämtliche Selbstschutzorganisationen aufgelöst sein. Nun entgingen auch die Organisationen Escherisch in Bayern und die Orts- und Grenzwehren in Ostpreußen nicht mehr dem Schicksal. Die Reichsregierung erließ ein Gesetz zur Auflösung der Selbstschutzorganisationen und bedrohte "Personen, die sich an einer der aufgelösten Organisationen als Mitglieder beteiligen, mit Geldstrafe bis zu 50 000 Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Festung bis zu gleicher Dauer". Die Milizverbände verschwanden von der Oberfläche und tauchten im Volke unter. Auch das "Wachregiment Berlin", das aus Kommandos verschiedener Truppenteile bestand, wurde aufgelöst (21. Juni), weil es die Alliierten verlangten.

Forderungen des
  Wiedergutmachungsausschusses  

Der Wiedergutmachungsausschuß war jetzt Herr der Lage, und das neugebildete Garantiekomitee beaufsichtigte Deutschlands innere Verwaltung. Bis zum 30. Mai wurden zwanzig Stück Reichswechsel im Betrage von insgesamt 200 Millionen Dollar den Alliierten übergeben. Bis zum 31. August wurde die erste Milliarde voll bezahlt. Am 12. Juni überreichte die Reparationskommission die Schadenersatzforderungen der Alliierten in Naturalien gemäß Anhang 4 des achten Teiles des Versailler Vertrages. Zwei Monate später, den 4. August, wurde daraufhin von Deutschland gefordert, innerhalb der nächsten sechs Monate 29 400 Pferde, 130 000 Schafe und 175 000 Rinder abzuliefern. Die Alliierten hielten die Gelegenheit für günstig, auch wieder die Frage auf Ersatz der im Sommer 1919 zerstörten sieben Marineluftschiffe aufzu- [141] rollen. Sie verlangten Ablieferung der Verkehrsluftschiffe "Nordstern" und "Bodensee" oder Neubauten oder Geld. Hatte die Regierung Fehrenbach im November des Vorjahres das Ansinnen abgelehnt, so beugte sich diesmal die Regierung Wirth und erfüllte die alliierten Forderungen. Die Auslieferung des "Nordstern" mußte bis zum 20. Juni an Frankreich, die des "Bodensee" an Italien erfolgen. Und einen Monat später, am 18. Juni, befahl die Botschafterkonferenz der deutschen Regierung, "in kürzester Frist das gesamte Luftfahrtmaterial, das im Widerspruch mit den Beschlüssen von Boulogne hergestellt worden ist, zu beschlagnahmen und der Interalliierten Luftfahrtüberwachungskommission auszuliefern". Diese sollte das als militärisch erkannte Gerät restlos konfiszieren und den Alliierten übergeben, während 25 Prozent von dem zivilen Gerät ebenfalls den Alliierten zufallen sollte. Der Rest werde zu vollem Eigentum an Deutschland zurückfallen, sobald der deutschen Regierung die Ermächtigung erteilt werde, den Bau von Luftfahrtgerät wieder aufzunehmen.

Auch das Garantiekomitee begann sich zu regen. Es belehrte die deutsche Regierung darüber, daß das ganze Gleichgewicht des Zahlungssystems auf einer "gewissen Stabilität der Mark" beruhe und daß diese Stabilität nur erreicht werden könne, wenn vorher durch notwendige Reformen das deutsche Budget ins Gleichgewicht gebracht worden sei. Man brachte ganz unverhohlen zum Ausdruck, daß es im Interesse der Wiedergutmachungen keine Rücksicht auf das deutsche Volk gebe. Der Jammer der Darbenden und Hungernden wurde beiseitegeschoben durch die Forderung drakonischer Steuern und Sparsamkeit, um die Verpflichtungen gegenüber den Siegern zu überfüllen. –

  "Kriegsverbrecher"prozesse  

Die Prozesse gegen die "Kriegsverbrecher" begannen am 23. Mai vor dem Reichsgericht in Leipzig. Zuerst verhandelte man die von England anhängig gemachten Fälle. Der Gerichtssaal war überfüllt. Englische Belastungszeugen waren erschienen, und eine Abordnung Großbritanniens befand sich im Saale, um das Verfahren zu verfolgen.

Engländer als Zeugen im Kriegsverbrecherprozeß in Leipzig.
[Bd. 1 S. 224b]      Engländer als Zeugen
im Kriegsverbrecherprozeß in Leipzig.

Photo Scherl.
Die Engländer bewahrten Zurückhaltung und traten niemals hervor, während [142] sich der deutsche Gerichtsvorsitzende bemühte, sachlich und ruhig seines beschämenden Amtes zu walten. Gegen drei Unterseebootskommandanten und drei Leiter von Gefangenenlagern war von den Engländern Klage erhoben worden. In einem Falle erfolgte Freisprechung, während die fünf anderen Angeklagten verurteilt wurden. Die Strafen waren, nach englischer Auffassung, "bedauerlich" leicht, dennoch sagte der Engländer Gooch, es sei "doch besser, daß mildere Urteile von deutschen Richtern gefällt wurden, als schärfere Urteile von einem feindlichen Gerichtshof". Die britischen Zeugen hinterließen einen guten Eindruck, und der Vorsitzende machte den Angeklagten Vorwürfe, daß sie bei ihren Taten die Ehre ihres Landes außer acht gelassen hätten. Belgien brachte nur eine Anklage vor, und die wurde verworfen. Von den fünf französischen Fällen wurde nur einer als strafbar erkannt. Natürlich waren die Alliierten von solchen Ergebnissen nicht gerade befriedigt, vor allem nicht die Franzosen, und so zogen diese am 8. Juli ihre Abordnung und ihre Zeugen aus Leipzig zurück.

Unwille der
  nationalen Kreise  

Es war kein Wunder, daß die Erfüllungspolitik auf der ganzen Linie weite Kreise des deutschen Volkes bis ins Innerste aufrührte und aufwühlte. Hatte es doch den Anschein, als sei die deutsche Regierung nur noch ein untergeordnetes, ausführendes Organ der alliierten Regierungen. Grausam despotisch wurde in Deutschland der Wille der Selbstbehauptung unterdrückt, und jeder Tag brachte es den Deutschen aufs neue zum Bewußtsein, daß sie nur noch die Heloten des Auslandes waren. Jedes Wort aus Paris oder London war ein glühender Pfeil in das Herz der Deutschen. Seitdem die Garantiekommission auf den Plan getreten war, waren sie noch nicht einmal mehr Herren im eigenen Hause. Die Zustände in Oberschlesien steigerten die Entrüstung. Am meisten aber verbitterten die "Kriegsverbrecherprozesse". Wie ein Sturm wogte und tobte es in den nationalen Kreisen des Volkes. Den schlimmsten Schimpf, der in diesem grotesken Unmaß noch keinem europäischen Volke widerfahren war, mußte sich Deutschland gefallen lassen: das eigene Volk mußte auf das Geheiß der Feinde seine eigenen Söhne ver- [143] urteilen für Taten, die, vielleicht unter normalen Verhältnissen strafbar, doch nicht aus persönlichen, sondern aus politischen Gründen der Landesverteidigung erfolgt waren! Besonders schimpflich aber war es, daß die Kriegsverbrechen der Franzosen und Engländer gegen die Deutschen, die die deutschen um ein Vielfaches übertrafen, ungesühnt blieben!

Immer drohender wurde die Sprache der nationalempfindenden und die nationale Ehre verteidigenden Kreise. Es kam zu großen Volksansammlungen vor dem Gerichtsgebäude, und drohende Rufe wurden laut. Das Reichsgericht mußte polizeilich und militärisch geschützt werden, um Versuche zur Befreiung der Angeklagten zu verhindern. Ganz Deutschland hallte wider von Empörung und Erbitterung, und um gewaltsamen Zwischenfällen vorzubeugen, wurden schließlich die Prozesse eingestellt. Die im Herbste von Italien eingereichten Fälle kamen nicht mehr zur Verhandlung. Zwar teilte die Kommission in Sachen der Kriegsbeschuldigten Anfang Januar 1922 dem Obersten Rat das nach ihrer Ansicht vollkommen ungenügende Ergebnis der Prozesse mit. Das Verfahren in Leipzig gebe keinerlei Genugtuung, und es seien nicht genügend Bemühungen zur Aufdeckung der Wahrheit unternommen worden. Einzelne Angeklagte seien freigesprochen worden, die eigentlich hätten bestraft werden müssen, und bei den für schuldig Befundenen sei die Bestrafung ungenügend. Infolgedessen müsse jetzt Artikel 228 des Versailler Vertrages in Kraft treten, das heißt die Angeklagten sollten den alliierten Regierungen ausgeliefert werden. Die Alliierten aber erkannten die Gefahr, welche der Erfüllungsregierung Wirth aus der weiteren Ausdehnung der Prozesse erwuchs, und sie fürchteten vor allem, daß bei einem durch die Auslieferung möglicherweise hervorgerufenen Putsch die nationale Strömung die Herrschaft an sich reißen könnte. Deswegen unternahmen auch sie, wiewohl unbefriedigt, nichts weiter in einer Sache, die, wie der Engländer Gooch behauptet, "gleich von Anfang an schlimm verpfuscht war".

Boykott englischer,
französischer,
  italienischer Waren  

Unter der Regierung Fehrenbach war schon in weiten Kreisen des Volkes der Widerstand gegen die englischen und französischen Anmaßungen geweckt worden. Dieser äußerte [144] sich in dem Boykott französischer und englischer Waren. Die Verbände des Leinwandhandels in Bremen begannen hiermit im Februar, und der Wein- und Kaffeegroßhandel schlossen sich im März an. Hamburg folgte. Der Hansabund, die Handelskammer, hervorragende Persönlichkeiten aus Finanz- und Schiffahrtskreisen forderten dazu auf, die aus alliierten Ländern eingeführten Waren zu meiden. "Trinkt keine französischen Weine, raucht keine englischen Zigaretten, eßt keine französische Schokolade! Es ist besser, daß das Geld im Lande bleibt, als daß es den Alliierten gegeben wird, die uns mit solch hohen Reparationen quälen!" Der Verband des deutschen Großhandels griff die Parole auf, die deutschen Grubenbesitzer gaben sie weiter, und die deutschen Gastwirte und Hotelbesitzer setzten ihren Gästen nur noch deutschen Wein, deutschen Weinbrand und deutsche Liköre vor. Bald war es in allen deutschen Städten verpönt, Apfelsinen und Feigen zu essen und Spitzen aus Brüssel oder Valenciennes zu tragen. Die Fachzeitschriften propagierten eifrig den Boykott, die Zentralzeitung für Optik und Mechanik, die Lederwelt, die Deutsche Destillateurzeitung, die Deutsche Weinzeitung. Große politische Zeitungen stellten mehr die moralische, nationale Seite in den Vordergrund, so die Leipziger Neuesten Nachrichten und das Stuttgarter Neue Tageblatt. Die Leipziger Neuesten Nachrichten brachten am 2. Juni eine Liste englischer und französischer Waren, die boykottiert werden müßten, und die Stuttgarter Zeitung veröffentlichte am 24. August einen ähnlichen Aufruf. Auf den Straßen wurden Flugblätter verteilt, große und kleine Plakate hingen an Mauern und Schaufenstern: "Trinkt keine französischen Weine!" "Trinkt deutschen Weinbrand!" "Raucht deutsche Zigaretten, ihr nützt damit dem deutschen Volke!"

Den Franzosen war dieser Zustand höchst unbequem. Sie argwöhnten, daß hinter der ganzen Boykottbewegung Regierungsstellen stünden. Hatte doch am 12. Mai die Bayerische Eisenbahndirektion Nürnberg den Bahnhofsrestaurateuren unter Androhung sofortiger Kündigung verboten, Waren aus dem Ausland, besonders aus den Ententestaaten, zu [145] verkaufen! Wer anders könne wohl dahinterstehen als das Reichsverkehrsministerium? Und die Deutsche Weinzeitung hätte am 1. Juni ein Rundschreiben des Verbandes württembergischer Weinhändler abgedruckt, worin der Boykott französischer und elsaß-lothringischer Weine befürwortet würde. Die Handelskammer Stuttgart habe auf Betreiben des Württembergischen Arbeitsministeriums die Veranlassung hierzu gegeben. Wenn natürlich der Boykott auch nicht vom ganzen deutschen Volke restlos durchgeführt wurde – gab es doch seither in Deutschland Leute, welche das Ausländische stets höher bewerteten als das Erzeugnis des eigenen Landes –, so mag er dennoch seine Wirkung nicht verfehlt haben. Mitte September forderte Frankreich in einer Note die deutsche Regierung auf, gegen den Boykott französischer Waren in Deutschland einzuschreiten, da ein solcher gegen den Friedensvertrag verstoße. Dies war allerdings nur insoweit möglich, als vielleicht die Mitwirkung von Regierungstellen in Frage kam. Soweit der Boykott jedoch Privatangelegenheit war, standen der Regierung weder Gesetzes- noch Machtmittel zur Verfügung, dagegen vorzugehen.

Die Franzosen nahmen jede Gelegenheit wahr, um Deutschland seine Schwäche fühlen zu lassen. In der Frage der Sanktionen trat dies besonders unmittelbar und scharf hervor. Zwar demobilisierte die französische Regierung am 25. Juni den im April einberufenen Jahrgang 1919, aber nicht etwa deshalb, weil sie vermeinte, daß kein Vormarsch und infolgedessen keine Truppenverstärkung notwendig sei, sondern mit der Begründung, daß die jüngeren Jahrgänge nun soweit ausgebildet seien, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Gelegentlich der Pariser Besprechungen am 18. und 19. Juni erklärte Lord Curzon, der englische Vertreter, Deutschland habe den Beweis seines guten Willens erbracht, deshalb solle man die Rheinzollgrenze aufgeben und die Sanktionsstädte Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort sofort räumen. "Der gute Wille Deutschlands macht uns nicht bezahlt", erwiderte Briand, "und es hat sich doch gezeigt, daß die Sanktionen nicht unnütz verhängt worden sind." Gewiß hat keine Schlacht des Weltkrieges den Franzosen soviel Mühe, Arbeit und Zeit [146] gekostet wie das unblutige Vorrücken an die Schwelle des Ruhrgebietes. Jetzt, nachdem nun ihre Träume erst zu einem Teil erfüllt waren, sollten sie zurückgehen? Sie dachten gar nicht daran! Was kümmerte sie der gute Wille Deutschlands, was die Sentimentalität

  Aufhebung der Sanktionen  

Englands? Nun, man konnte ja entgegenkommen, Deutschlands guter Wille konnte belohnt werden, indem man die Rheinzollgrenze aufhob, aber nur unter der Bedingung, daß bis zum 31. August die fällige Milliarde voll bezahlt und der Boykott über die französischen Waren aufgehoben sei. Zu mehr war man auf französischer Seite auch um die Mitte des August noch nicht bereit. England erinnerte daran, daß die eigenmächtig von den Franzosen vorgenommene Besetzung Frankfurts im Vorjahre zu unliebsamen Zusammenstößen geführt habe. Großbritannien wünsche nicht, daß es als Bundesgenosse durch Frankreichs Seitensprünge bloßgestellt werde, und Großbritannien habe alles Recht zu diesem Wunsche, denn es sei während des Weltkrieges ein Hauptverbündeter Frankreichs gewesen. Auch erinnerte England Frankreich an sein Versprechen, das es nach den Frankfurter Vorfällen gegeben habe, nicht wieder Maßnahmen von so einschneidender Bedeutung ohne Englands Zustimmung ergreifen zu wollen. Frankreich erkannte schließlich die englischen Gründe an, da es auf England angewiesen war, und fügte sich zähneknirschend. Mitte September zog es seine "Ruhrarmee" zurück und räumte die besetzten Sanktionsstädte.

Walther Rathenau,
  seine Schriften und Ansichten  

Es war um diese Zeit, daß ein Mann in Deutschland an maßgebende Stelle berufen wurde, von wo aus er wenig länger denn ein Jahr Einfluß auf den Gang der deutschen Geschicke hatte: Walter Rathenau. Er, der Präsident der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, wurde am 29. Mai zum Reichsminister für Wiederaufbau ernannt, er hatte sich sehr lange gesträubt, bis er, immer noch gegen seinen Willen, das ihm von der Regierung Wirth angetragene Ministerium übernahm; nach der Konferenz von Cannes im Januar 1922 übernahm er das Amt des Reichsaußenministers, welches er bis zu seiner Ermordung am 24. Juni des gleichen Jahres bekleidete.

Walther Rathenau.
[Bd. 2 S. 240b]    Walther Rathenau.
Photo Scherl.
[147] Dr. Walter Rathenau, 1867 geboren, von jüdischer Abstammung, war ein geistreicher und vielseitiger Demokrat. Er besaß, dies ist einigermaßen bemerkenswert, gleichzeitig eine starke kaufmännische und künstlerische, ja philosophische Ader. In der Politik war er nicht nur der Rivale von Stinnes, sondern zugleich sein Nachfolger und Antipode. Er hatte mit diesem nur das gemein, wie Gooch sagte, daß er einen Namen und eine Laufbahn geerbt hatte. In Deutschland, Frankreich und der Schweiz hatte er studiert und sprach fließend englisch, französisch und italienisch. Am liebsten verkehrte er mit Künstlern und Schriftstellern, mit Liebermann und Hauptmann. Dabei vernachlässigte er nicht seine geschäftlichen Pflichten, und er förderte und mehrte das durch seinen Vater begründete Unternehmen. In Rußland und Frankreich erschloß er der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft neue Handelsgebiete, er machte Entdeckungen auf chemischem und elektrolytischem Gebiete, gründete neue Werke und war industrieller Direktor einer großen Bank. Er unternahm Reisen nach Amerika und Afrika, weitete seinen Blick und sammelte Eindrücke, aus denen sich seine soziale Lehre bildete. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat er in zahlreichen Schriften und Reden seine Ansichten dargelegt.

Als Fünfundvierzigjähriger veröffentlichte Rathenau sein erstes Buch: Zur Kritik der Zeit. Er hatte nicht so unrecht mit seiner Behauptung, daß die Zeichen der Zeit im Reiche des Geistes der Intellektualismus, im Bereiche der Gesellschaft aber Mechanisierung seien. Schon aber seien Kräfte erwacht, welche eines Tages den Kampf mit den herrschenden Mächten aufnehmen würden, wobei er auf die kommende sozialistische Strömung hinwies. Zur Mechanik des Geistes erschien 1913. Er hatte es der jüngeren Generation gewidmet und verleugnete auch hier nicht den Einfluß von James und Bergson. Er forderte, daß sich die Seele freimache vom unbedingten Vertrauen auf den Intellekt und von seiner Herrschaft. In seinen Gedankengängen war Rathenau so etwas wie ein moderner Rousseau.

Während des Krieges war er zum Leiter der Rohstoffabteilung berufen worden, und erst 1917 konnte er sein Buch [148] mit dem etwas metaphysisch klingenden Titel Von kommenden Dingen herausgeben. Der Engländer Gooch sagte, daß dies kaum ein Kriegsbuch genannt werden könne, "aber sicherlich ist es eines der interessantesten Bücher, die während des Krieges geschrieben wurden, und es hat eine größere Verbreitung erfahren als irgendeine seiner anderen Schriften". Rathenau weist hier den Weg zu einer großen Revolution des Geistes und der Gesellschaft. Der "proletarische Zustand" solle abgeschafft werden durch Änderung der Eigentums- und Erziehungsgesetze, vor allem fordert er eine starke Einschränkung des Erbrechtes. Rathenau erkannte die große Gefahr, welche den europäischen Völkern durch die Masse der Besitzlosen drohte, anderseits aber verschloß er sich auch nicht der vernünftigen Forderung, den wertvollen Kräften des Proletariats gebührende Aufstiegsmöglichkeiten zu verschaffen. Er ging auf der beschrittenen Bahn weiter vor und brachte 1918 Die neue Wirtschaft heraus, worin er das System einer Sozialisierung auf kapitalistischem Wege entwickelte. Industrie und Handel dürften nicht mehr dezentralisierte Privatangelegenheiten sein, sondern sie müßten zusammengeschlossen werden zu einem großen Trust, der mit staatlichem Privileg arbeite und alle Mittel der Wissenschaft auf die Produktion einstelle. Durch diese neue Wirtschaftsordnung werde von selbst die neue Gesellschaftsordnung herbeigeführt werden, die jeder Kämpfer in dem großen Kriege in seinem Herzen herbeisehne. Es war Rathenau darum zu tun, auf friedlichem Wege jene große soziale Umwandlung herbeizuführen, die mit immer stärkerer Deutlichkeit sich gewaltsam anzubahnen drohte.

Im Frühjahr 1919 veröffentlichte er eine "Betrachtung" unter dem Titel: Der Kaiser. Diese Schrift ist kein Pamphlet, sondern eine in wunderbarer durchsichtiger Form durchgeführte Analyse des letzten Kaisers und seines Zeitalters. Keine Anklagen gegen den Monarchen, sondern eher Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Der Kaiser habe zwar der Epoche seinen Namen gegeben, dennoch aber sei er nicht Herr, sondern Produkt seiner Epoche gewesen. Die wilhelminische Epoche habe am Monarchen mehr verschuldet [149] als der Monarch an ihr. Es war die Epoche des Intellektualismus, der verstandesmäßigen Breite, nicht der seelischen Tiefe. Alles können und verstehen, aber nichts Neues hervorbringen. Und die Katastrophe des Kaisers sei zugleich die Katastrophe des Intellektualismus und umgekehrt. Wer aber war schuld am Lauf der Dinge? Der Kaiser? Nein. Denn in dieser dynastischen Atmosphäre wäre jeder normale Mensch übergeschnappt, wenn er länger darin hätte leben sollen. Dieses Gottesgnadentum sei allerdings den Germanen fremd gewesen, und darin hatte Rathenau recht: "sie hatten Herzöge und selbstgewählte Könige." Auch dem Feudalismus sei kein Vorwurf zu machen, denn er verteidigte altvererbte Rechte. Die Schuld treffe ganz allein das Großbürgertum.

      "Schmachvoll war hier wie überall die Haltung des Großbürgertums, das, durch Beziehungen und Vergünstigungen preiswert bestochen, seinen Vorteil im Ankriechen an die herrschende Schicht und in der Lobpreisung des Bestehenden suchte. Die geistige Verräterei des Großbürgertums, das seine Abkunft und Verantwortung verleugnete, das um den Preis des Reserveleutnants, des Korpsstudenten, des Regierungsassessors, des Adelsprädikates, des Herrenhaussitzes und des Kommerzienrates die Quellen der Demokratie nicht nur verstopfte, sondern vergiftete, das feil, feist und feig durch sein Werkzeug, die Nationalliberale Partei, das Schicksal Deutschlands zugunsten der Reaktion entscheiden ließ: Diese Verräterei hat Deutschland zerstört, hat die Monarchie zerstört und uns vor allen Völkern verächtlich gemacht. Einer der tragischen Züge des Kaisers war, daß er dieses Großbürgertum lieben mußte, so wie er alles lieben mußte, was ihm tödlich war, und alles verfolgen, was ihn hätte retten können."

Diese oberen Zehntausend in Kunst und Wissenschaft, in Handel und Industrie, in Heer- und Staatsdienst haben durch ihren Byzantinismus eine freiere, demokratische Entwicklung der Verfassung verhindert, wie diese nach dem ganzen Verlauf der europäischen Dinge notwendig gewesen wäre. Niemand setzte sich ein für die Erweiterung der Volksrechte, die Beschränkung der Monarchenrechte. "Hier war Stein-Hardenbergsche Arbeit zu tun, und es war keiner, der es nicht wußte, dem [150] es nicht gesagt war."

Also nicht den Kaiser, sondern das Bürgertum, die Epoche, den Intellektualismus treffe die Schuld an dem Zusammenbruch. Die einzige Rettung des Monarchen hätte bestanden in der Genialität des Charakters. "Daß er sie nicht besaß, ist kein Vorwurf." Darum aber sei sein Fall beklagenswert, nicht tragisch. Den Kaiser treffe keine Schuld am Kriege. Er sei freier von Schuld als die meisten. Überhaupt sei die ganze Kriegsschuldfrage Unsinn. Bei einer zerbrochenen Fensterscheibe mag man die Schuldfrage erörtern, vor dem Naturereignis enthülle sie sich als das, was sie sei: kindlich und kindisch. Wenn es eine Schuld gebe, so sei es die Schuld des europäischen Gewissens. Europa befinde sich in einer gewaltigen Gärung. Zwar mit den horizontalen Völkerwanderungen von Westen nach Osten sei es vorbei, aber nun setze die vertikale Völkerwanderung ein, von unten nach oben, die das abgewirtschaftete Bürgertum verschlinge. Ein Jahrhundert des Bolschewismus werde anbrechen.

      "In einem Jahrhundert werde der praktische Gedanke des Ostens so restlos verwirklicht sein, wie heute der praktische Gedanke des Westens. Im Hintergrunde der Zeiten steht wartend ein letzter Gedanke: die Auflösung der Staatsformen und ihre Ersetzung durch ein bewegliches System selbstverwaltender Kulturverbände unter der Herrschaft transzendenter Ideen. Dieser Gedanke aber setzt eine veränderte Stufe der Geistigkeit voraus."

Dann würden nicht mehr einige wenige, sondern alle teilhaben an den Schätzen aus Materie und Geist. Es sei dann nicht mehr die Welt und Zeit der wenigen, sondern aller. Nicht das Paradies erwarte uns, sondern die erweiterte Menschheit, die neue Würde des Lebens und der Mühen. Wenn die Barbarei des kommenden Jahrhunderts vorüber sei, dann werde nicht der Bolschewismus herrschen, noch das Proletariat diktieren; es werde niemand herrschen und niemand diktieren, sondern Völker werden sich verwalten, neue Arbeit, neue Verantwortung, neue Wünsche lernen. Der Friede, den man in Versailles berate, sei der letzte Herrenfrieden, der den letzten Herrenkrieg beende. "In Gedanken und Mitteln: ein Denkmal der alten Horizontalpolitik."

In seinem kühnen Gedankenflug aber eilte Rathenau seiner [151] Zeit und seiner Menschheit voraus. Bereits im Juni 1919 schrieb er:

      "Es kann nicht länger zweifelhaft sein, daß das, was wir die deutsche Revolution nennen, eine Enttäuschung ist. Jeder unverhoffte Gewinn, jedes Produkt der Verzweiflung bringt Ernüchterung mit sich. Unsere Ketten wurden nicht zerbrochen, sondern fielen ab. Es gab keine Vorbereitung, keine revolutionäre Theorie. Nur eine zweite Revolution kann uns retten, die Revolution der Gesinnung."

Die Bewegung von 1919 sei aus dem Haß entsprungen, "was unser unwürdig ist"; sie sei entsprungen aus dem Verlangen nach Wohlfahrt durch Ausgleich des Besitzes, das habe sich aber als Illusion erwiesen; sie sei hervorgegangen aus dem Verlangen nach Verantwortlichkeit, und das sei das Rühmlichste und Fruchtbarste an ihr.

Rathenaus
  politische Gedanken  

Unablässig war Rathenau bemüht, in Wort und Schrift den Staat und die Gesellschaft nach seinen Ansichten und Grundsätzen weiterzubilden. Der weite, geschichtsphilosophische Horizont war das hervorstechende Merkmal seiner Reden, die er auf demokratischen Parteiversammlungen hielt. "Wir haben unsere Freiheiten nicht gewonnen, sie sind uns in den Schoß gefallen." Immerhin war es ihm klar, daß durch die Revolution das alte Regime für immer abgetan sei, eine soziale Epoche habe begonnen. Und so tröstete er sich nach den Juniwahlen 1920: "Eine reaktionäre Strömung geht durch Deutschland, sie ist stark in ihrem augenblicklichen Einfluß, in ihren bleibenden Erlebnissen jedoch nur ein Windhauch." Nachdem nun die Reichsverfassung geschaffen war, sagte er:

      "Unser politisches Programm ist fast erfüllt, aber das große Arbeitsfeld der Wirtschaft ist noch von keiner Partei in Angriff genommen. Wir werden weder zum alten System zurückkehren, noch werden wir der Führung von Marx folgen. Keiner von uns glaubt, daß Armeen oder Diplomaten uns retten werden. Die Schicksale der Nation werden auf die Dauer nicht durch Armeen, sondern durch das Volk selber bestimmt werden, je nach den Ideen, die es zu den seinen macht. Der Versailler Vertrag wird verschwinden, denn er baut sich nur auf Haß auf; und nichts wird Bestand haben, das nicht eine Idee verkörpert."

[152] Es war eine der Lieblingsideen Rathenaus, daß das Recht des Besitzes sich nur auf Arbeit gründen dürfe. Es war eine kühne und dennoch gesunde, urwüchsige Idee; und er lehnte deshalb sowohl den Kapitalismus wie auch den Sozialismus ab, denn letzten Endes liebten beide den Besitz nur um des Genusses willen. Diesen Gedanken des Arbeitsbesitzes machte er zur Grundlage seines Gesellschaftssystems. "Es handelt sich nicht länger um den Ruf nach Sozialisierung, die niemand versteht, sondern um einen eingehenden Organisationsplan unserer Wirtschaft auf sozialer Basis." Nicht Enteignung der Industrie durch den Staat, sondern Beaufsichtigung sei der Mittelweg zwischen den sich bekämpfenden Strömungen des Individualismus und Sozialismus. In einer Vorlesung in der Hochschule für Politik zu Berlin sagte er 1921:

      "Wir fühlen, daß die Epoche des reinen Kapitalismus beendet ist, dennoch verlangt keine maßgebende Stimme nach einer grundlegenden Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung."

Der Kapitalismus sei allein dazu in der Lage gewesen, für Nahrung, Kleider, Häuser, Transporte und andere Bedürfnisse einer riesig angewachsenen Bevölkerung zu sorgen, und es sei auch nötig, die Produktion noch zu steigern. Kein guter oder auch nur erträglicher Lebensstandard könne erreicht werden, wenn unsere Produktion nicht gesteigert werden könne. Aber dadurch, daß der Kapitalismus den notwendigen Bedarf decke, habe er zuviel Macht über das Leben der Gesamtheit gewonnen und sich einen unverhältnismäßig großen Anteil am Nutzen daraus gesichert. Es solle keine einzelne Klasse herrschen dürfen. Politik und Wirtschaft verlange Zusammenarbeit. An Stelle von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit solle Freiheit, Verantwortlichkeit und Solidarität gesetzt werden.

Als sein reifstes Werk seiner sozialen und politischen Gedanken wird sein Buch Die neue Gesellschaft, 1921, bezeichnet. Er gibt den Sozialdemokraten recht, daß die Gesellschaft sozialisiert werden müsse, indem jeder seinen Lebensunterhalt selbst verdienen solle. Aber das Ziel sei nicht eine Verteilung des Besitzes oder gleicher Lohn. Es sei die Abschaffung des proletarischen Zustandes lebenslanger und [153] erblicher Knechtschaft, der zweifachen Schichtung der Gesellschaft, der skandalösen Versklavung des Bruders durch den Bruder, die all unsere Handlungen, all unsere Schöpfungen, all unsere Freuden schände. Auch dies sei nicht das letzte Ziel. Der letzte Zweck alles Strebens sei die Entwicklung der menschlichen Seele. Wirtschaftlicher Sozialismus sei nicht nötig, aber ein ethischer. Die Sozialisten hätten eine Zukunft im Auge, in der es keine Reichen mehr gäbe, und glaubten, infolgedessen werde es auch keine Armen mehr geben. Sie seien Sklaven von Papageienphrasen. Logischer Sozialismus bedeute proletarischen Zustand für uns alle. Eine echte Demokratisierung des Staates und der Erziehung müßte erreicht werden. Nur dann werde das Monopol der Klasse und der Kultur gebrochen werden. Das Aufhören des unverdienten Einkommens werde den Fall des letzten Klassenmonopols, nämlich desjenigen der Plutokratie anzeigen. In dem Rettungsplan sei kein Platz für Parasiten. –

  Urteil über Rathenau  

Dergestalt waren die Gedankengänge und Ansichten des Mannes, den man als einen modernen Rousseau der Wirtschaftsära bezeichnen könnte. Schärfer fiel das Urteil Lord d'Abernons, des britischen Botschafters, aus. Er schrieb am 14. Juli 1922: "Waren nicht die Anschauungen dieses Mannes ebenso umstürzlerisch wie die von Lenin? Er sah aus wie ein Bolschewik. War er in der Tat nicht einer mit dem Herzen?" Rathenau entwickelte das Idealbild einer Demokratie, dem jeder ehrliche und aufrichtige Mensch zustimmen konnte, – ein Idealbild, das vorderhand aber mit den zu Gebote stehenden unzulänglichen irdischen Mitteln nicht erreicht werden konnte. In der politischen Siedehitze seiner Zeit wurde er vielfach verkannt und mißverstanden, und so hatte er zahlreiche Gegner. Der rechts eingestellte Teil des Volkes erblickte in ihm einen Edelbolschewisten, die Linksgerichteten hielten ihn für einen Erzkapitalisten, aber für einen Mann von großzügigen Führerqualitäten, wie sie selbst einen solchen hervorzubringen außerstande waren. Deshalb riefen sie ihn wider seinen Willen. In Wahrheit war er vielleicht der befähigtste Kopf der deutschen Demokratie. Seine Tragik bestand darin, daß man ihn aus seiner Villa im Grunewald ins [154] Reichsministerium holte. Er war ein gewandter und erfolgreicher Politiker, ein genialer und mutiger Staatsmann, wie er durch den Vertrag von Rapallo bewies, aber er war plötzlich in den Brennpunkt des öffentlichen Lebens gerückt und verstärkte dadurch den Haß, der sich infolge seiner unverstandenen Schriften gegen ihn richtete. Diesem Haß, der nicht aus Bosheit hervorfloß, sondern aus Vaterlandsliebe und Mißverstehen Rathenauschen Gedankenfluges, fiel er zum Opfer, und das ist die doppelte Tragik dieses Mannes. Von allen politischen Morden jener unruhigen Zeit ist derjenige an Rathenau der tragischste. –

  Wiesbadener Abkommen  
zwischen Rathenau
und Loucheur

Am 11. und 12. Juni traf Rathenau, der Reichsminister für Wiederaufbau, in Wiesbaden zum ersten Male mit dem französischen Minister Loucheur zusammen, um über die weitere Durchführung des Wiederaufbaues von Nordfrankreich zu beraten, ohne daß die Verhandlungen zu einem Ergebnis geführt hatten. Erst am 26. August wurden die Verhandlungen zwischen beiden Ministern wieder aufgenommen, und sie zogen sich bis in die ersten Tage des Oktobers hin, mit Unterbrechungen. Man verhandelte über die Kohlenfrage, den Wiederaufbauvertrag und die Sachlieferungen, sowie über die Rücklieferung von Industrie- und Eisenbahnmaterial und von Tieren. Am 7. Oktober kam endlich zu Wiesbaden das Wiederaufbauabkommen zwischen Rathenau und Loucheur zustande.

Das Wiesbadener Abkommen könnte man eigentlich weniger als ein politisches, als vielmehr als ein kaufmännisches Ereignis bezeichnen. Trotzdem aber war es staatsmännisch. Rathenau wollte an Stelle der Gold- und Geldprogramme ein Leistungsprogramm setzen. Deswegen versuchte er, das verantwortungsvolle Reparationsproblem nicht nach dem starren, buchstabengläubigen Schema des Verwaltungsbeamten, sondern nach der wägenden, aber intuitiven Methode des Kaufmannes zu lösen. Es wurde bestimmt, daß die Durchführung der Sachlieferungen nicht mehr unmittelbar durch die beiden beteiligten Staaten Deutschland und Frankreich, sondern durch privatrechtliche kaufmännische Organisationen erledigt werden sollte, wobei die deutsche [155] Organisation als Produzent, die französische als Händler zu wirken hatte. Das bedeutete ohne Zweifel eine Vereinfachung. Jedoch sollte die deutsche Organisation zu den Lieferungen nur insoweit verpflichtet sein, als sie mit den Produktionsmöglichkeiten Deutschlands, den Bedingungen seiner Rohstoffversorgung und den inneren Bedürfnissen seines sozialen und wirtschaftlichen Lebens vereinbar sein würden. Die deutsche Lieferungsorganisation sollte durch die deutsche Regierung bezahlt werden, und dieser wiederum sollte der Wert der Lieferungen auf Reparationskonto gutgeschrieben werden.

Es wurden drei Zeitabschnitte für die Lieferungen festgesetzt; der erste sollte bis zum 1. Mai 1926 reichen, und bis dahin sollte der Sachwert der Lieferungen sieben Milliarden Goldmark nicht übersteigen. Der zweite Abschnitt sollte das Jahrzehnt vom 1. Mai 1926 bis zum 1. Mai 1936, der dritte die Folgezeit umfassen. Die Rücklieferung von französischem Industriematerial sollte am 6. Dezember 1921 aufhören, danach sollten lediglich noch die vorher abgerufenen Maschinen zurückgeliefert werden. Das restliche französische Material würde in Deutschland verbleiben, dafür jedoch würde Deutschland innerhalb der nächsten acht Monate 120 000 Tonnen Industriematerial neu oder gebraucht, aber in gutem Zustande, liefern. Ferner sollte Deutschland 62 000 Pferde, 25 000 Rinder, 25 000 Schafe und 40 000 Bienenvölker liefern, ferner noch 13 000 Pferde zur Gutschrift auf das Wiedergutmachungskonto. Damit hätte Deutschland dann aber den Artikel 238 des Versailler Vertrages erfüllt.

Schließlich wurde noch ein Kohlenabkommen getroffen. Frankreich würde Deutschland für gelieferte Kohlen die Inlandpreise zuzüglich der Transportkosten zahlen. Deutschland sollte das Recht der freien Kohlenausfuhr haben, wenn es seinen Wiedergutmachungsverpflichtungen nachgekommen sei. Die Alliierten verpflichten sich ihrerseits, die von Deutschland gelieferten Kohlen nur für den eigenen Bedarf und den ihrer Kolonien und Protektorate zu verwenden. Deutschland darf bei etwaiger Ausführung der unter Artikel 299 [156] aufrechterhaltenen Vorkriegsverträge bis zu 150 000 Tonnen monatlich der so gelieferten Mengen auf die anderen Pflichtlieferungen an Frankreich anrechnen. Der Erlös solcher Lieferungen sollte auf Wiedergutmachungskonto eingezahlt werden.

Widerstand der
  französischen Industrie  

Das Wiesbadener Sachlieferungsabkommen versuchte, wenn auch in bescheidener Form, Vergünstigungen für das deutsche Wirtschaftsleben herauszuholen, indem die deutsche Industrie direkt am Wiederaufbau Nordfrankreichs beteiligt wurde. Hierdurch wäre es möglich gewesen, für die deutsche Wirtschaft auch aus den bisher höchst unrentablen Wiederaufbauverpflichtungen eine gewisse Rentabilität herauszuholen, und darum schaltete Rathenau das Wiederaufbaumonopol des Reiches aus und legte die Gelegenheit in die Hände des Unternehmertums. Da aber erhob sich die französische Industrie und verhinderte die Durchführung des Abkommens. Die französische Regierung verweigerte die Ratifikation des Abkommens, "infolge der Habgier unserer Industriellen und Spekulanten, die sich das Monopol dieser ungeheuren Unternehmung sichern wollten, in der jede verwüstete Stadt für sie zu einer Goldgrube wurde", wie der französische Professor Gide schrieb. Auch Caillaux bestätigt dies, indem er schrieb, daß die Politiker diesen Reparationsmodus ablehnten, "weniger weil sie Ignoranten in finanziellen Dingen waren, sondern eher, weil sie unter dem Einfluß der Schieber und Spekulanten standen. Es schien diesen letzteren, daß es in Nordfrankreich ein wunderbares Expansionsgebiet für ihre Industrie gebe, eine Art von Kolonie in neuer Ausgabe, wo sie keine Konkurrenz zulassen wollten." Erst drei Vierteljahr später konnten die Bestimmungen des Wiesbadener Abkommens in die Wirklichkeit umgesetzt werden durch das Bemelmans- und Gillet-Abkommen vom 2. und 3. Juni 1922, und auch da erhielt es keine allzu große Bedeutung für die Praxis infolge der andauernden Opposition der französischen Industriellen.

  Friede mit Amerika  

Um die gleiche Zeit, da die Wiesbadener Besprechungen begannen, kam auch endlich der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reiche und den Vereinigten Staaten von Amerika [157] in Berlin zustande, den 25. August 1921. Die Urkunde beginnt folgendermaßen:

      "In der Erwägung, daß die Vereinigten Staaten gemeinschaftlich mit ihren Mitkriegführenden am 11. November 1918 einen Waffenstillstand vereinbart haben, damit ein Friedensvertrag abgeschlossen werden könne; in der Erwägung, daß der Vertrag von Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde und gemäß den Bestimmungen des Artikels 440 in Kraft getreten, aber von den Vereinigten Staaten nicht ratifiziert worden ist, in der Erwägung, daß der Kongreß der Vereinigten Staaten einstimmig den Beschluß gefaßt hat, der vom Präsidenten am 2. Juli 1921 genehmigt worden ist und im Auszug folgendermaßen lautet: Beschlossen vom Senat und Repräsidentenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika, die zum Kongreß versammelt sind, daß der durch den am 6. April 1917 genehmigten einstimmigen Beschluß des Kongresses erklärte Kriegszustand zwischen der kaiserlich deutschen Regierung und den Vereinigten Staaten von Amerika hiermit für beendet erklärt wird."

Im Vertrage sicherten die Vereinigten Staaten sich und ihren Angehörigen alle Rechte, Privilegien, Entschädigungen, Reparationen oder Vorteile einschließlich des Rechts, sie zwangsweise durchzuführen, soweit ihnen solche nach dem Vertrage von Versailles, den Ansprüchen aus dem Kriege usw. zustünden. Als Sicherheit für die Ersatz- und Entschädigungsleistungen durch Deutschland sollte sämtliches deutsches und österreichisch-ungarisches Staats- und Privateigentum beschlagnahmt werden, das am 7. Dezember 1917 im Bereiche der Vereinigten Staaten war. Amerika beanspruchte also aus dem Versailler Vertrage die Rechte und Vorteile für sich, soweit sie sich auf folgende Punkte erstrecken: deutsche Kolonien, die Abrüstung zu Lande, zu Wasser und in der Luft, die Kriegsgefangenen und Grabstätten, die Wiedergutmachungen, die finanziellen Bestimmungen, die wirtschaftlichen Bestimmungen, die Luftschiffahrt, die Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen, die Sicherheiten für die Ausführung und die Klauseln.

      "Wenn die Vereinigten Staaten die in den Bestimmungen jenes Vertrages festgesetzten und in diesen Paragraphen erwähnten Rechte und Vor- [158] teile für sich in Anspruch nehmen, werden sie dies in einer Weise tun, die mit den Deutschlands nach diesen Bestimmungen zustehenden Rechten in Einklang steht."

Kategorisch abgelehnt wurde von Amerika der erste Teil des Versailler Vertrages: die Völkerbundsakte. Außerdem übernahm die Union keine Verpflichtungen aus den Teilen des Vertrages, die sich beschäftigten mit den Grenzen Deutschlands, den politischen Klauseln für Europa, mit China, Siam, Liberia, Marokko, Ägypten, Türkei, Bulgarien, Schantung, und mit den Arbeitsbestimmungen, die in Verbindung mit dem Völkerbundsstatut gebracht waren. Schließlich erklärten die Vereinigten Staaten, daß sie wohl berechtigt, aber nicht verpflichtet seien, sich an der Wiedergutmachungskommission und anderen Ausschüssen zu beteiligen.

So wurde, nach der Dauer eines Kriegszustandes von 4½ Jahren, nun auch formell zwischen Deutschland und Amerika der Friede wiederhergestellt. Amerika, das mit dem Versailler Vertrag von Anfang an unzufrieden war, beanspruchte für sich in der Hauptsache, außer den militärischen, die international-wirtschaftlichen Bestimmungen. Dafür hatte es zwei gewichtige Gründe: erstens war es selbst aktiv am Kriege gegen Deutschland beteiligt gewesen, zweitens aber war es zum Hauptgläubiger seiner alliierten Verbündeten geworden. Jedoch eine Einmischung in alle politischen Angelegenheiten Europas, und als solche betrachtete es auch den nicht nach seinem Willen geschaffenen Völkerbund, wies es zurück.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra