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[Bd. 1 S. 58-60 = Trennseiten] [61]
1. Kapitel: Der Zusammenbruch des Kaiserreiches
und die deutsche Revolution.

Anfang August 1914 brach der Weltkrieg aus, die gewaltigste Katastrophe, die je über Europa dahingebraust ist. Einmütig erhob sich das deutsche Volk gegen den gewaffneten Angriff aus Ost und West. Auch die Sozialdemokratie, durchdrungen von der Größe des weltgeschichtlichen Augenblickes, legte ein rückhaltloses Bekenntnis zu Kaiser und Reich ab. Sie erkannte, daß in diesen Zeiten jedes Parteigezänk schweigen mußte und unterging in dem allgemeinen Sturm der Entrüstung und Begeisterung, daß es nur demjenigen schadete, der es heraufbeschwor. Noch nie

Kriegsausbruch
  und Karl Liebknecht  

seit vierzig Jahren stand die Monarchie fester in Deutschland, als im August 1914. Es schien, als habe in der deutschen Sozialdemokratie der Geist Lassalles gesiegt. Doch eine kleine Schar stand damals schon abseits: Karl Liebknecht und sein Gefolge, die intransigenten, unentwegten Marxisten. Auch sie begrüßten den Ausbruch des Großen Krieges, aber in ihrer Weise. Nach der Lehre von Karl Marx ist jeder Krieg der beste Nährboden für die soziale Revolution. Durch die bis zur Erschöpfung gesteigerte Anspannung aller Kräfte, die den bisherigen Staat in seiner Existenz schützen wollen, erhalten diejenigen Kräfte, die über die Zertrümmerung des "Klassenstaates" zur sozialen Freiheit gelangen wollen, ein notwendiges Übergewicht. Je länger ein Krieg dauert, um so mehr wächst die Macht der Sozialrevolutionäre. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihre wenigen Anhänger waren die gelehrigen Schüler von Karl Marx. Auch sie gedachten nach dem Rezept zu verfahren, welches die Pariser Kommune im Deutsch-Französischen Kriege und die Petersburger Anarchisten im Russisch-Japanischen Kriege angewandt hatten, nämlich nach der militärischen Niederlage die Monarchie zu stürzen und die Diktatur des Proletariats zu verkünden. Das war ein Ziel in weiter Ferne, und dennoch glaubte die kleine Schar der deutschen Revolutionäre schon jetzt an seine Erreichung.

Liebknechts Kampf
  mit der Sozialdemokratie  

[62] Am 3. August 1914 hielt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion eine Sitzung ab, in der sie mit 78 gegen 14 Stimmen die Bewilligung der Kriegskredite beschloß. Im Reichstagsplenum jedoch fand nur Liebknecht den Mut, gegen die Kriegsanleihe zu stimmen. In dem nun einsetzenden Kampfe Liebknechts gegen die Sozialdemokratie liegen die Wurzeln für den Zusammenbruch des Kaiserreichs. Vergeblich versuchte Liebknecht im Rahmen der Sozialdemokratie bereits Ende August 1914 große Versammlungen unter der Parole "Gegen jede Annexion, für den Frieden" zu veranstalten. Er kam öffentlich nicht zu Worte. Er war darauf angewiesen, unterirdische Propaganda zu treiben. Er begann damit bei den Jugendlichen, die sich, besonders in Niederbarnim und Neukölln, zu oppositionellen Gruppen zusammenschlossen und ihre Ideen, auf der Schreibmaschine vervielfältigt, verbreiteten.

Als im November 1914 die zweite Kriegsanleihe über fünf Milliarden aufgelegt werden sollte, erklärte die deutsche Sozialdemokratie sich damit einverstanden, in der gleichen Weise wie beim erstenmal. In der Plenarsitzung des Reichstags vom 2. Dezember stimmte Liebknecht, der Unentwegte, wiederum als einziger Abgeordnete gegen die Anleihe. Er begründete seine Haltung folgendermaßen: Es handle sich nicht um einen deutschen Verteidigungskrieg, sondern um einen imperialistischen Krieg zum Schutze der Hochfinanz und des Militarismus, hervorgerufen von der deutschen und österreichischen Kriegspartei. "Ein schleuniger, für keinen Teil demütigender Friede, ein Friede ohne Eroberungen ist zu fordern; alle Bemühungen dafür sind zu begrüßen." Ende Dezember begann die Richtung Liebknecht auch mit der internationalen Sozialdemokratie in Verbindung zu treten. Auf Veranlassung der Independent-Labour-Party in London lieferten Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring ihre bekannten Weihnachtsbriefe dem Labour-Leader, die auch in Deutschland illegal verbreitet wurden.

Anfang Februar 1915 wurde Liebknecht militärisch eingezogen, und am 18. Februar wurde Rosa Luxemburg verhaftet. Der Vormarsch im Westen war zum Stillstand gekommen, der zermürbende Stellungskrieg hatte begonnen. Die erste Begei- [63] sterung in Deutschland war verraucht, sie war in breiten Schichten des deutschen Volkes nüchterner, ja zaghafter Betrachtungsweise gewichen, die sich infolge der unaufhörlich aufs neue erscheinenden endlosen Verlustlisten täglich befestigte und verstärkte. Jetzt gewannen auch die Stimmen bürgerlicher Pazifisten an Bedeutung, unter denen die bekanntesten die Professoren Sieper, Quidde, Schücking, Förster und Nikolai waren. Unmerklich, aber sicher begann jetzt auch die auf den Plan tretende bürgerliche Demokratie das Kaiserreich zu erschüttern.

  Zwiespalt im deutschen Volk:  
bürgerliche Pazifisten und
Ruf nach dem Siegfrieden

Gegen die Bedenken des pazifistisch-demokratischen Bürgertums und die Hetzereien der Radikalsozialisten richteten am 10. März 1915 sechs Verbände, der Bund der Landwirte, der Deutsche Bauernbund, der Zentralverband Deutscher Industrieller, der Bund der Industriellen, der Hansabund und der Reichsdeutsche Mittelstandsverband, an den Reichstag eine Eingabe, in der sie den einmütigen Willen Deutschlands zu einem die Zukunft sichernden Siegfrieden forderten. Eine ähnliche Adresse überreichte der Alldeutsche Verband am 5. Mai dem Reichskanzler, und die sechs Verbände schlossen sich dieser Kundgebung des Alldeutschen Verbands an den Reichskanzler am 20. Mai an. Auch die Sozialdemokratie bewilligte wieder am 20. März die Kriegskredite, während Liebknecht und Rühle sie ablehnten und die auf dreißig Abgeordnete angewachsene Opposition vor der Abstimmung den Reichstag verließ. Die Mehrheit unter Führung Eberts, Scheidemann und Davids erklärte offen ihren Willen zur Verteidigung des Vaterlandes und sprach den Wunsch nach einem Frieden ohne Annexionen aus. Sie wurde kräftig unterstützt durch die von Legien geführten Gewerkschaften. Die Minderheit dagegen, an deren Spitze Liebknecht, Ledebour, Bernstein und Haase standen, verweigerten jede Unterstützung des imperialistischen Krieges. Die Differenz schnitt bereits derart tief in das sozialdemokratische Parteileben ein, daß Haase den Vorsitz der Fraktion niederlegte und Ebert ihm folgte.

Die Kriegserklärung Italiens verschärfte die Gegensätze im bürgerlichen wie im sozialdemokratischen Lager. Die deutsche Regierung, welche vom Reichskanzler Bethmann-Hollweg ge- [64] leitet wurde, war trotz der von ihr geübten Zensur schwach und hinfällig. Außerstande, den inneren Widerständen und Gegensätzen, wenn es sein mußte, mit Machtmitteln entgegenzutreten, war sie auch den außenpolitischen Vorgängen nicht gewachsen. Sie gab den Habsburgern zwar nicht nach, als diese das eroberte Kongreßpolen der Donaumonarchie unter der Herrschaft des Erzherzogs Karl Stefan angliedern wollten, versuchte aber, Polen, unter Voraussetzung seiner Selbständigkeit, beiden Mächten anzuschließen. Noch vertrat Bethmann-Hollweg am 19. August im Reichstag die Idee eines starken und siegreichen Friedens, noch bewilligte am folgenden Tage die Sozialdemokratie, abermals gegen die Stimmen Liebknechts, die dritte Kriegsanleihe, aber unter dem Drucke der Blockade und des Hungers und der grauenhaft anwachsenden Zahl der Blutopfer war es unvermeidlich, daß die Friedenssehnsucht stärker und anspruchsvoller hervortrat. Im August 1915 gründete sich in Berlin der "Bund Neues Vaterland", größtenteils aus pazifistischen Gelehrten bestehend, der sich für einen Kompromißfrieden einsetzte. Einen Monat später tagte die Internationale Konferenz der kriegsgegnerischen Sozialisten in Zimmerwald (Schweiz), um über die Revolutionierung der kriegführenden Staaten unter Ausnutzung der vorhandenen Kriegsmüdigkeit zu beraten.

Wenn auch Bethmann-Hollweg am 9. Dezember 1915 noch einmal den Standpunkt der Regierung darlegte und für einen Frieden eintrat, welcher Deutschland politische, militärische und wirtschaftliche Garantien brächte, mußte die Regierung erleben, daß am 20. Dezember bereits zwanzig sozialdemokratische Abgeordnete gegen die vierte Kriegsanleihe stimmten.

Es fehlte gewiß nicht an Publizisten, deren Namen einen guten Klang hatten und welche den Zielen der Regierung für einen Siegfrieden gute Dienste leisten konnten, wenn diese sich ihrer bedient hätte. Da waren die Professoren Harnack, Schäfer, Wilamowitz, Sombart, welche die Kraft der Nation gegen die Gewalttaten der Feinde zu sammeln versuchten. Professor Delbrück forderte ein großes Kolonialreich, und Naumann und Rohrbach propagierten die Idee des geschlossenen Mitteleuropa. Aber diese geistigen Bewegungen waren zu zersplittert, ihnen [65] fehlte die großartige Direktive, die wuchtige Sammlung, um sie wirksam zu machen im Kampfe gegen die Kriegsgegner. Die Regierung, zaghaft und ängstlich, ohne Schwungkraft, ohne einen Schimmer jener imposanten nationalen Gewissenlosigkeit wie die französische, nahm sich dieser Wortführer eines siegreichen Frieden nicht an und unterstützte insofern indirekt die Friedensprediger. Durch diese Haltung verursachte die Regierung ihrerseits die zwangsläufige Entwicklung der Dinge, die zum Zusammenbruch des Kaiserreichs führte. –

Liebknechts Zerwürfnis
  mit der Sozialdemokratie  

Liebknecht wurde am 12. Januar 1916 aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, weil er "fortgesetzt gegen die Beschlüsse der Fraktion handelt". Er begründete jetzt die revolutionären "Spartakusbriefe", die in Abständen von ein bis drei Wochen erschienen und, mit Schreibmaschine hergestellt, hektographisch vervielfältigt wurden. Infolge einer vorzüglichen Organisation wurden diese illegalen Schriften über das ganze Reich bis in die kleinen Provinzstädte hinein verteilt. Mit hemmungsloser Leidenschaft griff Liebknecht hierin die Sozialdemokratie an und brandmarkte sie als Verräterin des Proletariats und der Revolution, während er den rücksichtslosen internationalen Kampf gegen die Bourgeoisie als Ziel seines Strebens hinstellte. – Der 24. März 1916 brachte eine weitere Etappe auf dem Wege zur Revolution: unter der Führung Haases traten achtzehn Abgeordnete, welche die Politik der Bewilligung der Kriegskredite nicht mehr mitmachen wollten, aus der Sozialdemokratischen Fraktion aus und schlossen sich zur "Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft" zusammen.

Bethmann-Hollweg stellte zwar wieder am 5. April im Reichstage die Kriegsziele Deutschlands auf und verlangte Sicherheiten im Osten und Westen, aber seine trockene und philiströse Art war nicht dazu geeignet, Eindruck zu erwecken, ganz besonders nicht, da um jene Zeit der fürchterliche und aussichtslose Kampf um Verdun Hekatomben deutsche Männer verschlang.

  Erste Erhebung des Proletariats  

Um so eindrucks- und wirkungsvoller dagegen war die jetzt im großen Stile einsetzende Revolutionierung der Massen durch Liebknecht und seine Anhänger. Mit Handzetteln und Flugblättern wurde eine intensive Propa- [66] ganda getrieben, und in Berlin wie in anderen deutschen Städten, Dresden, Pirna, Jena, Hanau u. a., kam es am 1. Mai zu großen Demonstrationen gegen Krieg, Hunger und das Hinopfern der Soldaten an der Front. Besonders zahlreich beteiligten sich Frauen und Jugendliche. In Berlin, wo 55 000 Munitionsarbeiter und ‑arbeiterinnen streikten, ereigneten sich auf dem Potsdamer Platz Zusammenstöße mit der Polizei. Karl Liebknecht, der Führer der Masse, brachte den Ruf aus "Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung!" Er wurde verhaftet und vom Kriegsgericht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

Dies war sozusagen der erste Blitz aus einer heraufziehenden Unwetterwolke. Die Erhebung des Proletariats zeigte der deutschen Monarchie ganz offen vor aller Welt die Gefahr, in der sie schwebte. Aber sie besaß weder die innere Kraft noch die materiellen Hilfsmittel, um den revolutionären Dämon zu bannen. Der Hunger war der beste Bundesgenosse derjenigen, die nun offen den Aufruhr verkündeten. In Leipzig, Berlin, Charlottenburg, Braunschweig, Magdeburg, Koblenz, Osnabrück und vielen anderen deutschen Städten gab es im Mai und Juni Hungerdemonstrationen, die von Ausschreitungen gegen die Lebensmittelläden begleitet waren und unter der Losung standen: "Nieder mit dem Krieg! Hoch die internationale Solidarität des Proletariats!" Zwar konnte die Regierung dieser im Anfangsstadium befindlichen revolutionären Bewegung durch den verschärften Belagerungszustand Herr werden, aber positive Erfolge hatte sie damit nicht zu verzeichnen.

Mit Hochdruck arbeiteten die revolutionären Organisationen in ganz Deutschland. In den Betrieben, auf den Straßen und in den Versammlungen bediente man sich der Propaganda von Mund zu Mund. Man nahm Fühlung mit den Ersatztruppen, die an die Front geschickt wurden; unter den Verwundeten, die in zahllosen Scharen aus den beiden großen Schlachten vor Verdun und an der Somme nach Deutschland kamen und in Lazaretten und Genesungsheimen Aufnahme fanden, wurde eifrig agitiert. Die Feinde versorgten das Heer an der Front mit revolutionären Flugblättern. Mit Flugzeugen, Graben- [67] mörsern, Granaten wurden seit Mitte 1916 die in Deutschland verbotenen Broschüren und Schriften hinter die deutsche Front geschleudert und dort verteilt. Ende Juni brach der erste große Munitionsarbeiterstreik in Berlin und Braunschweig aus, der nur durch Lohnerhöhung beigelegt werden konnte. In Berlin befanden sich 55 000 Arbeiter im Ausstand.

  Bethmann-Hollwegs  
lahme Politik

Und was hatte in dieser Zeit die deutsche Regierung zu tun? Sie hatte sich mit Österreich über die Gründung der erblichen und konstitutionellen Monarchie Polen zu einigen (11./12. August). Während die Fackel des Aufruhrs entzündet wurde und das aufgeregte Revolutionsgeschrei durch die Straßen hallte, hatte die weltfremde Bürokratie der Regierungsmaschine nur Hirngespinsten nachzujagen, die außerhalb der unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes lagen. Nicht eine Tat der Größe und der inneren Befriedung hat die kaiserliche Regierung jener Zeit aufzuweisen. Anstatt heilsame Ventile zu öffnen und das Volk durch Entgegenkommen zu gewinnen, die Agitatoren durch staatsmännisches Handeln zu entwaffnen, stützte man sich theoretisch auf den Burgfrieden, praktisch auf den Belagerungszustand, die Polizei und die Zensur. Alles, was getan wurde, um den nationalen Willen zum Sieg aufrechtzuerhalten, ging von privater Seite aus. Im Juli 1916 wurde ein "Deutschnationaler Ausschuß für einen ehrenvollen Frieden" gegründet, der die lahme und brüchige Politik Bethmann-Hollwegs hinsichtlich der Kriegszielfrage unterstützen sollte, und der "Unabhängige Ausschuß für einen deutschen Frieden", 1915 von Dietrich Schäfer ins Leben gerufen, trat Mitte Juli mit derselben Tendenz an die Öffentlichkeit. Aber gegenüber dem sich jetzt anbahnenden elementaren Kampfe der politischen Anschauungen zeichnete sich die Regierung durch Lethargie, durch Ohnmacht aus. Auf der ganzen Welt fand sich zu jener Zeit keine kläglichere Staatsmaschine als die kaiserlich deutsche unter den Händen eines Bethmann-Hollweg.

  Berufung Hindenburgs  

Ende August (29. August) wurde Generalfeldmarschall von Hindenburg zum Chef des Generalstabes des Feldheeres und General Ludendorff zum Ersten Generalquartiermeister [68] ernannt. Diese beiden Männer, besonders der letztere, brachten eine ungewöhnliche Energie mit, die alsbald die schwache Reichsregierung in ihren Bann zu ziehen und zu beherrschen begann. Das Hindenburgprogramm bewirkte auf allen Gebieten der Rüstungsindustrie verstärkte Leistungen, und am 2. Dezember nahm der Reichstag das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst an, das jeden deutschen Mann vom 17.–60. Lebensjahr zum Hilfsdienst fürs Vaterland verpflichtete. Das Volk fühlte die feste Hand über sich, denn es herrschte gewissermaßen ein Zustand militärischer Diktatur. Gleichzeitig begann sich bei den maßgebenden Stellen die Einsicht durchzusetzen, daß das Ende und der Ausgang dieses Krieges nicht abzusehen sei und daß man etwas unternehmen müsse, um unnötige Opfer an Kraft und Menschenleben zu ersparen. Zum erstenmal machten die verbündeten Mittelmächte, veranlaßt durch die Oberste Heeresleitung, den Feinden ein Friedensangebot (12. Dezember), ein politisch kluger, militärisch, nach Abbruch der Offensive von Verdun nicht ganz so kluger Schritt. Immerhin gab die höhnische Ablehnung dieses Angebotes durch die feindlichen Regierungen dem deutschen Kaiserreich wieder ein moralisches Machtmittel gegenüber den pazifistischen und revolutionären Strömungen im eigenen Volke in die Hände.

Und in der Tat war seit der Befehlsübernahme durch Hindenburg und Ludendorff im deutschen Volke eine gewisse Beruhigung eingetreten. Der schwache Bethmann-Hollweg verschwand ganz im Hintergrunde, und der schlimme, lange Rübenwinter 1916/17 ging trotz Hunger und Kälte ohne merkliche Erschütterung an Deutschland vorüber.

Doch fieberhaft arbeiteten die Spartakusleute. In Hunderttausenden von Exemplaren verbreiteten sie in diesem Winter illegal die Broschüre "Imperialistischer Sozialismus oder proletarischer Klassenkampf?", welche scharf und unzweideutig das Wesen und die Aufgabe des Klassenkampfes herausarbeitete. Praktische politische Erfolge wurden jedoch nicht erzielt.

Der Wendepunkt des Weltkrieges:
  das verhängnisvolle Frühjahr 1917  

Da kam der große Anstoß von draußen, der die militärische Autorität der beiden Feldherren im Lande erschütterte und bereits im Frühjahr 1917 den endgültigen Zusammenbruch [69] des Kaiserreiches ideell einleitete: die Kerenskirevolution in Petersburg. Hier sahen die Aufrührer das praktische Beispiel einer Revolution, das ihren Mut zu neuen Taten anfeuern mußte. Am 14. März dankte der Zar ab, und die sozialistische Revolution Rußlands war geglückt.

Inzwischen hatte sich auch die außenpolitische Lage Deutschlands verschlechtert. Infolge der deutschen Ankündigung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 31. Januar waren die Vereinigten Staaten offen in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Schließlich kam noch hinzu, daß der neue Herrscher von Österreich-Ungarn, Kaiser Karl, der dem am 21. November 1916 verstorbenen Franz Joseph auf dem Throne gefolgt war, geradezu deutschfeindlich und politisch unsicher war, da er auf eigene Faust, hinter dem Rücken der deutschen Regierung, Friedensangebote an Frankreich machte (23. März), worin er offen erklärte, er sei zur Preisgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich bereit. Die allgemeine Lage des deutschen Kaiserreichs war bedenklich, zumal auch militärische Mißerfolge, an der Aisne und in der Champagne, eintraten.

Es war das furchtbarste Frühjahr, welches das deutsche Volk und seine Regierung erlebten. Ein erbarmungslos grimmiger Winter zog sich bis gegen das Ende des April hin. In der Heimat gab es nur erfrorene Kohlrüben, mit denen die Städter ihren Hunger stillen konnten. Die Sterbeziffern der im vorgerückten Alter Stehenden nahmen erschreckend zu. Tag für Tag fielen Tausende und aber Tausende auf dem Schlachtfelde, während ihre geängstigten Angehörigen in der Heimat hungerten und froren. Ein neuer Feind war gegen Deutschland aufgestanden: Amerika, ein Bundesgenosse war dabei, Verrat zu üben: Österreich-Ungarn. In Rußland rollte eine Revolution ab, die ein gleiches Ereignis für Deutschland in den Bereich der Möglichkeiten rückte. Noch tastete man in Deutschland selbst die Monarchie nicht an, aber seit diesen Frühjahrstagen trug sie den Todeskeim in sich. Das sollte sich bald zeigen.

Auf den Rat Bethmann-Hollwegs versuchte Kaiser Wilhelm II. noch einmal selbst, bestimmenden Einfluß auf den [70] Gang der deutschen Dinge zu gewinnen, die Stimmung in seinem Lande zu seinem Gunsten zu beeinflussen. In seiner Osterbotschaft vom 7. April versprach er den Preußen Abschaffung des gänzlich überlebten Dreiklassenwahlrechts. Dieser Akt war nur eine matte Nachahmung Bismarckischer Politik aus der Zeit von 1866, und kam noch dazu reichlich spät, ja zu spät; die Ereignisse waren schon viel zu weit fortgeschritten, als daß sie noch durch dieses Versprechen wesentlich beeinflußt werden konnten.

Unter dem Einfluß der russischen Revolution setzte in der radikalsozialistischen Bewegung seit Ende März die Konzentration ein. Es konsolidierten sich Gruppen, die geschlossen nach außen hin agitierten. Am 31. März rief die Zeitung Arbeiterpolitik zur Gründung einer

  Begründung der U.S.P.D.  

linksradikalen Partei auf, die aus dem Zusammenschluß der Gruppe "Internationale" (Spartakus), der Gruppe "Internationale Sozialisten Deutschlands" (I.S.D.) und der "Bremer Linksradikalen" entstehen sollte. So trennte sich auf dem Parteitag zu Gotha (9. bis 11. April) die "Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" von der Sozialdemokratie und schloß sich organisatorisch dem "Spartakusbund", der Kampftruppe, an.

Wenige Tage später brachen neue Streiks in Berlin, Leipzig und anderen Orten aus, die sich gegen Herabsetzung der Brotration und Einführung der Hilfsdienstpflicht richteten. "Friede, Freiheit, Brot!" war die Losung. Der Streik in der Rüstungsindustrie nahm einen bedeutenden Umfang an, allein in Berlin beteiligten sich an ihm über 200 000 Arbeiter und Arbeiterinnen. Man verlangte vom Reichskanzler Einführung von Arbeiterräten nach russischem Muster. Die Regierung konnte den Streik nur dadurch beilegen, daß sie versprach, den Mitarbeiter Barths, Richard Müller, der inzwischen zum Heere eingezogen worden war, wieder zu entlassen!

  Sozialistenkongreß  

Ende Mai 1917 tagte in Stockholm der Sozialistische Friedenskongreß, auf dem die beiden sozialdemokratischen Parteien Deutschlands vertreten waren, während die Ententeregierungen ihren Sozialisten die Teilnahme verweigert hatten. Die Organisation lag in den Händen eines holländisch-skandinavischen Komitees. Die Mehrheitssozialisten waren vertreten [71] durch Ebert, Scheidemann, David, Legien und Hermann Müller. Sie sprachen sich für einen Frieden ohne Annexion und Entschädigungen aus. Scheidemann kam zu der Überzeugung, daß der Friede nur möglich sein würde, wenn Deutschland vollständig demokratisiert würde. Das war die welthistorische Wendung, der erste offene Vorstoß gegen das Kaiserreich. Die Mehrheitssozialisten rückten offensichtlich von der kaiserlichen Politik ab, welcher sie bis zu diesem Zeitpunkt im großen ganzen gefolgt waren. Eine verhängnisvolle Aussicht lag in den Worten Scheidemanns: die deutsche Sozialdemokratie war unter Umständen entschlossen, gegen die kaiserliche Regierung Frieden zu schließen. Die Unabhängigen Haase, Ledebour, Kautsky und Bernstein gingen über den Friedensvorschlag der Mehrheitssozialisten hinaus und erklärten sich mit einer Entschädigung an Belgien und einer Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen einverstanden. Beide Parteien wünschten von der Regierung eine Erklärung, die den Weg zum Frieden bereiten sollte.

  Czernins Geheimbericht  

Aber noch etwas anderes hatte sich inzwischen ereignet: die Herzogin von Parma, Schwiegermutter Kaiser Karls, hatte einen äußerst pessimistischen Geheimbericht des Grafen Czernin über die Lage Österreichs vom 12. April, der nur für die deutsche Oberste Heeresleitung bestimmt war, um diese nach dem Wunsche Kaiser Karls einem mit Opfern verbundenen Verständigungsfrieden für die Mittelmächte geneigt zu machen, in Abschrift dem Zentrumsabgeordneten Erzberger übergeben. Dieser bekehrte sich plötzlich nicht nur vom glühenden Annexionismus zum Verzichtfrieden, sondern beging außerdem die Indiskretion, den Bericht über die Schweiz in die Hände der Entente gelangen zu lassen. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß hierdurch die Siegeszuversicht der Feinde erheblich gesteigert, die moralische Stellung der deutschen Monarchie aber aufs heftigste erschüttert wurde.

  Erzberger  

Matthias Erzberger, der jetzt als maßgebender Mann die politische Bühne Deutschlands betrat, wurde für die nächsten drei Jahre einer der einflußreichsten Männer der deutschen Geschichte. Am 20. September 1875 zu Buttenhausen geboren, [72] widmete er sich dem Volksschullehrerberuf und stand seit 1896 im Dienste der katholischen Presse. Achtundzwanzigjährig wurde er in den Reichstag gewählt. Dort bekämpfte er die deutsche Kolonialpolitik und wurde so zum Urheber der Reichstagsauflösung von 1906. Er war der Führer des linken Zentrumsflügels, trat aber während des Weltkrieges für Annexionen ein. Seit dem Regierungsantritte Kaiser Karls nahm Graf Czernin Beziehungen zu Erzberger auf, und dieser kompromittierte in Österreichs Interesse das Deutsche Kaiserreich in der oben angegebenen Weise. Als nun gar in Stockholm die deutschen Mehrheitssozialisten unter dem Eindrucke der russischen Revolution und der fortschreitenden inneren Zersetzung Deutschlands umgefallen waren, erkannte er mit scharfem Blick, daß die Partei Scheidemanns sein bester Bundesgenosse im Kampfe um die Parlamentarisierung der deutschen Regierung und um die Herbeiführung eines demokratischen Friedens sein würde. Schrieb doch Scheidemann am 12. Juli 1917 in seinem Tagebuch: "Je größer die Not wird, um so höher steigt die Macht des Reichstages gegenüber der Regierung." Und das zeigte sich bereits am folgenden Tage, denn die Entlassung des unfähigen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg ist ebensosehr auf Grund einer von der Heeresleitung gestellten Forderung (Oberst Bauer) wie auf Verlangen der Parteiführer erfolgt, deren treibende Kraft vor allem Erzberger war.

  Friedensresolution  

Kaum eine Woche darauf, am 19. Juli, nahm der Reichstag mit 214 Stimmen des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemokratie gegen 116 Stimmen und 17 Enthaltungen der Unabhängigen eine Friedensresolution an, die von Erzberger formuliert worden war und besagte, der Reichstag erstrebe einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker, ohne Annexionen und Entschädigungen. Von diesem Tage an hatten die Mehrheitsparteien des Reichstages, die Sozialdemokratie, Zentrum und Freisinn, das Heft der Regierung in Händen, und das kaiserliche Regime war an den Rand eines Abgrunds geschoben, in den man es bei passender Gelegenheit stürzen konnte, wenn der Krieg noch lange dauerte.

  Marinerevolte  

[73] In dieser kritischen Zeit versuchten auch die Linksradikalen eine Aktion in die Wege zu leiten. Die revolutionäre Agitation in der Marine trieb ihre ersten Blüten. In langer, mühseliger Arbeit war es gelungen, unter den Marinesoldaten eine revolutionäre Geheimbündelei zu schaffen, die von Reichstagsabgeordneten der U.S.P.D. (Dittmann, Haase) organisiert und geleitet wurde. Vom "Prinzregent Luitpold" und "Friedrich der Große" breitete sich die Bewegung aus auf "Pillau", "Kaiserin", "Helgoland", "König Albert", "Großer Kurfürst", "Kronprinz", "Westfalen", "Ostfriesland", "Schwaben", "Zieten". Die bei der Marine geschaffene revolutionäre Geheimorganisation zählte bereits im Juli 1917 gegen 10 000 Mitglieder. Der Unabhängige Haase erklärte später, daß schon seit Anfang 1915 systematisch für die Revolution der Flotte gearbeitet worden sei. Er war Vorsitzender des Seemannsbundes und ließ von der Löhnung täglich 50 Pfennige zur Unterstützung der Revolution abführen. Revolutionäre Flugblätter wurden verfaßt, gedruckt und verteilt. Haase selbst wurde dafür zum Tode verurteilt. Aber das Urteil wurde nicht an ihm vollstreckt.

Seit Mitte 1917 setzte auf den Schiffen die Sabotage ein: auf "Prinzregent Luitpold" wurden die Akkumulatoren beschädigt, auf "Pillau" setzte eine Fahnenflucht großen Stiles ein; auf einem andern Schiff in Wilhelmshaven plante man, am 31. August 1917 die Türme über Bord zu werfen. Dies sollte das Zeichen zum Losschlagen sein, das man ursprünglich schon im Sommer 1917 vorhatte. Die Matrosenmeuterei wurde rechtzeitig entdeckt und unterdrückt, zwei Haupträdelsführer, Reichpietsch und Köves, wurden standrechtlich erschossen, die übrigen bekamen Freiheitsstrafen.

Noch einmal versuchte der Papst Benedikt XV. am 1. August eine Friedensvermittlung. Speziell sondierte er nach England hin, aber es war unschwer vorauszusehen, daß bei den inzwischen in Deutschland eingetretenen Ereignissen die Versuche ergebnislos verlaufen mußten.

  Vaterlandspartei  

Die Gruppe derjenigen, die nach wie vor auf dem Standpunkte eines siegreichen Friedens verharrten, schmolz mehr und mehr zusammen. Eine letzte Zusammenfassung dieser [74] Kräfte sollte durch die Gründung der "Deutschen Vaterlandspartei" bezweckt werden (2. September 1917), die über den Parteien stehen, keine innenpolitischen Streitfragen behandeln, sondern die ganze Energie des Volkes nur nach außen, auf den siegreichen Abschluß des Krieges konzentrieren wollte. Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg und Admiral Tirpitz standen an der Spitze. Doch auch dieser Schritt kam zu spät. Die kaiserliche Regierung hatte nicht die Macht und den Mut mehr, sich auf die von den Minderheitsparteien getragene Bewegung zu stützen, ja, die Vaterlandspartei wurde geradezu von den maßgebenden Stellen boykottiert, nachdem die erste kleine Revolution vom 19. Juli gelungen war.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß schon im Sommer 1917 die Macht des deutschen Kaiserreichs vollständig zerrüttet war. Das Volk hatte sich in drei große Lager gespalten, ein kaisertreues, dessen Ausdruck die Vaterlandspartei war; ein demokratisches auf der Grundlage der Mehrheitsparteien vom 19. Juli, und ein radikal-proletarisches, das in der Unabhängigen Sozialdemokratie und dem Spartakusbund organisiert war. Das demokratische Lager, das den Reichstag und die Regierung beherrschte, war das machtvollste und stärkste; in seinem Kampf gegen das kaiserliche System war ihm die revolutionär-proletarische Bewegung ein willkommener Bundesgenosse; die Kraft der Kaisertreuen war im Sinken begriffen, während die Stärke der Linksradikalen mehr und mehr zunahm. Das Kaisertum hatte sich ganz und gar auf die Armee zurückgezogen, mit ihr stand es, mit ihr fiel es. Und es war nur eine Frage der Zeit, wie lange diese Stütze noch hielt; denn das Trommelfeuer der Feinde und die revolutionäre Agitation hatten auch hier, besonders unter dem Nachwuchs, starke moralische Erschütterungen hervorgerufen.

  Schwäche der Regierung  

Wer nach den Ursachen fragt, die den im Sommer 1917 schon deutlich erkennbaren Zusammenbruch des Kaiserreiches herbeiführten, kann nicht umhin, die Schuld daran ganz allein der kaiserlichen Regierung beizumessen. Der unselige Zwiespalt zwischen der auf Sieg und Eroberung gerichteten konservativen Heeresleitung und der auf Frieden und Verzicht eingestellten Zivilregierung Bethmann-Hollwegs hatte seit [75] Monaten jeden harmonischen Ausgleich verhindert, der allein in der Masse des Volkes einen Widerhall gefunden hätte. Das kaiserliche Regierungssystem war eingestellt auf Erzwingung äußerer militärischer Erfolge mit unzulänglichen inneren politischen Mitteln. Bethmann-Hollweg hatte liberale Traditionen. Bei einem festen und ehrlichen Charakter sind sie keineswegs ein Fehler. Bethmann aber, der instinktiv den Mangel seiner Führerqualitäten fühlte, mußte eine geradezu verlogene Politik treiben, indem er sich einerseits den Kriegszielen der Heeresleitung beugte und so den rechten Zeitpunkt versäumte, ehrliche Friedensverhandlungen anzuknüpfen, andererseits aber im stillen die Bewegung des Verzichtfriedens und der Pazifisten begünstigte und alle zivilen Elemente, welche die Heerespolitik unterstützten, abwies. Der Kardinalfehler aber lag beim Kaiser selbst, der nicht den Mut und die Stärke besaß, diesen ungesunden Verhältnissen ein Ende zu machen. Selbst von seiner Allgewalt überzeugt, war er im Grunde unselbständig, wandelbar und äußeren Einflüssen ausgesetzt. Er fügte sich seinen Generalen, aus Furcht, durch etwaigen Widerspruch Zweifel gegen seine militärischen Fähigkeiten erwecken zu können, er fügte sich dem tyrannischen Bethmann, aus Furcht, von diesem beim Volke angeschwärzt zu werden. Er hatte nicht die Kraft, sich von der Herrschaft der Generale und des Reichskanzlers zu befreien. Die Zivilregierung wurde durch die Sozialdemokratie im Verein mit dem Zentrum tatsächlich schon im Jahre 1917 gestürzt.

  Bolschewistische Revolution  
in Petersburg

Der Ausbruch der bolschewistischen Revolution Anfang November 1917 in Rußland führte auch in Deutschland den Kampf um die Macht zwischen Kaisertum und Demokratie in ein neues Stadium. Dem militärischen Zusammenbruche Rußlands maß die deutsche Heeresleitung größte Bedeutung bei. Sie konnte die an der Ostfront frei werdenden Truppen im Westen einsetzen und mit einem solchen Aufgebot von Soldaten und Kanonen eine Frühjahrsoffensive vorbereiten, daß man unter allen Umständen mit einem siegreichen Kriegsende rechnen mußte. In Brest-Litowsk wurde den Sowjetrussen der Friede diktiert (3. März), und in Frankreich nahm der letzte, [76] blutige Akt des Weltkrieges seinen Anfang. Nach all dem, was sich bisher in Deutschland zugetragen hatte, konnte von dem Kaiser und seinen Heerführern die politische Bedeutung der Frühjahrsschlacht nicht hoch genug bewertet werden. Es ging ja nicht nur darum, außenpolitisch die Feinde Deutschlands zu zerschmettern, sondern es galt, dem Deutschen Kaiser seine im Innern Deutschlands verlorene Macht wiederzuerobern. Die Armee war das einzige Werkzeug in seiner Hand, das seine Position noch retten konnte. Es war ein furchtbares Spiel mit doppeltem Einsatz, das der Kaiser spielen mußte, es war ein blutiger Verzweiflungskampf um sein Dasein, den er mit dieser "Kaiserschlacht" entfesselte: in Frankreich sollte Berlin zurückerobert werden. Alle Eingeweihten wußten es: am Ausgang der Kaiserschlacht hing das Schicksal der Monarchie! –

  Verschärfung der Gegensätze  
Anfang 1918

In gleicher Weise vermehrten aber auch die radikalen Revolutionäre in Deutschland, ermutigt durch den Sieg des russischen Bolschewismus, ihre Anstrengungen. Abgesehen davon, daß man planmäßig die im Osten stehenden Truppen durch bolschewistische Propaganda zersetzte, sie zur Fahnenflucht und Meuterei ermunterte, um sie sittlich und seelisch unfähig für die Kämpfe im Westen zu machen, holten die Spartakisten zugleich zu einem schweren Schlage im Innern Deutschlands aus. In Wien brach Mitte Januar 1918 ein großer Streik in der Rüstungsindustrie aus. Der Funke sprang auf München über, wo ihn besonders Kurt Eisner zu heller Flamme entfachte. Eisner hatte die Lage klar erfaßt: er wußte, daß nicht Hunger und Brot und Angst vor der Niederlage Gründe für diese Erhebung waren, sondern einzig und allein der Wille, die März-Offensive und Brest-Litowsk zu verhindern. Schwächung des deutschen Kampfwillens und der deutschen Kampfkraft war das Ziel: dem deutschen Kaiser sollte die Möglichkeit genommen werden, seine durch das Parlament erschütterte Stellung mit Waffengewalt wieder zu befestigen.

In München waren Eisner und seine Helfer aus den Unabhängigen Sozialdemokraten eifrig am Werke. Flugblätter wurden verteilt, eine rege mündliche Agitation wurde entfaltet. In einer Versammlung der U.S.P.D., die am 27. Januar in den Kolosseumsbierhallen stattfand, erklärte Eisner, [77] die Stunde sei gekommen, und es sei jetzt Zeit, nicht nur den Willen zu bekunden, sondern zur Tat zu schreiten. Ein in den nächsten Tagen ausbrechender Massenstreik sei das Mittel zum Zweck. Am folgenden Tage sprach Eisner in einer Metallarbeiterversammlung. Er rief zum Massenstreik auf, indem er zugleich das deutsche Heer in gewissenlosester Weise schmähte. Eine Hetzversammlung jagte die andere. Als roter Faden zog sich durch all die Reden immer nur der eine Gedanke, die deutsche Frühjahrsoffensive durch Streiks unmöglich zu machen. In Flugblättern wurden schwarz auf weiß verwegene Aufforderungen gestellt: Stürzt die Kapitalisten, stürzt sie recht bald! Holt eure Männer und Söhne nach Hause zu euch! Am 31. Januar brach der Streik in den Münchener Kruppwerken, am folgenden Tage in den Bayrischen Flugzeugwerken aus.

Inzwischen hatten sich auch in Berlin politisch schwerwiegende Ereignisse abgespielt. Die Sozialdemokraten mußten, nachdem sie im Mai und Juli 1917 ihre eigene Politik begonnen hatten, unter allen Umständen zu verhindern suchen, daß der Deutsche Kaiser den Krieg mit der bevorstehenden Frühjahrsschlacht gewinnen und ihnen in Berlin als doppelter Sieger entgegentreten konnte. Man sprach es noch nicht offen aus, aber man wünschte es von Herzen: Kaiser Wilhelm II. mußte in Frankreich Reich und Krone verlieren. Dies Ziel zu erreichen, war der ausbrechende Streik ein höchst willkommenes Hilfsmittel. Andererseits war es den Sozialdemokraten bei der ungeheuren Wichtigkeit der Dinge, die sich anbahnen konnten, klar, daß sie unbedingt die Führung in der Hand behalten mußten. Es durfte nicht sein, daß die Unabhängige Konkurrenz, wenn sich tatsächlich Erfolge zeigten, sich als Volksbefreier und Friedensbringer bezeichnen konnte. Das hätte zur Folge gehabt, daß die Massen der Sozialdemokratie in das unabhängige Lager abgewandert wären, und die Dinge hätten sich dann ähnlich abgespielt wie in Rußland. Aus Prestigegründen durfte man also den Unabhängigen keine Erfolge gönnen.

So kam es, daß die Sozialdemokratie, fortschreitend auf dem von ihr im Mai 1917 beschrittenen Wege, offen das Banner gegen das Kaiserreich entfaltete. Sie mußte es [78] tun, wenn sie sich nicht selbst opfern wollte, entweder dem siegenden Kaiser oder den siegenden Unabhängigen. Am 22. Januar erklärte demzufolge der sozialdemokratische Vorsitzende Friedrich Ebert in der vertraulichen Sitzung des Hauptausschusses des Reichstages: "Die Sozialdemokratische Partei begrüßt das Vorgehen der Arbeiterschaft Österreich-Ungarns mit größter Sympathie und erklärt sich mit ihr in aller Form solidarisch. Wir bringen zum Ausdruck, daß die deutsche Arbeiterschaft ebenso entschlossen ist, die letzte und äußerste Kraft einzusetzen, um die Forderung der Annexionisten zurückzuschlagen und einen Frieden der Verständigung und des Rechts zu erringen." Als dieser Ausspruch drei Tage später

  Januarstreiks  

im Vorwärts veröffentlicht wurde, wirkte er wie ein direkter Aufruf zum Streik. Die Zahl der Streikenden, die bisher etwa 60 000 betrug, stieg binnen kurzem auf das Zehnfache. Am 28. Januar brach der Streik aus. Ebert trat mit Scheidemann nach zwei Tagen der Streikleitung bei, und mit seiner Zustimmung wurde ein Flugblatt herausgebracht, das zur Teilnahme am Streik aufforderte und von der Regierung verlangte: bessere Lebensmittelversorgung, Aufhebung des Belagerungszustandes und Gewährleistung des freien Vereins- und Versammlungsrechtes und des Rechtes auf freie Meinungsäußerung in der Presse, Aufhebung der Militarisierung der Betriebe, Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten geheimen Wahlrechts in Preußen und Abschluß eines allgemeinen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Am 31. Januar hatte sich im Treptower Park eine zahlreiche und aufgeregte Arbeitermasse eingefunden, vor welcher Ebert, der Sprecher der Sozialdemokratie, eine Rede hielt, in der er sich zu den Forderungen der Streikenden bekannte, sie als gerecht bezeichnete und zum Schluß die Streikenden aufforderte, im Streik zu verharren unter Hinweis darauf, daß sie an den in anderen Großstädten streikenden Arbeitern einen Rückhalt hätten. – Die Sozialdemokratie griff offen zum Mittel des Landesverrats, sie mußte es ihrer ganzen Einstellung nach jetzt tun, um ihre machtpolitischen Ziele zu erreichen. Die deutsche Rechtsprechung hat noch fast sieben Jahre später, [79] als Ebert schon längst Reichspräsident war, ihn auf Grund der Januarvorgänge 1918 des Landesverrats bezichtigt.

Wie ein Präriefeuer raste das Streikfieber im Februar durch Deutschland. In Hamburg, Kiel, Nürnberg, Fürth, Magdeburg und Halle, in Danzig, Sachsen und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet strömte die Arbeiterschaft auf die Straße und lähmte die Armee durch Einstellung der Munitionsarbeit. Erregte Aufrufe steigerten die Leidenschaft des Volkes: "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! Hoch die Republik Deutschland! Hoch der Sozialismus!" Solche und ähnliche drohenden Forderungen wurden laut. 600 000 Arbeiter befanden sich im Streik. In den Fabriken wurden Arbeiterräte gebildet, welche die politische Organisation durchzuführen hatten. – Doch noch einmal hatte die kaiserliche Regierung die Kraft, die eiserne Faust zu erheben: sie griff energisch durch und zog 50 000 streikende Berliner Arbeiter, die als Reklamierte in den Munitionsfabriken am besten bezahlt und ernährt wurden, kurzerhand zum Heeresdienst an die Front ein. Diese Maßnahme half, zitternd kehrten die übrigen Streikenden an ihre Maschinen zurück und nahmen still die Arbeit wieder auf. Die Machtprobe war noch einmal zuungunsten der Sozialdemokratie entschieden. –

  Wilsons 14 Punkte  

Den inneren Ansturm der Streikrevolutionäre vermochte die kaiserliche Regierung abzuschlagen. Weniger mächtig aber war sie in der Abwehr eines von außen kommenden politischen Angriffs. Am 8. Januar hatte der Präsident der Vereinigten Staaten, Wilson, ein Programm der 14 Punkte verkündet, das mit psychologischer Sicherheit ein Echo auf die Reichstagsentschließung vom 19. Juli war und also bei der pazifistischen Reichstagsmehrheit auf fruchtbaren Boden fallen mußte. Die kaiserliche Regierung erklärte, nur die ersten fünf Punkte annehmen zu können: Abschaffung der Geheimdiplomatie, Freiheit der Meere, Wirtschaftsfreiheit, Rüstungsverminderung und schiedsrichterliche Schlichtung kolonialer Streitigkeiten, während sie in der russischen und polnischen Frage keine Einmischung der Ententestaaten zulassen wollte und die Belgien, Elsaß-Lothringen, Österreich-Ungarn und die Türkei betreffenden Punkte ablehnte.

  Deutsche Frühjahrsschlacht  
und ihr Ende

[80] Es stand zu Beginn des Jahres 1918 nicht gut um das deutsche Kaiserreich. Die Mitte, welche sich auf Wilsons vierzehn Punkte stützte, und die Linke, welche bolschewistische Ziele verfolgte, bildeten eine breite Front gegen das Kaisertum und seine Regierung, die nur noch im kämpfenden Heere und in der kleinen Gruppe der Vaterlandspartei einen Rückhalt besaß. Immer klarer wurde es den Führern der Armee, daß alles, die gesamte Zukunft des Reiches und der Monarchie, vom Ausgang der Frühjahrsschlacht abhing, die am 21. März, vormittags vier Uhr, mit voller Wucht ihren Anfang genommen hatte. In der Tat standen die Dinge für die Deutschen nicht ungünstig. Der Captain Wright vom Großen Hauptquartier der Alliierten schildert die Wirkung der deutschen Märzoffensive folgendermaßen:

      "So drangen denn die Deutschen im Laufe der Kampfwoche immer weiter nach Amiens vor, die Fetzen der Goughschen Armee vor sich hertreibend. Gelang es ihnen, Amiens zu erreichen, so waren die französischen und britischen Heere getrennt, denn an der Somme unterhalb Amiens war keine wirkliche Verbindung mehr möglich. War erst die Spaltung geglückt, so konnte Ludendorff Atem schöpfen, seine aus hundert Divisionen bestehende Operationsmasse erst gegen den einen, dann gegen den andern Gegner schleudern und entweder die erschöpften und dezimierten Engländer den Kanalhäfen zujagen oder die ungeheuer ausgedehnte Front der Franzosen aufrollen. Ende der Woche fanden daher heftige Debatten in London, Paris und Versailles statt. Die schlimmsten Möglichkeiten wurden ins Auge gefaßt, verzweifelte Entschließungen gefaßt. Man traf Vorbereitungen zur Räumung von Paris. Spät in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag telephonierte Clemenceau an den Präsidenten der Republik, er möge sich darauf gefaßt machen, mit der Regierung nach Bordeaux flüchten zu müssen. Berechnungen wurden aufgestellt, ob es möglich sei, den Rest der britischen Armee nach England hinüberzuretten. Der Verlust von Amiens konnte den Verlust des Krieges nach sich ziehen: noch einmal winkte der Sieg den Deutschen in unmittelbarer Nähe."

Der französische Armeeführer General Mangin urteilte [81] ähnlich:

      "Jeder der Heerführer dachte an die Rettung seiner Armee, für die er unmittelbar verantwortlich vor seinem Lande ist. Am 24. März gab General Pétain die Direktive: Vor allem den festen Zusammenhang der französischen Armeen aufrechterhalten..., dann, wenn möglich, Verbindung mit den Engländern halten. Marschall Haig schrieb am 25. März aus Abbéville, daß die Trennung des englischen und französischen Heeres nur eine Frage der Zeit sei und daß er sich vorbereite, sich zurückzuziehen, indem er die Häfen des Kanals decke... Also, die englischen Armeen werden nach Westen, nach dem Meere, zurückgehen, die französischen nach Süden... die tödliche Trennung wird sich vollenden, und der Weg nach Paris wird offen sein. Das Unglück steht unmittelbar bevor, weil kein gemeinsamer Führer vorhanden ist."

Jedoch gelang es der deutschen Heeresleitung nicht, den mit großartiger Wucht eröffneten Angriff bis zur Durchbrechung der feindlichen Front fortzuführen. Ende März erlahmte der Elan, da der Nachschub an Menschen und Material in dem wüsten Kampfgelände auf schier unüberwindliche Hindernisse stieß. Munitionsmangel, die Folge des Januarstreiks, machte sich bemerkbar. In den nächsten drei Monaten tobten furchtbare Schlachten bei Armentières, bei Soissons und Reims, an der Marne und in der Champagne. Da trat der große Wendepunkt ein: am 18. Juli ging der französische General Foch, dem in der Stunde der höchsten Not im März das Oberkommando über sämtliche alliierte Truppen übertragen worden war, bei Soissons mit mächtigen Tankgeschwadern gegen die deutsche Front vor. Von jetzt an trafen harte Schicksalsschläge das deutsche Heer. Bei Soissons wurden unsere Truppen überrannt. Am 8. August, nach kurzer Artillerievorbereitung und abermals unter Masseneinsatz von Panzerwagen, erlitten sie zwischen Avre und Somme eine schwere Niederlage.

Der militärische
  Zusammenbruch  

Unter dem Eindruck dieser Katastrophen begann sich die bolschewistische Zersetzung des Frontheeres zu zeigen. Die unablässigen Wühlereien und Aufforderungen zu Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung zeitigten jetzt Erfolge. Scharenweise ließen sich Deutsche gefangennehmen oder sie ergriffen, [82] ohne wirklichen Widerstand geleistet zu haben, die Flucht und riefen der feuernden Artillerie "Streikbrecher" zu. Die Güte des Heeres hatte sich durch den Ersatz, der durch die blutigen Frühjahrskämpfe nötig geworden war, stark vermindert. Junge Fabrikarbeiter, die im Geiste von Spartakus seit Jahren erzogen worden waren und nun ihre gutbezahlte, gefahrlose Tätigkeit in der Heimat mit dem harten Dienst an der Front vertauschen mußten, von Rußland ausgelieferte deutsche Kriegsgefangene, denen systematisch bolschewistischer Geist infiziert worden war, und Heeresverbände, die an der ruhigen russischen Front gestanden hatten, befanden sich plötzlich mitten in schrecklichen Höllenschlachten. Der Grad der Zuverlässigkeit war da nicht gerade sehr groß. Gehorsamsverweigerungen häuften sich, Urlauber kehrten nicht an die Front zurück, Überläufer verrieten den Feinden die deutschen Stellungen. Tag für Tag regnete es revolutionäre Flugblätter, die geschickt in das Heer geschmuggelt wurden, ohne daß die Offiziere etwas davon merkten: "Gleiche Löhnung, gleiches Essen, und der Krieg wär' längst vergessen!" "Das heilige Ziel unseres Kampfes soll sein: eine freie und glückliche deutsche Republik!" "Kameraden, aufgewacht und erkennet eure Macht!" – Das letzte Bollwerk vor dem Kaiserthrone, das Frontheer, wankte, und mit ihm die Monarchie.

Friedenswille der
  Obersten Heeresleitung  

Die Oberste Heeresleitung gab unter diesen Umständen alle Hoffnung auf endgültigen Sieg auf. Im Großen Hauptquartier fanden am 13. und 14. August ernste und schwerwiegende Besprechungen statt. Die Feldherren und die Spitzen der Zivilregierung waren sich einig, daß ein siegreiches Kriegsende nicht mehr vorauszusehen sei. Man könnte nur noch darauf rechnen, die Front zum Stehen zu bringen und sich defensiv zu verhalten. Unmittelbare Besorgnisse seien nicht vorhanden, da die deutschen Heere noch tief in Feindesland stünden. Der Kaiser erteilte dem Staatssekretär v. Hintze den Auftrag, die Königin der Niederlande um Friedensvermittlung anzugehen. Jedoch dieser Schritt wurde verzögert, da Österreich-Ungarn am 15. August durch den Grafen Burian im Großen Hauptquartier entgegen den deutschen Vorschlägen erklären ließ, es nehme keine neutrale Vermittlung an, diese würde [83] zu lange dauern, es verlange direkte Verhandlungen mit dem Feindbund. Andererseits wartete der Reichskanzler, Graf Hertling, auf den "geeigneten Moment", um Friedensverhandlungen anzuspinnen, den er dann für gekommen erachtete, wenn sich die Offensive der Alliierten totgelaufen habe.

Die Königin der Niederlande war bereit, Anfang September eine Aussprache mit den Feinden herbeizuführen. Ihre Bemühungen scheiterten am Widerstande Wiens. Dies wollte sich die Rolle des Friedensstifters nicht von andern nehmen lassen. Kaiser Karl telegraphierte an Kaiser Wilhelm, er lehne die neutrale Vermittlung ab und halte an Burians Vorschlage fest. "Die Verantwortung, daß die Vermittlung nicht zur Ausführung kam, liegt nicht bei der Obersten Heeresleitung, sondern bei Graf Burian und vornehmlich bei der Unfähigkeit unseres Auswärtigen Amtes, in dieser wichtigen Frage die Führung an sich zu nehmen, statt sie Österreich zu überlassen." So schrieb Ludendorff am 13. August 1919.

  Beginnender Zusammenbruch  

Die Bankerotterklärung Österreichs am 14. September, der Zusammenbruch Bulgariens eine Woche später zeigten auch Deutschland, daß es am Ende seiner Kraft stand. Das deutsche Kaisertum lag in den letzten Zügen. Am 24. September forderte die Sozialdemokratische Partei Bekenntnis zum sofortigen Friedensschluß, Wiederherstellung und Entschädigung der eroberten Gebiete, gleiches Wahlrecht für alle Bundesstaaten, Bildung einer vom Vertrauen des Volkes abhängigen parlamentarischen Regierung. Erzberger aber schrieb ein Buch über den Völkerbund und propagierte Wilsons Ideen darüber in Deutschland. –

Am 30. September erklärte Ludendorff, die Feindseligkeiten müßten eingestellt werden. Am gleichen Tage trat der Reichskanzler Graf Hertling zurück. Der Kaiser gab einen Erlaß über die Parlamentarisierung des Reiches heraus. "Ich wünsche, daß das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeitet. Es ist daher mein Wille, daß Männer, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, in weitem Umfange teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung", hieß es darin.

Am 2. Oktober schilderte der Beauftragte der Obersten [84] Heeresleitung, Major Frhr. v. d. Bussche, den Parteiführern des Reichstages die militärische Lage. Der Mangel an Soldaten, der Zusammenbruch der Verbündeten, die Übermacht der Feinde zwängen ihn zu erklären, daß nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr bestehe, dem Feinde den Frieden abzuzwingen. "Deshalb darf keine Zeit verloren werden. Jede 24 Stunden können die Lage verschlechtern und den Gegnern Gelegenheit geben, unsere augenblickliche Schwäche klar zu erkennen. Das könnte die unheilvollsten Folgen für die Friedensaussichten wie für die militärische Lage haben. Weder Heer noch Heimat dürfen irgend etwas tun, was Schwäche erkennen ließe. Im Gegenteil, Heimat und Heer müssen fester noch als bisher zusammenhalten. Gleichzeitig mit dem Friedensangebot muß eine geschlossene Front in der Heimat erstehen, die erkennen läßt, daß der unbeugsame Wille besteht, den Krieg fortzusetzen, wenn der Feind uns keinen Frieden oder nur einen demütigenden Frieden geben will. Sollte dieser Fall eintreten, dann wird das Durchhalten des Heeres entscheidend von der festen Haltung der Heimat und dem Geist, der aus der Heimat zum Heere dringt, abhängen." – Major v. d. Bussche predigte tauben Ohren. Die Mehrheit des Reichstages hatte kein Interesse mehr, welchen Frieden zu erlangen dem deutschen Kaiser noch möglich war. –

Prinz Max von Baden und
  die Vorfriedensverhandlungen  

Am 3. Oktober wurde Prinz Max von Baden zum Reichskanzler ernannt. Er bildete auf Grund des kaiserlichen Erlasses die erste parlamentarische Reichsregierung. Dieser war Präsident der Badischen Ersten Kammer und als Liberaler Anhänger einer Demokratisierung der Reichsverfassung. Er stellte sich auf den Boden der Juliresolution und versprach eine vollständige Wiederherstellung Belgiens. Die baltischen Staaten Litauen und Polen sollten selbst ihr Schicksal bestimmen. Er erklärte die Übereinstimmung der Gedanken Wilsons mit denen der neuen Regierung und der überwältigenden Mehrheit des Volkes. Das Reichskabinett bestand lediglich aus Vertretern der Mehrheitsparteien, es befanden sich darin die Sozialdemokraten Bauer und Scheidemann, die Zentrumsabgeordneten Erzberger, Groeber und Trimborn und die Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei, Haußmann [85] und Payer. Die Gedanken und Kräfte der Mitte hatten restlos gesiegt, das Kaisertum hatte auf der Plattform der parlamentarischen Zivilregierung bedingungslos kapituliert.

Die Hauptaufgabe der neuen Regierung war die Herbeiführung des Friedens. Es war keine Zeit zu verlieren, die Lage an der Westfront wurde immer verzweifelter, der revolutionäre Druck im Innern immer stärker. Sechs Wochen hatte die kaiserliche Regierung gezögert, den entscheidenden Schritt zu tun, jetzt mußte er unter viel ungünstigeren Bedingungen erfolgen.

  Waffenstillstandsgesuch  

Am 5. Oktober sandte die neue Regierung ein Waffenstillstandsgesuch an Wilson ab, unter rückhaltloser Anerkennung der 14 Punkte als Grundlage für die Friedensverhandlungen. "Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluß eines allgemeinen Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen." Jetzt sah die Gesamtheit des deutschen Volkes, wo man stand. Sie erkannte plötzlich klipp und klar die Niederlage der Armee, die man vorher nicht mitgeteilt hatte, und brach seelisch zusammen. Nur bei einigen wenigen zuckte noch einmal das großartige Aufleuchten nationaler Begeisterung empor, bei den Führern der Deutschen Vaterlandspartei, welche mit Ludendorff die levée en masse, die Volksbewaffnung, den Aufstand der gesamten Nation zum Schutze der deutschen Freiheit und Ehre forderten. Das sollte die wankende Front stützen, so wie es Major v. d. Bussche am 2. Oktober vorgeschlagen hatte. Aber ihr Ruf verhallte ungehört. Zwar verhandelte am 10. Oktober der preußische Kultusminister mit Wissen und Willen des Reichskanzlers mit Vertretern der Vaterlandspartei, der Sozialdemokratie und anderer Verbände über die Frage der Nationalbewaffnung, aber ein Ergebnis kam nicht zustande, da über die Hälfte der Versammelten gar nicht mehr an Nationalverteidigung dachte, sondern den Frieden wollte.

  Vorfriedensverhandlungen  

Seit dem deutschen Waffenstillstandsgesuch vom 5. Oktober rissen die Verhandlungen zwischen Berlin und Washington nicht mehr ab. Nachdem die deutsche Regierung die 14 Punkte anerkannt hatte, ging Wilson einen Schritt weiter. In seiner Antwort vom 8. Oktober forderte er sofortige Räumung der [86] von deutschen Truppen besetzten Gebiete. Deutlich gab er zu verstehen, daß er nicht mit der kaiserlichen Regierung, sondern mit dem Volke Frieden schließen wolle. Darauf antwortete Prinz Max am 12. Oktober, die deutsche Regierung sei mit den Räumungsvorschlägen einverstanden. Außerdem sei die gegenwärtige Regierung, welche die Verantwortung für den Friedensschritt trage, durch Verhandlungen und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit des Reichstages gebildet. Jetzt verlangte Wilson am 14. Oktober sofortige Einstellung aller kriegerischen Handlungen, die von den Deutschen grausam und brutal ausgeführt würden und, als notwendige Konsequenz hiervon, "Vernichtung jeder Willkür und Macht, die für sich allein und heimlich den Frieden der Welt stören kann, und wenn ihre Vernichtung jetzt nicht möglich ist, ihre Herabsetzung zur tatsächlichen Machtlosigkeit". Gemeint war mit der "Macht" das auf das Militär gestützte Kaisertum. Wilson forderte also Vernichtung der kaiserlichen Macht oder wenigstens deren parlamentarische Beschränkung und militärische Schwächung durch Abrüstung. Von den zufriedenstellenden Bürgschaften, welche das deutsche Volk in dieser Richtung zu geben imstande sei, hänge die weitere Behandlung der Friedensfrage ab. Die gegen Deutschland verbundenen Regierungen müßten unzweideutig wissen, "mit wem sie es zu tun haben". Das hieß mit andern Worten: Noch habe der Kaiser die Macht über das Heer, und solange dieser Zustand bestehe, könne die Welt nicht an aufrichtige Friedenswünsche Deutschlands glauben. Indirekt, aber hartnäckig, arbeitete der Präsident auf die Abdankung des Kaisers hin und belebte die diesbezüglichen Wünsche der Sozialdemokratie mit neuem Eifer. – In diesen Tagen schrieb der Vorwärts: "Deutschland soll – das ist unser fester Wille – seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letztemal siegreich heimgebracht zu haben."

Am 20. Oktober teilte die deutsche Regierung Wilson mit, daß dem Reichstag ein Gesetz vorgelegt werde, wonach zur Entscheidung über Krieg und Frieden die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich sei.

      "Im Deutschen Reich stand der Volksvertretung ein Einfluß auf die Bildung der Regierung [87] bisher nicht zu", hieß es in der deutschen Note, "die Verfassung sah bei der Entscheidung über Krieg und Frieden eine Mitwirkung der Volksvertretung nicht vor. In diesen Verhältnissen ist ein grundlegender Wandel eingetreten. Die neue Regierung ist in völliger Übereinstimmung mit den Wünschen der aus dem gleichen, allgemeinen, geheimen und direkten Wahlrecht hervorgegangenen Volksvertretung gebildet. Die Führer der großen Parteien des Reichstages gehören zu ihren Mitgliedern. Auch künftig kann keine Regierung ihr Amt antreten oder weiterführen, ohne das Vertrauen der Mehrheit des Reichstages zu besitzen. Die Verantwortung des Reichskanzlers gegenüber der Volksvertretung wird gesetzlich ausgebaut und sichergestellt. Die erste Tat der neuen Regierung ist es gewesen, dem Reichstage ein Gesetz vorzulegen, durch das die Verfassung des Reiches dahin geändert wird, daß zur Entscheidung über Krieg und Frieden die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich ist."

Die Gewähr für die Dauer des neuen Systems ruhe aber nicht nur in den gesetzlichen Bürgschaften, sondern auch in dem unerschütterlichen Willen des deutschen Volkes, das in seiner großen Mehrheit hinter diesen Reformen stehe und deren energische Fortführung verlange. Die Frage des Präsidenten, mit wem er und die gegen Deutschland verbündeten Regierungen es zu tun haben, werde somit klar und unzweideutig dahin beantwortet, daß das Friedens- und Waffenstillstandsangebot ausgehe von einer Regierung, die frei von jedem willkürlichen und unverantwortlichen Einfluß getragen werde von der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes.

Durch das Nachgeben der deutschen Regierung fühlte sich Wilson ermutigt, weitere Forderungen zu stellen. In seiner dritten Note vom 23. Oktober erklärte er, ein Waffenstillstand sei nur diskutabel, wenn die Gegner Deutschlands in der Lage wären, jede zu treffende Vereinbarung zu erzwingen und eine Erneuerung der Feindseligkeiten deutscherseits unmöglich zu machen. Die Alliierten müßten außerordentliche Sicherheiten verlangen. Es liege auf der Hand, daß das deutsche Volk keine Mittel habe, die Unterwerfung der Militärbehörden des Reiches unter den Volkswillen zu erzwingen, daß der [88] "beherrschende Einfluß des Königs von Preußen auf die Reichspolitik" ungeschwächt sei, daß die entscheidende Initiative noch immer bei denen liege, die bis jetzt die Herren von Deutschland gewesen seien. "Wenn die Vereinigten Staaten jetzt mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten verhandeln sollen, oder wenn es wahrscheinlich ist, daß sie später mit ihnen über die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Deutschen Reiches zu verhandeln haben würden, müssen sie nicht Friedensverhandlungen, sondern Übergabe verlangen." Am 26. Oktober nahm der Reichstag die Verfassungsänderungen an: Bei Erklärung des Krieges und bei Friedensschluß sollte in Zukunft die Zustimmung des Bundesrates und Reichstages erforderlich sein; der Reichskanzler solle zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages bedürfen; in Abänderung der Artikel 53, 64 und 66 der Reichsverfassung solle die Militärgewalt der Zivilregierung, d. h. der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers unterstellt werden. Bereits am 27. Oktober kabelte Prinz Max nach Washington:

      "Der Präsident kennt die tiefgreifenden Wandlungen, die sich im deutschen Verfassungsleben vollzogen haben und vollziehen. Die Friedensverhandlungen werden von einer Volksregierung geführt, in deren Händen die entscheidenden Machtbefugnisse tatsächlich und verfassungsmäßig ruhen. Ihr sind auch die militärischen Gewalten unterstellt. Die deutsche Regierung sieht nunmehr den Vorschlägen für einen Waffenstillstand entgegen, der einen Frieden der Gerechtigkeit einleitet, wie ihn der Präsident in seinen Kundgebungen gekennzeichnet hat."

Nachdem hierauf Ludendorff zurückgetreten und Groener zu seinem Nachfolger ernannt worden war, vollzog der Kaiser das vom Bundesrat angenommene Gesetz am 28. Oktober. So hatte Kaiser Wilhelm II., Schritt für Schritt zurückweichend, unter dem Druck seiner äußeren und inneren Gegner auch den letzten Rest seiner Macht geopfert, sein letztes Machtmittel, das Heer. Aber auch das genügte noch nicht.

Sozialdemokraten
  gegen den Kaiser  

Durch Wilsons Forderungen wuchs innerhalb der Sozialdemokratie machtvoll die Bewegung gegen den Kaiser. Man sah in ihm nur noch das einzige Hindernis, das sich jahrelang [89] dem Frieden entgegengestellt hatte. Es lag ja offensichtlich und klar in Wilsons Gedankengängen zutage: der Kaiser mußte abdanken, und zwar auch als König von Preußen. Und in diesem Punkte fand zum zweiten Male, wie schon beim Januarstreik, eine merkliche Annäherung der Mehrheitssozialisten an die Unabhängigen statt.

Die Linksradikalen arbeiteten mit Hochdruck. Am 7. Oktober hatte in Gotha eine Tagung der revolutionären Spartakusgruppe stattgefunden, auf der sie ihren Zusammenschluß mit den Linksradikalen vollzog. Hier wurden ganz offen und unzweideutig die Richtlinien für die bevorstehende Revolution nach sowjetrussischer Art festgelegt. Die Macht im Staate sollte gänzlich in die Hände der Revolutionäre gebracht werden, die dann die Diktatur des Proletariats errichten sollten, wie dies in Rußland geschehen war. Arbeiter- und Soldatenräte sollten zu diesem Zwecke gebildet werden. Eine reguläre proletarische Verfassung wurde hier festgelegt.

Besondere Unterstützung erhielten die Linksradikalen durch einen in Revolutionssachen bewährten Fachmann, den Sowjetbotschafter Joffe in Berlin, der den deutschen Umstürzlern mit Rat und Tat zur Seite stand und sie reichlich mit Agitationsmaterial belieferte.

  Vorbereitung der Revolution  
durch Liebknecht

Am 21. Oktober wurde Karl Liebknecht aus dem Zuchthaus entlassen. Er kam gerade zur rechten Zeit, um mit Nachdruck die Bewaffnung der Arbeiterschaft durchzuführen. Mit frenetischer Begeisterung feierten die Spartakusleute die Befreiung ihres Führers, ihres Helden. Ein Zug von 20 000 Menschen mit roten Fahnen zog durch die Straßen Berlins, "Es lebe die Revolution!", "Hoch Präsident Liebknecht!" rufend. Von Liebknecht und seinen Freunden war ursprünglich der 4. November als Beginn der politischen Revolution vorgesehen. Man wollte mit einem Schlage das Volk überrumpeln. Der Termin wurde verschoben, da die Polizei den Plan erfahren hatte. Doch es sollte anders kommen. Die von Liebknecht zielbewußt vorbereitete politische Revolution wurde durch das vorzeitige Ausbrechen von Matrosenmeutereien vereitelt.

Die deutsche Flottenleitung plante einen Vorstoß gegen die englischen Streitkräfte im Kanal und an der englischen Küste, [90] um den schwerbedrängten nördlichen deutschen Flügel des Landheeres zu entlasten. Die Hochseeflotte sollte auf hoher See eine Bereitschaftsstellung einnehmen. Unter den verhexten Mannschaften verbreitete sich das Gerücht, die Flotte solle zur Vernichtungsschlacht gegen England geführt werden. Am 28. Oktober verhinderte die Mannschaft das Ausfahren des Linienschiffes "Markgraf". Die Besatzungen weiterer deutscher Linienschiffe schlossen sich den Meuterern an. Sie faßten folgende Entschließung: "Greift der Engländer uns an, so stellen wir unseren Mann und verteidigen unsere Küsten bis zum Äußersten, aber wir selbst greifen nicht an. Weiter als bis Helgoland fahren wir nicht, andernfalls wird Feuer ausgemacht." Das dritte Geschwader wurde nach Kiel geschickt, auf den Linienschiffen "Großer Kurfürst" und "Friedrich der Große" wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen. Die Meuterer wurden zum Teil nach Wilhelmshaven gebracht.

Am letzten Oktobertage begab sich Kaiser Wilhelm von Berlin ins Große Hauptquartier nach Spa. Aber in Spa fehlte jede politische Beratung und zu sagen hatte er dort auch nichts mehr. Der Kaiser fuhr hinter die Front nach Flandern, verteilte Dekorationen und feuerte die Mannschaften zum Aushalten an, während in Berlin und Norddeutschland immer lauter die furchtbaren Donner eines heraufziehenden Gewitters grollten.

Am 1. November fand in der Kieler Stadthalle eine Versammlung statt, eine Deputation wurde entsandt, welche sofortige Freilassung der Gefangenen fordern sollte. Der Gouverneur von Kiel, Admiral Souchon, empfing diese, weigerte sich aber, zu verhandeln. Als am nächsten Tage eine Kompagnie den Befehl erhielt, Ansammlungen der Meuterer zu zerstreuen, gehorchte sie nicht.

  Matrosenmeuterei  
in Kiel

Zu ernsten Zusammenstößen kam es am Sonntag, dem 3. November. Matrosen hielten Versammlungen ab, die Arbeiter sympathisierten mit ihnen. In aufrührerischen Reden forderte man die Befreiung der Verhafteten. Ein Demonstrationszug mit den roten Fahnen an der Spitze begab sich unter Hochrufen auf die Republik zur Marine-Arrestanstalt, wurde aber durch ein Kommando von etwa fünfzig Ingenieuraspiranten und Maaten zerstreut. Hierbei gab es acht Tote und neunund- [91] zwanzig Verwundete. Das erste Blut des Bürgerkriegs war geflossen. Am Montagmittag, dem 4. November, erklärte der Gouverneur von Kiel seine Bereitwilligkeit zu Verhandlungen mit den Matrosen. Deren Abordnungen versammelten sich im Gewerkschaftshause und stellten ein Programm ihrer Wünsche auf, welches u. a. enthielt: Anerkennung des inzwischen gebildeten Soldatenrates, bessere Behandlung der Mannschaften, Befreiung von der Grußpflicht, Gleichheit der Offiziere und der Mannschaften in der Verpflegung, Aufhebung des Offizierskasinos, Freigabe der wegen Gehorsamsverweigerung Verhafteten und Straflosigkeit der nicht auf das Schiff zurückgekehrten Mannschaften. Außerdem wurde gefordert vollständige Rede- und Preßfreiheit, Unterlassung der Briefzensur und Unterbleiben jeglicher Schutzmaßnahmen, die mit Blutvergießen verbunden wären. Die Flotte sollte unter keinen Umständen auslaufen. Der Schutz des Privateigentums sollte vom Arbeiter- und Soldatenrat übernommen werden, diejenigen Offiziere, die sich nicht den Beschlüssen des Soldatenrates fügten, sollten sofort ohne Anspruch auf Versorgung den Dienst quittieren.

Der Aufstand in Kiel hatte jetzt die gesamte Flotte ergriffen. Auf allen Schiffen wurde die rote Flagge gehißt. Die Garnison Kiel schloß sich den Aufständischen an. Eine Abordnung der Matrosen überreichte dem Gouverneur von Kiel die Forderungen ihrer Kameraden, Admiral Souchon bewilligte sie. Auch an diesem Tage floß Blut. Die Offiziere des Linienschiffes "König" widersetzten sich dem Hissen der roten Fahne. Die Kriegsflagge verteidigend, wurden drei von ihnen niedergeschossen. Zu einer kurzen Schießerei kam es in den ersten Nachmittagsstunden im Kasernement Wik. Doch bald schloß sich die Werftdivision der aufständischen Torpedodivision an. Die gesamte Garnison Kiel ging zu den Rebellen über. Truppen, die von auswärts zur Unterdrückung herangezogen wurden, machten gemeinsame Sache mit den Meuterern. Der Soldatenrat hatte alle Gewalt an sich gerissen. Die Anführer telegraphierten nach Berlin, Haase und Ledebour sollten kommen. Das Telegramm wurde abgefangen, und statt der Unabhängigen trafen am Abend des 4. November der Demokrat [92] Haußmann und der Mehrheitssozialist Noske ein, um Bericht zu erstatten und die Bewegung nicht in das radikale Fahrwasser gleiten zu lassen. Männer mit roten Abzeichen empfingen sie auf dem Bahnhof. Noske erkannte die Situation: die Marineleitung konnte nicht mehr der von den Unabhängigen und Spartakisten angezettelten Meuterei Herr werden: aus der Meuterei wurde eine Revolution.

Am 5. November wurde der Sowjetbotschafter Joffe wegen revolutionärer Propaganda aus Deutschland ausgewiesen. Wie so viele Anordnungen aus der letzten Zeit des Kaiserreichs, kam auch diese zu spät. Es war der Regierung seit Wochen bekannt, daß Joffe während seiner Berliner Amtstätigkeit drei- bis vierhundert Kuriere aus Moskau und Petersburg empfangen habe. Wo sie geblieben waren, wußte kein Mensch. Mit Unterstützung russischer Gelder wurden Waffen gekauft und an die deutschen Spartakusleute verteilt. Da kam ein Zufall der saumseligen kaiserlichen Regierung zu Hilfe: am 4. Oktober entfielen einer beschädigten Kurierkiste auf Bahnhof Friedrichstraße in Berlin Flugblätter, die zu Revolution und Meuchelmord aufreizten. Was nützte die nachträgliche Feststellung, daß die Sowjetbotschaft in Berlin aufs engste mit spartakistischen Organisationen in Berlin, Duisburg, Köln, Solingen, Stuttgart und Düsseldorf zusammengearbeitet hatte? In der letzteren Stadt hob man sogar ein richtiges Bolschewistennest unter russischer Führung aus.

Die Revolution wurde von Kieler Matrosen auch in Hamburg und Lübeck entfacht. Am Nachmittag des 5. November, einem Dienstag, entwichen 150 Militärgefangene in Hamburg aus der Kaserne in der Bundesstraße. Am Abend sprach der Unabhängige Dittmann vor einer Versammlung, die von vielen Tausenden besucht war. Am nächsten Mittwochmorgen entwaffneten die Kieler Revolutionäre die Hamburger Polizei, die keinen Widerstand leistete. Ein Oberst, der Befehl zum Feuern gab, wurde erschossen. Aber nur langsam schloß sich die Arbeiterschaft, die vorwiegend mehrheitssozialistisch war, dem Aufruhr an. Schließlich kam doch ein Zusammenarbeiten zustande. Ein Arbeiter- und Soldatenrat wurde eingesetzt.

[93] Leichter war die Sache in Lübeck. Eine Marineabteilung forderte die Garnison auf, sich den Forderungen des Kieler Soldatenrates anzuschließen. Ein Soldatenrat wurde gebildet, der nun das Regiment in der Stadt hatte.

Auch in Bremen setzten die Matrosen einen Arbeiter- und Soldatenrat ein. In den Kasernen bemächtigten sich die Soldaten der Kommandogewalt. Jedoch die Arbeiterschaft hielt sich zurück. In Brunsbüttel besetzte ein Geschwader von vier Linienschiffen die Schleusen des Nordostseekanals und bildete einen Soldatenrat.

Ausbreitung
  der Revolution  

Am Abend des 5. November hatte die Revolution, von Kiel ausgehend, sich über die beiden holsteinischen Küstengebiete bis nach Rostock und Schwerin verbreitet. Widerstandslos kapitulierten die örtlichen Gewalten, weil sie auf keine Unterstützung von seiten der schwachen kaiserlichen Regierung hoffen durften. Und dennoch hätte nur ein wenig Aktivität genügt, um die schwankende Arbeiterschaft Bremens und Hamburgs verfassungstreu zu halten. Aber der Kaiser, anstatt sich persönlich ins Aufruhrgebiet zu begeben und zu beschwichtigen, vertrieb sich die Zeit mit der Verteilung Eiserner Kreuze.

Vorbereitung des
  Waffenstillstandes  

An jenem 5. November, da die Flammen der Revolution immer weitere deutsche Gebiete ergriffen, traf eine Note der Vereinigten Staaten ein, wonach die Eröffnung der Waffenstillstandsverhandlungen angekündigt wurde. Wilson stützte sich auf ein Memorandum, das ihm die alliierten Mächte nach Kenntnis des deutsch-amerikanischen Notenwechsels übermittelt hatten und das folgenden Wortlaut hatte:

      "Die alliierten Regierungen haben den Notenwechsel zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und der deutschen Regierung sorgfältig in Erwägung gezogen. Mit den folgenden Einschränkungen erklären sie ihre Bereitschaft zum Friedensschluß mit der deutschen Regierung auf Grund der Friedensbedingungen, die in der Ansprache des Präsidenten an den Kongreß vom 8. Januar 1918, sowie der Grundsätze, die in seinen späteren Ansprachen niedergelegt sind. Sie müssen jedoch darauf hinweisen, daß der gewöhnliche sogenannte Begriff der Freiheit der Meere verschiedene Auslegungen zuläßt, von [94] denen sie einige nicht annehmen können. Sie müssen sich deshalb über diesen Gegenstand beim Eintritt in die Friedenskonferenz volle Freiheit vorbehalten. Ferner hat der Präsident in seiner Ansprache an den Kongreß vom 8. Januar 1918 erklärt, daß die besetzten Gebiete nicht nur geräumt und befreit, sondern auch wiederhergestellt werden müssen. Die alliierten Regierungen sind der Ansicht, daß über den Sinn dieser Bedingung kein Zweifel bestehen darf. Sie verstehen darunter, daß Deutschland für allen durch seine Angriffe zu Land, zu Wasser und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll."

Wilson erklärte sich mit diesen Ausführungen einverstanden und hatte im Einverständnis mit den alliierten Regierungen Marschall Foch beauftragt, gehörig beglaubigte Vertreter der deutschen Regierung zu empfangen und sie von den Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis zu setzen.

Damit waren die Verhandlungen über den "Vorfrieden" abgeschlossen: Der Weg für den Abschluß des Waffenstillstandes war frei. Welch grausames Wehe aber enthielten all die Bedingungen, welche Wilson als Voraussetzung für die Einstellung des Krieges in seinen Noten aufgestellt hatte! Räumung und Befreiung der besetzten Gebiete, Sturz der kaiserlichen Macht und Abrüstung, Wiederherstellung der verwüsteten Landstriche und Wiedergutmachung aller Kriegsschäden, soweit sie die Zivilbevölkerung betroffen hatten, Abtretung Elsaß-Lothringens, Errichtung Polens! Das Furchtbare aber war dabei, daß den Deutschen jede Rechtsgrundlage entzogen wurde, auf der sie etwa verhandeln konnten, denn aus jedem Satze Wilsons klang es deutlich heraus: Deutschland ist schuld am Weltkriege. Der amerikanische Präsident stand völlig im Banne dieser von Frankreich, Belgien und England in die Welt gesetzten und von der ungeschickten Politik Bethmanns unterstützten Lüge.

  Sozialdemokratische  
Hoffnungen

Das deutsche Volk anderseits stand völlig im Rausche der revolutionären Ideen. Es war verblendet und erkannte nicht, was seiner von Seiten der Gegner wartete. Ja noch mehr, es war verblendet durch die Doktrinen der Sozialdemokratie, [95] die im Gefühle ihres Sieges die Behauptung aufstellte, wenn das deutsche Volk erst die Waffen niedergelegt habe, dann werden die Sozialisten der feindlichen Länder sich mit den deutschen Sozialdemokraten verbinden und verbrüdern! Dann würden nicht die Regierungen Englands, Frankreichs usw. mit der deutschen Regierung einen imperialistischen Frieden schließen, der, das sah man wohl ein, für Deutschland eine ungeheure Katastrophe bedeuten würde, sondern die Völker würden einen Frieden des Verzichts auf gegenseitige Annektionen und Kontributionen schließen. Die Zeit der nationalen Feindschaften sei zu Ende, die Zeit der internationalen Verständigung und Versöhnung sei angebrochen. Gewiß sei die kaiserlich deutsche Regierung schuld an diesem schrecklichen Kriege, aber das Volk habe nichts gemein mit dieser Regierung und könne auch nicht für deren Schuld haftbar gemacht werden. – Das waren die Argumente, mit denen die Führer der Mehrheitsparteien sich und die Massen betörten, und unter den Auspizien des Völkerfriedens und der Völkerversöhnung betrieb die Sozialdemokratie den Sturz des an allem Unglück schuldigen Kaiserreiches, indem sie die Triebkräfte der militärischen Meuterei auf das politische Gebiet hinüberleitete. Erst wenn das Volk im unbeschränkten Besitze der Macht sei, so glaubte man, könnten erfolgreiche Waffenstillstandsverhandlungen angebahnt werden. Die Feinde, die das Kaiserreich vernichten wollten, würden der Republik Deutschland Wohlwollen beweisen. –

Am 7. November wurde Noske zum Gouverneur von Kiel gewählt. Neben ihm stand der "Oberste Soldatenrat des Befehlsbereichs der Ostseestation". Sämtliche militärische Forderungen der Matrosen waren erfüllt. Von der Küste aus drang die Revolution an diesem und dem folgenden Tage nach dem Herzen Deutschlands vor. In Hannover, Köln, Braunschweig, Magdeburg, Leipzig, Dresden entstanden Arbeiter- und Soldatenräte. Noch trug die Bewegung den Charakter einer rein militärischen Meuterei, sie war ausgegangen von den Unabhängigen und Spartakisten, und die Mehrheitssozialdemokratie hatte nur halben Anteil an ihr. Als nun aber einmal die Revolte losgebrochen war, waren [96] die Mehrheitssozialisten weit entfernt, sie gewaltsam zu unterdrücken. Ihr Ziel war es lediglich, die Bewegung in ihre eigenen politischen Bahnen zu lenken, den Radikalen die Zügel aus der Hand zu nehmen und den militärischen Aufruhr, den sie als gegebene Tatsache hinnahmen, ihren Zielen, d. h. der Erzwingung der Abdankung des Kaisers und des sofortigen Friedens, dienstbar zu machen.

Forderung
  der Abdankung  
des Kaisers

Unter dem Eindruck der ersten Kieler Ereignisse hatte schon am 28. Oktober Scheidemann einen Brief an Prinz Max von Baden geschrieben, worin er sowohl als Mitglied des Kabinetts wie im Namen der Sozialdemokratischen Partei die Abdankung des Kaisers forderte. Als die Wirren der ersten zehn Tage vorüber waren und die Sozialdemokratie erkannte, daß sie die Lage beherrschte, wurde sie sich des in ihre Hand gegebenen Machtmittels der Revolution voll bewußt und ging rücksichtslos gegen den sich weigernden und von seinen Generalen unterstützten Kaiser vor. Am 5. November forderte das Kieler Volksblatt den Rücktritt des Kaisers. Zwei Tage später überreichte Scheidemann dem Prinzen Max von Baden ein Ultimatum, in dem die Sozialdemokratie forderte, daß die Versammlungsverbote für diesen Tag aufgehoben würden, Polizei und Militär zu äußerster Zurückhaltung angehalten würden, die preußische Regierung sofort im Sinne der Reichstagsmehrheit, d. h. parlamentarisch, umgestaltet würde, der sozialdemokratische Einfluß in der Reichsregierung verstärkt werde und die Abdankung des Kaisers und der Thronverzicht des Kronprinzen bis zum 8. November mittags bewirkt werden sollte, um das letzte Hindernis für den Abschluß des Waffenstillstandes zu beseitigen. Von der Erfüllung dieser Forderungen machten die Sozialdemokraten ihr weiteres Verbleiben in der Regierung abhängig. Die ersten vier Forderungen wurden ohne Schwierigkeiten von der Regierung erfüllt. Um so mehr konnten die Mehrheitssozialisten jetzt ihre ganze politische Energie auf den fünften Punkt konzentrieren. Ohne alle Umstände zeigten sie dem Volke und der Regierung, daß das Schicksal Deutschlands in ihrer Hand lag, und daß die ganze Verantwortung dafür, ob es sich zum Guten oder Bösen wende, [97] einzig und allein in dem Entschlusse des Kaisers ruhe. Sie machten Prinz Max gegenüber kein Hehl daraus, daß sie unbedenklich aus der Regierung austreten und mit den Radikalen gemeinsam vorgehen würden, wenn der Kaiser nicht abdanken würde. Die drohende Gefahr eines Bürgerkrieges stieg empor, und die Verantwortung dafür wurde vor aller Öffentlichkeit auf den Kaiser abgewälzt.

  Forderungen der  
Sozialdemokratie

Mit meisterhaftem Geschick nutzte die Sozialdemokratie am 8. November ihre starke Stellung aus. Mächtig im Bewußtsein ihrer Kraft, hatte sie es in der Hand, der bürgerlichen oder der proletarischen Republik zum Siege zu verhelfen. Daß sie unbedenklich eine Verbindung nach links eingehen würde, hatte sie schon im Januarstreik bewiesen. Schonungslos ging sie über die Persönlichkeit des schwachen Kaisers hinweg, frei, nach keiner Seite gebunden. Sie bändigte die Aufrührer und mahnte zur Besonnenheit. Sie hatte den Reichskanzler in der Hand und knetete ihn nach ihrem Willen. Scheidemann drohte, daß die Führer nicht mehr die Massen zügeln könnten, wenn der Kaiser seine Abdankung verweigere. Das machte Eindruck auf Prinz Max von Baden. Der Termin der Abdankung wurde nicht eingehalten, noch aber bannten die Mehrheitssozialisten die revolutionäre Energie der Straße, einerseits, um nicht einen Kampf zu entfesseln, in dem sie möglicherweise zeitweilig die Macht verlieren konnten, andererseits, um das Druckmittel auf den Reichskanzler nicht zu verlieren, dessen Eindruck bekanntlich vor der Anwendung stärker als hinterher ist. Die Sozialdemokratie wollte den Blutpreis für die Republik so tief wie irgend möglich herabdrücken. Vor allem aber wollten die Mehrheitssozialisten nicht durch ihren Austritt aus der Regierung die in Gang gekommenen Waffenstillstandsverhandlungen gefährden; denn gerade deren Abschluß allein konnte der ganzen revolutionären Bewegung in den Augen Deutschlands und aller Welt eine moralische Berechtigung geben. Um des Friedens willen hatte die Flotte gemeutert und um des Friedens willen mußte Maß gehalten werden, und gerade um des Friedens willen mußte das Kaiserreich zerbrochen werden.

So erließ der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei [98] Deutschlands und die Reichstagsfraktion am 8. November in Berlin folgenden Aufruf:

      "Arbeiter, Parteigenossen! Ein Teil der von uns gestern aufgestellten Forderungen ist von der Regierung und den Mehrheitsparteien erfüllt worden. Das gleiche Wahlrecht für Preußen und alle Bundesstaaten auf der Grundlage der Verhältniswahl soll ohne Verzug durch Reichsgesetz eingeführt werden.
      Die sofortige Parlamentarisierung der preußischen Regierung ist gesichert, ebenso die Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in der Regierung.
      Die Einberufungen zum Militär sind rückgängig gemacht.
      Noch nicht erledigt ist die Kaiserfrage.
      Unsere Forderung auf sofortigen Rücktritt des Kaisers und Verzicht des Kronprinzen wurde aufgestellt unter der Voraussetzung, daß der Waffenstillstand heute mittag abgeschlossen sein würde. Diese Voraussetzung hat sich nicht erfüllt, weil die deutsche Delegation infolge äußerer Hindernisse heute vormittag im feindlichen Hauptquartier nicht eintreffen konnte. Der Abschluß des Waffenstillstandes würde aber gefährdet durch unseren Austritt aus der Regierung.
      Deshalb haben Parteivorstand und Reichstagsfraktion die gestellte Frist bis zum Abschluß des Waffenstillstandes verlängert, um erst das Aufhören des Blutvergießens und die Sicherung des Friedensschlusses herbeizuführen.
      Sonnabend vormittag treten die Vertrauensmänner der Arbeiter erneut zusammen.
      Arbeiter, Parteigenossen! Es handelt sich also nur um einen Aufschub um wenige Stunden.
      Eure Kraft und Entschlossenheit verträgt diesen Aufschub."

  Ereignisse in München  

Die Wogen der Erregung gingen hoch in Berlin an jenem 8. November, und, wie dies Bulletin ahnen läßt, war es den Mehrheitssozialisten nicht ganz leicht, die Geister zu bannen. Verschärft wurde diese Situation durch die Ereignisse, die sich in der Nacht vom 7. zum 8. November in München [99] abgespielt hatten. Hier war am 7. November die Revolution ausgebrochen und hatte die Flucht König Ludwigs III. veranlaßt. Kurt Eisner, ein gelehrter Jude und ehemaliger Vorwärts-Redakteur, hatte, trotzdem die Mehrheitssozialisten in Bayern die stärkeren waren, bereits seit Januar 1918 die Politik der Unabhängigen in Wort und Schrift gepredigt. Infolge einer während des Streiks gehaltenen Rede wurde er wegen Hochverrats verhaftet und mit Gefängnis bestraft, aber im Oktober wieder freigelassen. Er verfügte über umfangreiche Mittel, zum größten Teile ausländisches Geld. Von Oktober bis Mitte November 1918, in knapp sieben Wochen, zahlte er, wie aus Papieren seines Nachlasses hervorging, 165 Millionen Mark für revolutionäre Zwecke aus! Mit Tatkraft ging er also an die Durchführung seiner Ideen, und in Bayern hatte die Bewegung gleich von Anfang an den Charakter einer politischen Revolution. Schon am 5. November hatte Eisner in einer großen Versammlung auf der Theresienwiese öffentlich erklärt: "Ich setze meinen Kopf zum Pfande: in zweimal vierundzwanzig Stunden ist Bayern eine Republik!" Wiewohl drei Regierungsstellen diese Äußerung bekannt war, unternahmen sie nichts. Sie mißtrauten dem Militär und der Polizei; untätig ließ man den Dingen freien Lauf. Am 7. November 8 Uhr abends erschienen plötzlich der Vorsitzende des Ministerrates und der Innenminister beim König und eröffneten ihm, man müsse noch in der Nacht mit einem Sturm auf die Residenz rechnen. Die Majestäten und die Prinzessinnen-Töchter sollten sofort München verlassen. Die Abreise und ihr Ziel müsse streng geheimgehalten werden. Zuverlässige Truppen seien nicht mehr vorhanden. Der greise Fürst, der in dieser Weise überrumpelt worden war, konnte nichts weiter tun als diesem Rate folgen. Zu gleicher Zeit sprach Eisner in einer Massenversammlung, in der man Abdankung des Kaisers, Vereidigung der Armee auf die Verfassung und vollständige Demokratisierung Deutschlands forderte. Ein großer Demonstrationszug bewegte sich durch die nächtliche Stadt, die Garnison schloß sich ihm an. König Ludwig III. hatte bereits München verlassen, als die Schloß- [100] wache entwaffnet wurde. "Nieder mit dem Kaiser, hoch die Republik!" wurde gerufen. Auf dem Max-Josephs-Platze wurde zu den Fenstern der Residenz hinaufgegrölt, "'runter mit dem Millibauern, 'runter mit der Topfenresl!" Ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat wurde gebildet, dessen Vorsitzender, Eisner, unverzüglich die Absetzung der Dynastie Wittelsbach verkündete. Das Volk hatte die Macht der Zivil- und Militärbehörden gestürzt und die Regierung selbst in die Hand genommen. Hier in Bayern war der entscheidende Schritt geschehen, die monarchische Tradition zuerst zerschnitten und der Führer der Unabhängigen, Kurt Eisner, hatte die Republik proklamiert.

Der Umschwung in Bayern, der am 8. November in Berlin bekannt wurde, brachte auch dort den Stein ins Rollen. Während die Mehrheitssozialisten durch ihr Manifest die Erregung der Bevölkerung öffentlich zu beruhigen suchten, waren sie nun um so mehr entschlossen, gemeinsam mit den Unabhängigen vorzugehen, falls bis zum nächsten Morgen der Kaiser nicht endgültig abgedankt hätte; denn nach den Münchener Vorgängen konnten sie die Frist ihres Austrittes aus der Regierung bis zum Abschluß des Waffenstillstandes unmöglich einhalten, wenn nicht offener Bürgerkrieg in Berlin und im Reiche ausbrechen und sich zugleich gegen sie selbst richten sollte.

  Der 9. November  

Der 9. November war da. Der Kaiser hatte nicht abgedankt. Die Unabhängige Sozialdemokratie rief den Generalstreik aus. Die Mehrheitssozialisten schlossen sich an. Ihre Minister traten aus der Regierung aus. Die Straßen waren von Menschenmassen angefüllt. In den Kasernen agitierten Sozialisten und bestimmten die Soldaten, im gegebenen Augenblicke nicht zu schießen. Der Kanzler erfuhr dies und gab einen Erlaß heraus, wonach das Militär von der Waffe keinen Gebrauch machen sollte. Er wollte den Truppen das offene Überschwenken zu den Revolutionären ersparen. Seit zehn Uhr verhandelten Mehrheitssozialisten und Unabhängige über die Bildung einer neuen Regierung in Reich und Preußen. Das vierte Jägerbataillon, das von Naumburg zur Unterdrückung der Unruhen nach Berlin gebracht worden war, [101] ging zu den Revolutionären über. Die Ersatztruppen des Alexander-Garde-Regiments folgten, dann das Gardefüsilierregiment, die zweite Batterie Jüterbog. Schließlich standen sämtliche Regimenter, mit Ausnahme der Gardeschützen, auf seiten der Aufständischen.

Abdankung
  des Kaisers  

Eine sozialdemokratische Abordnung, von Ebert und Scheidemann geführt, begab sich zum Reichskanzler Prinz Max von Baden. Sie erklärte, das Volk wünsche die Leitung seiner Geschicke selbst zu übernehmen. Sie wies darauf hin, daß die überwiegende Mehrheit des Volkes hinter ihr stände, daß der größte Teil der Garnison sich mit dem Volke vereinigt hätte. Der Kanzler fragte, ob Ebert die Verantwortung für Aufrechterhaltung der Ruhe übernehmen könne. Ebert bejahte. Jetzt teilte der Kanzler mit, er habe aus Spa ein Telegramm erhalten, das die

Deutschland
  als Republik  

Abdankung des Kaisers ankündigte. Außerdem verzichtete Prinz Max formell zugunsten Eberts auf den Kanzlerposten. Hierauf begab sich Scheidemann zum Reichstagsgebäude und proklamierte von der Freitreppe aus die Deutsche Republik: "Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt!" So war das Deutsche Kaiserreich am 9. November 1918 mittags ein Uhr zur Republik geworden. In dem Widerstreit der elementaren Gewalt und der Vernunft hatte die Vernunft gesiegt. Im letzten Augenblicke hatte Prinz Max das Wohl einer großen Nation über das Wohl eines einzelnen Mannes gestellt, der nichts mehr bedeutete: er hatte die Abdankung des Kaisers und Königs verkündet, obwohl das kaiserliche Telegramm nur mitteilte, daß Wilhelm II. zwar als deutscher Kaiser, nicht aber als König von Preußen abgedankt habe. Es war ein Verfassungsbruch, geboren aus der Erkenntnis einer Staatsnotwendigkeit.

Der Kaiser hatte bis zum 7. November jeden Versuch, ihn zur Abdankung zu bewegen, zurückgewiesen. Die Ereignisse in Bayern und die äußerst pessimistischen Berichte aus Berlin erschütterten einigermaßen die Stimmung im Hauptquartier. Am 8. November erwog Wilhelm II., um seinem Volke den Bürgerkrieg zu ersparen, um "Blutvergießen zu verhindern", der Kaiserwürde zu entsagen, nicht aber als König von [102] Preußen abzudanken, in diesem Sinne telegraphierte er an Prinz Max. Er glaubte nicht an die Republik und meinte, mit der Niederlegung der Kaiserwürde seine Gegner zu befriedigen. Er hatte kein Telegramm an Prinz Max gesandt, das seine vorbehaltlose und vollkommene Abdankung ankündigte. Trotz seines großen Zornes war der ratlose Kaiser gezwungen, nun die Konsequenzen zu ziehen. Seine Ratgeber erkannten unter den auf sie einstürmenden pessimistischen Eindrücken klar die Lage, in der sich das Kaisertum befand, sie erteilten ihrem Herrn einen Rat, der unter den obwaltenden Umständen als der einzig staatspolitisch kluge Entschluß zu bezeichnen ist: sie rieten ihm, das neutrale Holland aufzusuchen. Verlassen von seinem Volk, verlassen von seinem Heer überschritt am 10. November morgens fünf Uhr Kaiser Wilhelm im Auto die holländische Grenze als ein Flüchtiger, gefolgt von einer kleinen Schar Getreuer.

So endete die Kaiserherrlichkeit dieses Monarchen, der im tiefsten Grunde unselbständig und furchtsam war. Ohne die gehaltvolle Tatkraft seiner Vorfahren, ohne die Zivilcourage seines Großvaters, der 1862 bereit war, das Schicksal Karls I. von England zu teilen, wagte er nicht, dem Gang der Dinge entgegenzutreten. Er ließ die Ereignisse treiben und ließ sich von ihnen treiben, bis er im Strudel unterging. Unbemerkt ging er von dannen. Sein Weggang erweckte weder bei seinen Gegnern Interesse, denn sie konnten nichts mehr von ihm fordern, alles hatten sie ihm schon genommen, noch bei seinen Freunden übermäßige Trauer, denn sie waren in langen Jahren durch seine Schwäche enttäuscht worden. Am 28. November erklärte er in aller Form seinen Verzicht auf den deutschen und preußischen Thron, der Kronprinz ließ seine diesbezügliche Erklärung am 1. Dezember folgen.

Das historische Dokument des kaiserlichen Thronverzichts hat folgenden Wortlaut:

      "Ich verzichte hierdurch für alle Zukunft auf die Rechte an der Krone Preußens und die damit verbundenen Rechte an der deutschen Kaiserkrone. Zugleich entbinde ich alle Beamten des Deutschen Reiches und Preußens, sowie alle Offiziere, Unteroffiziere und [103] Mannschaften der Marine, des preußischen Heeres und der Truppen der Bundeskontingente des Treueides, den sie mir als Kaiser, König und Obersten Befehlshaber geleistet haben! Ich erwarte von ihnen, daß sie bis zur Neuordnung des Deutschen Reiches den Inhaber der tatsächlichen Gewalt in Deutschland helfen, das deutsche Volk gegen die drohenden Gefahren der Anarchie, der Hungersnot und der Fremdherrschaft zu schützen.
      Urkundlich und unter Unserer Höchsteigenen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel.
      Gegeben Amerongen, den 28. November 1918.
gez. Wilhelm."

Auf diese Weise sanktionierte der verbannte Kaiser nachträglich den Schritt seines Reichskanzlers Prinz Max von Baden. –

Die Ereignisse der deutschen Revolution sind auf knapp zwei Wochen zusammengedrängt. Und dennoch gab es eine Fülle von Momenten, welche zum Zusammenbruch des Kaiserreichs führten. Durch den Krieg, seine Opfer und Entbehrungen, hatte die in der deutschen Sozialdemokratie schlummernde radikal-revolutionäre Tendenz neues Leben und neue Nahrung bekommen. Dem ersten Ansturm des Spartakus im Frühjahr 1916 folgte ein Jahr darauf ein verstärkter Angriff, der im Januar 1918 in noch größerem Umfange wiederholt wurde und schließlich im Oktober-November eine reguläre Meuterei in Flotte und Heer entfesselte. In Wahrheit haben die Linksradikalen (Unabhängige) den Kaiser gestürzt, als sie sein letztes Machtmittel, die Armee, zerbrachen. Die Mehrheitssozialisten hatten den parlamentarischen Weg der Entthronung des Kaisers beschritten. Sie behielten sich die Handlungsfreiheit nach zwei Seiten vor; solange die Verfassungsfragen im Parlament entschieden wurden, standen sie zu den bürgerlichen Demokraten, sobald aber die Möglichkeit einer Entscheidung durch Aktion des Volkes auftauchte, hielten sie sich zu den Linksradikalen, so im Januar und im November 1918. Nie aber gaben sie die Führung aus den Händen, und darin lag ihre zukünftige Stärke. Die bürgerlich-demokratischen Parteien spielten die Rolle der Trabanten der Sozialdemokratie. Ihnen blieb nichts bei dem [104] Umsturz zu tun übrig, als durch den zu ihnen gehörigen Reichskanzler Prinz Max von Baden einen Verfassungsbruch begehen zu lassen, um die Ausrufung der Republik zu ermöglichen. –

Das Zusammenspiel dieser Kräfte in gemeinsamer Front gegen den Kaiser führte schließlich zu den Ereignissen des 9. November. Das Gelingen des Umsturzes setzte voraus, daß die Macht der Kaiserlichen Regierung gebrochen war. Die dauernde Spannung zwischen Oberster Heeresleitung und Zivilregierung unter Bethmann-Hollweg brachte eine innenpolitische Schwäche der Kaiserlichen Regierung mit sich, wodurch sich die revolutionären Kräfte erst voll entfalten konnten. Schritt für Schritt wurde der Kaiser seiner Macht und seiner Rechte beraubt, bis ihm nur die einzige Möglichkeit blieb, durch ein siegreiches Kriegsende seine Autorität wiederzugewinnen. Als diese Hoffnung fehlgeschlagen war, blieb ihm nur noch widerstandslose Kapitulation vor der Revolution übrig. So vollzog sich in Deutschland der Übergang vom Kaiserreich zur Republik für die Mehrheit des Volkes als etwas Selbstverständliches, schon längst Erwartetes.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra