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In Felsen und Feuer

Ich erinnere mich noch, daß es mörderisch schneite, als wir Ende Februar 1916 aus dem Pustertal durch das Gadertal nach St. Cassian hinaufzogen. Es geschah schon das viertemal in diesem Winter, daß sich unsere Kaiserjäger-Streifkompagnie auf der Wanderschaft in neue, wildfremde Frontabschnitte der Dolomiten befand. Diesmal sollten wir irgendwo im Travenanzes eingesetzt werden, jenseits der Fanesscharte, in jenem einsamen Hochtal, das von den wildzerrissenen Dolomitgruppen der Fanis, der Tofanen und Lagazuoiberge umstanden wird. Wir konnten immerhin heilfroh sein, daß es nicht gerade der Col di Lana war, wo man uns hinschickte, denn dessen baldige Himmelfahrt durch Sprengung lag damals schon in der Luft.

Flugzeugaufnahme eines Frontabschnittes im Fleimstalkamm.
[zwischen S. 128 u. 129]      Abb. 88: Flugzeugaufnahme eines Frontabschnittes
im Fleimstalkamm (Dolomiten). Die erste Linie verlief über den Felskamm.

In mühseligen Schneemärschen erreichten wir das anderthalb Tausend hohe Dörfchen, halb versunken in Schnee und Felsen. Wir kamen gerade zurecht, um eine von einer Lawine zertrümmerte Drahtseilbahnstation oberhalb des Dorfes auszuschaufeln. Dann verschob sich von einem Tag zum anderen unser Weitermarsch in die Stellungen. Es schneite und schneite, von vorne kamen Berichte von Lawinenunglücken, verschütteten Trägerkolonnen, abgeschnittenen Stellungen, keine Telefonverbindungen funktionierten mehr, man merkte die nervöse Rastlosigkeit der Kommanden diesen ungeahnten Teufeleien des Hochgebirgskrieges gegenüber, die Brigade spuckte Befehle, die niemand erreichten, und die Schneemassen wuchsen. Aber endlich ließ die Schneeflut doch nach und als man uns schließlich über die Fanesscharte schickte, faßten wir als letzte Errungenschaft schöne rote Lawinenschnüre samt Gebrauchsanweisung. Alsbald aber hatte die Mannschaft erkannt, daß deren einzige Verwendbarkeit unter Lebenden in schmucken und dauerhaften Schuhriemen bestand.

Die Fanesscharte ist 2700 m hoch, eingeschnitten in die Felsmauer des Großen Lagazuoi, 2803 m, und der Fanisspitzen, 2810 m. Ich erinnere mich noch, daß man uns die große ausgebauchte Lawine im Grunde des Steilkares zeigte, unter der noch 30 Mann einer Trägerabteilung lagen. Ganz oben in den Felsen hing die Kopfstation der Drahtseilbahn und die Unterstände. Dahinter sollte das verrufene Travenanzes beginnen. Ein kalter Tag ging zu Ende, als wir zum erstenmal von der Schartenhöhe in jenen Bergraum schauten, der uns durch beinahe zwei Jahre nicht mehr losließ und so vertraut wurde, wie einem Jäger sein Revier. Die Tofanen tauchten gigantisch und geisterhaft im Abendlicht aus der Schneedämmerung der ungeheuren Einöde, die sich vor uns in die steile Tiefe des Tales zu auftat. Die Gewalt dieses Anblickes war beklemmend. Nun [37] sollten wir dort irgendwo hinunter in die Nacht, in eine Stellung, von der wir keine Ahnung hatten. Man sagte uns, wo dort drüben die Punta dei Bois sei, die Fontana Negra, sagenhafte Namen wie "Dickschädel" und "Nemesis" wurden genannt. Wir aber sahen vorläufig nur Wüsten von Fels und Schnee.

Deutsche Tragtierkolonne in den Südtiroler Alpen.
Deutsche Tragtierkolonne in den Südtiroler Alpen östlich Bozen am unteren Zickzackweg, der zur Travenanzes-Talstellung führt.      [Vergrößern]
Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 477.
Das Travenanzes (Abb. 46, 47, 49, 50 u. 54) ist eines der großartigsten und wildesten Täler der Dolomiten, aber die österreichischen Stellungen darin waren von bemerkenswertester Ungunst: sie hatten nämlich alle den Gegner auch irgendwie im Rücken. Von den Gipfeln der Drei Tofanen schauten die Italiener aus der schönsten Vogelschau von hinten in unsere Stellungen im oberen Travenanzes zwischen Lagazuoischarte und Punta dei Bois. Von der anderen Seite übersah die Cima di Falzarego unser Treiben im unteren Travenanzes und auf "Dickschädel" und "Nemesis", die Flankenstützpunkte der Fontana Negra-Stellung. Diese selbst kauerte und fristete, umgürtet von den Tofanen, ein kümmerliches und sehr fragwürdiges Dasein. Wir hielten die Innenseite einer im rechten Winkel abgebogenen Front, waren vom Gegner von 100 bis 1000 m überall überhöht und im ganzen Bereich eingesehen. Wir saßen auf dem tiefsten Punkt eines riesenhaften Felstrichters und fürchteten, im Sommer erst noch unsere Wunder zu erleben, wenn größere Angriffe der Italiener kommen würden. Den Angelpunkt und zugleich die vorspringendste und isolierteste Stellung dieser notdürftigen Anlage bildete die Punta dei Bois, 2657 m. Die Möglichkeit, von derselben unsererseits die Bewegungen des Gegners auf der Dolomitenstraße, am Falzaregopaß und in der Forcella dei Bois zu beobachten und zu stören, mußten ihn reizen, sie zu nehmen.

Unsere Kompagnie wurde auf wichtige Punkte verteilt und zu verschiedenen Patrouillenunternehmungen verwendet. Übermäßig viel war nicht los, die Front hielt im großen und ganzen noch ihren gottgefälligen Winterschlaf. Man lebte ganz gut in 2 bis 3 m Schnee vergraben, selbst Granaten ersoffen in diesen Schneemassen ohne zu krepieren. Man konnte sogar schön sonnenbaden, wenn man den Fahrplan der üblichen Beschießungen kannte und einhielt. Dazwischen schneite es oft und oft, dick und dünn. Es war ein Leben, bewegungslos und auf Warten, wenn man nicht das Pech hatte, einen Kopfschuß oder eine Mine aufs Dach zu bekommen.

Aber Ende März begann es auf der Punta zu "stinken". Leutnant Call meldete verdächtige Geräusche, leise vernehmbare Detonationen im Innern des Berges, unter den Füßen des Sattels, der die Puntazacken von der Tofanawand scheidet. Call lag mit einem unserer Züge dort oben. Bald darauf erhielt auch ich Befehl, zu ihm hinaufzuziehen. Durch einen schmalen Felsdurchlaß oberhalb der zum "Dreieckigen Felsen" (Abb. 50) herabziehenden Kare, gelangte man in die steile, trichterförmige Mulde, die Tofana-Westwand und Puntazacken umschlossen.

Es lag noch tief Schnee. Ich traf Call mit einem scheußlichen Stirnhöhlenkatarrh behaftet, was seine Eindrucksfähigkeit für die unheimlichen Geräusche unter uns noch verstärkte. Am deutlichsten hörten wir das unterirdische Pochen in unserem Unterstand hinter dem großen quadratischen Felsen unterhalb [38] der Scharte. Wir verbrachten Tag und Nacht mit Horchen, um Anhaltspunkte zu gewinnen, und konnten bald nicht mehr im Zweifel sein, daß wir angebohrt wurden. Mit der Zeit, zumal in der Nacht, stellten wir fest, daß ungefähr alle 4 Stunden 20 Sprengschüsse fielen. Sie mußten es eilig haben und mit vielen Bohrmaschinen arbeiten. Uns blieb vorläufig wenigstens die Beruhigung, daß, solange sie am Stollen arbeiteten, nichts geschehen würde. Aber ein angenehmes Gefühl war es auch nicht, zumal man sich auf der Punta recht gottverlassen und weit draußen vorkam, wie auf einem umzingelten Vorwerk, obwohl wir auch die Vorteile einer festen und nicht so leicht angreifbaren Felsburg anderen Stellungen voraus hatten. Die Italiener hießen sie den "Castelletto", was so viel wie "Schlößchen" heißt. Der Posten auf der Scharte alarmierte uns alle Augenblicke. In der Nacht vernahm man dort allerhand merkwürdige Geräusche, ein fortwährendes Bröckeln und Rollen von Schutt, manchmal den Klang von Eisengerät, senkrecht unter uns im Kamin, vielleicht nicht 70 m tiefer. Jede Nacht kletterten wir vor, um beim Schein von Leuchtraketen Genaueres zu ermitteln und den Stolleneingang festzusetzen, aber nirgends sahen wir recht zu. Jede Nacht schossen wir Minen, wälzten riesige Rollbomben und alles mögliche da hinunter, aber nichts half. Das Pochen unter uns ging pünktlich weiter. Allmählich spürte man sogar die Erschütterungen im Unterstand, wir schliefen schlecht, wenn wir überhaupt schliefen. Sonst blieb es auf der Punta merkwürdig still. Wir hatten Tage, in denen bei uns heroben kein Schuß fiel, und die Märzsonne aus blauestem Himmel über uns herbrannte. Oft lagen wir nachmittags lang auf dem Felsgrat draußen und schauten den Italienern auf der Falzaregostraße zu, oder wie sie auf der Cima di Falzarego Schnee schaufelten, oder wir starrten, auf dem Rücken liegend, hinauf in die Riesenwandflucht der Tofana über unseren Häuptern, über die von Zeit zu Zeit, Wasserfällen gleich, Lawinen, von der prallen Sonne gelöst, stürzten. Uns gegenüber, südlich, ins magische Blau dieser Tage getaucht, ragten Civetta und Pelmo, und weither die Schneekrone der Marmolata. Es klang fast wie Spielerei, wenn in dieser sausenden Sonnenstille der großen Höhen Schüsse aufgellten. Zu einem Tun von Kindern wurde der Krieg in dieser Natur.

Nur wenn wir mit unseren Rollbomben zu großes Theater machten, hieben die Averaugeschütze herüber. Selbst der "August", der italienische Posten in der Tofana-Südwand draußen, rührte sich kaum. Wenn wir, seiner lautlosen Gegenwart in unserer Flanke nach Möglichkeit ausweichend, vorsichtig in die Puntazacken hinauskletterten, sahen wir senkrecht über uns die verschneiten Spanischen Reiter auf dem Tofana di Roces-Gipfel friedlich gegen uns gerichtet, und konnten senkrecht unter uns auf die italienischen Unterstände hinter den Felsen im Col dei Bois spucken. Zuweilen erschreckten wir sie auch, wenn sie gerade in der Sonne Siesta hielten. Aber es tat uns nicht gut, denn dann vollführte "August" und die Tofana denselben Spaß mit uns und überdies bekamen wir ganze Lagen Granaten aufs Dach.

Einschlag einer schweren, italienischen Granate in ein Bergfort.
[zwischen S. 128 u. 129]      Abb. 83: Einschlag einer schweren,
italienischen Granate in ein Bergfort.

Die Nächte waren zumeist peinlich still, erfüllt vom Rollen des Trommelfeuers am [39] Col di Lana drüben, der in diesen Tagen fiel. Spät in der Nacht langten die Träger ein, sie hatten vier Stunden Weg von der Fanesscharte herüber. Sie brachten hauptsächlich Unterstandsmaterial und immer wieder Rollbomben. Der Bedrohung im Sattel begegneten wir wenigstens dadurch, daß wir die Sattelstellung von Unterständen räumten und dieselben mehr hinaus in die Felsen der Punta und zur Tofanawand hinverlegten. Leutnant Seyfried kam eines Nachts mit einem lächerlich kleinen, alten Gebirgsgeschütz angerückt. Doch schoß es ganz tapfer, sogar, als es schließlich nur mehr auf einem Rad stand. Endlich traf auch der längst und mit Ungestüm angeforderte Bohrzug ein, aber bis die für den umständlichen Nachttransport in zahllose Teile aufgelöste Maschine in Ordnung kam, verging wiederum zu viel Zeit, dann fehlte bald dies bald das. Dies Ärgernis erregende Ungeheuer reichte schließlich gerade für eine Kaverne in der Tofanawand.

Geschütz in einer Felskaverne.
[zwischen S. 56 u. 57]      Abb. 37: Geschütz in einer Felskaverne
(Formenton, 2480 m, Fleimstalkamm).

Unter unseren Füßen ging das Gewühle ohne Unterlaß weiter, das unheimlich sich Vorbereitende drohte näher von Tag zu Tag. Die Erschütterungen erschienen bald stärker, bald schwächer. Wir konnten uns kein rechtes Bild mehr machen. Lagen wir mit dem Ohr am Boden draußen umher, schien es zuweilen, als ob die Detonationen jetzt bei der Tofanawand stärker seien. Auch beim "August" drüben hörten wir seit neuem arbeiten und sprengen. Und "August" begann wieder häufiger zu schießen. Wir hatten einige Verluste durch ihn, denn er konnte uns jetzt noch besser in die Weichteile sehen, seit wir in die Zacken der Punta hinausgerückt waren. Des Nachts gondelten häufig Leuchtraketen vom Tofanagipfel herab. Eines Nachts strahlte von dort ein Scheinwerfer über uns hinweg. Bald darauf warf ein anderer vom Gipfel der Tofana III seine Lichtkegel gegen die Fanesscharte und in den Rücken der Col dei Bois-Stellungen. Eines Tages begann sogar ein Geschütz vom Gipfel der Tofana I zu schießen. Es braute sich etwas zusammen. Wir entdeckten auch immer mehr Batteriestellungen drüben bei den Cinque Torri und in den Nuvolaubergen, die sich auf den ganzen Abschnitt einschossen. Unser Zugang vom "Dreieckigen Felsen" herauf lag des Nachts häufig unter Streufeuer. Verluste bei den Trägern.

Fontana Negra-Scharte und Kar.
[zwischen S. 72 u. 73]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 46: Fontana Negra-Scharte und Kar mit den Stellungslinien nach den verschiedenen unglücklichen Kämpfen. Vgl. Abb. 47.

Flugzeugaufnahme dere Drei Tofanen.
[zwischen S. 80 u. 81]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 47: Flugzeugaufnahme der Drei Tofanen mit ihren hart umkämpften Felsenstellungen. Rückwärts das Tal von Cortina d'Ampezzo. Vgl. Abb. 46, 49, 50 und 54.

Eines Nachts geriet das ganze Travenanzes hinter uns in wüsten Aufruhr. Die Front in der Fontana Negra (Abb. 46 u. 47) tobte, die Bergwände rauschten von Maschinengewehr- und Infanteriefeuer, alle Batterien schossen, die Tofana über uns verbrannte ein Feuerwerk von Leuchtraketen, die Scheinwerfer

Verbindungsleitern.
[zwischen S. 56 u. 57]      Abb. 32: Verbindungsleitern zu den einzelnen Stützpunkten auf Cima d'Arno, 2850 m, in den Judicarien.
huschten nervös hin und her. Bei uns geschah nichts. Aber am nächsten Tag hörten wir, daß die vordere Tofana Negra-Stellung gefallen sei. Ihre beiden, mit Leiteraufstiegen erreichbaren Flankenstützpunkte, "Dickschädel" und "Nemesis", schossen noch aus Leibeskräften den ganzen Tag, aber sie waren völlig abgeschnitten und würden kapitulieren müssen. Der "Dickschädel" mußte sich wirklich drei Tage darauf ergeben, sie hatten nichts mehr zu schießen und zu essen und keinerlei Möglichkeit auszukneifen. Damit hatten wir die große Tofana-Westwand im Rücken offen. Die Besatzung der "Nemesis" landete am vierten Tage unvorhergesehen im Travenanzes. Sie hatten sich in zwölfstündiger Kletterei durch die West- [40] wände der Tofana III abgeseilt. In der Fontana Negra hielt sich noch knapp oberhalb des Abbruches die sogenannte Lauerstellung. Hauptmann Raschin übernahm von jetzt an das Kommando des ganzen Kampfabschnittes Travenanzes. Er berief Call zu sich und statt seiner kam Leutnant Schneeberger, der wilde "Schneefloh", auf die Punta.

Es war Juli geworden. Daß die Fontana Negra den Auftakt weiterer Aktionen bedeutete, war klar. Um so unerklärlicher kam uns daher dieses ewige Weiterbohren vor. Etwas war da nicht mehr geheuer, man konnte nicht mehr so ganz sicher sein, daß wir immer noch bloß auf harmlosen Bohrschüssen schliefen. Auch sonst lag etwas Drückendes in der Luft. Auf dem Gipfel der Tofana III hatten zwei große Scheinwerfer und gleich eine ganze, einkavernierte Batterie ihre Tätigkeit aufgenommen. Die Stellungen im Col dei Bois und auf der Cima di Falzarego litten arg unter Rückenfeuer. Die Fanesscharte wurde Nacht für Nacht beleuchtet und beschossen. Es herrschte viel schlechtes Wetter, Nebel, Schnee und Regen. Eines Tages bekamen wir plötzlich von rückwärts Infanteriefeuer in die Unterstände. Wir waren recht verdutzt und drückten uns durch ein eilig in den Fußboden geschlagenes Loch hinter die Sandsäcke der Stützungsmauern. Eine Patrouille mochte sich über die Westwand der Tofana herabgepirscht haben. Wir fanden aber nicht heraus, woher der Spuk kam. In der Nacht ummauerten wir unsere Unterstände wie Hünengräber. Die nächste Zeit hatten wir wieder Ruhe. Daß uns aber bald in dieser Situation der Teufel holen mußte, war sicher.

Das Allermerkwürdigste geschah bald hernach! Eines Morgens entdeckten wir in der Tofanawand, kaum 20 m oberhalb des Sattels, ein kopfgroßes Loch, das uns nichtssagend anglotzte. Wir zweifelten auch in der Tat so lange an dessen gefährlicher Existenz, bis Schneeberger hinaufkletterte und zur Stichprobe einmal eine Handgranate hineinwarf. Die Handgranate kam aber prompt und sofort wieder herausgeflogen und krepierte vor dem verblüfften "Schneefloh" im Kar unten. Eine Stunde darauf war das Loch bereits von innen verzementiert. Uns gingen verschiedene Lichter auf, aber der Plan der Bohrungen wurde erst recht undeutbar. Es gab zwei Möglichkeiten, entweder war unter uns alles schon zur Sprengung reif und sie trieben außerdem, vielleicht auch nur zur Täuschung, uns einen Stollen in die Flanke, oder es war überhaupt keine Sprengung geplant und wir sollten mit einer Galerie und einem Ausfallstollen seitlich erledigt werden. Mehr sprach aber doch für eine bevorstehende Sprengung, denn auch nach den Berichten der Abhorchstation ließen sich aus verschiedentlich wiederholten chiffrierten Ausdrücken in Telefongesprächen derartige Zusammenhänge vermuten. Wir saßen also auf dem schönsten Pulverfaß. Das Abwarten wurde jetzt erst recht zermürbend. Außerdem konnten wir uns immer weniger rühren, "August" schoß, an manchen Tagen bekamen wir wieder von rückwärts Feuer, wir hatten fortwährend Verluste. Den ganzen Tag mußten wir mit Argusaugen die Tofanawand betrachten. Auf einmal hörten die Bohrschüsse auf, aber es geschah noch immer nichts. Nachts auf der Scharte zu stehen, mußte man sich mit ziemlichem Fatalismus rüsten. Aber Nacht auf Nacht verging, es war zum [41] Verrücktwerden. "Schneefloh" wurde zum reinsten Berserker. An einem nebligen Nachmittag unternahm er mit einigen Mann den Versuch, quer durch die steilen Wände und Bänder der Südwand zum "August" hinauszuklettern. In einer Verschneidung stieß er unversehens, beinahe Brust an Brust, mit dem ahnungslosen Posten zusammen, schmiß ihn über die Wände hinunter und tobte sich gegen die dahinter eingebaute Wache mit Handgranaten so lange aus, bis der Kamin sauber war. Unsere eigenen, zurückgelassenen Posten konnten sich jedoch an der freien Wand nicht halten. Sie wurden tags darauf wie Fliegen von der Wand weggefetzt.

Wieder verging Tag auf Tag. Unsere Stellungen in der Forcella dei Bois lagen ständig unter schwerem Minen- und Geschützfeuer. Leutnant Richter löste mich jetzt ab, ich kam vorderhand in die Abwehrstellung bei der Wolf Glanvell-Hütte. Man erwartete alle Tage den Fall der sehr schwachen und notdürftigen Lauerstellung. Zwischen Schneeresten und Steinblöcken lagen jetzt ziemlich einige Truppen im Travenanzes umher. Oberleutnant Fleck schlug in diesen Tagen einige Angriffe auf seine Feldwachen in den nördlichen Vorköpfen der Tofana III ab. Im oberen Travenanzes trat eine verdächtige Ruhe ein. Alles wartete auf den Krach.

Im Grauen eines Julitages, um 4 Uhr früh, spie endlich die Punta eine ungeheure Feuergarbe in den Himmel. Die Erschütterung der Luft und des Bodens war bis ins Travenanzes und auf die Fanesscharte spürbar. Gleich nach der furchtbaren Detonation brandete das Tal von dem jäh auf die Col dei Bois-Stellungen einsetzenden Trommelfeuer. Ein paar Minuten später ging auch auf der Punta Gefechtslärm los, dauerte aber nicht lange. Call, der seit Tagen am sogenannten Felsband, im Aufstiegskanal zur Punta klebte, konnte sich bald überzeugen, daß oben alles in Ordnung war. Die Sprengung war in ihrer Raumwirkung mißlungen, die 30 Tonnen Ekrasit der Ladung hatten den massiven Felsen zerplatzt und waren in der Hauptsache verpufft. Noch dazu schien die Wirkung insofern fehlgeschlagen zu sein, als der Hauptdurchschlag und der Großteil der Schuttmassen gegen den Angreifer ausbrach, so daß die Italiener nicht zum rechtzeitigen Einsatz ihres Angriffes kamen. Unsere Besatzung überstand den Schrecken und besetzte den Sprengtrichter am Sattel. Das einrädrige Geschütz spritzte sofort mit Kartätschen in den Schlund und gegen die vom "August" her vorgehenden Patrouillen. Im Sattel sah es allerdings scheußlich aus, ungefähr 20 Mann lagen unter der Sprengmoräne zerfetzt und begraben, hauptsächlich Leute des Bohrzuges, die sich wider Befehl in dem ehemaligen Offiziersunterstand aufgehalten hatten. Der mehr als zimmergroße Block hatte sich über die Baracke gewälzt.

Die gesprengte Punta dei Bois-Castelletto.
[zwischen S. 88 u. 89]      [Vergrößern: Abbildung ist beschriftet!]
Abb. 50: Die gesprengte Punta dei Bois-Castelletto, 2657 m, von der österreichischen Seite. Eingezeichnet ist der Verlauf der Linien auf der Forcella dei Bois, 2330 m, vor und nach der Sprengung. Im Hintergrunde die Ampezzaner Dolomiten. Vgl. Abb. 47.

Trotz dieses Erfolges wußte jeder, daß die Punta unhaltbar geworden war. Es blieb ihr nur noch eine Galgenfrist von zwei Tagen, während der, unter fortwährendem Rückenfeuer, von der Tofana-Westwand ein systematisches Vorgehen und Abklettern von Alpinipatrouillen einsetzte. Auf der Punta selbst war man dagegen wehrlos. Auch die eigene Artillerie und die Maschinengewehre vom "Gasserdepot" vermochten das Vor- [42] gehen in der großen und gegliederten Wand nicht zu übersehen und entsprechend abzuriegeln, zumal nebliges Wetter herrschte. Die Puntabesatzung saß schachmatt an die Tofanawand gedrückt. In den dauernden Nebelschwaden ließ sich überhaupt keine Situation mehr erkennen. Plötzlich waren Italiener im Kar, im Rücken, auf dem Sattel. In dem Durcheinander kam Schneeberger mit etlichen Mann, die sich nicht bei der Kaverne an der Tofanawand und am Sattel befanden, davon. Richter war dort eingeschlossen und mußte sich ergeben. Die Punta starb ihres natürlichen Todes. Aber unverständlich blieb, warum die Italiener die Situation nicht sofort ausnützten und den Angriff auf Col dei Bois fortsetzten. Das Felsband hätte sie nicht aufzuhalten vermocht, jetzt direkt auch in den Rücken der Stellungen am "Dreieckigen" und "Gespaltenen Felsen" herabzustoßen. Leutnant Sild wartete zwar am Fuße der Tofana mit zwei Maschinengewehren. Unser Gegen- und Sperrfeuer auf die Punta war schwach, da sich die Artillerie bei dem unsichtigen Wetter schwer einschoß. Allmählich begann es zu regnen.

Col dei Bois und Zugang zur Punta lagen den ganzen Tag unter schwerem Feuer. Vielleicht sollte in der Nacht der Hauptangriff losgehen. Gegen Abend rief mich Raschin auf die Fanesscharte. Es begann halb und halb zu schneien. Ich traf den Hauptmann schon beim "Gasserdepot". Es war 11 Uhr nachts. Der Regen rann mir schon durch die Hosen in die Schuhe. Rund herum spuckte es von Granaten, Schrapnells, Leuchtraketen und Scheinwerfern, das ganze Tal brüllte. Ich sollte sofort irgendeinen wildfremden Zug unterhalb des "Gasserdepots" übernehmen und zu Call und Sild auf das Felsband: Befehl der Brigade, die Punta um jeden Preis wiederzugewinnen! Ich merkte wohl, daß Raschin selbst an Sinn und Möglichkeit jedweden Gegenangriffes zweifelte. Es blieb kein anderer Weg als durch den Trichter beim Felsband, gegen einen Sturzbach von Maschinengewehrfeuer. War das Festhalten auf der Punta schon aussichtslos, wozu noch ein zweckloser Gegenangriff? Aber es mußte für den strikten Befehl wenigstens etwas getan werden. Ich sollte bei Call weiteres hören. Telefonpatrouillen seien bereits draußen, um mit ihm Verbindung zu schaffen.

Also meldete ich mein gehorsamstes Abgehen und hoffte, daß dieser Kelch noch vorübergehe, man konnte sich bei Raschin verlassen, daß man in nichts Sinnloses gehetzt würde. Es wurde schon dreckig genug, nur bis zum Felsband zu kommen. Stockschwarze Nacht, Schnee und Regen, zerpeitscht von einem Höllenlärm und dem dazugehörigen Feuerwerk. Auf Col dei Bois und gegen die Punta hin funkte es wie in einem Hexenkessel. Ich sprang über Stock und Stein und fand endlich den Zug beim Dreieckigen Felsen, aufgeweicht und unlustig. Es hagelte Granaten. In meinem ehemaligen

Winterliche ‘'Schwalbennester'‘ in den Dolomiten.
[zwischen S. 112 u. 113]      Abb. 73: Winterliche "Schwalbennester" in den Dolomiten.
Unterstand verabreichte mir Leutnant Amonn ein trockenes Hemd, einen Schluck Schnaps und die besten Wünsche. Übers Kar krochen wir in einem respektablen Sperrfeuer hinauf. Die Tofanawand orgelte und toste. Alle Augenblicke flammte die Punta gespenstig auf. Alle Farben von Leuchtraketen gingen über der Scharte hoch. Wahrscheinlich warten sie auf den Angriff. Ununterbrochen [43] ratterten oben die Maschinengewehre, die Einschlagsserien sprühten wie ein Feuerbach durch die Felsrinne, durch die wir hinauf sollten. Unsere Artillerie überschüttete das Puntakar. Nicht mehr die Hälfte der Leute hatte ich bei mir, als ich mich um 3 Uhr früh zu Call und Sild in die schwalbennestartige Bude hineinzwängte und sie bei dem Lärm wütend anschrie, ob einer von ihnen so verrückt sei, an einen Angriff zu denken. Call lachte. Nein, soeben hatte er sich telefonisch mit Raschin verständigt. Im selben Augenblick flogen wir beinahe samt dem Unterstand von der Wand, eine eigene 30,5 Granate schmetterte gerade unter uns in die Felsen.

Die nächsten Tage verliefen fieberhaft, überstürzt von neuen Ereignissen und Maßnahmen. Ein italienischer Hauptangriff stand unbedingt zu erwarten, denn ihre bisherigen Aktionen und Erfolge auf der Punta und Fontana Negra konnten bei dem Aufwand an technischen und taktischen Vorbereitungen nur einer Aufrollung unserer ganzen Travenanzesbesatzungen gelten. Durch den Fall der Punta waren die vorderen Stellungen im Col dei Bois gänzlich unhaltbar und sinnlos geworden, zudem hieben die Geschütze der Tofana III von hinten Volltreffer auf Volltreffer in Unterstände und Graben, jeder Angriff, zumal von der Punta herab, mußte hier zum Durchbruch führen. Das obere Travenanzes freizugeben bedeutete die natürlichste Folge und Notwendigkeit der letzten Ereignisse. Eine neue, mehr oder weniger zusammenhängende Feldwachenlinie war bereits, an die Cima di Falzarego stellenweise anschließend, quer über die Felsrippen des "Gasserdepots" zur Fanesturmscharte und hinab zur Wolf Glanvell-Hütte verlaufend, besetzt und im Ausbau begriffen. Wir sausten in diesen Tagen mit Raschin wie die Windhunde talauf und talab, kreuz und quer. Das Unangenehme an Raschin war, daß er im schönsten Feuer gemütlich stehenbleiben konnte, um eine Situationsskizze zu machen. Schwere 21er und 28er Schiffsgeschütze beschossen dauernd das "Gasserdepot" und die Fanesscharte. In den Nächten knatterte es überall wild und nervös, die drei mächtigen Scheinwerfer der Tofanen wanderten und wanderten unausgesetzt wie ruhlose Geister über uns hin.

Scheinwerfer in einer Felskaverne.
[zwischen S. 128 u. 129]      Abb. 85: Scheinwerfer in einer Felskaverne
auf dem Gipfel des Sasso di Mezzodi, 2734 m (Dolomiten).

Derselbe Scheinwerfer mit dem für seinen Transport erbauten Felsenweg.
[zwischen S. 128 u. 129]      Abb. 86: Derselbe Scheinwerfer
mit dem für seinen Transport erbauten Felsenweg.

Aber Tag um Tag verging und ließen Raschin so Zeit, einen etwas waghalsigen, aber gut berechneten Plan auszuführen. Er ließ die vordere Linie der Forcella dei Bois räumen und nur von einigen Posten zum Schein besetzt halten. Aber ungefähr 500 Schritte dahinter belegte der Großteil unserer Kompagnie unter Oberleutnant Ritter im Steingewirr der Travenanzessohle eine sackartige Linie, die völlig unauffällig bleiben sollte. Weder Gräben, Unterstände, noch Drahtverhaue durften errichtet werden, weder ein Schuß, Rauch, noch Licht sollte diese Falle verraten. Untertags durfte sich überhaupt kein Mensch rühren, die Leute lagen wie eine Räuberhorde tagsüber hinter Felsen gepfercht. Und tatsächlich gelang die Verschleierung, obwohl die Italiener von allen Tofanen herab die beste Vogelschau hatten. Während die unbesetzte vordere Forcella dei Bois-Stellung ständig unter Feuer lag, schliefen die im "Sack" tagsüber ziemlich ungeschoren wie Murmeltiere in ihren Felslöchern. Nur war dieser primitive Freiluftaufenthalt bei [44] dem fortwährend regnerischen Wetter auf die Dauer nicht durchzuhalten. Menage konnte nur bei Nacht und kalt zugeführt werden. Immer mehr Leute erkrankten.

In einer dieser nebligen Nächte fiel endlich, wie vorauszusehen, die Fontana Negra-Stellung. Großes Getobe gegen Morgen zu. Raschin und ich sprangen vormittags von der Fanesscharte hinunter ins Tal. Bei dem Nebel war die Situation so unklar, als sie nur sein konnte. Raschin wurde der Eispickel aus der Hand geschossen, als wir uns unter der die Fontana Negra vom Travenanzes trennenden Wandstufe umsahen. Richtig saßen sie schon dort oben fest und warteten wahrscheinlich den Anschluß an die voraussichtlich den Durchbruch in der Forcella dei Bois versuchenden Truppen ab. Hundert Schritt weiter wurden wir von der eigenen Feldwache der neuen Talsperrstellung angeschossen.

Nach einer Besprechung mit Oberleutnant Fleck liefen wir wieder zurück auf die Fanesscharte. Auf Col dei Bois und auf der Cima trommelte schweres Feuer. Sicher war mit der Nacht auf den Angriff zu rechnen. Zwischen "Gasserdepot" und Fanesscharte wurde abends schon das Streufeuer heftiger als sonst, die Lichtkegel der Scheinwerfer ruhten unbeweglich auf diesem Raum. Mit Einbruch der Nacht ging der Lärm los. Das Abschnittskommando des Nachbarraums Lagazuoi meldete einen Angriff auf die Cima di Falzarego-Stellung. Ich erhielt Befehl, mit unserem Reservezug beim "Gasserdepot" in Bereitschaft zu gehen. Als wir im Sperrfeuer über die Fanesscharte hüpften, sah man schon, daß unten im "Sack" der Teufel los war. Ein endloses Blinken und Knattern bis zur Tofanawand hinauf, Leuchtraketen, das Krachen der Handgranaten. Beim "Gasserdepot" erwartete uns schon der Befehl, zur Unterstützung Ritters vorzugehen. Der Lärm unten ließ indessen nach. Wir waren noch nicht im Tal, kamen uns schon Leute mit einem Trupp Gefangene entgegen. Die Falle war überraschend gut gelungen. Das starke, von der Punta herab und durch die Forcella dei Bois vorstoßende Kontingent fand unsere ursprünglichen, von den Schein- und Alarmposten rechtzeitig verlassene Stellung verblüfft leer und rannten nun befehlsgemäß und vorerst mit keinem Widerstand rechnend talab, geradewegs in den Hinterhalt. Ritters planmäßig erst im letzten Augenblick einsetzender Feuerüberfall, die Finsternis und die unbekannte Felswildnis verwirrten den weit überlegenen Angreifer. Nach kurzem Widerstand im Handgemenge ergab sich die in den Sackboden geratene Spitze. Da sich darunter, im Handgemenge durch einen schweren Unterschenkelbruch verwundet, der den Angriff leitende Capitano Bacon und einige mit ihm vorausgehende Offiziere befanden, erlahmte das Vorgehen und ebbte ab. Ein verblüffendes Stück vollführte, dank dem Blindekuhspiel dieses Durcheinanders, die an der Tofanawand lauernde Wache: Sie warf, als ihr die Munition ausging, mit Steinen. Die unverletzten Gefangenen konnten wir noch während der Nacht auf die Fanesscharte bringen. Capitano Bacon und die anderen Verwundeten erst in der nächsten Nacht, nachdem tagsüber starkes Artilleriefeuer auf die nun entlarvte Sackstellung eingesetzt hatte. Auch den Transport zur Fanesscharte gefährdete die im Scheinwerferlicht fortdauernde Beschießung. Für uns alle bedeutete Bacon eine [45] große und feierliche Sensation, da wir ihn schon lange aus den abgehorchten Telefongesprächen namentlich als den Kommandanten der Gegenstellungen kannten. Auch Bacon kannte Raschin, so daß sie sich damit vorstellten, daß sie sich nicht vorzustellen brauchten. Sie unterhielten sich radebrechend wie alte, befreundete Gegner. Wir saßen ehrfürchtig in der Offiziersmesse die paar Stunden dabei, ehe Bacon mit der Drahtseilbahn abtransportiert wurde. So persönlich war der Dolomitenkrieg, ein erlöschender Abglanz von Ritterlichkeit noch in ihm, weil nicht Massen und Technik ihn führten, sondern weil ihn das Abenteuer der Berge zu einem verfeinerten, gastsportlichen Messen erhob.

Dann wurde es Herbst. Ein paar Tage danach schneite es bereits einmal tief herab, obwohl es erst im August war. Weitere Angriffe blieben aus. Raschin rämte die nun nutzlose Sackstellung, wir bezogen die neue Linie. Ein Teil von uns war abwechselnd auf der Fanesscharte und baute in den Wänden des Großen Lagazuoi und der Fanesspitzen die Felsstellung dieser Hauptlinie aus. Das war schön und interessant, wir kletterten viel. Allmählich schlief auch das Artilleriefeuer ein. Bis spät in den November währte der klare, wundervolle Herbst. Nur im unteren Travenanzes, auf den Gratköpfen der Tofana III kam es noch zu einigen Gefechten. Die Stille nahm zu. Wenn Gewehrschüsse aufflackerten, gellte es viel vereinsamter durch die Wände, selbst das hohe, hohle Sausen dahinziehender Granaten hatte etwas Argloses, man hörte jetzt schon sehr fern und rein am Klang, woher sie kamen und wohin sie gingen. Der ganze Krieg wurde zu einem fast unwirklichen Geistern über den Bergen. Heute ist mir noch das Brennen und Leuchten jener Herbstabende in der Erinnerung besonders wach, obwohl ich seitdem unzählige Bergabende erlebte. Vielleicht, weil wir jung waren und damals unser gefährdetes Dasein tiefer und schwerer das bißchen Schönheit erlitt, die uns die Berge gaben.

Aber anfangs Dezember kam jäh der Schnee, der ungeheure Schnee von 1916. Es kam der 13. Dezember, der an der Tiroler Front hüben und drüben an die zehntausend Tote durch Lawinen erforderte. Ich befehligte damals unsere Halbkompagnie in den Feldwachen um die Fanesturmscharte. Schon untertags schüttete es Schnee Meter um Meter, bald waren auch alle Telefonverbindungen unterbrochen. Über uns in der Scharte lösten sich bereits leichtere Rutsche und begruben halb und halb die entlang der Felswand übereinander gestapelten Unterstände. Um 4 Uhr donnerte es plötzlich tosend über meinen Unterstand weg. Im Augenblick der Erschütterung des völligen Nachtwerdens und der Verschüttung, hatte ich das schwindelnde Gefühl, als ob nun alles aus und in Trümmer mit hinunterginge. Aber so weit kam es nicht. Doch, wie tief wir bereits begraben waren, wußten wir auch nicht. Ich hoffte, daß es nicht tief sei, denn die Hauptmasse des Schnees mußte ja weiter abgerutscht sein. Wirklich hörten wir es von Zeit zu Zeit wieder dumpf über uns hinwegrollen, immer neue Lawinen mußten es sein. Der Zustand war recht zermürbend, und etwas jetzt in der Nacht und bei dem Treiben draußen zu unternehmen, war unmöglich. Mit meinem Diener allein, saß ich da und hatte keine Ahnung, was sonst geschehen war. Wir stützten, so gut es ging, die Dachbalken, die [46] sich bedenklich bogen. Allmählich begannen wir durch Kohlenoxydentwicklung im verstopften Schwarmofen unter Brechreiz zu leiden. Gegen Morgen schien das Lawinenrollen über uns doch aufzuhören. Als es Tag sein konnte, probierte ich an der Felswand hinauf ein Luftloch durchzustoßen, es gelang und nun wühlte ich mich an der Felswand entlang hinauf, Gott sei Lob, blauer, kalter Himmel! Aber von all meinen sechs Mannschaftsunterständen sah ich nichts als einen jungfräulichen Schneehang. Nach einigem Geschrei tauchte plötzlich ein Kopf und dann noch einer aus dem Schnee, schüttelte sich und meldete sich zur Stelle.

So heiter dies aussah, kam mir die ganze Situation sehr besorglich vor, denn der Himmel zog sich von neuem zusammen. Einige Mann fehlten, die erste Lawine am Nachmittag hatte sie in die Tiefe gerissen. Was war aus den Feldwachen weiter unten geschehen. Plötzlich hörten wir Schreie. Wir schwammen, trotz der Schneereifen, in dem abgrundtiefen Schnee bis zum Hals. Zwei Mann von den hinweggespülten Leuten fanden wir unten im Tobel bei einem Felsen, sie waren aus der Lawine gekommen und hatten die ganze Nacht überstanden. Die unteren Feldwachen waren heil, aber knapp vor ihnen im Talboden lag eine über die Felswand der Lauerstellung herabgestürzte Lawine und in ihr die mit herabgerissene italienische Feldwache samt Unterstand und Maschinengewehr.

Die ganze Nacht hatte man von überall her schreien gehört. Kein Schuß, keine Stellung, eine weiße Wüstenei überall. Auf der Fanesturmscharte arbeiteten wir fieberhaft, um bis zum Abend die Unterstände und nächsten Posten mit Tunnels zu verbinden. Der Schnee lag stellenweise 5–6 m hoch. An irgendeine Verbindung nach rückwärts war nicht zu denken. Über die Faneskarscharte, unseren Zugang, hätte kein Mensch gekonnt, bevor der Schnee nicht zusammensaß. Wir besaßen wenigstens, wie alle Höhenstellungen, für 2 Wochen Reserveproviant und Holz. Abends fing es wieder an zu schneien, nun aber hatten wir unseren Maulwurfbau schon so weit fertig, daß wir nicht mehr zu ersticken brauchten und Lawinen ruhig über uns weggehen konnten.

Über 2 Wochen hielt das Wetter an und nahm kein Ende. Man hatte das Gefühl, allmählich im Schnee zu ersaufen und nie mehr herauszukommen. Beinahe 3 Wochen lebte ich derart mit meinen paar Feldwachen. Vollkommen abgeschlossen, ohne Zeichen und Wissen von der übrigen Welt, es konnte ebensogut indessen der Krieg aufgehört haben, wir wußten von nichts, als von unserem Ringen mit dieser Sintflut von Schnee. Ich glaube, in all diesen Tagen fiel kein Schuß im ganzen Travenanzes. Als endlich die erste Trägerabteilung die Steilhänge von der Faneskarscharte herabwühlte, nagten wir schon recht am Hungertuch und hatten die halben Unterstände zu Heizmaterial gemacht. Es war Silvesterabend.






Front in Fels und Eis
Der Weltkrieg im Hochgebirge

Gunther Langes