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Der grenzdeutsche Gürtel (Teil 13)

Das Deutschtum in Belgien

Schon vor dem Kriege gab es in Belgien eine kleine deutsche Minderheit von nahezu 30 000 Seelen - nicht zugewanderte Geschäftsleute, Handwerker oder Arbeiter in den Städten, sondern von jeher ansässige und bodenständige Gemeinden. Sie kamen bei der Teilung Luxemburgs 1832 zwischen Holland und Belgien nicht an das Großherzogtum, an das sie unmittelbar im Westen angrenzen, sondern wurden belgisch. Die meisten liegen um die Hauptstadt von Belgisch-Luxemburg, Arlon. Kleinere Siedlungen liegen zerstreut in der Nähe der alten deutsch-belgischen Grenze bis in die Nähe von Verviers. Sprachlich gehören diese Deutschen nicht zum vlämischen, sondern zum moselfränkischen Stamm. Eine eigene Bildungsschicht besitzen sie nicht; es sind Bauern und Kleinbürger, die kaum noch im Zusammenhang mit der großen deutschen Kulturgemeinschaft lebten und mit dem übrigen Deutschtum schon darum nur schwach verbunden waren, weil sie nicht die deutsche Schriftsprache besaßen, sondern nur ihren Dialekt.

Nach dem Rückzug der deutschen Armeen aus Frankreich und Belgien besetzten Entente-Truppen das ganze linksrheinische Gebiet, ohne daß zunächst etwas von weiteren Absichten der Belgier zu hören war. Zeitungsartikel sprachen allerdings von einer Ausdehnung der belgischen Grenze bis nach Koblenz, doch wurde das begreiflicherweise von niemandem ernst genommen. Im Frühjahr 1919 erhob die belgische Regierung ganz unvermittelt Ansprüche auf die beiden preußischen Kreise Eupen und Malmédy. Artikel 31 - 39 des Versailler Friedens erkannten diese an, und am 10. Januar 1920 gingen die beiden Kreise zusammen mit dem kleinen Gebiet von Neutral-Moresnet, das bisher von Belgien und Deutschland gemeinsam verwaltet worden war, an Belgien über. Die Kommission zur Festsetzung der neuen deutsch-belgischen Grenze, in der Deutschland nur eine Stimme von sieben besaß, verschob die Grenzlinie willkürlich noch weiter nach Osten und vergrößerte das abgetretene Gebiet um einen Teil des Kreises Monschau. Im ganzen verlor Deutschland hier 1046 Quadratkilometer mit rund 60 000 Einwohnern.

Marktplatz in Eupen

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      Marktplatz in Eupen.
Geschichtlich haben Eupen und Malmédy von jeher an der Grenze zwischen deutschem und romanischem Volkstum, deutscher und romanischer Zivilisation gelegen. Als im Vertrag von Mersen im Jahre 870 die Scheidung zwischen dem ostfränkischen und dem westfränkischen Reiche, Deutschland und Frankreich, vorgenommen wurde, fielen Eupen und Malmédy an das Reich Ludwigs des Deutschen. Im [255] 11. Jahrhundert war Eupen im Besitz der Grafen von Limburg. Deren Gebiet kam 1288 an das Herzogtum Brabant und mit diesem 1430 an Burgund. Mit der burgundischen Erbschaft kam es 1477 an das Haus Habsburg und verblieb unter dessen spanischer Linie bis zum Frieden von Rastatt 1714, der es mit den übrigen "spanischen", nunmehr "österreichisch" gewordenen Niederlanden wieder an die deutschen Habsburger brachte. In der napoleonischen Zeit gehörte Eupen 18 Jahre lang zu Frankreich; seit dem Wiener Kongreß zu Preußen. Auf die frühere Zugehörigkeit zu dem spanisch-österreichischen Teile der Niederlande, aus dem später, 1831, das Königreich Belgien wurde, stützte sich der belgische Anspruch.

Genauer als über Eupen sind wir durch zahlreiche Urkunden über die Geschichte Malmédys unterrichtet. Es wurde schon um die Mitte des 7. Jahrhunderts als Benediktinerkloster gegründet. Der damalige Name war Malmundarium. Daraus ist die Form Malmédy entstanden. Im 10. Jahrhundert wurde die Abtei gefürstet. Eine Bulle mit Goldsiegel des Kaisers Lothar vom 22. September 1137, heute im Düsseldorfer Staatsarchiv, enthält das ausdrückliche Verbot des Kaisers, "für alle Zeiten, die Abtei und ihren Besitz vom Deutschen Reich zu trennen oder sie einem fremden Herrn zu unterstellen oder zu Lehen zu geben". Malmédy blieb reichsunmittelbar bis zur Annexion des linken Rheinufers durch Frankreich. 1815 fiel es an Preußen.

Belgien gründete seine Ansprüche auf geschichtliche und auf ethnographische "Beweise". Da es selbst in den 90 Jahren seines Bestehens nie ein Gebiet an Preußen oder Deutschland verloren hatte, so mußte eine Rechtsnachfolgerschaft "für das burgundische Reich Karls des Kühnen" konstruiert werden. Weiterhin wurde von Belgien angegeben, daß in den beiden Kreisen "Tausende" wallonisch sprächen. Auf jeden Fall machen aber selbst diese "Tausende" gegenüber der Gesamtbevölkerung eine Minderheit aus. Im Nordwesten des Kreises Malmédy, in der sogenannten "preußischen Wallonie" spricht etwa ein Viertel der Einwohnerschaft ein wallonisches, mit vielen deutschen Sprachformen durchsetztes Platt, das die belgischen Wallonen nicht verstehen. Ein großer Teil der Wallonen im Kreise Malmédy hat sich auch mit den Deutschen gegen die Angliederung an Belgien gesträubt. Nach einer Statistik aus dem Jahre 1923 sprechen in dem abgetretenen Gebiete von 60 003 Bewohnern 49 499 deutsch, 9 683 wallonisch platt, 67 deutsch und eine andere Muttersprache und 759 weder deutsch noch wallonisch. Fast alle Wallonen entfallen auf den Kreis Malmédy; im Kreise Eupen gibt es kaum 100 Wallonen.

Über diese Tatsache war man sich auch in Belgien durchaus klar, sonst hätte man die der Bevölkerung zugestandene "Abstimmung" nicht in der cynischen und widerrechtlichen Weise sabotiert, wie es geschah. Nach Artikel 34 des Versailler Vertrages waren die Belgier verpflichtet, während der ersten sechs Monate nach der Abtretung Listen auszulegen, in denen jedermann frei kundtun konnte, ob er mit der Abtretung einverstanden sei oder nicht. Die endgültige Entscheidung hatte [256] dann der Völkerbund zu fällen. Zur Zeit der Volksbefragung waren Eupen und Malmédy bereits über ein Jahr von belgischen Truppen besetzt, die einen uneingeschränkten Terror walten ließen. Irgendeine Verständigung oder Aufklärung der deutschen Bevölkerung unter sich war vollkommen ausgeschlossen, sei es durch die Presse, sei es durch das gesprochene Wort. Die beiden deutschen Zeitungen, die Eupener Zeitung und der Landbote in Malmédy, durften kein Wort über die Friedensverhandlungen veröffentlichen. Wer im Besitz eines deutschen propagandistischen Flugblattes getroffen wurde, wurde unweigerlich landesverwiesen. Die Predigten standen unter Kontrolle, Versammlungen waren verboten. Ja, Personen, die wegen ihrer deutschvolklichen Gesinnung bekannt waren, wurden kurzerhand ausgewiesen. Ein umfangreiches Hetzmaterial der Belgier dagegen überflutete die beiden Kreise, und es war Tagesgespräch, daß jeder Deutsche, der es wagen würde, sich in die "Protestlisten" einzutragen, schwere Nachteile durch die belgischen Besatzungen zu gewärtigen habe, wenn er nicht Haus und Hof sofort verlassen müßte. Die Listen waren vom 10. Januar bis 23. Juli 1920 ausgelegt, jedoch nicht in jeder Gemeinde, wie dies nach dem Vertrag zu verstehen war. Nur je eine Liste in Eupen und Malmédy standen zur Verfügung. Dabei war das Abstimmungssystem dadurch noch erschwert, daß die Eintragung nur an zwei bis drei Vormittagsstunden und nur im Beisein eines belgischen Beamten vorgenommen werden konnte. Durch häufige Abwesenheit dieses Beamten war oft eine Abstimmung überhaupt nicht möglich; es ist vorgekommen, daß viele Abstimmende umsonst eine weite Reise unternommen hatten. Ferner wäre eine Abstimmung der gesamten deutschgesinnten Bevölkerung dadurch unmöglich gewesen, daß die Abstimmungen einer Person nie unter zehn Minuten dauerte, da der Beamte die Abstimmenden einem genauen Verhör unterzog und nicht selten auf die nachteiligen Folgen ihrer Handlung aufmerksam machte. 60 000 Einwohner hätten auf diese Weise in sechs Monaten nie vorgelassen werden können. Es darf so nicht verwundern, daß viele Deutsche, die gegen die Abtretung von Eupen und Malmédy an Belgien protestiert hatten, ihre Eintragung zurückzogen und Belgien nach Abschluß der Abstimmung dem Völkerbund eine Protestliste mit 271 Eintragungen vorlegen konnte. Unter vollkommener Mißachtung der geschichtlichen und volklichen Tatsachen entschied der Völkerbund auf Grund des Abstimmungsergebnisses zugunsten Belgiens.

Niklaskirche in Eupen

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      Niklaskirche in Eupen.
Die Belgier bezeichneten Eupen und Malmédy als "wiedergewonnene" Gebiete. Im scharfen Gegensatz zu dieser Benennung stand jedoch die verwaltungstechnische Behandlung. Diese Behandlung hat dazu geführt, daß bereits nach fünfjähriger belgischer Herrschaft ein großer Teil der wallonischen Bevölkerung, die damals noch mit Belgien sympathisierte - vorsichtige Beurteiler schätzen diesen Teil auf 8% - seine Abneigung gegen Belgien nicht mehr verleugnete. So ging auch das französische Blatt La Varche, das Organ der belgisch gesinnten Wallonen, das sich übrigens auf die finanzielle Unterstützung des Generalgouverneurs gründete, [257] mit Ende des Jahres 1925 ein. Das sogenannte Neubelgien wurde nicht sofort in den belgischen Staatskörper eingefügt, sondern man errichtete ein Gouvernement unter der Militärdiktatur des Generals Baron Baltia. Diese Diktatur war bis zum Jahresende 1923 vorgesehen. In dieser Zeit sollte durch Gewaltmaßregeln die Bevölkerung eine innere Umstellung zum belgischen Vollbürgertum erfahren. Die Diktatur wurde auf 1½ Jahr verlängert, wohl nicht aus dem Grunde, daß dieser Übergangsprozeß zu dem festgesetzten Termin noch nicht vollzogen war, sondern weil die Einordnung Neubelgiens in den belgischen Staat von vornherein die größten Schwierigkeiten machte. Man sah aus nationalistischen Gründen selbstverständlich davon ab, Neubelgien zu einem selbständigen Verwaltungsbezirk zu erheben. Belgien hätte sich selbst dadurch den geplanten Kampf gegen die deutsche Sprache, Kirche und Schule erschwert. Man dachte vielmehr daran, die beiden Kreise zu teilen und drei verschiedenen Provinzen zuzuteilen. So entstanden 1923 die drei Kantone: Eupen, Malmédy und St. Vith. Die Provinzen jedoch suchten eine Angliederung der neubelgischen Kantone tunlichst zu vermeiden. Parlamentarische wie wirtschaftliche Gründe waren hierfür entscheidend. Einmal hatten die Provinziallandtage kein Interesse an einer Vermehrung der klerikalen Partei durch Deutsche. Andererseits aber befürchteten die Provinzen eine starke finanzielle Belastung durch die Angliederung der Kantone, denn ein Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Eupen-Malmédys seit der Besetzung wird selbst von belgischer Seite zugegeben. Der Handel und die Industrie Neubelgiens sind sowohl was die Beschaffung von Rohstoffen wie den Absatz anlangt, vollkommen auf Deutschland eingestellt. Während der Handel fast ausschließlich zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient, ist die Fabrikation auf Ausfuhr angewiesen. Vorherrschend ist die Tuch-, Woll- und Kammgarnfabrikation. Die hochentwickelte Textilindustrie von Verviers in Belgien produziert wesentlich über den Bedarf des Landes und ist der kleineren Industrie in Neubelgien somit eine vernichtende Konkurrenz. Die Eupen-Malmédyer Industrie fand ihren Absatz vorzüglich im Aachener Gebiet. Sich einen Markt in Belgien zu schaffen, ist vorläufig mißlungen, und an eine Einfuhr nach Deutschland ist wegen der Zölle heute nicht mehr zu denken. Die deutsche Regierung wußte diese schwierige Lage der neubelgischen Deutschen richtig einzuschätzen. Sie schloß deshalb mit Neubelgien einen Vergünstigungsvertrag, der den Kreisen durch Gewährung von Zollfreiheit im Verkehr mit Deutschland die Umstellung auf die wirtschaftlichen Verhältnisse erleichtern sollte. Nach Ablauf dieses fünfjährigen Vertrages konnte Deutschland diese Bevorzugung jedoch nicht mehr aufrecht erhalten, um keine Inkonsequenz, vor allem gegenüber dem Reichsland, zu begehen.

Es darf keinem Zweifel unterliegen, daß die Angliederung der neubelgischen Kantone für die betreffende belgische Provinz eine wesentliche Vermehrung des Haushaltungsplanes bedeutete. Als jedoch nach monatelangem Hinauszögern die Militärdiktatur aufgehoben werden mußte, wurden Eupen-Malmédy und St. Vith [258] am 4. März 1925 dem Verwaltungsbezirk Verviers der Provinz Lüttich angegliedert.

Die kulturelle Lage des Deutschtums in Eupen-Malmédy war von Anfang an bedrängt. Kurz nach Einführung des belgischen Regiments in Eupen und Malmédy unter der Militärdiktatur wurde der Bevölkerung "Achtung und Schonung auf allen Lebensgebieten" versprochen. Das Handeln der belgischen Verwaltung stand jedoch im schroffen Gegensatz zu diesen Zusagen. Wie überall in den abgetretenen Gebieten kämpft auch in Neubelgien die deutsche Sprache ihren Existenzkampf. Die Beraubung ihrer Muttersprache spüren die belgischen Auslandsdeutschen am empfindlichsten an der Stelle, die stets die Trägerin des Deutschtums im Ausland ist, der Schule. Man fand bald Mittel und Wege, das deutsche Lehrpersonal in der Wallonie durch belgische Lehrer zu ersetzen. Deutsche Lehrer wurden durch ehrlose Behandlung oder durch unzulängliche Bezahlung zum Verlassen ihrer Stellen gezwungen, so daß es nur noch wenige deutsche Lehrkräfte gibt. Man ging nicht soweit, die deutsche Sprache vollständig aus der Schule in Eupen-Malmédy zu entfernen. Jedoch gleichbedeutend damit ist die Tatsache, daß altbelgische Lehrer, die Deutsch nur radebrechen konnten, in zwei bis vier Wochenstunden deutschen Unterricht erteilen; dieser Deutschunterricht darf aber erst vom dritten Schuljahre ab gegeben werden. Auch in dem rein deutschsprachigen Gebiet Neubelgiens verfolgt die Schulverwaltung die allmähliche Ausrottung der deutschen Sprache, indem man hier gleichfalls Lehrern den Unterricht überläßt, in denen der Gebrauch der deutschen Sprache nur haßerfüllte Gefühle erweckt. Ebenso empfindlich macht sich das Zurückdrängen der deutschen Sprache bei den Gerichten bemerkbar.

So aussichtslos für die Beständigkeit des Deutschtums in Neubelgien diese Tatsachen auch klingen mögen, so besteht jedoch nach dem Aufheben der Militärdiktatur seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres eine Aussicht auf Besserung der allgemeinen Lage des Deutschtums in Eupen-Malmédy. Mit der Gouvernementsauflösung hat zugleich die unmittelbare starke Bedrückung des Deutschtums aufgehört. Während man sich bisher über die Dürftigkeit der Mitteilungen über deutsche Fragen in den beiden deutschen Blättern, der Eupener Zeitung und dem Malmédyer Landboten verwundern konnte, tritt in letzter Zeit vor allem das letztgenannte Blatt energisch für das Deutschtum ein. Die von dem Druck befreite Bevölkerung, deren bisheriges Schweigen keine Indifferenz gegenüber ihrem mutterländischen Volkstum, sondern lediglich ein stilles Abwarten bedeutete, steht in den ersten Anfängen einer Organisation. Als solche kann man wohl die Gründung des "Heimatbundes Eupen-Malmédy St. Vith zum Schutze der deutschen Sprache" am 28. März 1926 ansehen. Vor allem aber wird die freie Meinungsäußerung dazu beitragen, den Gedanken der Zugehörigkeit der Eupen-Malmédyer Bevölkerung zur deutschen Volksgemeinschaft wach zu halten und zu vertiefen.

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Das Versailler Diktat.
Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung


Das Grenzlanddeutschtum: Belgien

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Belgier" und "Gefährdung und Gebietsverlust durch Abstimmung: Eupen-Malmedy."

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach