Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil
Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches (Forts.)
[64] 5. Der Weg der deutschen
Entscheidung (1862 - 1866).
In der nationalen Bewegung seit der Befreiungszeit, vor allem seit der
großen Erschütterung von 1848, war den Deutschen die aufregende
Frage nach der Sinndeutung ihres ganzen Werdens immer fordernder
entgegengetreten. Aus der Vergangenheit suchte man den Weg der Zukunft zu
enträtseln, aber wohin man sich rückblickend wandte, man
stieß immer wieder auf entgegengesetzte geschichtliche Wertungen,
zwischen denen keine Versöhnung möglich schien: Kaisertum und
Königtum, Katholizismus und Protestantismus, Österreich und
Preußen. In dem politischen Ringen der Gegenwart zog ein guter Teil der
Vergangenheit der Nation, den Schatten der Gefallenen gleich, die sich aus dem
ewig sich erneuernden Kampfplatz des Lebens erhoben, gegeneinander zu Felde,
und von dem Geisterkampf sprangen gleichsam die Funken weltanschaulicher
Unversöhnlichkeiten auf die Wirklichkeit der Gegenwart über. Wer
um das Jahr 1860 sich die Möglichkeit vorzustellen suchte, wie ein in einer
alten und großen Nation so tief verwurzeltes geschichtliches Problem
gelöst werden könne, war auf alle Fälle geneigt, mit einem
Kampfe zu rechnen, der einen langen Atem erforderte und nur unter dem
intensivsten Anteil einer ganzen Nation entschieden werden konnte.
Dann aber sollte es geschehen, daß die Entscheidung in einigen wenigen
Jahren auf einem Wege herbeigeführt wurde, auf dem die kollektiven
Kräfte des Geschehens wider alles Erwarten zurückgedrängt
werden und statt dessen die geschichtliche Bedeutung einer einzelnen
Persönlichkeit auf die Höhe erhoben wird, dergestalt, daß
dieses letzte Stadium eines säkularen geschichtlichen Prozesses viel mehr
von etwas Einmaligem, Persönlichem, Zufälligem an sich zu tragen
scheint, als nach dem bisherigen Verlaufe zu erwarten war. Weshalb es so kam,
sei hier nur mit wenigen Strichen, so wie der Zusammenhang dieses Buches es
erforderlich macht, umrissen.
Wenn die zerbrochene und versandete nationale Bewegung wieder zu neuem
Leben erwachen sollte, so mußten in Deutschland selber die Dinge reifer
werden und zugleich ein Anstoß von außen her die gärende
Masse in Bewegung setzen. Seit dem Winter 1858/59 begann ein
allmählich heraufziehender Wetterumschlag am europäischen
Horizont einen deutschen Umschwung vorzubereiten. In Frankreich war in der
Revolution schließlich eine neue Macht emporgekommen, [65] die, bald von dem
verheißenden kaiserlichen Namen gedeckt, eine aktivere Kraft in die
europäischen Verhältnisse hineinzuwerfen unternahm und sich die
Aufgabe setzte, aus allen ungelösten Fragen des Kontinents, aus diesen halb
erstickten und doch nicht erloschenen Möglichkeiten in Italien und Ungarn,
in Deutschland und Polen, irgendeinen Auftrieb für die Größe
Frankreichs und die eigenen Ambitionen zu gewinnen. Im Krimkrieg gelang es
Kaiser Napoleon III. zum ersten Male, die antirevolutionäre
Einheitsfront der Mächte zu sprengen und die Initiative in der
europäischen Außenpolitik an sich zu reißen. Indem er dann
seit Ende 1858 dazu überging, die Frage der italienischen Einheit
aufzurollen, führte er an der aussichtsvollsten Stelle den entscheidenden
Schlag, die Nationalitätenbewegung in Europa ein Stück
voranzubringen und gleichzeitig die Machtstellung Frankreichs ungeahnt zu
erhöhen - als wenn es nur dieses einen und ersten Stoßes
bedurft hätte, stieg in wenigen Jahren schon ein Königreich Italien
empor, noch unfertig, noch in manche Abhängigkeit verstrickt, aber seines
Weges und der Zukunft gewiß. Seit dem Kriegsjahre 1859 war die Welt sich
darüber klar, daß ein ähnlicher Anstoß und eine
ähnliche Auswirkung - wenn die geeigneten Vorbedingungen sich
darboten - sich auf deutschem Boden wiederholen könnten. In allen
Schichten wurde die Nation von dem Gefühl ergriffen, daß das
Schicksal zum zweiten Male, nach dem Fehlschlag von 1848/49, die große
Frage an sie richten könnte. Die deutschen Vormächte konnten sich
nicht verhehlen, daß sie sich irgendwie auf die Gefahren und die
Verlockungen, die mit einem neuen Anstoß verbunden waren, vorzubereiten
hätten, ob man nun zusammen oder getrennt oder gegeneinander vorging;
die mittleren und kleineren Staaten hatten allen Grund nachzuprüfen, wie
sie selber diesen unberechenbaren Möglichkeiten standhalten wollten; und
in der Nation erwachte der kernhafte Wille, an solchen Entscheidungen, von
welcher Seite sie sich auch herandrängten, einen selbständigen und
aufrechten Anteil zu nehmen und nicht zum zweiten Male einen großen
historischen Moment zu verspielen. Unausgesprochen liegt dieser Gedanke auf
dem Grunde alles dessen, was auf deutschem Boden in den Jahren 1859 bis 1862
politisch gedacht und gewollt wird.
Damit rückt von neuem das große Problem Großdeutsch und
Kleindeutsch in den Mittelpunkt. Soll die zukünftige Lebensform des
deutschen Staates unter Einschließung Deutschösterreichs, also
vermöge irgendeines Zusammenwirkens beider Großmächte
gesucht werden, oder aber, wenn jene Einschließung ohne Zerschlagung des
österreichischen Gesamtstaates praktisch undurchführbar ist, unter
einem, wenn auch noch so vorläufig gedachten Ausscheiden
Österreichs, wodurch sich dann die alleinige Führung Preußens
in dem neuen Nationalstaat von selber ergab? Wer sich für den zweiten
Weg entschied, stand alsbald vor einer weiteren Alternative. Wird es die in die
demokratischen Tiefen der Nation hinabreichende nationale Idee sein, die in der
Schöpfung des neuen Staates vorangeht, mit Hilfe eines Preußens,
das sie sich einordnet und
unter- [66] wirft, aber zugleich
durch Übertragung der Führung
erhöht - wie es die Erbkaiserlichen einst gewollt hatten, wie Staat
und Haus Savoyen-Piemont jetzt in dem Königreich Italien und seiner
nationalen Aufgabe aufgingen? Das war der Traum, mit dem sich die neue
Generation der Nationalpartei erfüllte. Oder aber werden die Dinge den
Verlauf nehmen, daß der preußische Staat von sich aus die Schaffung
des nationalen Staates als seine Aufgabe ergreift, unter Anrufung und Ausnutzung
der nationalen Idee, aber vor allem unter der Behauptung seines eigenen Selbst
inmitten des künftigen Gebildes? Das ist der Weg, den Bismarck zu Ende
gehen wird. Diese beiden Möglichkeiten werden im Laufe der
nächsten Jahre sich begegnen und sich messen.
Die neue Ära in Preußen mit ihrer Ankündigung der
moralischen Eroberungen hatte im Oktober 1858 die Trümmer der alten
erbkaiserlichen Partei, alles was in der nationalen und liberalen Idee lebte, mit
frischen Hoffnungen erfüllt. Der Verlauf der europäischen Krisis von
1859, der die Unfertigkeit der Deutschen als politische Nation vor aller Welt
enthüllte, gab einen neuen Anstoß zu patriotischer Selbstbesinnung.
Mit einem Schlage standen die beiden großen Lebensfragen, Reform des
Deutschen Bundes, insbesondere der nationalen Verteidigung, und Forderung
eines selbständigen Anteils des Volkes an seinen höchsten
Geschicken, im Mittelpunkt der politischen Erwägungen. Der Fortgang der
italienischen Bewegung und die Undurchsichtigkeit der napoleonischen Politik
drängten zum Handeln. Aus den Versammlungen besorgter Patrioten
erwuchs, nach italienischem Muster, der Nationalverein als Massenorganisation
der nationalen Bewegung; neue Figuren kamen in ihr empor, die
repräsentative und vertrauenerweckende Gestalt Rudolfs von Bennigsen,
Johannes Miquel, der ehrgeizige, kluge und bewegliche Taktiker,
Schulze-Delitzsch, der volkstümliche und populäre
Wirtschaftsberater des Kleinbürgertums. Gleichzeitig beauftragte
Großherzog Friedrich von Baden, ein Fürst von reiner idealistischer
Gesinnung und ethischer Redlichkeit, seinen Minister Freiherrn von Roggenbach
mit dem Entwurf einer Bundesverfassung, die in realistischer Weise die Erbschaft
der Erbkaiserlichen und der Politik des Generals von Radowitz zugleich
anzutreten versuchte. Eine liberale Fürstengruppe begann sich zu bilden,
die diese Gedanken ergriff; auch der Erbe des preußischen Staates,
Kronprinz Friedrich Wilhelm, und seine lebhaft aufnehmende englische Gemahlin
suchten die neue Fühlung. Der Gedankengang war, wenn auch in
mannigfachen Tönungen sich unterscheidend, in der Hauptsache der
gleiche. Es galt Preußen in die Führung des
außerösterreichischen Deutschlands bringen, mit allen Mitteln des
Lockens und des Drängens; aber ein Preußen, das sich der deutschen
Idee ganz öffne und mit modernem liberalen Geiste erfülle, das sich
im Sinne des liberalen Bürgertums umbilde und vor dem öffentlichen
Leben eines parlamentarischen Staates nicht zurückscheue; ein
Preußen, das durch diese Bundesgenossenschaft mit der öffentlichen
Meinung, mit allen guten [67] Kräften der
Nation, wahrhaft zur Führung berufen, die entgegenstehenden Elemente des
Partikularismus von innen her überwinde und mit dem Schwunge einer
großen Bewegung der Geister den deutschen Nationalstaat erstehen lasse.
Mit dem beseligenden Selbstbewußtsein einer Nation, die an sich selber
glaubte, verband sich das Vollgefühl dieses Bürgertums der
sechziger Jahre, den Kern und die Zukunft der Nation darzustellen und alle
fortschreitenden Kräfte der Zeit auf seiner Seite zu wissen. Die Front der
liberalen Nationalpartei war vielfach geteilt, aber innerlich doch
zusammenhängend; wenn sie bis an die Höhen der Throne und ihrer
Berater rührte, so reichte sie auch bis in die Massen hinab und fand auf
nationalen Schützen- und Turnerfesten einen rauschenden Ausdruck
für ihr begeistertes Wollen.
Dabei stellte sich allerdings sehr bald heraus, daß Preußen im Grunde
doch preußischer und minder liberal war, als es für das kunstvolle
Gefüge dieser Kombinationen erträglich schien. Die politischen
Gedanken des Liberalismus, von denen der preußische Staat an die Spitze
der Nation emporgetragen werden sollte, waren auch innerhalb dieses Staates mit
Forderungen und Ansprüchen lebendig und stießen auf den
Widerstand seines Monarchen und seiner Traditionen. Selbst der fürstliche
Fahnenträger der Nationalpartei, Großherzog Friedrich von Baden,
meinte seinem Schwiegervater, dem König Wilhelm, sagen zu
dürfen, die preußische Regierung müsse zunächst
betätigen, daß sie ihre versprochenen, aber immer noch fehlenden
inneren Reformen wirklich durchführen wolle; sie müsse offen
bekennen, daß ihre deutsche Politik auf einer konstitutionellen Grundlage
beruhe, und daß sie diejenigen nicht für Demokraten und
Umsturzmänner halte, die Deutschland stark und mächtig wissen
wollten und von Preußen verlangten, daß es selbst Opfer zu diesem
Zwecke bringe. König Wilhelm hielt nur um so nachdrücklicher
daran fest, daß in Preußen die Konstitution niemals die Grenzen
überschreiten dürfe, "welche die Macht und die Kraft des
Königtums in einer Weise schmälert, die dasselbe zum Sklaven des
Parlaments macht". Während der Badener dem Könige vorschlug,
den Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe, einen süddeutschen
katholischen Standesherrn, der der liberalen Nationalpartei nahestand, an die
Spitze eines Ministeriums über den Parteien zu berufen und damit der
deutschen Idee zu huldigen, erhob sich das
schwarz-weiße Selbstbewußtsein des Staates und verwahrte sich
dagegen, nur ein Mittel für einen noch so hehren Zweck zu sein. Schon ein
halbes Jahr bevor Bismarck die Leitung der preußischen Politik
übernahm, kam es zwischen König Wilhelm und seinem
Schwiegersohn zu denkwürdigen Auseinandersetzungen über das
parlamentarische System und die Staatsautorität, aus denen hervorging,
daß die Gewalten, die von der liberalen Nationalpartei harmonisch
ineinandergeschmolzen werden sollten, sich auch wieder innerlich widerstrebten.
Das Problem hatte im Grunde noch dasselbe Gesicht, wie in den Tagen der
Frankfurter Erbkaiserpartei von 1848. Wenn man den Nationalstaat unter
Ab- [68] scheidung
Österreichs wollte, ließ er sich nur unter Führung und
Mitwirkung Preußens verwirklichen - wenn aber dieser Weg als der
einzige, der aus der Wüste führe, der Nation empfohlen werden
sollte, so war die nationale Bewegung für Preußen doch nur durch
dessen Liberalisierung und Eindeutschung zu gewinnen. Konnte aber die
Staatsmacht, die den neuen Nationalstaat allein zu vollziehen vermochte, auf ihre
Individualität so weit verzichten, gleichsam in Deutschland aufgehen, ohne
sich selbst und alle ihre großmächtlichen Mittel, deren man im
Ernstfalle bedurfte, aufzugeben und damit möglicherweise den ganzen Preis
zu verscherzen? Und wenn sie es tat, besaß sie irgendeine Gewähr,
das Ziel auf diesem Wege zu erreichen? Im Grunde bestand der Irrtum der
Nationalpartei, des Großherzogs von Baden und Roggenbachs sowohl wie
des Nationalvereins darin, daß sie allein von der Kraft und dem Schwung
der nationalen Idee erwarteten, daß sie alle Widerstände friedlich
überwinden würde. Sie vertrauten dem bloßen Druck der
öffentlichen Meinung, waren aber nicht gewillt, die Gewalten der Tiefe,
eine nationale Revolution im Stile Garibaldis, zur Verstärkung dieses
Druckes anzurufen. Sie unterschätzten den politischen Lebenswillen
Österreichs, das seine deutsche Stellung mit allen ihren Traditionen ohne
Machtentscheidung gar nicht aufgeben konnte, und nicht minder das zähe
Schwergewicht der Mittelstaaten und der in ihnen verkörperten
bodenständigen Kräfte, die in der Entscheidungsstunde sich um
Österreich scharen mußten. Sie unterschätzten aber vor allem
auch die Schwierigkeiten, eine so weitreichende Umwälzung in der Mitte
Europas ohne Fühlung mit den großen Mächten vornehmen zu
können; denn die Sympathien Englands, die von der öffentlichen
Meinung und von der liberalen Fürstengruppe gelegentlich in Rechnung
gezogen wurden, waren als ein ernster Rückhalt für ein so
weitausschauendes Unternehmen nicht zu bewerten. Eben weil sie vor dem
Äußersten die Augen zu schließen geneigt war, nach innen wie
nach außen, hatte die Nationalpartei ihr ganzes Programm nicht zu Ende
gedacht; jedenfalls verfügte sie für die Verwirklichung ihrer
innerpolitischen Ideale nicht über eine Außenpolitik, in deren
Rahmen sie Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
So stand es um den einen Weg. Daß noch ein anderer Weg zu demselben
Ziele denkbar war, auf dem die Initiative bei dem preußischen Staate lag,
würde unter den vielen heißen Herzen und klugen Köpfen der
Nationalpartei kaum einer theoretisch ohne weiteres zugegeben haben: erst das
Erleben selber mußte davon überzeugen. Der preußische Staat
war neben allem, was ihn mit Deutschland verband, zugleich der stärkste,
entwickeltste und selbstbewußteste aller Einzelstaaten; wenn man von ihm
erwartete, daß er den egoistischen Partikularismus der Mittleren und
Kleineren brechen würde, durfte man nicht übersehen, daß der
preußische Partikularismus von Natur nur noch lebensfähiger war als
alle andern. Seine Staatspersönlichkeit verfügte über eine
Geschichte von Größe und Glanz, von Ethos und Schwung, von
heroischen Traditionen, vor denen [69] alle mittelstaatlichen
Ruhmesblätter verblaßten. Man sah hier einen Staatstypus, der seine
besonderen Anforderungen an seine Untertanen stellte und auch in den Augen der
Welt seine besondere Berufung hatte. Auch das Innere des Staates wies eine
soziale und gesellschaftliche Struktur auf, in der ein besonderes
Herrschaftsverhältnis der Klassen sich ausprägte, wie es den
übrigen deutschen Staaten wesentlich fremd war, hier aber mit dem
strengen Stil des Ganzen sich zu einer Einheit zusammenfand. Dieses
Preußen war gewiß von den deutschen Ideen berührt, zumal in
seinen westlichen Provinzen tief davon durchsetzt, aber es verkörperte
zugleich ein geschlossenes und selbstbewußtes Dasein. Es hatte sich schon
in den Jahren 1848/50 gegen die nationale Revolution und wenn man will gegen
die nationale Verlockung behauptet, und wenn es sich seit 1858 von neuem der
deutschen Idee zur Verfügung stellte, so wollte es darum doch nicht ganz in
Deutschland aufgehen. König Wilhelm, schon seit seiner Krönung in
Königsberg preußischer empfindend, war durch den Kampf mit dem
Abgeordnetenhaus um die Militärreform, durch den Zusammenstoß
mit den parlamentarischen Ansprüchen nach englischem Muster, sehr
mißtrauisch gegen die Bundesgenossenschaft geworden, in die er um des
deutschen Ehrgeizes willen hineintrieb - das alles mochte ihm so
revolutionär erscheinen wie einst Mazzinis Aufruf dem König Karl
Albert von Sardinien. Lieber wollte er den Staat, dessen Krone er trug, gegen den
Geist so gefährlicher Neuerung behaupten und verteidigen.
Besaß man aber dafür ein Programm auf längere Sicht?
Daß die Zukunft auch des preußischen Staatsgebildes doch nur im
Zusammenhang mit einer Neugestaltung der deutschen Gesamtgeschicke
irgendwie gelöst werden konnte, drängte sich jedem
Tieferblickenden auf. Man mochte vom preußischen Standpunkt das
nationale Programm der Liberalen als illusionär verwerfen. Aber der
preußische Staat, so wie er geworden und zusammengesetzt war,
König Wilhelm und seine Leute, würden von sich aus nicht imstande
gewesen sein, ein anderes Programm an die Stelle zu setzen, das den
preußisch-deutschen Geschicken eine neue Wendung gegeben hätte.
Um Preußens Selbst zu behaupten und trotzdem auf der großen
nationalen Flut eines Tages in den Hafen der Erfüllung zu gelangen,
für diese zwiefache Aufgabe, die fast allen sich in sich selber zu
widersprechen schien, bedurfte es einer Persönlichkeit, wie sie weder im
Lager der Liberalen noch in dem Lager des reinen Preußentums zu finden
war. Es bedurfte der Einzigartigkeit des Genius.
Damit ist schon ausgesprochen, daß das Besondere, was Bismarck
mitbrachte, kaum auf eine einleuchtende Formel gebracht werden
könnte - auch nicht das Geheimnis, wie in seinem politischen
Denken Preußisches und Deutsches sich voneinander geschieden und
miteinander verbunden habe. Er war Preuße genug in der Wurzel seines
Seins, um den ganzen Zauber der nationalen Idee in sich aufnehmen zu
können und doch er selbst zu bleiben; er war von der Idee [70] auf das Tiefste
berührt, ohne sich ihr, geschweige denn einem bestimmten Programm der
Lösung, zu unterwerfen. "Das Wort »Deutsch« für
»Preußisch« möchte ich gern erst dann auf unsre Fahne
geschrieben sehen", so schrieb er am 12. Mai 1859 dem Minister von Schleinitz,
"wenn wir enger und zweckmäßiger mit unseren übrigen
Landsleuten verbunden wären als bisher; es verliert von seinem Zauber,
wenn man es schon jetzt, in Anwendung auf seinen bundestäglichen Nexus,
abnützt." Der historische Moment selber mußte entscheiden, wann
und wie sich diese Wandlung vollzog.
Es war eine tiefe Verschiedenheit in allen Voraussetzungen des politischen
Verhaltens. Die Liberalen waren erfüllt von dem Ziel und dem
Ideal - Bismarck lebte nur in dem Wege, auf dem er sich dem Ziel
nähern konnte, ja sein Ziel konnte sich verändern, wenn der Weg es
verlangte. Die Liberalen schöpften aus der Hoheit des Ideals die Inbrunst
ihres politischen Glaubens - Bismarck entnahm aus den unendlichen
Schwierigkeiten des Weges das Gebot seines Handelns. Er war sich bewußt,
daß es mehr als eine Möglichkeit gab, in der Verfügung des
preußischen Staates über die deutschen Machtmittel ein Stück
voranzukommen und einen deutschen Nationalstaat zu errichten; und er
vergaß keinen Augenblick, daß nur ein ganz schmaler und steiler Weg
durch die umgebenden europäischen und deutschen Hemmungen
hindurchführte. Es gab kein Axiom der Politik, das für ihn in
veränderter Weltlage nicht auch veränderte Geltung gewinnen
konnte. Er wäre in den Jahren 1859/61 vielleicht einen Weg gegangen, der
dem Beispiel Cavours nähergelegen hätte. Jetzt fand er, zum
Minister berufen, den innerpreußischen Konflikt vor und mußte sich
einen höchst borussischen Eingang in die deutsche Politik bahnen.
|
Aber seine Persönlichkeit brachte für seine Aufgabe eine politische
Begabung mit, die härteste Willenskraft mit geschmeidigster
Beweglichkeit, nüchternsten Realismus mit schöpferischer Phantasie
verband, eine Elastizität von federndem Stahl in der Entschließung
und einen durchdringenden Weitblick in der Schätzung aller Dinge, ob sie
seinen Weg förderten oder störten. So vermochte er endgültig
die Nationalpolitik der Liberalen zu durchkreuzen, aber auch das alte
Borussentum, als dessen Ritter er zunächst in der Arena erschien, für
immer aus seiner Bahn zu werfen.
Aus politischem Instinkt und aus der realistischen Erfahrung von anderthalb
Jahrzehnten hatte Bismarck
sich mit der Überzeugung durchdrungen,
daß eine Macht wie Österreich niemals freiwillig ihre Traditionen
verleugnen und die für den innern Machtzusammenhang des Gesamtstaates
unerläßliche Verbindung mit dem Deutschen Bunde preisgeben
werde, daß sie nur auf dem Schlachtfelde besiegt in eine so tiefgreifende
Umwälzung ihrer europäischen Stellung sich fügen
könne; wenn ihm das kleindeutsche Programm auch die wahrscheinlichere,
keineswegs aber die einzig mögliche Lösung schien, so machte er
sich darüber keine Illusionen, daß dieses Endziel nicht auf dem Wege
der Ver- [71] handlungen, sondern nur
durch Krieg zu erreichen war. Aus diesem Grunde ließ er, gleich zu Beginn
seiner ministeriellen Laufbahn, das Wort von Blut und Eisen fallen, das dann, im
Laufe der Zeit zu einem geflügelten Worte werdend, einem ähnlichen
berechneten Mißbrauch wie das Deutschlandlied Hoffmanns von
Fallersleben verfallen sollte. Wir haben das
Schlagwort - ohne das Bedürfnis einer "Verteidigung" zu haben, wo
keine nötig ist - nur insofern zu berühren, ob und wieweit eine
zutreffende historische Charakteristik des Bismarckschen Weges der
Reichsgründung damit gegeben ist. Ist sein Sinn darin zu sehen, daß
Bismarck bewußt und eingestandenermaßen an Stelle eines andern
ebenso gut möglichen friedlichen Weges gerade diesen kriegerischen Weg
vorgezogen habe, sei es, daß ein Dämon in seiner Brust es ihm
vorschrieb, sei es, daß der preußische Staat, den kriegerischen
Traditionen seines Emporkommens gemäß, unter seiner
Führung die Wahl der ihm eingeborenen politischen Methode bevorzugte,
während eine andere Methode dem damaligen Stande der
europäischen Zivilisation besser entsprochen hätte? Vertrat er einen
herausfordernden Widerspruch gegen den friedlichen Geist einer längst
siegreich heraufgezogenen Zeit? Das ist eine Vorstellung, die, von unsern
Gegnern ganz abgesehen, neuerdings auch manche gute
Deutsche - nachdem in schwersten Erschütterungen so viele Tafeln
zerbrochen worden sind und neue Geltungen sich erhoben
haben - innerlich etwas zu beunruhigen scheint.
Noch einmal sei des niederschmetternden Erlebnisses von 1849 gedacht.
Wäre damals der Wille der souveränen Nationalversammlung in
Frankfurt, wäre die Kaiserkrone Friedrich Wilhelms IV. in
Deutschland anders zu verwirklichen gewesen, als durch Revolution und
Bürgerkrieg, und wenn den Deutschen daheim die Erreichung dieses Zieles
gelang, würden sie es ohne Krieg gegen die europäischen
Mächte haben behaupten können? Damals wich man
zurück - ein Radikaler wie Engels würde damals sogar den
Kampf gegen die drei Großmächte der Reaktion, Preußen,
Rußland und England, nicht gescheut haben. Jetzt stand man zum zweiten
Male vor derselben Frage. Würde die liberale Nationalpartei die von neuem
in ihr erblühte Hoffnung, Preußen allein durch moralische
Eroberungen und öffentliche Meinung in die Führung Deutschlands
zu bringen, ohne Blut und Eisen zum Siege haben führen können,
oder stand sie nicht schon im Winter 1861/62 vor einer ähnlichen Situation
wie im Jahre 1849/50: vor dem nur kriegerisch zu brechenden Entschluß
Österreichs und der Mittelstaaten zum Widerstande gegen alle
kleindeutschen Verfassungsexperimente? Nicht nur die Gegner der Liberalen
dachten skeptisch über den Glauben an die Allmacht der Idee. Als
Großherzog Friedrich von Baden im Oktober 1860 in Koblenz seine
idealistischen Pläne den englischen Staatsmännern Lord John
Russell und Sir Robert Morier entwickelte, standen die beiden
Engländer, die keineswegs realistische Machtanbeter waren, sondern
unbedingt mit dem Strome der liberalen weltanschaulichen Ideologie gingen,
[72] noch lange auf der
Rheinbrücke und besprachen mit tiefen Zweifeln die Vorfrage: ob denn
eine so große Revolution anders als durch revolutionäre Mittel
herbeigeführt werden könne. Nichts anderes wollte Bismarck den
Abgeordneten andeuten, wenn er in einer seiner ersten ministeriellen
Äußerungen vielleicht allzu offenherzig gestand: die großen
Fragen der Zeit würden nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüsse
entschieden, sondern durch Blut und Eisen. Es gibt eben Krisen im Leben der
Völker, auch demokratisch verfaßter Völker, die nicht auf
friedlichem Wege zu lösen sind, sondern nur durch die Anrufung der
ultima ratio regum entschieden werden. Die Schweizerische
Eidgenossenschaft hatte nicht lange vorher den Übergang vom Staatenbund
zum Bundesstaat doch nur durch das Vorspiel des Sonderbundskrieges vollziehen
können, und in eben diesen Jahren, da Bismarck an sein Werk ging, sah die
Welt die Vereinigten Staaten von Amerika die Fragen ihrer Staatseinheit und
eines höheren sittlichen Staatsprinzips in einem nicht endenwollenden
Bürgerkriege in einem Meer von Blut ausfechten. Auch die nächste
Parallele dieser Jahre, die nationale Staatseinheit des modernen Italiens, an sich
ein viel leichter zu bewältigendes Problem, ist doch nur durch den Krieg
von 1859, die revolutionären Vorgänge von 1860/61, den Krieg von
1866 und den Rechtsbruch von 1870 vollendet worden, ohne daß ihre
Lenker vom geschichtlichen Urteil für ihre politischen Methoden besonders
zur Rechenschaft gezogen würden.
Wenn die Vorwürfe gegen Bismarcks Blut- und Eisenpolitik
schließlich damit argumentieren, daß die Reihenfolge der drei Kriege
von 1864, 1866 und 1870/71 am besten beweise, daß der Krieg, seiner
Ankündigung gemäß, das Prinzip seines politischen Handelns
gewesen sei, und eben das ihn von denen unterscheide, die den Krieg nur
gezwungen hinnähmen, so ist darauf zu erwidern, daß diese drei
Kriege keineswegs eine programmatische Einheit bilden. Der Krieg von 1870 ist,
wie hernach ausgeführt werden wird, von der andern Seite gewollt worden
und zu verantworten: er ist ein Versuch von französischer Seite, mit Blut
und Eisen die staatliche Einigung des Nachbarn zu durchkreuzen. Der Krieg mit
Dänemark war im Jahre 1848 auch von der nationalen und freiheitlichen
Bewegung entfesselt worden und nicht Sache einer spezifischen
Blut- und Eisenpolitik. So bleibt nur der Krieg von 1866 als die von Bismarck
bewußt gewollte, weil auf anderem Wege nicht herbeizuführende
Lösung des deutschen Problems. Recht und Unrecht, Notwendigkeit und
Vermeidbarkeit dieser kriegerischen Machtprobe können nur in dem
ganzen Zusammenhange der deutschen Geschichte erörtert werden. Im
übrigen wird der weitere Verlauf auch die Legende in nichts
auflösen, als wenn Bismarck inmitten der Staatsmänner seiner Zeit,
der Napoleon III. und Gortschakow, der Victor Emanuel und Cavour, der
Palmerston und Disraeli, der Franz Joseph und Beust, allein ein Mann von
anderem Kaliber, gleichsam mit einer geheimen Rüstung unter dem
Diplomatenrock, gewesen sei. [Scriptorium merkt an: vgl. hier!]
[73] Das erste Jahr der
Staatsleitung Bismarcks ist rasch zu durchschreiten. Welchen Ansatzpunkt seine
deutsche Politik genommen haben würde, wenn nicht die Eröffnung
der Schleswig-Holsteinischen Frage seit dem November 1863 ihr eine ganz
bestimmte Aufgabe gestellt hätte, bedarf keiner Erörterung. Von
bleibender Bedeutung sind nur die politischen Handlungen, mit denen Bismarck
Stellung unter den europäischen Mächten suchte: die enge
Fühlungnahme mit Rußland aus Anlaß der polnischen
Revolution, der Abschluß der Konvention Alvensleben. Den deutschen
Liberalen galt dieser Schritt als ein schwerer Fehler, mit dem Preußen alle
Sympathien in Deutschland sowohl wie in Europa sich verscherzen mußte:
sie sahen darin gleichsam die außenpolitisch sich fortsetzende Politik der
innenpreußischen Reaktion, und ahnten nicht, daß an dieser Stelle die
erste und sicherste Deckung für die deutsche Politik Preußens in
diesem Jahrzehnt geschaffen wurde. Gefährlicher war, daß Kaiser
Napoleon durch die Konvention Alvensleben auf das Schwerste in seinen
Berechnungen gestört wurde; er hatte auf einen deutschen Cavour
gerechnet, mit dem das Spiel von 1858/59 noch einmal gespielt werden
könne, und sah jetzt den Unberechenbaren nach innen hin die borussische
Reaktion vertreten und nach außen für Rußland optieren. Da
also die Wahrscheinlichkeit einer preußischen Nationalpolitik, mit der sich
von Paris aus hätten Geschäfte machen lassen, anscheinend für
immer verschwand, so sprang er unvermittelt auf die andere Seite hinüber
und versuchte, statt des preußisch-deutschen den
österreichisch-polnischen Hebel in die Hand zu nehmen, um Europa aus
den Angeln zu heben. Er unterbreitete den Österreichern einen
Bündnisplan, der auf eine gründliche Revision der
europäischen Karte hinausgelaufen wäre und Frankreich selbst in den
Besitz des linken Rheinufers gebracht haben
würde - der beherrschende Gedanke, der sich in der Seele des
Kaisers auf dem Untergrunde aller politischen Spekulationen findet, wird an
dieser Stelle zum ersten Male ganz sichtbar und gießt, einem Scheinwerfer
gleich, taghelles Licht über die Gefährlichkeit des ganzen Weges,
den die Politik Bismarcks zurückzulegen haben wird. Damals lehnte
Österreich ab und die Wolke verschwand, wie sie gekommen war. Und alle
Möglichkeiten, die in diesem ersten Jahre der Politik Bismarcks sich boten
oder ihr entgegentraten, waren gleichsam in sich selber aufgelöst, als der
Tod des Königs von Dänemark ihn auf den alten Kampfplatz der
nationalen Bewegung, in die schleswig-holsteinische Frage, führen sollte.
Hier hatte er vor Deutschland und vor Europa Farbe zu bekennen, hier
mußte er diejenige Gleisrichtung seines Kurses wählen, die ihn in
seine große Politik, in die Lösung der deutschen Frage
hineinführte.
Bismarck traf diese Wahl, indem er seine Kampfstellung gegen die deutschen
Liberalen fortsetzte. Die Liberalen gingen mit dem Erbrecht des Augustenburgers,
um mit diesem unantastbaren Rechtstitel
Schleswig-Holstein von Dänemark abzulösen, gleichsam mit den
dynastischen Ansprüchen des Privatfürstenrechts [74] die leidenschaftlich
umstrittene nationale Schicksalsfrage zu
entscheiden - unbekümmert darum, ob die europäische
Konvention, die in dieser Frage schon gesprochen hatte, sich solcher
Entscheidung beugen würde. Bismarck dagegen stellte sich von vornherein
auf den Boden der europäischen Verträge, erkannte dementsprechend
den König Christian IX. als Herzog von
Schleswig-Holstein an und gewann für dieses international korrekte
Vorgehen auch die Bundesgenossenschaft Österreichs; von dieser
europäischen Plattform aus war er gewillt, die Dänen
nachdrücklich an ihre mißachteten Verpflichtungen gegenüber
Schleswig-Holstein zu erinnern, äußerstenfalls durch Krieg sie zur
Anerkennung zu zwingen, und so wenig ihn das augustenburgische Ergebnis eines
neuen deutschen Mittelstaates locken konnte, so vernehmlich regte sich auf dem
Grunde seines politischen Wollens ein anderes letztes Endziel: wie er 1859 sich
ausgedrückt hatte, Preußen "enger und zweckmäßiger"
mit den deutschen Landsleuten in Schleswig-Holstein zu verbinden.
Es wird immer denkwürdig bleiben, in wie grauenhafter Einsamkeit
Bismarck in diesem Unternehmen, das er selber wohl als sein Meisterstück
bezeichnet hat, zu seinem nur im allgemeinen Umriß ihm vorschwebenden
Ziele voranschritt. Er hatte sie wiederum alle gegen sich, den Augustenburger und
die Mittelstaaten, die Liberalen und die öffentliche Meinung der Nation, die
mit ehrlicher Begeisterung in die falsche Richtung drängte, selbst den
König und die Dynastie, in der das fürstliche Recht und der
Anspruch der Nation ihre unbedingten Anwälte besaßen. Alle
deutschen Gegnerschaften wogen leicht gegen die Gefahren in der
europäischen Arena. Hier mußte der allen Parteien tief verhaßte
preußische Minister hindurchsteuern durch ein gefährliches
Gegenspiel der europäischen Mächte, allein Österreich zur
Seite, von dem er sich eines Tages wieder trennen mußte, mitten hindurch
zwischen Rußland, dessen geneigten Willen er sich soeben versichert hatte,
und Frankreich, das nunmehr, eines größeren Spieles lüstern
gewärtig, seine Karten vorläufig zurückzuhalten bemüht
war - vor allem aber vorbei an England, das immer wieder mit drohenden
Worten seinen Schild vor Dänemark zu stellen und den Preußen den
Weg zu vertreten suchte. Hier lag im Jahre 1864 die eigentliche Gefahr.
Denn die Rolle Schleswig-Holsteins bestand nicht nur darin, daß es das
Sprungbrett war, von dem aus Bismarck in seine große Politik
hineingelangte, und die Beute, über die er eines Tages den Streit um die
Abrechnung mit dem verbündeten Österreich herbeiführte, es
war zugleich ein politisches Objekt, dessen europäischer Wert wegen seiner
geographischen Lage weit über seine Größe hinausreichte.
Bismarck sollte, indem er Schleswig-Holstein für Preußen und
Deutschland gewann, der Befreier des deutschen Nordens und der
Seeküsten werden und die unerträglichen Abhängigkeiten, die
hier aus der Vergangenheit nachschleppten, mit einem Schlage
rückgängig machen. Und eben wegen solcher [75] Möglichkeiten
konnte hier eine nur dunkel geahnte Rivalität Englands zu Worte kommen.
Der politische Wille Englands war nichts weniger als einheitlich. Schon in der
Dynastie bestand ein Gegensatz zwischen der deutschen und augustenburgischen
(aber keineswegs preußischen) Gesinnung der Königin Victoria und
der dänischen Vorliebe des jungen Prinzen von Wales, der unter den
Eindrücken des Krieges von 1864 seine ersten politischen Urteile formte.
Während die Mehrheit der herrschenden Liberalen für den Frieden
war, erklärte der alte Lord Palmerston, daß das Einrücken
deutscher Truppen in Schleswig-Holstein ein Kriegsakt sei, der Dänemark
ein Recht auf aktive Heeres- und Flottenunterstützung
Großbritanniens geben würde. Und in der konservativen Opposition
wurden Stimmen laut, die aus einem tiefen Instinkt ein höchstes englisches
Interesse im Spiele sahen. Kein anderer als der spätere Premierminister
Lord Salisbury hat damals, als Lord Robert Cecil, in der
Quarterly Review vom Januar 1864, einen Aufsatz geschrieben, der als ein
Weltbild an der Schwelle des Bismarckschen Zeitalters eine mehr als
gewöhnliche Beachtung verdient.
"Die nationale deutsche
Bewegung," - so heißt es in diesem
Aufsatz -, "irregeleitet und in falschen Händen, lebt in
phantastischen Träumen von einem mächtigen Deutschen Reiche,
wie es im Mittelalter existierte und in Zukunft zu Lande und zu Wasser wieder
errichtet werden soll; deswegen ruft man auch ganz ohne Not nach einer
deutschen Flotte, obgleich ein friedliches Deutschland für seinen
bescheidenen Handel sie gar nicht braucht; und da die für eine Seemacht
unbrauchbaren Küstenverhältnisse Norddeutschlands erst durch den
Gewinn von Schleswig-Holstein ein anderes Gesicht gewinnen würden, so
ist für die deutsche Nationalpolitik die Zerstückelung
Dänemarks die unerläßliche
Vorbedingung - zu diesem Zwecke ist die
schleswig-holsteinische Frage von den Deutschen sozusagen erfunden oder
vorgeschoben worden."
Mit christlicher Salbung greift Lord Robert zu dem alttestamentlichen
Bilde, daß die Deutschen in dem gegenwärtigen Streite von genau
denselben Beweggründen geleitet würden, die Ahab in seinen
berühmten Streit mit Naboth um dessen Weinberg getrieben. Da ein
preußischer Landtagsbericht es offen ausgesprochen habe, daß ohne
die Herzogtümer ein wirksamer Schutz der deutschen Küsten und der
Nordsee unmöglich sei, so schließt er voll Entrüstung, ein
einfacher formulierter Grund, seinem Nachbar Hab und Gut zu stehlen, sei
vielleicht niemals früher in einem amtlichen Aktenstücke gedruckt
worden. Dann geht Lord Robert dazu über, die Gefahren
auszumalen, die sich für Österreich und vor allem für
Preußen ergeben würden, wenn sie sich auf diesen unsinnigen Weg
der Intervention fortreißen ließen. Insbesondere wird er
gleißnerisch beredt, um eine augenscheinlich für das Gemüt
des Kaisers Napoleon bestimmte Leimrute aufzustellen.
"Auf dem linken Rheinufer liegen
Provinzen von Bayern und Preußen, die vor einem halben Jahrhundert
zugleich eine Versuchung und ein Vorwurf für [76] Frankreich waren. Sie
bieten einen Preis des Ehrgeizes, sie erwecken gleichzeitig die Erinnerung an
Erniedrigung und die Hoffnung auf Revanche. Derjenige Souverän, der sie
mit dem französischen Kaiserreich wieder vereinen würde, werde
seine Dynastie auf einen Grund bauen, den weder Liberalismus noch
Legitimismus jemals erschüttern könnten. Sie sind schon
halbfranzösisch in ihrem Recht und mehr als halbfranzösisch in ihren
Sympathien. Sie würden leicht für die Franzosen zu erobern sein,
und die Schranke des Rheinlaufes würde es den Deutschen schwer machen,
sie zurückzugewinnen. Man bedarf nur eines Vorwandes, um ohne allzu
große Opfer des Gewissens die Verträge zu zerreißen, die das
linke Rheinufer von Frankreich trennen. Es scheint nicht zweifelhaft zu sein,
daß Napoleon rüstet, und die Lage der französischen Politik
verlangt allerdings dringend, daß er durch einen Gewinn an Land und
Prestige die wankende Liebe seines Volkes zurückgewinne und die
Erinnerung an das mexikanische Abenteuer
auslösche."
Der Sirenensang, dessen Leitmotiv auch wegen der objektiven
Einschätzung Napoleons im damaligen Europa Beachtung verdient,
schließt mit dem doppelten Satze: Es widerspricht dem englischen
Lebensinteresse, daß Dänemark in eine Abhängigkeit von
Deutschland gerät. Es ist nicht mit der Ehre Englands vereinbar,
Dänemark im Stiche zu lassen.
Die erste politische Arbeit eines später in England führenden
Staatsmannes! Wenn sie damals auch von dem Führer der Partei beiseite
geschoben wurde, die maßgebenden Liberalen urteilten nicht viel anders.
Wenn Palmerstons schnöde Ausfälle gegen die österreichische
Flotte ein Bild von unsrer Seegeltung in den letzten Tagen des Deutschen Bundes
geben, so spiegelt die Abhandlung Cecils das englische politische Denken in
einem Augenblicke, wo Bismarck, in den Anfängen stehend, noch nicht den
ersten Schuß der "Blut- und Eisenpolitik" abgefeuert hatte. Man sage auch
nicht, daß ihre Spekulation außer aller Möglichkeit lag. Wenn
sie damals doch in den Schatten trat, so geschah es deswegen, weil auf der einen
Seite Napoleon, sich für den zweiten Akt aufsparend, für das
englische Spiel noch nicht zu haben war, auf der andern Seite, weil das amtliche
England den im voraus verlangten Preis, eben das linke Rheinufer, nicht zahlen
wollte. Jedenfalls entbehrte die europäische Lage nicht der inneren
Gefahren. Letzten Endes sollte allerdings gerade England durch eine Haltung, die
in Worten weit mehr versprach, als sie in Taten leistete, dazu beitragen, die starre
Unbelehrbarkeit der Dänen in den Verhandlungen zu steigern, und damit
den Ausgang, die Abtretung der Herzogtümer an die beiden
Siegermächte, unvermeidlich machen. Eben diese Verhandlungen sind ein
Musterbeispiel für die diplomatische Beweglichkeit, mit der Bismarck
mehr als eine Lösung, die eine wesentliche Verbesserung des bisherigen
Standes in sich geschlossen hätte, hinzunehmen bereit war, um
schließlich, auch die leiseste Wendung überlegen ausnutzend, mit der
umfassendsten Lösung aus dem Kampfe [77] herauszukommen und
das Vorspiel seiner deutschen Politik auf der ganzen Linie zu gewinnen.
Mit dem Abschluß des Kampfes um Schleswig-Holstein durch den Frieden
vom 1. August 1864 war eine Teilfrage der Nationalpolitik vorläufig
erledigt und der Weg wieder für die Wiederaufnahme der deutschen Frage
im ganzen frei gemacht. Gerade an dem Ergebnis der
preußisch-österreichischen Aktion von 1863/64, der gemeinsamen
Verfügung über Schleswig-Holstein, sollte sich der Gegensatz
zwischen Preußen und Österreich von neuem entzünden und
von Bismarck bewußt zum Konflikt gesteigert werden. In der Frage der
endgültigen Bestimmung über das Schicksal
Schleswig-Holsteins begann Preußen soviel Reservate anzumelden, die es
im gemeindeutschen Interesse in dem künftigen Mittelstaate in Anspruch
nehmen müsse, daß Österreich, an dem Objekt des
gemeinsamen Sieges nicht unmittelbar interessiert, sich höchstens durch
eine Kompensation an Land und Leuten hatte abfinden lassen, und da es diese von
Preußen nicht erhalten konnte, notgedrungen auf die Seite des
augustenburgischen Erbrechts, in das Lager der Mittelstaaten und der
Nationalpartei hinüberzutreten begann. An der Entschlossenheit, mit der
Bismarck in dieser Angelegenheit die preußischen Forderungen
verschärfte, mußte man in Wien bald erkennen, daß er letzten
Endes auf eine Machtentscheidung in der Frage der deutschen Führung
überhaupt hinausdrängte. Diese Entwicklung des Konflikts, durch
manche Stufen hindurch sich allmählich steigernd, vollzog sich in zwei
Anläufen. Das erste Stadium führte schon in der Spannung des
Sommers 1865 nahe an den Rand des offenen Streites, der durch eine
Kompromißlösung, welche die Verwaltung von
Schleswig-Holstein zwischen den beiden Siegermächten teilte,
vorübergehend befriedet wurde. Die Schnelligkeit aber, mit der dieser
Kompromiß von neuem der Durchlöcherung verfiel, war der beste
Beweis, daß es der preußischen Politik nicht mehr auf einen
Ausgleich in der Teilfrage ankam, sondern auf die Aufrollung des ganzen
deutschen Problems. Wenn man sich in Berlin entschloß, um
Schleswig-Holstein zu kämpfen, so hieß das nichts anderes, als den
Kampf um die deutsche Führung zu beginnen und die Rivalität, die
seit Friedrich
dem Großen bestand, in einem letzten großen
Waffengange zu entscheiden. Das war der Entschluß, den Bismarck im
Frühjahr 1866 zunächst in Preußen zum Siege führen
mußte, um ihn dann gegen Deutschland und Europa
durchzukämpfen.
In diesen Monaten vor dem Ausbruch des Krieges von 1866 liegt der
weltgeschichtliche Höhepunkt in Bismarcks Leben. Denn jetzt greift der
Einzelne am Persönlichsten und Herrischsten in die Geschichte seines
Volkes ein; das Schöpferisch-Dämonische und wenn man will das
Machiavellistische seiner Persönlichkeit steigert sich zur höchsten
Höhe. Denn er ist allein der verantwortliche Träger des Geschehens
und zwingt aus seiner Seele und seinem Willen heraus dem ganzen
Zusammenhang der deutschen Geschichte eine andre Wendung auf. [78] Wenn die
Entscheidungen sich trotzdem hinausziehen und von Gegenaktionen aufgehalten
werden, so liegt das vor allem daran, daß Bismarck nicht der König
selber ist - ein Moritz von Sachsen oder Friedrich der Große
würde den Weg rascher zurückgelegt
haben -, sondern seinen König zu beraten, zu führen,
über sich selbst zu erheben hat. Daraus ergibt sich jene denkwürdige
Teilung der Verantwortlichkeiten zwischen dem Minister, der die Tragweite jedes
einzelnen Schrittes im Zusammenhange seiner großen politischen
Konzeptionen überschaut, und dem Monarchen, der die jeweilige Situation
nur von seinem engen preußischen Pflichtenbereich erfaßt und die
von hier aus gebotenen Befehle gibt, deren Schwere er höchst
persönlich empfindet. Wenn der König auch häufig Bismarcks
Vorgehen hemmte, so konnte sein Wille doch auch wieder für den Minister
die wertvollste Deckung werden.
[48a]
Kaiser Napoleon III.
|
Die Schwierigkeit, die Gefahr, das eigentliche Problem der Politik Bismarcks in
der Herbeiführung des deutschen Krieges lag an einer andern Stelle: das
war die dunkle und undurchdringliche Figur Napoleons III. Es war seit
Jahren die Lieblingsidee des Kaisers, die deutsche Frage wieder in Bewegung zu
bringen und dann, wenn erst Preußen und Österreich unter den
Waffen gegeneinanderstanden, das Spiel mit Cavour, und nun um einen
größeren Einsatz, noch einmal zu spielen. Er war bereit,
Preußen freie Hand zu einer weitreichenden Vergrößerung in
Norddeutschland zu geben, wenn er entsprechende Kompensationen dafür
erhielt. Eben deswegen war die Einleitung der
Schleswig-Holsteinischen Aktion sehr wenig nach seinen Wünschen
gewesen, weil sie Österreich und Preußen zusammenführte,
statt sie gegeneinander zu treiben. Schon als die
österreichisch-preußischen Truppen die jütische Grenze
überschritten, hatte man in Paris die preußische Seite zur Annexion
ermutigt, aber zugleich einige Worte über eigene Wünsche: Grenzen
von 1814 und autonomer Rheinstaat, fallen lassen. Da man auf dieses
Flüstern ebensowenig Gehör fand wie auf eine deutlichere Tonart,
hatte Napoleon aus Furcht, die beiden Mächte durch vorzeitige
Geständnisse nur fester aneinander zu ketten, sich entschlossen, lieber
zurückzuhalten, bis sich aus dem Verlauf des Ringens um
Schleswig-Holstein eine ernstere Spannung zwischen Österreich und
Preußen ergab, die seiner Politik den ersehnten Ansatz darbot. Es war eine
schwere Schule der Geduld. Noch in der ersten Krisis im Sommer 1865 hatte der
Kaiser sich streng gehütet, durch irgendwelche verfrühte Aufdeckung
seiner Karten eigene Begehrlichkeiten zu verraten. Um so peinlicher war
für ihn die Überraschung, als, trotz seiner vorsichtigen Entsagung, in
der Gasteiner Konvention noch einmal der Friedenswille über alle
Kriegspläne der deutschen Mächte triumphierte. Die
französische öffentliche Meinung war förmlich erbittert, weil
ihr die Hoffnung auf den großen deutschen Bürgerkrieg, der schon so
nahe vor der Tür gestanden hatte, wieder unter den Händen zerrann.
Die Wurzel des Stimmungsumschwunges lag, wie Bismarck nüchtern
feststellte, in einem naiven Gekränktsein: [79] "Ich hätte die
Rheingrenze gewinnen können, wenn nicht die beiden
Großmächte die Unwürdigkeit begangen hätten, sich
einstweilen wieder zu verständigen." Die Reise Bismarcks nach Biarritz
stellte das Verhältnis wieder her. Sie gab dem Kaiser wohl die allgemeine
Gewißheit, daß dieser preußische Cavour sein großes
Spiel zu spielen bereit sei, aber nicht mehr. Wenn Bismarck sich kein Angebot
entlocken ließ, so hütete sich Napoleon eine Forderung zu stellen, die
zumal bei König Wilhelm die Wirkung haben konnte, unter allen
Umständen an dem Gasteiner Ausgleich festzuhalten und den großen
Machtkampf für immer zu vertagen.
[112a]
König Viktor Emanuel II. (Re galantuomo),
Preußens Verbündeter 1866.
|
Als dann seit dem Februar 1866 die Wahrscheinlichkeit eines Bruches zwischen
Österreich und Preußen wieder höher stieg, schlug endlich
für den Kaiser die ersehnte Stunde: jetzt kam alles für ihn darauf an,
den Bruch zum Kriege zu steigern. Das erste Vorspiel bestand darin, daß
Bismarck am 8. April 1866 durch den preußischen Antrag auf
Bundesreform und Berufung eines Parlamentes auf der Grundlage des
allgemeinen Wahlrechts den Entschluß verkündete, die ganze
deutsche Frage zur Entscheidung zu stellen, und gleichzeitig durch ein
Dreimonatsbündnis mit Italien die Vorbereitung des Krieges einleitete. Das
war nicht nur ein Aufruf an die Nation, die deutsche Frage zu beraten, wie sie
schon einmal getan hatte, sondern
gleichzeitig - und die militärischen Vorbereitungen und
Gegenvorbereitungen ließen sich nicht lange
verbergen - der feste Wille, mit der Macht in die Selbstbestimmung der
Nation einzugreifen. Es war das Vorspiel des Krieges, aber noch nicht der Krieg
selbst - allzuviel stand noch dagegen. Da Österreich wie
Preußen für ihre letzte Entschließung nach Paris blickten, so
stand das verschlungene und undurchsichtige Spiel des Kaisers vor der Aufgabe:
beiden Mächten, und zwar jeder mit andern Mitteln, den
Kriegsentschluß dadurch zu erleichtern, daß er sie über die
Bedingungen seines Wohlwollens beruhigte, gleichzeitig aber den dafür in
Rechnung zu setzenden Gewinn aus deutschen
Landen - ohne sich durch allzu grobe und gierige Methoden die
Kriegschance wieder entschlüpfen zu
lassen - von der einen wie von der andern Seite womöglich
vertraglich sicherzustellen. Von französischer eingeweihter Seite ist einige
Jahre später ausdrücklich zugestanden worden, der Grundgedanke
der Politik des Kaisers und seines Ministers Drouyn de Lhuys sei gewesen, vor
dem Ausbruch des Krieges gleichartige Verträge wie mit Österreich
so mit Preußen abzuschließen, in denen Frankreich, als Preis seiner
Neutralität, der Rhein verschrieben worden wäre.
Die Rheinpolitik Napoleons1
verfügte über mehr als eine Methode, kannte verschiedene, auch
miteinander kombinierbare Ziele. Das eine war der neutrale rheinische Pufferstaat
auf dem linken Ufer des Stromes, seit 1815 eine
fran- [80] zösische
Lieblingsidee, bis zu den Mainzer Klubisten und den Cisrhenanen
zurückreichend, die sich angeblich dadurch empfahl, daß die
gröbste Verletzung des deutschen Nationalgefühls vermieden wurde.
Wenn auch vereinzelt von einem neutralen Staat im Rahmen des Deutschen
Bundes die Rede war, so schwebte in der Regel die völlige
Herauslösung aus dem Bunde vor: ein zweites Belgien und ein
entscheidendes Durchbrechen des verhaßten Sicherheitsgürtels von
1815! Der neutrale Pufferstaat bot dann weitere erfreuliche Möglichkeiten.
In einer Sitzung des Ministerrats und Staatsrats malte der Herzog von Persigny,
der alte Vertraute des Kaisers, phantasievoll aus, was man mit diesem Rheinstaat
machen könne: man könne die Eisenbahnen, die Zolltarife und die
Handelsbeziehungen geschickt benutzen, um eine Interessengemeinschaft mit den
französischen Nordostdepartements einzuleiten; man könne durch
den französischen hohen Klerus auf die katholische Bevölkerung der
Rheinlande einwirken; man könne schließlich die alten
geschichtlichen Erinnerungen wieder erwecken, um einen gallischen Staatenbund
zu begründen, der Holland, Belgien, Luxemburg, die Rheinstaaten und
Frankreich umfasse und das erste Kaiserreich in seinem ganzen Glanze
wiederherstelle. Man begreift, daß Napoleon den Herzog zu seiner
Lösung beglückwünschte: es sei der natürliche und
vielleicht einzige Weg, um in Zukunft die Rheingrenze
"zurückzunehmen".
Dementsprechend eröffnete schon am 29. April 1866 der Minister Drouyn
de Lhuys dem österreichischen Botschafter: Frankreich wünsche,
wenn der Krieg zu einer Offensivverstärkung Deutschlands unter
österreichischer oder preußischer Leitung führen sollte, eine
"Neutralisierung" der Rheinlande unter einer neutralen, wenngleich deutschen
Dynastie, dergestalt, daß es Frankreich wie Deutschland in gleicher Weise
untersagt sein würde, an diese Neutralität zu rühren. Der
Österreicher erhob gegen die Formel keinen Widerspruch. Aber es lag auf
der Hand, daß man zu Preußen nicht in dieser Weise vom "grand
Rhin" sprechen konnte, ohne es kopfscheu zu machen; in letzter Stunde
höchstens ließ sich hoffen, Preußen zu einem so schmerzlichen
Opfer, gegen ein weitgreifendes System von Abrundungen und Annexionen in
Norddeutschland, bereit zu finden. Eher ließ sich mit Preußen
vielleicht über den "petit Rhin", über die Grenzen von 1814
(Saarbrücken, Landau), sprechen, die sich ungezwungen in der bayerischen
Pfalz und angrenzenden Landschaften vorschieben ließen. Man blieb, auch
aus Rücksicht auf die Mittelstaaten, zunächst sehr unbestimmt, kam
aber doch, bald nach der Eröffnung zu dem Österreicher, mit dem
zweiten Geständnis zu dem Preußen heraus, alle Welt verlange
für den Fall einer Vergrößerung Preußens "quelque
chose du côté du Rhin, vers la Moselle et du côté de
la Bavière rhénane". Hier handelte es sich also um Annexion,
die im günstigen Falle bis zur Mosellinie vorzuschieben war.
Da die ersten Bemühungen des Kaisers ergebnislos verliefen, legte er noch
ein neues Eisen ins Feuer, indem er den Gedanken eines europäischen
Kon- [81] gresses zur
Lösung der venezianischen, der
schleswig-holsteinischen und der deutschen Frage in die Debatte warf, in der
Erwartung, daß der Kongreßgedanke sowohl für
Österreichs Ehre als für Preußens Kampfpläne
unannehmbar sein und daher bei beiden die Geneigtheit, mit ihm über die
"Bedingungen" zu verhandeln, verstärken würde.
Bei dem Preußen kam der Kaiser nicht zu seinem Ziele. Vielmehr ließ
sich Bismarck,
in jedem Schritte höchste Verwegenheit mit höchster
Vorsicht paarend, nicht aus seiner Zurückhaltung herauslocken und zu
freiwilliger Erbietung bereit finden; er verschanzte sich hinter dem König
und schob es Napoleon zu, das erste Wort zu sagen. Es gab auch für den
preußischen Minister, so entschlossen er auf den deutschen Machtkampf
hintrieb, eine Grenze, einen so offenen Druck französischer
Begehrlichkeiten, daß er jede Einigung mit Österreich vorgezogen
haben würde; sein Eingehen auf die Mission Gablentz im Mai beweist,
daß für gewisse Möglichkeiten ein dualistischer Ausgleich
Österreich-Preußen auf der ganzen Linie von ihm erwogen wurde.
Wenn man in Paris noch um den 1. Juni in italienfreundlichen Kreisen einen
offiziösen Versuch machte, ein Angebot nicht nur der französischen
Neutralität, sondern sogar des französischen Bündnisses,
allerdings gegen Abtretung der Mosellinie, an Bismarck heranzubringen, so war
der Erfolg derselbe wie vorher. Bismarck ging mit freier Hand, ohne
Kompensationsverpflichtung in den Krieg, und Napoleon nahm es hin, weil er
fürchtete, durch stärkeren Druck die Sache des Krieges in Berlin zu
verspielen, und weil er im Stillen hoffte, daß Preußen ohnehin durch
den Verlauf des Krieges genötigt werden würde, seine rettende Hand
zu ergreifen.
Dagegen gelang es Napoleon, den Österreicher vertragsmäßig
zu binden. Am 3. Juni deckte er sein ganzes mit Preußen geführtes
Spiel auf und erklärte es für abgeschlossen: "Ich habe das Vorgehen
Preußens zugelassen, weil ich mir sagte, daß, wenn der Augenblick
käme, sich mit mir zu verständigen, man mir eine goldene
Brücke bauen würde. Die Rheinprovinzen in weiter Aussicht haben
mich lange im Zweifel gelassen, meine Wahl zu treffen." Jetzt sage er sich,
daß er allein durch eine Verständigung mit Österreich zu
gewinnen habe. Der Vertrag, der zwischen Österreich und Frankreich
über die in Italien und Deutschland zu treffenden Neuordnungen
geschlossen wurde, erhielt seinen wahren Sinn durch die mündliche
Erklärung der österreichischen Minister, sie würden keinen
Widerspruch gegen eine Territorialveränderung erheben, die "aus den
Rheinprovinzen einen neuen deutschen unabhängigen Staat machen
würde". Wie die Franzosen eine solche Staatsbildung verstanden, ist bereits
dargelegt worden. Sie hatten für alle Fälle noch eine weitere, die
mittelstaatliche Karte in ihrem Spiel. Auch in München hatten sie von
vornherein zwischen Lockung und Drohung gewechselt. Nach den ersten
Gefechten aber ließ Drouyn de Lhuys den bayerischen Gesandten kommen
und eröffnete ihm: das beste wäre, wenn "diejenigen
Mittel- und Kleinstaaten, welche eigentlich das Herz [82] Deutschlands bildeten",
Bayern an der Spitze, einen Bund bilden würden, mit Ausschluß von
Preußen und Österreich, welche beide den bisherigen Bund seit
seinem Bestehen zu egoistischen Zwecken benutzt und ihre Genossen
mißhandelt hätten: diese Gruppe habe die französischen
Sympathien. Damit gesellte sich zu dem hier österreichischen, dort
preußischen Doppelspiel der Pariser Politik noch eine wohlbekannte dritte
Melodie: das alte Lockwort von dem dritten Deutschland, dessen Leitung
Frankreich nach der Auflösung des Bundes in edler Unparteilichkeit wie in
den Zeiten des Rheinbundes zu übernehmen bereit war. So waren vom
Kaiser der Franzosen die Karten zu einem Spiele gemischt, das wie in
vergangenen Jahrhunderten fast in jedem Falle einen sicheren Erfolg
versprach.
Man begreift, daß der Ausbruch des Krieges vielen patriotischen
Gemütern in Deutschland ohnmächtige Verzweiflung erregte; man
mag nachlesen, wie mit ergreifendem Schmerze Friedrich und Luise von Baden
damals ihre Stellung nahmen. Schien doch die ganze an Tiefe und Ernst
unvergleichliche Bewegung zweier Generationen um einen nationalen Staat nun
auszumünden in einen Bruderkrieg, dessen Ausgang nicht abzusehen war.
Schon allein die Tatsache, daß Preußen, um den Krieg auf dem
entscheidenden Schauplatz mit dem höchsten Aufgebot seiner Kräfte
führen zu können, das Rheinland von Truppen völlig
entblößte, wirft ein grelles Licht auf das unerhörte Wagnis des
Kriegsspiels, dem das letzte Wort des deutschen Schicksals anvertraut war.
Napoleon rechnete mit dem Siege Österreichs als des vermeintlich
Stärkeren, aber auch wenn die beiden Vormächte sich auf den
Schlachtfeldern Böhmens matt rangen und der Kampf sich unentschieden
hinzog, dann war er es, mit seinen frischen Kräften in der Hinterhand, der
den Großen den Frieden diktierte, seinen Anteil am Rheine nahm und die
Kleinen unter den Fittichen des französischen Adlers versammelte. Was in
der Seele des Kaisers die große Rechnung war, die Karte, die alle
Wahrscheinlichkeit für sich hatte zu schlagen, das war für die
Deutschen eine erschütternde Sorge, die ihnen den Atem raubte. Ihre
Geschichte war voll von tragischen Situationen, in denen der innere Hader die
Volksgenossen auseinandergerissen hatte, und ein Feind von außen mit dem
Schwerte dazwischensprang; ob, wenn auch dieses Mal die äußere
Lebensgefahr hinzutrat, noch in letzter Stunde, unter Preisgabe aller Sonderziele,
ein gemeinsamer nationaler Abwehrkrieg denkbar war, mußte ernstlich
bezweifelt werden.
Wenn jemals der im ganzen mehr von Unglück als Glück begleitete
Lauf der deutschen Geschichte die Gunst der Götter erfahren hat, dann
geschah es in der Woche, die in dem Siege von
Königgrätz gipfelte. Der Tag von Königgrätz
war nicht nur Glück: er war Verdienst des Heeres und der Führung.
Er war die Bestätigung der friderizianischen Tradition und des
preußischen Geistes der Befreiungskriege als der ursprünglichsten
militärischen Kräfte, die wir im letzten Jahrhundert hervorgebracht
hatten. Er war die Erfüllung
des [83] Glaubens, den die
Nationalpartei dem in diesen Kräften begründeten Führerberuf
Preußens entgegengebracht hatte. Es war die Rechtfertigung des
unerhörten Wagnisses, das die Politik Bismarcks auf sich genommen: allein
der vollkommene Sieg gab ihm die ganze Absolution und, in demselben
Atemzuge, die höchste Stellung in der deutschen Geschichte. In wenigen
Tagen, bevor die Menschen das Dunkel, durch das sie hindurchgeführt
wurden, recht eigentlich begriffen hatten, durfte man sich sagen, daß man
dem Lichte wieder entgegengehe.
Alles aber, was für die Deutschen an diesem Tage entschieden ward, war
gegen die Franzosen entschieden. Der niederschmetternde Eindruck des
Donnerschlages von Sadowa bestand darin, daß die weitausschauenden
Pläne des napoleonischen Eroberungsspieles, an dem die Nation mit
gespannter Erwartung teilgenommen hatte, zerrissen seien, und vor allem,
daß die deutsche Nationalbewegung, die man als eine Saat der Zwietracht
hatte nutzen wollen, nunmehr als eine unwiderstehliche Kraft der Einheit an den
Grenzen Frankreichs ihr Haupt erhob. Wenn Napoleon jetzt auf Anrufen Kaiser
Franz Josephs als Schiedsrichter dazwischentrat, mußte er sich, nach
kurzem Schwanken, begnügen, die Vermittlung ohne gleichzeitige
militärische Handlung zu unternehmen, in der Hoffnung, wenigstens einen
Teil seines Programms zu retten.
Die große Gefahr hatte für Bismarck ihre todbringende Seite
verloren, aber sie barg noch die schwerste Sorge. Denn die Intervention des
Kaisers der Franzosen bezog sich nicht nur auf den Feldzug in Böhmen und
den Frieden mit Österreich, sie erstreckte sich vor allem auf die
künftige Ordnung der deutschen Dinge, auf das ganze Programm, um
derentwillen Bismarck den Krieg herbeigeführt hatte, und auf die Frage der
Kompensationen. Jetzt, nachdem die innerdeutsche Kriegsentscheidung schon
gefallen, trat der Schatten des Kaisers in die Mitte des deutschen Lebens, bereit
sein Schwert in die Wagschale zu werfen. Es ist äußerst bezeichnend,
wie Bismarck in dem Augenblick, wo die dunkle Wolke im Westen aufstieg,
sofort sein deutsches Programm der unerwarteten Lage anzupassen suchte. Er
machte schon am 8. August den höchst bismarckischen Versuch, den
Bayern, mit dem eine Begegnung im Felde noch nicht stattgefunden hatte,
jählings auf die preußische Seite herüberzureißen, um
möglichst sofort der französischen Gefahr auf einer nationalen Linie
entgegenzutreten; er bot dafür - wie schon im Frühjahr des
Jahres - innerhalb einer gemeindeutschen Organisation eine
präponderante Stellung Bayerns im Süden, gleichsam als
süddeutscher Juniorpartner neben der preußischen Führung in
Norddeutschland, und deutete seine Bereitschaft zum Verzicht auf Annexion an.
Auf Verbreiterung der nationalen Front und Verminderung des Risikos kam es
ihm an. Das Ganze blieb nur eine Episode, da die Bayern, ihrer Partei treu
bleibend, den überraschenden Antrag ablehnten, aber eine Episode, die
einen Beweis liefert, wie elastisch im Moment und im einzelnen die in ihrem
großen Zuge so machtvolle und skrupellose Staatskunst sein konnte, und
wie sie [84] ihr Bild der deutschen
Zukunft immer nach dem Maße seiner Durchführbarkeit zu gestalten
suchte, die Form geringachtend und den Inhalt über alles stellend.
Inzwischen hatte Napoleon, innerlich zusammenbrechend, sich eingestehen
müssen, daß er das diplomatische Wirrsal nicht meistern
könne, und zunächst alles daran gesetzt, der Kriegführung
möglichst schnell ein Ziel zu setzen, um die Gesamtlage nicht zu
verschlechtern und seine Intervention nicht zum Spotte Europas werden zu lassen.
Dabei fand er sich bereit, in das Ausscheiden Österreichs aus dem
Deutschen Bunde zu willigen, wenn nur der Süden aus der künftigen
Neuordnung herausbliebe; mochte Preußen dabei seinen Gewinn in
norddeutschen Gebietsvergrößerungen suchen. Im Laufe des Juli
entschloß sich auch Bismarck, den Frieden in dieser erreichbaren Form
anzunehmen: Österreich keine weitere Forderung als den Austritt aus dem
Bunde aufzuerlegen, die deutsche Neuordnung auf Norddeutschland und die
Annexionswünsche seines Königs auf die politisch zu
rechtfertigenden Gebiete zu beschränken, und die Kompensationsforderung
Napoleons, die eigentliche Kraftprobe, möglichst lange hinzuhalten.
Für den Kaiser war es der einzige Ausweg, den Prozeß der deutschen
Einigung, den seine Begehrlichkeit im Vorstadium so kurzsichtig gefördert
hatte, wenigstens dadurch abzubiegen, daß er ihm eine für Frankreich
und das Prestige des kaiserlichen Thrones erträgliche Grenze setzte; wenn
die preußischen Annexionen dabei in Norddeutschland weiter ausgriffen,
mochten sie um so mehr seiner späteren Kompensationsforderung zur
Rechtfertigung dienen; dann konnten Mainlinie und rheinische Kompensation
immerhin den Franzosen als eine Frucht seines Dazwischentretens empfohlen
werden.
Für Bismarck
war es ein schwerer Entschluß, einen Frieden
anzunehmen, der für die gesamtdeutschen Geschicke nicht das letzte Wort
sprach - was mit Napoleon in der Flanke nicht zu erreichen
war -, sondern eine Halbheit und eine Vertagung bedeutete. Es ist bekannt,
daß Moltke
damals den heroischen Plan vertrat, den preußischen
Siegeslauf fortzusetzen und neben dem
österreichisch-süddeutschen Krieg auch den Krieg gegen Frankreich
auf sich zu nehmen, um den politischen Höchstpreis heimzutragen.
Bismarcks Weitblick und Verantwortungsgefühl warf sich solchem
Heroismus, der alles hätte gewinnen, aber auch alles hätte verlieren
können, entgegen, und gewann in schwerem Kampfe auch den König
für seine Politik. Mochte er der Questenberg im Lager heißen, er
wußte, daß der Einsatz eines solchen militärischen Spiels das
ganze deutsche Schicksal war: es war nicht eine Sache des persönlichen
Mutes, sondern eine Sache der Verantwortlichkeit für die deutsche
Volksgemeinschaft, die den Ausschlag gab. Die preußische Führung
war nicht für das ganze Kleindeutschland erkämpft, sondern wurde,
in erneuter Verkürzung, nur über vier Fünftel dieses
Kleindeutschlands erstreckt, aber wenn sie sich bewährte, konnte ihr auch
das letzte Fünftel nicht entgehen. Es war ein Friede des Maßhaltens,
auf der Diagonale der eigenen und gegnerischen Kräfte sorgfältig
abgewogen, der Gunst einer [85] vergänglichen
Stunde abgerungen und doch mit der inneren Anwartschaft auf die baldige
Vollendung ausgestattet.
Die preußischen Annexionen des Jahres 1866 sind keineswegs ein
prinzipielles Glied der Neuordnung, sie erfolgen auch nicht, wie es in Italien bei
den landfremden Dynastien der Fall war, zugunsten der Nation, sondern eines
Einzelstaats. Sie beseitigen keineswegs diejenigen Mittelstaaten, die am heftigsten
sich dem preußischen Machtwillen entgegengeworfen und die
österreichische Partei ergriffen hatten, sondern die Auswahl geschah, ohne
daß Bismarck einem Motiv der Rache oder Strafe in der Seele des
Königs Raum verstattet hätte, ausschließlich unter einem
opportunistischen, geographischen Gesichtspunkt. Indem außer
Schleswig-Holstein, über dessen Existenz die Staatsräson bereits in
einem frühern Stadium hinweggeschritten war, das Königreich
Hannover, das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und die freie
Stadt Frankfurt ihrer Souveränität beraubt wurden, waren nur solche
Gebiete betroffen, die sich zwischen die östlichen und die westlichen
Provinzen Preußens einschoben. Preußen hatte seit dem Jahre 1815 es
als eine Belastung seiner großmächtlichen Stellung empfunden,
daß es in zwei Gebiete ohne territorialen Zusammenhang zerrissen war und
im Ernstfalle durch gegnerische Mittelstaaten inmitten seines Machtbereiches
bedroht werden konnte. Es war also nichts anderes als ein Akt der
preußischen Staatspolitik, der in diesen Annexionen einen machtpolitischen
Schönheitsfehler beseitigte, nicht aber eine deutsche Notwendigkeit.
Vielmehr läßt sich denken, wenn Napoleon sich nicht so drohend mit
seiner Intervention dazwischengestellt und nicht eine Beschränkung des
preußischen Waffenerfolges auf Norddeutschland erzwungen hätte,
daß dann eine deutsche Neuordnung unter Preußen, ohne Mainlinie
und ohne Annexionen (zur Not mit geringfügigen Gebietsabtretungen), sich
wohl hätte durchführen lassen. Insofern half Napoleon, indem er
nach Süden abriegelte, mittelbar auch den preußischen Machtwillen
auf eine egoistisch-partikularistische Vergrößerung abdrängen,
in der Hoffnung, ihm dadurch den gefährlichen Weg zur deutschen Einheit
zu verlegen.
Die Annexionen fielen in einen Moment, wo die Züge in der
zukünftigen Lebensform Deutschlands sich noch nicht enträtseln
ließen. Wenn die Dinge wirklich auf ein Großpreußen in
Norddeutschland hinausliefen, dann mochte allerdings das jenen Fürsten
zufallende Los auch den übrigen auf die Dauer nicht zu ersparen sein, und
die alte Frage, ob aus dem Hochadel Lords oder Souveräne deutscher
Nation werden sollten, durch dieses Menetekel endgültig zugunsten der
ersten Möglichkeit entschieden sein. Aber es wirkten doch manche
dynastische, auch außenpolitische Rücksichten zusammen, daß
die Annexionen die Ausnahme blieben, eine einmalige und auf diesen
geographischen Kreis beschränkte Maßregel. Sie tragen in jeder
Weise den Stempel einer Übergangsentscheidung, die durch die
Vergangenheit und den Moment stärker bestimmt wurde als durch die
Bedürfnisse der Zukunft. Eine bleibende Nachwirkung [86] hatte sie nur in
Hannover, wo ein Widerstand von Teilen der Bevölkerung sich mit dem
Stolz eines der ältesten Geschlechter des deutschen Hochadels
verband - das allerdings in den folgenden Jahren viel von seinem alten
"Rechte" verwirkte -, um eine noch lange sich erhaltende
Oppositionsstellung zu beziehen.
Der preußische Staat, der noch einmal mit seinen eingeborenen
militärischen Kräften gesiegt hatte, hat auch die Früchte des
Sieges nicht allein im gesamtdeutschen Sinne, sondern zugleich im rein
preußischen Sinne zu pflücken verstanden. Aber es geschah doch in
derselben Stunde, wo der preußische Staatsmann zu einer über den
Augenblick hinausreichenden rein deutschen Politik überging und die
preußische Linie seiner Entwicklung verließ. So nahe berühren
sich verschiedene Motivenreihen in demselben politischen
Charakter - ein erstes Anzeichen dafür, daß Preußen, in
die deutsche Führung aufsteigend, eine neue Grundlage für die
Prinzipien seiner Außenpolitik aufsuchen muß.
Denn nunmehr kam die lange hingehaltene Kompensationsforderung Napoleons
endlich zu Worte. Unmittelbar nach dem Nikolsburger Vorfrieden setzte,
eingeleitet durch ein anmeldendes Vorspiel vom 26. Juli, die
Auseinandersetzung mit Frankreich ein. Noch ehe Kaiser Napoleon seinen
Zusammenbruch völlig überwunden hatte, ließ er sich von
seinem Minister Drouyn de Lhuys zu einer Kompensationsforderung verleiten,
wie sie nach Bismarcks vernichtendem Urteil nur "die Folge eines verlorenen
Krieges hätte sein können", jetzt aber, in einer unbegreiflichen
Verkennung der Sachlage, dem Sieger abgenötigt werden sollte. Frankreich
forderte, als Kompensation für die innerdeutschen Veränderungen,
die Grenzen von 1814 (Saarbrücken und Landau), Luxemburg, die
bayerische Pfalz und Rheinhessen einschließlich Mainz. Es war der
Mittelrhein, große blühende reindeutsche Landschaften, reiche und
fruchtbare Kulturgebiete, deren Erwerbung durch Mainz, den Schlüssel
Deutschlands, als eindeutig offensiv im strategischen Sinne gekennzeichnet war.
Diese Forderung, am 5. August 1866 in Berlin unterbreitet, ist zu einem
Wendepunkt der neueren Geschichte geworden.
Kaiser Napoleon ließ alle realistische Vorsicht fallen, die ihn immer wieder
vor einer offenen Rheinoffensive zurückgeschreckt hatte, und glaubte es
wagen zu können, seine Zustimmung zu der innerdeutschen
Umwälzung an diese ungeheuerliche Erpressung zu knüpfen; sein
Minister meinte sogar die schlechte Sache durch das vertrauliche
Geständnis zu fördern, ohne "reelle" Kompensationen bestehe eine
Gefahr für Thron und Dynastie.
Bismarck
bezeichnete die Forderung sofort als unannehmbar, auf jede Gefahr hin.
Napoleon hatte im wesentlichen (abgesehen von Saarbrücken)
nichtpreußisches Gebiet gefordert, aber er stieß jetzt auf einen
Gegner, der zwischen preußisch und deutsch keinen Unterschied mehr
kannte: in diesem Augenblick ging der preußische Minister, der soeben
noch in den Annexionen preußische Staatspolitik alten Stils getrieben hatte,
völlig in den deutschen Minister über, [87] der das Gefühl der
vollen nationalen Verantwortlichkeit und die Gewißheit hatte, daß die
Nation geschlossen hinter ihm stehen werde. Also erklärte er dem Grafen
Benedetti, daß der Kaiser der Franzosen nur auf dem Wege des Krieges zu
seinem Ziele kommen würde und: "que ce serait une guerre à
coups de révolution". Er war entschlossen, äußerstenfalls
die Nation selber, aus dem kaum befriedeten Bürgerkriege heraus,
aufzurufen, und den Nationalkrieg, wenn es sein mußte, auf der Grundlage
der Frankfurter Reichsverfassung, zu entfachen - durch diese Vision
verband der preußische Junker seine geschichtliche Stellung mit jenem
ersten revolutionären Anlauf zum deutschen Nationalstaat im Jahre 1848.
Gleichzeitig nützte er die Gunst des unvergleichlichen Moments, um die
von Frankreichs Begehrlichkeit unmittelbar bedrohten süddeutschen
Staaten zum schleunigen Friedensschluß unter mäßigen
Bedingungen, und dann zu jenen Schutz- und Trutzbündnissen vom 10.
August zu veranlassen, mit denen die große Wendung zur deutschen Einheit
vollzogen wurde. Napoleon aber verspielte in einer Woche, dem Gegenspieler
selber die tödlichsten Trümpfe in die Hand liefernd, nicht nur seine
deutschen Kompensationsträume, sondern zugleich seinen ganzen
mittelstaatlichen Kredit. Freilich, nur im Augenblick wich er zurück. Aber
seine tatendurstige Gemahlin tröstete den österreichischen
Botschafter: "Wenn Frankreich einmal an die Idee des Rheins rührt, dann
wird es, glauben Sie mir, diese Idee ebenso sicher verfolgen, wie Ihr die andere."
Die Dinge waren in dieser Stunde schon so zugespitzt, daß man nicht hoffen
durfte, die letzte Phase bis zur Vollendung des kleindeutschen Reiches in Frieden
zurückzulegen.
In diesen Augusttagen sind die großen Entscheidungen im Grunde alle
vorweggenommen. Preußen stellte, getreu den mit seiner Rheinstellung auf
dem Wiener Kongreß übernommenen Verpflichtungen, seinen Schild
vor den deutschen Rhein, und schuf, indem es die französischen
Forderungen abwehrte, die Bündnisse, die vier Jahre später auf
französischem Boden sich bewährten. Im Augenblick, wo
Österreich aus dem Bunde ausschied und die unvermeidliche Spaltung des
Gesamtdeutschtums zur Tatsache wurde, lieferte die triumphierende kleindeutsche
Staatsidee, so ungeordnet und unfertig auch noch ihre Elemente
durcheinanderwogten, doch schon den Beweis, daß sie gegen einen durch
nichts begründeten feindlichen Anspruch stark genug sei, die Sache der
Nation zu vertreten.
Aber durch welche Erschütterungen war das deutsche Gesamtschicksal im
Sommer 1866 hindurchgeschritten! So unbedingt auch von der Mehrheit der
Nation die Trennung von Österreich als eine realpolitische, in einer
säkularen Entwicklung begründete Unvermeidlichkeit anerkannt
wurde, so war es doch das förmliche und anscheinend endgültige
Zerschneiden eines Bandes, das seit den Anfängen unserer Geschichte die
Stämme der Nation in wechselvoller Lebensgemeinschaft fest umschlossen
hielt. Gewiß blieb alle geistige und seelische
Ver- [88] bundenheit auch jetzt
ungestört erhalten. Nie hätte das schon von den dichterischen
Erinnerungen der Nibelungenfahrt verklärte Land, in dem Walther von der
Vogelweide singen und sagen gelernt hatte und der Stefansdom in Wien als eine
späte und süße Frucht der deutschen Gotik im Südosten
aufragte, uns innerlich fremd werden können; wenn auch Grillparzer
zugleich ein österreichischer Dichter unter den deutschen Dichtern gewesen
war, so war der Klang, der von Mozarts und Schuberts Harmonien ausging, nicht
an die Grenzen innerhalb des Deutschtums gebunden. Und doch begann dieses
Österreich, das sich längst in vieler Hinsicht zu einer Welt für
sich entwickelt hatte, durch die Trennung tiefer von uns geschieden zu werden;
die an Ehren und Siegen so reichen sechs Jahrhunderte habsburgischer
Geschichte, an denen alle deutschen Stämme mitgearbeitet hatten, drohten
sich dem gesamtdeutschen geschichtlichen Bewußtsein leise zu entfremden,
und die alte deutsche Kaiserstadt Wien, deren barocke Pracht auch das
europäische Gesicht des Habsburgerstaates im 17. und
18. Jahrhundert widerspiegelte, wurde zur Hauptstadt einer
europäischen Großmacht und zum großstädtischen
Zentrum der Lebenskultur des Südostens. Die besonderen Interessen aber,
die das Donautal, die deutschen Alpenländer, die Sudetendeutschen mit der
Habsburgischen Monarchie und ihren Aufgaben im Südosten verflochten,
waren fortan nicht mehr durch die lockere Verbindung mit dem Deutschen Bunde
in einem Gleichgewicht gehalten - vom politischen Leben ausgehend,
mußte sich die Schale allmählich nach der einen Seite senken.
Wer den ganzen Gang der deutschen Geschichte überdenkt, steht immer
wieder vor der Tatsache, daß das Volk in der Mitte Europas von dem Erbgut
seines Bodens und Volkstums abgibt, anderes dafür, seinen Schwerpunkt
verschiebend, zurückgewinnt - war dieser Verlust nicht tiefer und
schmerzlicher als alle anderen? Wie konnte es anders sein, als daß der
bayerische Stamm den Schnitt beklagte, der die einstige Herauslösung des
Herzogtums Österreich aus dem bayerischen Stammesherzogtum im Jahre
1156 zu einer Trennungslinie zwischen europäischen Mächten
vertiefte: daß vollends der deutsche Katholizismus mit brennendem
Schmerze empfand, daß dieser Trennungsschnitt wesentlich durch
Körper und Seele der katholischen Volkshälfte ging, und darum eine
solche Entscheidung nicht als endgültig hinnehmen wollte?
Auch wer sich vor den realpolitischen Notwendigkeiten beugte, die unser
Geschichtsverlauf uns auferlegte, würde sie als unerträglich
verworfen haben, wenn dieses neue "außerösterreichische"
Deutschland, das jetzt seinen letzten Marsch zum Ziel des Nationalstaats antrat,
nicht stark genug gewesen wäre, schon in seiner Geburtsstunde, da es die
Donau aufgab, die Wacht am Rhein gegen alle fremde Begehrlichkeit zu
behaupten und die erzwungene Schranke der Mainlinie mit raschen Schritten zu
übersteigen. Erst die Vollendung des Werkes brachte die geschichtliche
Rechtfertigung des Weges, auf dem es erstand.
|