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[Bd. 2 S. 419]
Franz Schubert, 1797 - 1828, von Richard Benz

Franz Schubert.
Franz Schubert.
Miniatur von Robert Theer, 1829.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 293.]
Da hat man vielleicht an stillem Winternachmittag am Fenster gesessen als Kind, ins Schauen des verschneiten Wiesenhangs versenkt: über schwarzen Weiden am erfrorenen Bach flogen die Raben – leise Trauer unbegreiflicher Welt. Und da sangen aus dem Hintergrund des Zimmers Stimme und Klavier "Ich komme vom Gebirge her" – und es ist Einklang von innen und außen in plötzlich begriffener Welt; als wäre im "Wanderer" schon die ganze "Winterreise" enthalten, die erst der Mensch versteht, der Abschied nimmt.


Da ist man später im Tal unter blühender Linde am klingenden Brunnen gestanden – drüben zwischen Bauernhöfen aus dem schmalen Schulhaus mit dem Glockentürmchen tönt durch die hohen Kastanien, die es ganz einhüllen, Musik: Streichmusik – Quintett. Das Klingen des Brunnens, das Singen der Musik, das Rauschen des Baches verwebt sich wunderbar zu einem Gesang: dem Gesang deutscher Landschaft. Und diese irdische Landschaft wird nie sterben, lebt ewig in den Jenseits-Stimmen verklärten Saitenspiels.

Und da ist im Konzertsaal der Stadt aus rauschenden Instrumenten zum erstenmal zu uns herniedergestiegen der Allgeist der C-dur-Symphonie – welche Pforten riß er auf mit den ersten Tönen des einsamen Horns? Das Tor ging auf zu einer Welt, die wir aus einer Urheimat der Seele längst zu kennen meinten, die geheim und stumm schon immer da war: und doch nun plötzlich aus der Ewigkeit für uns in klingendes Leben geboren ward und diese Erde uns um einen Himmel weiter und reicher macht.


Wer war der Mensch, der dies zu tragen und zu sagen begnadet war? Ist er wirklich unser einer gewesen? Hat er gekämpft, gelebt; hat er geliebt, gelitten? Kann uns ein Schicksal das Geheimnis seines Werks enthüllen?

Er ist sehr still und unerkannt über diese Erde gegangen. Und sein Leben lehrt uns nichts, was nicht in jedem Ton seiner Musik deutlicher enthalten wäre. Er gehört zu den Auserwählten, Gezeichneten, die gar kein eigenes Leben leben können und dürfen, da es ganz verzehrt ward und zu Asche verglüht von der Flamme des Genius, die unbegreifliche Fügung gerade hier entzündete.

[420] Das höhere eigentliche Wesen erzeigt sich bei Schubert in seinem persönlichen Leben so wenig wie sonst nur bei Bach: er ist, wie dieser, im Grunde anonym. Ja er hat zu seinen Lebzeiten nicht einmal wie dieser den Ruhm des großen technischen Könners und Virtuosen besessen; seine Kunst hatte in dieser Welt kein Amt, weder ein kirchliches noch ein gesellschaftliches kulturelles, wie es doch Händel, Gluck und Haydn und Mozart noch beschieden war; sie hatte keine Wirkung und Sendung wie doch selbst des einsamen ganz auf sich gestellten Beethoven Kunst.

Und so müßte man eigentlich von ihm so schweigen, wie die Natur gleichsam mit ihm schwieg, da sie ihm nur zu reiner Musik und sonst zu nichts die Lippen öffnete – hätte nicht gerade diese Verborgenheit und Unerkennbarkeit die Menschen gereizt, sich einen legendären Schubert mit einem Ersatz-Leben zu erdichten, darin das Alleräußerlichste und Bedeutungsloseste, dessen man habhaft werden konnte, zum Kern und Wesen seiner Persönlichkeit und Kunst erhoben ward. Es bedarf eines Schubert-Bildes, da es von keinem unserer großen Meister ein solches Zerrbild gibt, wie es von Schubert ins populäre Bewußtsein und in eine alle andern übertreffende Weltgeltung einging.

Auch hier ist der Ausgangspunkt ähnlich wie bei Bach: wie man diesen einen Meister des Barock genannt hat, weil er Perücke und Kostüm barocker Mode trug, so hat man Schubert dem Biedermeier zugezählt, jener letzten Veranstaltung eines beschaulich-heiteren, treuherzig-bescheidenen Lebensgenusses, in welche sich auch der Mensch der Maschinenzeit noch gern zu seiner Erholung versenkt. So ist er in den Roman, so ist er in Film und Operette eingegangen: als der Wiener Bohémien, der mit lustigen Gesellen seine Tage und Nächte verbrachte, das Leben leben ließ, zum Tanz aufspielte, Ständchen sang und seine Armut und sein ungeschicktes Äußeres im Wein zu vergessen suchte.

Aber dieses Mißverständnis seines Wesens und Lebens ist im Grunde nicht schlimmer als das Mißverständnis seiner Musik; und beides zeigt zuletzt nur, vor welchem bedrückenden Rätsel und Geheimnis man sich durch alle jene Profanierung und Entstellung förmlich retten mußte. Diese Klänge, der Seele eines Mystikers entsprungen, als was wirkten sie? Sie wirkten noch, herausgerissen aus dem Organismus seines Werks, als Äußerstes von schlagender, zündender, unterhaltender Melodie: so ursprünglich waren sie Musik, und nichts anscheinend wie Musik: Volksmusik, wie man sie immer geträumt und nie in aller Wirklichkeit erfahren hatte.

Daß den zum Geräusch verdammten, zu keiner Kunst mehr erzogenen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts in der verkitschtesten Form noch die Macht der Schubertschen Melodie berührte, das hieß zuletzt, daß ihn auf rätselhafte Weise die Ewigkeit überfiel und ein Göttliches von Ursprung und Echtheit über ihn kam, Erbgut wahrhaft deutschester Natur, wie es in keinem anderen Musiker je lebte.

[421] Und damit haben wir unwillkürlich schon Schuberts innerstes Wesen und seine eigenste Stellung berührt: er ist gar nicht "Kultur", gehört zu keiner Kultur und spiegelt keine Kultur – er ist Natur, wie sie in der Musik, der aus der Fremde kommenden Kultur-Kunst, plötzlich hervortritt, nachdem alle Kultur durchlaufen ist, heiße sie Gotik oder Barock, Renaissance oder Klassik, bedeute sie griechische Tragödie wie bei Gluck oder germanisches Heldentum wie bei Beethoven – in Schubert singt eine ältere Welt, eine reine Seelenwelt, der Natur und dem Leben noch verschwistert in uralt-kosmischer Harmonie. Und es war nur die Tragödie – nicht Schuberts, sondern der nach ihm folgenden deutschen Welt – daß man den größten Visionär eines zeitlosen Seelentums als harmlosen Sänger und Spielmann nahm, der nicht religiös erschütterte und verwandelte, sondern ergötzte und unterhielt. Nie hat die sinnlich-übersinnliche Macht einer Kunst dem Erleben und Erfassen ihres geistig-seelischen Werts und Wesens so im Weg gestanden wie in Schuberts Fall.

Anderes frömmeres Mißverständnis kam hinzu. Der Legende vom gemütlichen, heiter genießenden Schubert ist die Legende vom unvollendeten Schubert gesellt – sie beweist und bezeichnet nur, wie fremd und geheim Schuberts inneres wirkliches Leben, seine wirkliche höchste Musik selbst seinen nächsten Freunden war und blieb. Einer von ihnen, der Dichter Grillparzer, der etwas von Musik verstand, konnte für Schuberts Grabstein die unbegreiflichen Worte entwerfen:

      "Der Tod begrub hier einen reichen Besitz,
      aber noch schönere Hoffnungen!"

Zum Symbol dieses "unvollendeten" Schöpfers ward später die unvollendete h-moll-Symphonie erkoren; von der schon mancher sicherlich bedauerte, daß sie nicht in Schuberts Todesjahr entstand. Dennoch ist, nicht für heute, aber für jene früheren Zeiten, die Trauer um den Unvollendeten begreiflich als Legende verzagten Jüngertums, das angesichts der plötzlichen Zerstörung scheinbar unerschöpfter Schaffenskraft das Geschaffene nicht in der Vollendung erblickte, welche die unmittelbar gefühlte und hundertfach bezeugte Gegenwart des Genius ihnen verhieß – sie mußten glauben, daß sie einen Werdenden zu Grabe trugen, den ein sinnloses Geschick beim Aufstieg zum höchsten Ziel zerschmettert hatte.

Denn diese Freunde und Mitlebenden kannten den ganzen und wahren Schubert nicht: sie hörten seine Ländler und seine Lieder, erlebten sein Scheitern mit der Oper – seine Symphonien kannten sie nicht: keine ist je zu seinen Lebzeiten erklungen. Elf Jahre nach Schuberts Tod ließ ein glücklicher Zufall Robert Schumann die C-dur-Symphonie unter alten Papieren bei Schuberts Bruder finden, und die h-moll-Symphonie kam gar erst 1865 ans Licht!

Inzwischen war der Ruhm von Schuberts Lied in die Welt gedrungen; und da die Menschen insgemein nur eines Begriffs für die ihnen erscheinende Größe fähig sind, so schloß die überragende Bedeutung des Liederkomponisten [422] die annähernd gleiche oder gar höhere Geltung des Instrumentalkomponisten fast notwendig aus.

Dieses falsche und unzulängliche Bild Schuberts hat sich trotz seiner Weltgeltung oder vielmehr gerade wegen der seltsamen Art seiner Popularität fast unverändert erhalten bis auf den heutigen Tag; nicht nur im "Volk" (zu dem der Großteil der Gebildeten hier gehört), auch bei den sogenannten Musikalischen zeigt sich meist eine erstaunliche Ahnungslosigkeit von Schuberts wahrem Rang.

Wie oberflächlich ist schon die immer wiederkehrende Rede von Schuberts angeblichem "Ur-Wienertum"! Gewiß, Schubert ist in Wien geboren, hat sicherlich auch die musikalische Atmosphäre dieser Stadt getrunken, nicht anders wie er ihn Umklingendes aus Böhmen, Mähren, Ungarn aufnahm. Aber weder sein Vater noch seine Mutter stammen aus Wim – der Vater ist aus Mähren eingewandert, wohin sein Großvater aus Schlesien zog; und Schlesierin unmittelbar ist auch Schuberts Mutter gewesen. Damit gehört er für unsere Begriffe von Volkstum doch in eine sehr andere geistige Ursprungsschicht. Denn schöpferisch ist Schlesien das Land einer volkhaften Mystik, wie sie auch nach dem Mittelalter hier weiterlebte: naturhaft-denkerisch etwa in Jakob Böhme, als christliche Versenkung in Angelus Silesius, oder noch im achtzehnten Jahrhundert im Pietismus Zinzendorfs, der die Überlieferungen der alten Böhmisch-Mährischen Brüderkirche erneuert. Stärker als nach Wien weist diese schlesisch-böhmische Geisteshaltung nach dem nördlichen Osten: tief religiöse und musikalische Naturen sind diesem gesamten "Ostraum" entsprungen, von Hamann und Herder und E. T. A. Hoffmann, den Ostpreußen, bis zu den Lausitzern Fichte und Schleiermacher. Und wenn es einen Dichter gibt, in dem etwas von Schubert lebt, so ist es der kaum zehn Jahre ältere Schlesier Eichendorff – er ist auch 1810 bis 1813 Schuberts Landsgenosse in Wien; und wie er in seinem "Taugenichts" und den andern romantischen Romanen die damaligen "Musikanten" sieht mit ihren Serenaden und Donaufahrten, das malt ein etwas anderes Bild als landläufiges Biedermeiertum es kennt. Denn es gibt außer dem lebenslustigen noch ein anderes Wien, das gerade die ernsteren schwerblütigeren Nord- und Ostdeutschen anzieht: man darf da auch an die romantischen Maler erinnern, an den pommerschen Kreis der Runge und Caspar David Friedrich, der nicht zufällig (nach Dresden zu) sich südlich zieht und dessen eines Mitglied, Klinkowström, in Wien 1814 katholisch wird. Es ist in Wien, wo der konvertierte Friedrich Schlegel die Losung einer christlich-mittelalterlichen Malerei ausgibt, wo der Lübecker Overbeck 1806 mit seinen Freunden die Lucas-Bruderschaft gründet, die später in Rom sich als die Bruderschaft von S. Isidoro erneut: ihrem Kreise gehört später einer von Schuberts vertrautesten Freunden, der Maler Kupelwieser an, dem Schubert nach Rom seine innersten Seelensorgen schreibt.

Nicht das Stofflich-Religiöse, aber der durchgehende mystische Zug verbindet Schubert mit Naturen wie Eichendorff und Caspar David Friedrich und noch den [423] Nazarenern tiefer als mit gebürtigen Wienern wie Schwind. In einer früheren Zeit des Barock hätte er vielleicht sogar zum ausgesprochen christlichkirchlichen der Musik sich hinziehen lassen, wenn für ihn nicht schließlich Wien die Stadt eines andern freieren umfassenderen Geistes gewesen wäre: Beethovens Stadt. Aber das ältere naturhaft Heidnische lag ihm von seinen Vorfahren wohl schon im Blut, wie Haydn auch an der Grenze von Böhmen und Ungarn es empfing – die Wanderung von Schuberts Ahnen von Schlesien nach Wien, durch Mähren ist umklungen von jenem Wunder slawisch-deutscher Naturmusik, wie es schon in Glucks Kindheit und Jugend entscheidend ward.

Von Mährisch-Neudorf, wo Schuberts Großvater als Bauer und Ortsrichter lebte, geht Franz Schubert der Vater zu seiner Ausbildung als Lehrer nach Wien und lernt dort zunächst bei seinem älteren Bruder Karl, der schon in der Leopoldstadt eine Lehrerstelle innehat. Wie wenig die alten Familienbeziehungen zu Schlesien abgebrochen waren, erweist sich darin, daß er ein in Wien bedienstetes Mädchen aus demselben schlesischen Ort Zuckmantel zur Ehe nimmt, von welchem der Urgroßvater Schubert einst ausgewandert war. Von den vierzehn Kindern der 1785 geschlossenen Ehe ist Schubert der jüngste Sohn; er wird am 31. Januar 1797 im Schulhaus zum Himmelpfortgrund in Lichtental geboren.

Fast so früh wie bei Mozart zeigt sich bei Schubert die musikalische Urbegabung – als man den Siebenjährigen regelrecht in der Musik zu unterrichten beginnt, erweist es sich, daß er schon in heimlichem Probieren und Üben sich angeeignet hat, was man ihn lehren will. Bald geht es vom brüderlichen Klavierunterricht und vom väterlichen Unterricht in Geige und Streich-Ensemblespiel zur gediegeneren handwerklichen Unterweisung in Harmonielehre und angewandtem Singen und Setzen beim Chorregenten von Lichtental, Michael Holzer; der aber wieder versichert von ihm, Schubert habe alles schon gewußt – er hätte ihm eigentlich keinen Unterricht gegeben, sondern sich bloß mit ihm unterhalten und ihn stillschweigend angestaunt.

Mit dem elften Jahr wird Schubert Sängerknabe in der kaiserlichen Hofkapelle und kommt zugleich als Zögling ins städtische Konvikt. Und hier nun lernt er mitspielend im Konviktistenorchester in täglichem praktischem Umgang die Meisterwerke von Haydn und Mozart kennen. Haydns Adagios, Mozarts Figaro- und Zauberflötenouvertüre und g-moll-Symphonie reißen ihn ins erste Entzücken hin. Von Beethoven berühren ihn am tiefsten die Zweite und Vierte Symphonie, die seinem Wesen auch wirklich am innigsten entsprechen. Und doch wird alles das verdunkelt, als 1809 – in Schuberts zweitem Konviktjahr – Beethovens c-moll-Symphonie erscheint. Man muß sich vorstellen, wie das nahe Miterleben solcher gewaltiger, plötzlich ins Irdische tretender Geistesoffenbarungen auf einen Empfänglichen, sich eben dem Schöpfertum selber Zuwendenden gewirkt haben muß – "Allein wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen" – dieses Wort, damals zu einem älteren Freund gesprochen, mag lange, mag Jahre hindurch der Refrain in Schuberts Seele gewesen sein. Das größte [424] Denkbare hatte sich ereignet, erhebend und niederschmetternd zugleich – es ist nicht verzweifelnder Ehrgeiz, sondern nachtwandlerische Sicherheit des Müssens, die dennoch nur und gleich am allerhöchsten Vorbild entbrennt. Denn schon strömt es in ihm, und keine Macht der Welt kann es hemmen: er schreibt und schreibt, der Zehn- und Elfjährige schon: Phantasien, Ouvertüren und Quartette; schreibt und vernichtet wieder. Er versäumt die Arbeit in den übrigen Fächern, bleibt in allem außer der Musik zurück, daß er später Mühe haben wird, den vom Vater vorgesehenen Lehrerberuf auch nur für Zeiten zu erfüllen. Nächst den Nahrungssorgen, wie sie der früheste erhaltene Brief an den Bruder bezeugt: da er zur Ergänzung des Unzureichenden um ein paar Kreuzer für Brot und Apfel bittet, ist es die Sorge um Notenpapier, die ihn einzig bedrängt – der ältere Konviktfreund Spaun vermag mit der Stiftung solchen Bedarfs seiner Tätigkeit kaum nachzukommen. Er ringt mit Beethoven, dem groß drohenden Vorbild: es gibt Zeiten, wo er ihn schmäht, ihn des Verfalls der Musik, der "Bizarrerie" beschuldigt, weil er den Zwang loswerden will, ihm gleichzutun. Und es ist von historischer Ironie, daß er am fremden kleineren Vorbild Halt sucht und Kühlung des verwundeten Selbstbewußtseins – denn da ist sein höchster Vorgesetzter in der kaiserlichen Kapelle, Hofkapellmeister und Hofkomponist Salieri – wahrhaft ein Repräsentant noch früheren Schicksals deutscher Musik. Der Italiener, der Schüler Glucks, der einst – wahrscheinlich ohne bösen Willen – Mozart unterdrückte, daß dieser auf dem Totenbett sich von ihm vergiftet wähnte: dieser Altmeister höfisch-barocken Stils, der wirklich etwas kann, er hat das Genie Schuberts gespürt, nimmt sich seiner an zu persönlichem Unterricht; und Schubert dankt es ihm, nicht nur durch das Huldigungsgedicht zum hochgefeierten siebzigsten Geburtstag, bei dem nur Beethoven fehlt, sondern eben durch jenen Tagebucheintrag, mit dem er sich Beethovens mit Berufung auf Salieris "echt Gluckische" Kunst erwehrt.

Und doch hat er inzwischen schon den Weg gefunden, auf dem er der bloßen Nachahmung Beethovens entgeht: während er unermüdlich, aber noch übend gleichsam und uneigen, alle großen Formen der absoluten Musik in Besitz nimmt, setzt er sich selbst, ohne daß es ihn jemand lehrt, ein neues Ziel: das Lied. Hier tritt er in Wettstreit mit einem weniger Großen, dem Liederkomponisten Zumsteeg, dessen ihn anregende Texte er eigensinnig nochmals komponiert und den er bald überflügelt. Der lange Gesang "Hagars Klage" von 1811 eben ist es, der Salieris Interesse erregt, daß er ihn zum Kompositionsschüler annimmt. Und nur noch drei Jahre wird es dauern, da ist das Schubertsche Lied, als eine Genius-Form, die es vorher nicht gab, zur Welt geboren: der 19. Oktober 1814 ist der Tag, da mit "Gretchen am Spinnrad" der Ur-Ton Schuberts ans Licht tritt: jener unverwechselbare Ton, wo nicht die Erfindung der genialen Melodie allein, nach Nietzsches Wort, den

Titelblatt der Erstausgabe von Schuberts ‘'Erlkönig'‘.
[425]      Titelblatt der Erstausgabe von Schuberts "Erlkönig", 1821 (komponiert 1815).
größten "Erbreichtum" an Musik bezeugt, den je ein Meister besaß, sondern wo die Dämonie der Begleitung den eigentlichen neuen Weltsinn spricht, [425] wie er im Unruhe-Rhythmus dieses Liedes schon das unbegrenzte Strömen des a-moll-Quartetts vorausnimmt. 1815 folgten "Der Erlkönig", "Das Heidenröslein", die Ossian-Gesänge; 1816 "Der Wanderer"; 1817 "Der Tod und das Mädchen", "Gruppe aus dem Tartarus"; 1818 "Die Forelle". Und im Jahr darauf kann der Triumphierende im ersten völlig eigenen absoluten Werk, im Forellen-Quintett, lächelnd seine eigenste Erfindung, das Lied, selbstherrlich sich zitieren, wie ein wahrer Schöpfer neuer Natur seine Geschöpfe benennend um sich sammelt.

In dem Maße, daß das Schaffen einzig wird, scheint das Leben abzusinken, unwirklich zu werden: auch wenn es, den biographischen Daten nach, bewegter und erfüllter wird. 1812 schon ist ihm die Mutter gestorben; ihr Tod hat zu einer vorübergehenden Aussöhnung mit dem Vater geführt, der wegen der mangelnden Allgemeinbildung des Sohnes in Sorgen geraten war. 1813 wird das Konvikt verlassen; eine Lehrerbildungsanstalt muß aufgesucht, 1814 der unerwünschte Lehrerberuf ergriffen werden, weil sonst Militärdienst droht, der damals eine Verpflichtung auf vierzehn Jahre bedeutete. Aber schon 1817 erreicht Schubert einen einjährigen Urlaub und ist seitdem nicht mehr in seinen Beruf zurückgekehrt – die Freiheit ist da; wenn sie auch ein Aufsichselbstgestelltsein in Not und Entbehrung bedeutet, wenn sie ihn auch für drei Jahre vollkommen mit dem Vater [426] entzweit. Und hier tritt nun die Schar der Freunde in sein Leben, die ihm fortan als eigentliche irdische Heimat das Vaterhaus ersetzt, wenn er mit dem Vater auch, durch eben diese Freunde, wieder versöhnt wird.

Da ist der älteste Freund, Josef von Spaun, den er noch aus der Konviktszeit kennt, ein Mensch von großer Herzensgüte, der ihm das ganze Leben die Treue hält. Wir verdanken ihm, der neun Jahre älter als Schubert war, die ausführlichsten Nachrichten über die frühe Zeit; und er hat immer wieder tätig helfend in Schuberts Leben eingegriffen: er vermittelt ihm Bekanntschaften, die ihn fördern könnten, wo er es vermag, schreibt an Musikverleger, um seine Sachen unterzubringen, und hat auch Goethe 1817 den berühmten Brief gesandt, in dem er im Namen Schuberts bittet, ihm seine Lieder zueignen zu dürfen... Goethe hat von diesem Brief so wenig Notiz genommen wie später von Schuberts eigenem Dedikationsschreiben 1825. Nächst Spaun sind Franz von Schober und Johann Mayrhofer zu nennen: der eine ein vom Glück begünstigtes Weltkind, von hinreißender Beredsamkeit und Fröhlichkeit; der andre eine schwermütige Natur, innerlich Dichter, der Schubert tiefe Anregung gibt; er lebt in Zwiespalt mit seinem äußeren Beruf, der ihn, den Freiheitliebenden, zum Zensor unter Metternich verurteilt, und hat 1836 seinem Leben durch Selbstmord ein Ende gemacht. Schober ist es, der schon 1816 Schubert seine Wohnung einräumt, als dieser sich vom Vaterhaus verbannt sieht; seit 1817 wohnt Schubert dann mit Mayrhofer zusammen, seit 1821 wieder mit Schober, 1823 gelegentlich wieder beim Vater in der Rossau, und erst später ist es ihm ab und zu möglich gewesen, ein eigenes Zimmer zu mieten.

Schubert-Abend bei Joseph von Spaun.
[432a]      Schubert-Abend bei Joseph von Spaun, am Flügel Schubert.
Sepiazeichnung von Moritz von Schwind, 1868. Wien, Schubert-Museum.

[Bildquelle: Österreichische Lichtbildstelle, Wien.]

Man kann sich kaum vorstellen, wie in solchem Zusammenleben die unermeßliche Arbeit geleistet werden konnte. "Als Schubert und Mayrhofer in der Wipplinger Straße beisammen wohnten," berichtet Hüttenbrenner, "setzte sich ersterer täglich um sechs Uhr morgens ans Schreibpult und komponierte in einem Zuge fort bis ein Uhr nachmittags. Dabei wurden einige Pfeifchen geschmaucht. Kam ich vormittags zu ihm, so spielte er mir, was eben fertig war, sogleich vor und wollte ein Urteil hören." Und Spaun berichtet, daß Schubert, wenn er bei ihm übernachtete, sogar im Schlaf die Brille aufbehalten habe, um morgens sogleich beim Erwachen aufschreiben zu können, was über ihn gekommen war. Von dieser ewigen Bereitschaft des Genius, sich zu manifestieren, auch wenn Müdigkeit und Halbschlaf ihn lähmen, ist manche Anekdote berichtet; so wird von Schubert in einer Widmung an Josef Hüttenbrenner selbst bezeugt, wie er "am 21. Februar 1818, nachts um zwölf Uhr" bei seinem Bruder Anselm Hüttenbrenner nach einigen Flaschen Wein plötzlich das Lied "Die Forelle" hinschreibt: "Eben als ich in Eile das Ding bestreuen wollte, nahm ich, etwas schlaftrunken, das Tintenfaß und goß es ganz gemächlich darüber. Welches Unheil!" Ähnlich ist

Federzeichnung von Moritz von Schwind.
[427]    Schubert, Lachner und Bauernfeld
in Grinzing beim Heurigen.
Federzeichnung von Moritz von Schwind,
1862(aus der sog. Lachner-Rolle).
es ja von Mozart überliefert, wie er am besten in Gesellschaft niederschrieb. Aber die Regel ist bei Schubert die bewußte rastlose Morgenarbeit; und so gern er am Nachmittag und Abend, im Freien oder in Cafés und Weinstuben mit den [427] Freunden zusammen ist, bei der eigentlichen Arbeit läßt er sich nicht stören, ja bemerkt die Besucher kaum. So erzählt Schwind aus dem Jahre 1824: "Jetzt schreibt er schon lange an einem Oktett mit dem größten Eifer. Wenn man unter Tags zu ihm kommt, sagt er 'Grüß dich Gott, wie geht's? – Gut' – und schreibt weiter, worauf man sich entfernt."

Solche Zeugnisse erschüttern uns, weil sie uns gleichsam der einzige Beweis sind, daß diese unbegreiflichen Schöpfungen wirklich in irdischen Räumen, von einem wirklichen Menschen und im Angesicht anderer Irdischer entstanden und nicht ganz die Sage ihren Ursprung in Geheimnis hüllt. Was aber haben diese Freunde Schubert selbst bedeutet außer eben, daß sein Leibliches bei ihnen eine Heimat fand? Da sind ja doch außer jenen ersten, von denen kein dauerndes Werk Zeugnis ablegt, auch Künstler gewesen: die beiden Hüttenbrenner, Musiker, die mit Beethoven bekannt waren, zu denen später noch Lachner kam; der Maler Schwind, der 1819 als Knabe fast noch, sechzehnjährig, Schubert begegnete; der Maler Kupelwieser, von dem schon die Rede war; die Dichter Grillparzer und Bauernfeld, die erst in den zwanziger Jahren Schubert nahe traten – war hier nicht auch eine geistige Gemeinschaft, ein wirklich verwandtes Streben nach dem Höchsten? verkennt man nicht diese kameradschaftlichen Zusammenkünfte viel zu sehr, wenn man ihren Sinn im bloß Genießerischen sieht, wie er durch den Begriff der "Schubertiaden" bezeichnet wird – wenngleich auch darin ja zum Ausdruck kommt, daß Schubert als der schöpferisch Begriffne im Mittelpunkt stand, den er mit gesellschaftlichen Talenten schwerlich behauptet hätte?

Landpartie der Schubertianer.
[424b]      Landpartie der Schubertianer.
(Schubert mit dem Künstler, dem Wagen zu Fuß folgend.)
Aquarell von Leopold Kumpelwieser, 1820. Wien, Schubert-Museum.

Gewiß gibt dieser ganze Freundschafts- und Gemeinschaftskult zu denken. Wir können [428] uns keinen unserer andern Großen von Bach bis Beethoven im Kreise "Gleichgesinnter" vorstellen; wir wissen, daß keiner von ihnen das Glück der Freundschaft, ja nur der einigermaßen ebenbürtigen Begegnung erfuhr – es gehört fast mit unserm Begriff des Genius zusammen, daß er völlig einsam ist und unverstanden in der Zeit und sich im Grunde immerfort in Sehnsucht nach Gemeinsamkeit verzehrt. Und doch gewahren wir auf anderen Gebieten, wenn auch vorher nicht auf dem Gebiet der Musik, daß zu Gruppen und Bewegungen Menschen sich zusammenschließen, denen man das Beiwort des Genialen sicherlich nicht abstreiten kann: was führt denn die Novalis und Tieck und Schlegel in Jena zusammen als erste Verschworene des Geistes, gerade im Jahre von Schuberts Geburt? Was läßt um 1801 die Maler um Runge in Dresden, jene Nazarener dann in Wien um 1806 und gleichzeitig die Heidelberger Romantiker sich zusammentun? Doch nicht eine schülerhafte Aufgabe, die, für einen zu groß, nur von mehreren zu lösen wäre; denn ihr Bestes haben sie alle schließlich wieder allein und einsam vollbracht. Hier ist es augenscheinlich der Ersatz für etwas, was in der allgemeinen Kultur verlorengeht: der Ersatz für religiöse oder hohe gesellschaftliche Bindung – der einzelne findet in der gegebenen Gemeinschaft seiner Zeit nicht mehr den Ort, da selbstverständliche geistige Wirkung möglich ist, und sucht ihn sich mit andern neu zu schaffen, ja oft bloß zu erdichten: wie E. T. A. Hoffmann in den Serapionsbrüdern um dieselbe Zeit, da die Schubertiaden tagen, sich eine jugendliche Gemeinschaft von Künstlern und Kunstbegeisterten als Phantasie erschaffen muß.

Spielt überall hier nun der Kultus eines "Ideals" mit, für das man kämpft, das man noch nicht in öffentlicher Anerkennung sieht – bei den frühen Romantikern seit Wackenroder die Musik, dann Goethe; bei den Nazarenern und Heidelbergern die mittelalterliche Dichtung und Kunst – so könnte es doch erst dem Epigonentum etwa eines Schumann in seinen Davidsbündlern zuzurechnen sein, daß Musiker selber die Musik als eine höhere Vergangenheit verehren. Beim Schubert-Kreise trifft zusammen, daß ihren Meister allerdings kein kirchlicher Dienst, auch nicht kulturelles fürstliches Mäzenatentum mehr hält; daß er von den Gesellschaftsformen der Musik, Theater und lebendiger Symphonik, trotz aller Mühen zeitlebens ausgeschlossen bleibt; aber dieser den Zeitformen nicht mehr Verwurzelte wird nun doch als der geahnt, der wirklich mit seiner Geniusmacht das darstellt in täglicher Bezeugung, was den andern Bruderschaften als fernes unnahbares Ideal gesetzt war; und so mag wirklich etwas von Meister- und Jüngerschaft im fast religiösen Sinne hier bestanden haben, wie es in neueren Zeiten niemals sonst geschah. Und doch erscheint uns heute diese liebreiche Versammlung, die dem Schöpfer das Echo einer Welt ersetzen sollte, von fast geringerem Wert gegenüber dem Rest von wirklicher Überlieferung, die Schubert in seinem heimatlichen Schulhaus umfing, wenn er des Sonntags mit Vater und Brüdern sich niedersetzte zum Quartett, um seine eigenen neuen [429] Melodien zu erproben. Hier lebt er nicht anders als Bach, wenn er im Kreis der eigenen Familie, in der Besetzung durch seine eigenen Söhne, seine Musik ausübte, – Hausmusik erscheint vielleicht nur in diesen beiden als das deutsche Heiligtum, gehütet vornehmlich vom Kantor- und Lehrerstand, das jenseits aller kirchlich-kulturellen Bindung eine heimlich-ewige Einheit bedeutet. Diese gegebene Gemeinschaft des Bluts, in dessen Geschlechterfolgen ja auch, bei Bach wie Schubert, der "Erbreichtum" der Musik sich angesammelt hatte, scheint der Einsamkeit des großen Schöpfers fast tiefer gemäß als die gewählte Gemeinschaft des Geists.

Wie sehr selbst die entscheidende schöpferische Wandlung seines Lebens für Schubert im Unbewußten mit dem Vater und Vaterhause zusammenhängt, davon ist uns als Urkunde bewahrt die allegorische Erzählung "Mein Traum", die er am 3. Juli 1822 seinem Tagebuch anvertraute. "Ich war ein Bruder vieler Brüder und Schwestern. Unser Vater und unsre Mutter waren gut. Ich war allen mit tiefer Liebe zugethan" – so beginnt der Traum, der von dem Zwiespalt berichtet, in welchen der innere Beruf der Kunst und der vom Vater gewünschte äußere ihn drängt. Zweimal mit den gleichen Worten beschreibt er den erzwungenen Abschied von zuhaus: "Ich wandte meine Schritte, und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich in eine ferne Gegend." Nach dem zweiten Abschied folgt nun das innerste Bekenntnis: "Lieder sang ich nun lange, lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, so ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, so ward er mir zur Liebe. So zertheilte mich die Liebe und der Schmerz." Da geschieht das umwandelnde Ereignis seines Lebens: "Und einst bekam ich Kunde von einer frommen Jungfrau, die erst gestorben war. Und ein Kreis sich um ihr Grabmahl zog, in dem viele Jünglinge und Greise auf ewig wie in Seligkeiten wandelten... Himmlische Gedanken schienen immerwährend aus der Jungfrau Grabmahl auf die Jünglinge wie leichte Funken zu sprühen, welche sanftes Geräusch erregten. Da sehnte ich mich sehr, auch da zu wandeln. Doch nur ein Wunder, sagten die Leute, führt in diesen Kreis. Ich aber trat langsamen Schrittes, innen Andacht und fester Glaube, mit gesenktem Blicke auf das Grabmahl zu, und ehe ich es wähnte, war ich in dem Kreis, der einen wunderlieblichen Ton von sich gab; und ich fühlte die ewige Seligkeit wie in einen Augenblick zusammengedrängt."

Rührender und bescheidener ist wohl noch nie von einem Künstler das Mysterium der Berufung geschildert worden, das Schubert damals widerfuhr – denn es ist das Jahr der h-moll-Sinfonie, in dem dieser Lebenstraum niedergeschrieben wird. Und ergreifender hat nie der kindliche Wunschtraum, seinen Nächsten das Glück seiner Größe zu erweisen, einen Ausdruck gefunden als in den Worten, die den Traum beschließen: "Auch meinen Vater sah ich versöhnt und liebend. Er schloß mich in seine Arme und weinte. Noch mehr aber ich." Nie aber hat wohl auch bewußter ein Schöpfer seine Vollendung erlebt: was die nachfolgende Welt ein Jahrhundert lang nicht wußte, das hat Schubert gewußt: daß seine Lieder nicht [430] sein Höchstes und Einziges waren; daß er in den Kreis der ewigen Meister erst eintrat durch das Wunder der Symphonie und aller seiner höchsten Instrumentalmusik. "Unversehens" ereignet sich ihm das Wunder; denn äußerlich betrachtet sind es dieselben Formen, an denen er sich schon seit seiner Kindheit mühte, in denen er jetzt die Selbstoffenbarung erfährt: schon sind seit 1811 von fünfzehn seiner Quartette zwölf bis dahin entstanden, seit 1813 von seinen insgesamt acht erhaltenen Symphonien sechs vollendet; neben den Hunderten von Liedern sind seit 1814 vier große Messen und zehn Klaviersonaten geschaffen worden. Aber alles dies wiegt ihm jetzt, angesichts höherer Berufung, nichts – als Vergangenheit erkennt er nur die Lieder an, in denen er damals schon einzig war; während seine Instrumentalwerke, mit einziger Ausnahme des Forellenquintetts von 1819 und vielleicht des c-moll-Quartettsatzes von 1820, noch Nachklang früherer Meister und Auseinandersetzung mit ihnen sind; nicht anders als Mozart anfangs in Christian Bachs und Haydns, Beethoven sich in Haydns und Mozarts Formen bewegt. So große Schönheiten und auch schon persönlichste Töne sich überall hier finden – die makellose Vollkommenheit und Selbstherrlichkeit ist erst vom Jahre 1822 an da: in den kurzen sechs Jahren, die ihm noch beschieden sind, ist alles sein Höchstes beschlossen. Das Jahr 1822 sieht noch die Wandererphantasie und die As-dur-Messe entstehen; das Jahr 1823 bringt auch dem Liede, mit der "Schönen Müllerin" die zyklische, gleichsam symphonische Form, die 1826 und 1828 die "Winterreise" zur letzten Höhe führt; 1824 schenkt das a-moll-Quartett und das Oktett; 1825 die a-moll-Klaviersonate op. 42 und die zauberhafte D-dur op. 53; 1826 die beiden letzten Quartette in d-moll und G-dur und das B-dur-Trio; 1827 die Deutsche Messe und das Es-dur-Trio; und schließlich das Todesjahr 1828: zu Beginn die C-dur-Symphonie, dann Es-dur-Messe und Tantum ergo, im Herbst die drei letzten Klaviersonaten in c-moll, A-dur, B-dur, die letzten Gesänge, das Quintett. Es gehört zum Begriff dieses sich unendlich steigernden Schaffens und zugleich unermüdlich demütigen Lernens, daß er am 4. November, schon von der Todeskrankheit erfaßt, sich aufmacht, um sich beim Hoforganisten Sechter als Schüler im strengen Satz anzumelden.

Gegen dieses innere Schicksal, die hellsichtig erkannte und bewußt erstrebte Vollendung, wiegen die äußeren Schicksale nichts. Oder hat die schwere und Jahre hindurch nachwirkende Erkrankung, die er sich eben in jenem Jahre 1822 zuzog, ihm den Blick in Abgründe des Menschenleides geöffnet, wie sie der tragische Urgrund der h-moll-Symphonie aufreißt, wie sie die Todesnähe so manches folgenden Werkes, wie etwa des d-moll-Quartetts, bezeugt? Auch Beethoven wurde durch die Erkenntnis unheilbaren Leidens zu jener Umdüsterung und siegenden Selbstbehauptung hingerissen, deren erste Denkmale Eroica und c-moll-Symphonie bedeuten. Nur selten hat Schubert den Freunden sein Herz über seinen wahren Zustand geöffnet. An den fernen in Rom weilenden Kupelwieser bricht er einmal aus: "Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendesten Menschen auf der Welt. [431] Denk Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will und der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, denke Dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe und Freundschaft nichts bieten als höchstens Schmerz, dem Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden droht, und frage Dich, ob das nicht ein elender, unglücklicher Mensch ist? – 'Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr', so kann ich jetzt wohl alle Tage singen, denn jede Nacht, wenn ich schlafen geh, hoff ich nicht mehr zu erwachen, und jeder Morgen kündet mir nur den gestrigen Gram."

Hat er auch enttäuschende Erfahrungen an seinen Freunden gemacht? Oder was besagt sonst der Satz, den er drei Tage vor diesem Brief an Kupelwieser, am 27. März 1824, in sein Tagebuch schreibt: "Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht! Man glaubt immer zu einander zu gehen, und man geht immer nur neben einander. O Qual für den, der dieß erkennt!" Der Sehnsucht, die ihn zum Menschen drängt, ist wohl auf dieser Erde nicht zu helfen; die Liebesfülle, die in ihm lebt, findet hier keinen Gegenstand, der ihr ganz entspricht. Es ist nur die andere Seite solcher ungestillter Liebe, wenn er sich zu der großartigen musikalischen Menschenverachtung erhebt, die man in dem Sanften, Stillen nicht vermutet: "Beneidenswerther Nero! Der du so stark warst, bei Saitenspiel und Gesang ekles Volk zu verderben!"

Und so ist es auch kein Gegensatz, sondern dieselbe Kraft schaffender und leidender Natur, wenn er den Freunden als der "real" Liebende gilt und gleichzeitig zarter und reinster Seelenliebe zu unerreichbaren Frauen nachhängt, im sichern Wissen, daß ihm Glücksverwirklichung nicht beschieden ist. "Sie war mir halt nicht bestimmt", so lautet der Ausklang seiner Erzählung von Therese Grob an Anselm Hüttenbrenner, seiner Jugendgeliebten, die 1814 die Sopransolos in seiner F-dur-Messe beim hundertjährigen Jubiläum der heimatlichen Lichtentaler Pfarrkirche sang. Sechs Jahre hatte sie auf ihn gewartet, bis sie einen anderen nahm; und er gesteht, er liebe sie immer noch. Später soll ihm die Komtesse Karoline Esterházy sehr nahegestanden haben, seine Schülerin aus dem einzigen adligen Haus, in dem er eine Zeitlang seinen Verdienst fand. Sie war erst zwölf Jahre, als er 1818 das erstemal auf ihrem Schlosse Zelész in Ungarn zu Besuch war; 1825, beim zweiten Aufenthalt dort, trat sie ihm als Erwachsene gegenüber – aber resigniert klingt sein Bericht, wenn er gerade von hier dem Bruder schreibt: "Man glaubt an dem Orte, wo man einst glücklicher war, hänge das Glück, indem es doch nur in uns selber ist." Und doch waren diese Aufenthalte in Ungarn und die wenigen anderen Reisen, die ihn von Wien wegführten, Schuberts einzig frohe und sorglose Zeit: Naturgenuß und Verehrung feiner, freundlicher Menschen hoben ihn hier aus der Trübe des Alltags heraus. So ist er 1819 zuerst mit dem Sänger Vogl, dessen Bekanntschaft und Gunst Schober ihm erworben [432] hatte und der mit wachsendem Erfolg in privatem Kreise und hie und da auch öffentlich Schuberts Lieder sang, in dessen Heimat Steyr gewesen; 1825 wiederholten sie die Reise, die sie weiterhin nach Gmunden und Gastein führte. Hier erschloß sich ihm zum erstenmal die Alpenwelt; aber auch seine Musik sah er überall mit Freuden empfangen, wenn er mit Vogl seine Lieder erklingen ließ oder, wie in den Klöstern Florian und Kremsmünster, seine vierhändigen Variationen und Märsche, wie er sagt, "mit günstigem Erfolg producirte". Und die glücklichste Zeit schenkte ihm noch, ein Jahr vor seinem Tod, die musikalische Reise zu Maria Pachler, der Freundin Beethovens, nach Graz in der Steiermark.

Franz Schubert.
[424a]      Franz Schubert.
Aquarell von Wilhelm August Rieder, 1825.
Wien, Dr. Robert Granitsch.

[Bildquelle: Österreichische Lichtbildstelle, Wien.]
Von der Gmundener Reise im Juni und Juli 1825 aber schreibt er nach Hause jenen erhabenen Brief, wo er von der Höhe erstmals geschauten Hochgebirges für den krank sich deuchenden Bruder in eigener höchster Lebenskraft die Worte findet: "als wenn das Sterben das Schlimmste wäre, was uns Menschen begegnen könnte. Könnte er nur einmal diese göttlichen Berge und Seen schauen, deren Anblick uns zu erdrücken oder zu verschlingen droht, er würde das winzige Menschenleben nicht so sehr lieben, daß er es nicht für ein großes Glück halten sollte, der unbegreiflichen Kraft der Erde zu neuem Leben wieder anvertraut zu werden."

Wer so spricht, war nicht der dumpfe, von Lust zu Schmerz bewußtlos dämmernde Sänger und Spielmann, dem der Zufall hie und da das Ungemeine schenkt; sondern ein höchst bewußter Geist – der allerdings noch von Höherem als diesem Bewußtsein weiß. Vertrauend der unbegreiflichen Kraft dieser Erde, erfährt er auch in seinem Schaffen das pflanzenhafte Wachsen und Fruchtbarwerden. Und sein tiefstes Lebensgefühl muß gewesen sein, mit Wurzeln in fernste Zeiten und Räume volkhafter Erdverbundenheit zu reichen und zugleich das Keimen und Blühen in unermeßlichen Äther zu spüren, einer metaphysischen Sonne zu. Daher das Sich-Verschwenden, achtlos, wohin Frucht und Blüte fällt; ohne den Gedanken, es zu schützen, zu bewahren: solange er sich selber schaffend weiß, ist er, wie Natur, unbesorgt um das Schicksal der Geburten, da immer neue Schöpfung das eben Geschaffene ersetzt. Wer aber täglich solche Selbstvernichtung und Wiederauferstehung erfährt, dem ist der Tod befreundet und vertraut – hundertmal ist er dieser Lockung bis an die Grenzen des Menschseins gefolgt und hat aus diesen Fahrten ins Unbegriffene Visionen von einer Süßigkeit in Töne bannen können wie sonst außer ihm nur Bach: aber was jenem als geglaubtes Jenseits lockend erschien, das war ihm harmonisches Geborgensein in der Kraft selber dieser wunderbaren Erde.

Der solche Lebens-Musik des Todes erlauschte, der lebte von je am Rande des Daseins; und sein früher Hinübergang war fast notwendige Verklärung. So sinnlos der scheinbare Zufall der Typhus-Erkrankung den Einunddreißigjährigen im höchsten Schaffen trifft: so sicher ist es doch, daß hier das innerste Lebensmark nicht nur von Hunger, Krankheit, Not und Arbeitsübermaß, sondern von [433] unablässiger Todesnähe und Todesbereitschaft schon aufgezehrt war. Er widerstand der letzten Lockung nicht mehr, deren hinnehmende Musik diesmal nur ihm allein erklang – wir ahnen etwas von dem Glück dieses Übergangs, wenn wir im trockenen Bericht des Freundes lesen: "Auch völlig neue Harmonien und Rhythmen gingen ihm im Kopfe herum, versicherte er; mit diesen ist er eingeschlummert."

Schubert starb am 19. November 1828. Wenige Wochen vorher, Anfang Oktober, hatte er seine letzte Reise gemacht: eine Wallfahrt nach Eisenstadt, zu Haydns Grab. Am 2. Oktober noch hatte er einem neuen Verleger die letzten Werke melden können: "unter andern 3 Sonaten für's Pianoforte allein componirt, welche ich Hummel dediciren möchte. Auch habe ich mehrere Lieder von Heine aus Hamburg gesetzt, welche hier außerordentlich gefielen, und endlich ein Quintett für 2 Violinen, 1 Viola u. 2 Violoncello verfertigt. Die Sonaten habe ich an mehreren Orten mit vielem Beyfall gespielt, das Quintett aber wird dieser Tage erst probirt". Er konnte auf das letzte Jahr mit hohem Stolz zurückblicken: es hatte ihm nicht nur die größten Werke, wie die

Klaviertrio Es-Dur op. 100, 2. Satz.
Klaviertrio Es-Dur op. 100, 2. Satz.
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C-dur-Symphonie, geschenkt, es hatte ihm auch den ersten und einzigen Konzerterfolg gebracht – am Jahrestag von Beethovens Tod hatte er es mit nur eigenen Werken gegeben. "Besonders erregte ein Trio", schreibt er selbst (das Es-dur-Trio)... "allgemeine Theilnahme, so zwar, daß ich zu einem zweiten Concert (quasi als Wiederholung) aufgefordert wurde." Er hatte sich den Weg in den Kreis der ewigen Meister gebahnt.

Er wurde, wie er es selbst gewollt hatte, neben Beethoven begraben. Ihn hatte er in seinen letzten Fieberphantasien gesucht, als er, das Zimmer schon fürs Grabgewölbe haltend, die Worte wie von drüben sprach: "Hier liegt Beethoven nicht." So war er ihm im Tode vereint, den seine Bescheidenheit im Leben nicht suchen konnte und wollte, dem er nur mit seinen Freunden das letzte Geleit gegeben hatte. Aber nun war er ihm für immer verbunden: ihm, der ihn zum Höchsten aufgerufen hatte: der erhabenste Geist seines Volkes reichste Natur. Denn was jenem heroisches Kämpfen und Ringen des Gedankens war in der Feier-Form der Symphonie, das ward Schubert, da er seine Formen übernahm, zur reinen, blühenden Entfaltung ohne Kampf und Gegensatz im breiten, unendlichen Gesang des Lebens selbst. In dieser mystischen Einheit aus einem Grund, für welche Schmerz und Freude zuletzt dasselbe bedeuten, nähert er sich wieder Bach. Aber wo Bach seine Mystik aus der Versenkung ins christliche Gotteserlebnis gewann, da kam sie Schubert aus der in ihm selber strömenden Allgöttlichkeit beseelter Natur.

So geschieht es in fremder, später, entgötterter Welt, daß über deutscher Erde ein Klang in neuen Traum-Himmel aufführt – ein Klang von Seelen-Heimat, unvergeßbar jedem, der ihm lauscht.




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