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Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Von Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin
[v] Vorwort

Die Bände 6/7 [Scriptorium merkt an: tatsächlich Bände 9 und 10] verlangen ein besonderes Vorwort: ein Wort der Erklärung und ein Wort der Erläuterung.

Ein Wort der Erklärung über das stark verspätete Erscheinen derselben. - Die politische Vorgeschichte und Geschichte des Weltkrieges, der die Bände 6 und 7 des Werkes "Der Große Krieg 1914-1918" bestimmt waren, sollte gleichzeitig mit den anderen Bänden ausgegeben werden; beabsichtigt war dies für die Jahre 1922 und 1923. Der Bearbeiter der politischen Bände, Herr Geheimrat Professor Dr. Hermann Oncken, hat auch gleichzeitig mit den anderen Mitarbeitern seine Darstellung begonnen, die sich naturgemäß nur auf das damals in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Material stützen konnte. Daß die Regierungen mehrerer Staaten, veranlaßt durch die Veröffentlichung der Akten des Russischen Staatsarchivs durch die Sowjetregierung, daß vor allem die deutsche Regierung schon sehr bald nach Kriegsende zu groß angelegten Aktenpublikationen über die Vorgeschichte des Weltkrieges schreiten, und daß sich ihnen sehr bald die Memoiren fast aller beteiligten Staatsmänner, daß sich auch Einzelforschungen in fast unübersehbarer Fülle anschließen würden, war bei Beginn der Arbeit nicht vorauszusehen. Sehr bald stellte sich heraus, daß jede dieser verhältnismäßig schnell aufeinanderfolgenden Veröffentlichungen immer wieder Material herausbrachte, das mit dem Inhalt der vorhergegangenen Akten anderer Staaten usw. keineswegs übereinstimmte, das ihnen vielfach widersprach, sie oft in unerwarteter Weise erläuterte und ergänzte. Die Frage, ob trotzdem die Darstellung auf Grund etwa des bis 1920 zur öffentlichen Kenntnis gelangten Materials durchgeführt werden sollte, mußte abgelehnt werden, da sie bis zum Erscheinen geradezu unwahr geworden wäre. Die Versuche, in den schon niedergeschriebenen Text die aus den neuen Akten sich ergebenden Abweichungen hineinzuarbeiten, erwiesen sich infolge der mehrfachen Wiederholung als undurchführbar. So mußte trotz aller darin liegenden Bedenken in die Darstellung eine Pause eingelegt werden, bis sich für eine Weiterarbeit unter Zugrundelegung aller - oder doch fast aller - wichtigsten Publikationen ein klares, richtiges Bild der Vorgänge gewinnen und in textliche [vi] Form bringen ließ. So tief bedauerlich die Verzögerung war: sie hatte den Erfolg, daß sie jetzt eine einwandfreie Darstellung der politischen Vorgeschichte des Weltkrieges und einen "Ausblick" über die Politik nach 1914 ermöglichte.

Die diesem Bande mitzugebende Erläuterung erstreckt sich auf die Feststellung des nicht vermeidbaren Unterschieds in dem Inhalt dieses neuen Bandes und den Hinweisen politischen Charakters in den der Darstellung des Kriegsverlaufs gewidmeten Bänden. Diese konnten nur fußen auf dem damals - 1919 und 1920 - bekanntgewordenen Material und weichen infolgedessen vielfach von der neuen Darstellung ab. Die letztere entspricht in allen Fällen dem jetzigen Stande unseres Wissens. - Nur auf der unvollkommenen und teilweise falschen Anschauung der politischen Dinge konnten und mußten aber die Entschlüsse der politischen und der militärischen Kriegführung fußen; um zu deren gerechten Darstellung und Kenntnis zu gelangen, ist wiederum die Kenntnis der ihnen zur Verfügung gestandenen, vielfach falschen und unvollkommenen Grundlagen und ihrer Auswirkung notwendig, so daß auch sie wieder für das Verständnis des Kriegsverlaufs unentbehrlich sind. Man darf nicht den Entschluß eines obersten militärischen Führers verurteilen, weil er auf falschen politischen Voraussetzungen beruht, solange ihm die richtigen Unterlagen verborgen sein mußten.
Beim Studium und etwaigen Vergleich der Darstellung müssen diese Unterschiede erkannt und richtig bewertet werden.

Die Aktenpublikationen aller Regierungen schreiten fort; sie sind aber noch nicht so weit gediehen, daß über einen ganz losen "Ausblick" hinaus eine Darstellung der Politik der Kriegs- und Nachkriegszeit heute schon möglich ist. Wann eine Darstellung der Politik dieser Epoche in einem Sonderbande etwa möglich sein wird, hängt von der Zeitfolge ab, in der die Aktenpublikationen der am Kriege beteiligten Länder erfolgen.

M. Schwarte      

[vii] [Anm. d. Scriptorium: im Original findet sich auf der hier folgenden Seite die Inhaltsübersicht für Bd. 9 und 10, welche wir in diesem unserem Online-Nachdruck hier und hier wiedergegeben haben.]


[viii] Die Bilder für Bd. 9 & 10 sind zur Verfügung gestellt worden von:

Ballmann's Photohaus, Mayen / Dr. Helmuth Th. Bossert, Glienicke (Nordbahn) / Peter Eßmann, Köln a. Rh. / S. A. Germain, Berlin / Artur Gläser, Berlin / Heinrich Guttmann, Chesières / Oberstlt. Ferd. Henry, Stettin / Sammlung Raoul Korty, Wien / Frau von Lenbach, München / Schletter-Natory, München.


[ix] Zum Geleit

Das Schicksal der Völker wird bestimmt durch die inneren Anlagen ihres Geistes und durch die äußeren Bedingungen ihres Daseins. In einem steten Wechselspiel greift das Geheimnis ihres Wesens von innen nach außen hinüber, wirkt diese Außenwelt mit ihren formenden Kräften auf das innere Leben zurück: damit sind gleichsam die Elemente des Ablaufs gegeben, in dem Wille und Fatum sich immer aufs neue verketten, immer unauflöslicher einander durchdringen, um etwas Neues und Einmaliges hervorzubringen. Denn in dem Strome dieser niemals stillestehenden Entwicklung wächst und reift der historische Charakter eines Volkes, erhebt sich die individuelle Gestalt eines Staates als vollendeter Ausdruck eines völkischen Lebenswillens. Und indem die Wesensart des einzelnen Volkes, die ihren Sinn in sich selber trägt, durch dieses geschichtliche Erleben immer plastischer herausgearbeitet wird, bestimmt sich zugleich ihr Anteil an der Gemeinsamkeit der Menschheitsgeschichte: wir glauben die besondere Melodie zu vernehmen, die von dem Einzelnen in die Symphonie des Ganzen verwoben wird.

Inmitten dieses mächtigen Lebensprozesses, der die Individualitäten der modernen Völkergesellschaft erzeugt und immer schärfer voneinander geschieden hat, gibt es keine Einzelentwicklung, die mit dem gesamteuropäischen Macht- und Kulturzusammenhang eine so tiefe Verbundenheit aufzuweisen hat wie die Entwicklung des deutschen Volkes und des deutschen Staates: im Empfangen und Geben, im Bestimmen und Leiden, im Guten und Bösen erscheint das deutsche Schicksal vor allen andern in das europäische Gesamtschicksal verflochten. Was damit gesagt sein soll, wird durch einen Vergleich am ehesten deutlich werden. Es hat schwere europäische Krisen gegeben, welche die Staatengesellschaft des Kontinents von Grund aus erschütterten, aber auf das äußere und innere Gefüge des englischen Staates nicht zurückwirkten. Aber auch umgekehrt, Staat und Gesellschaft in England haben die schwersten Krisen durchschritten, ohne in deren Verlauf von Europa gestört zu werden, ohne aber auch ihrerseits auf Europa merklich überzugreifen. Darin beruht das Lebensgesetz der insularen Lage. Gerade das entgegengesetzte Daseinsgeheimnis sehen wir über dem deutschen Schicksal walten. Seine Eigentümlichkeit besteht eher darin, daß es durch ein Höchstmaß von Verflochtenheit in das Ganze bestimmt wird. Davon [x] zeugt die europäische Geschichte in ihren großen Epochen und Krisen, und auf der anderen Seite trägt das Gesicht der deutschen Gegenwart die Spuren, die solche Wechselwirkung der Jahrhunderte hinterließ, noch wie etwas Unauslöschliches an sich. Von den Anfängen unseres Auftretens in der Geschichte bis zu dem tragischen Geschehen, das im Weltkriege abrollte, hat sich dieses eine Grundgesetz unseres Daseins immer erneut, und alle Zukunft, ob wir sie hinnehmen oder zu meistern suchen, wird uns vor dasselbe Problem stellen. Der tiefste Sinn der deutschen Geschichte kann nur von dieser säkularen Lebenstatsache aus begriffen werden.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte