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Bd. 4: Der Seekrieg - Der Krieg um die Kolonien
Die Kampfhandlungen in der Türkei
Der Gaskrieg - Der Luftkrieg

Abschnitt: Der Gaskrieg   (Forts.)
Hauptmann Hermann Geyer

5. Gasminen und Blasverfahren auf deutscher Seite.

Der Gaskampf war ausgegangen von Gashand- und Gasgewehrgranaten, also Nahkampfwaffen. Es lag nahe, die Versuche auf Gasminen auszudehnen.

In der Tat wurden deutscherseits ernstliche Versuche gemacht. Gasminen mit in der Wirkung ähnlichen Stoffen wie die bisherigen Gaskampfstoffe wurden gefertigt. Bereits im Winter 1915 wurde ein deutsches Gasminenwerferbataillon aufgestellt, dem später einige andere folgten.

Bei den Minenwerfern war aber, wie bekannt, reichlicher Munitionsersatz viel schwieriger als bei der Artillerie, weil die Munition wegen der geringen Schußweiten sehr weit nach vorn gebracht werden mußte. Dazu trat entscheidend der Nachteil, daß die Zusammenziehung und gedeckte Aufstellung einer genügend großen Zahl von Minenwerfern noch größere Schwierigkeiten machte als die Zusammenfassung einer entsprechenden Artilleriemasse. Die wichtigste Grundlage des Gaserfolgs, der Masseneinsatz, die Konzentration der Wirkung, war daher mit Minenwerfern besonders schwer zu erreichen. Dies hatte zur Folge, daß die Gasminenwerferbataillone sehr bald vorzugsweise zum zusammengefaßten Verschießen von Brisanzminen übergingen. Auch hier waren neuartige Erfolge zu gewinnen. Der Einsatz von Gasminen aber blieb unter diesen Umständen für lange Zeit Episode, wenn auch die Minenwerferbataillone, vor allem das Minenwerferbataillon Nr. 1 unter seinem hervorragenden Kommandeur, dem später leider gefallenen Major Lothes, sich sehr tatkräftig unter geschickter Wahl der Ziele bemühten, das Gasminenschießen zur Anerkennung zu bringen.

Weit größere Bedeutung gewann inzwischen eine der Form nach neue Art des Gaskrieges, das Blasverfahren, das, wie erwähnt, am 22. April 1915 plötzlich in den Vordergrund trat.

Das Blasverfahren verdankte seine Entstehung der Überlegung, daß es bei [500] der beschränkten Menge der Geschütze und Minenwerfer und bei dem beschränkten, für die Aufspeicherung des Gases in den Hohlräumen der Geschosse und Minen verfügbaren Raum offenbar nicht leicht war, große Gasmassen wirkungsvoll auf dem Zielraum zu vereinigen. Man kam daher auf den Ausweg, zur Übertragung des Gases in die Stellung des Gegners allein die treibende Kraft des Windes zu benutzen. Das Gas sollte in den bei der Industrie üblichen Chlorgasflaschen bis in die eigene vorderste Linie vorgetragen werden. Von dort aus wollte man es bei günstigem Winde überraschend über die feindliche Stellung treiben lassen. Der Flascheninhalt war verhältnismäßig sehr groß. Man konnte also ganz andere Gasmengen ansetzen und weit höhere Gasdichten erreichen. Eine wirkliche Massenverwendung, eine Massenüberflutung feindlicher Stellungen mit Gas in großer Breite und Tiefe, wurde ausführbar.

Als Gas, das zu solcher Verwendung geeignet war, stand in Deutschland anfangs nur Chlorgas in genügenden Mengen zur Verfügung. An sich schwer, wurde es beim Abblasen durch die Verdunstungskälte, die seine Dichtigkeit erhöhte, noch erheblich schwerer und dadurch besonders befähigt, dicht am Boden hinzustreichen. Es vermengte sich auf seinem Wege allmählich mit der strömenden Luft, deren Bewegung es folgte. Es hatte ferner infolge seiner großen Flüchtigkeit die militärisch wichtige Eigenschaft, in der überfluteten Zone Nachwirkung nicht zu hinterlassen. Man konnte also die eigene Infanterie sehr dicht hinter der Wolke folgen lassen, die infolge starker Nebelbildung dem Gegner, während sie über ihn wegstrich, die Sicht benahm.

Versuche bestätigten die Brauchbarkeit des Chlors für den beabsichtigten Zweck sowie überhaupt die technische und taktische Ausführbarkeit des Gedankens. Begründete völkerrechtliche Einwände, die zu einem Verzicht auf das militärisch aussichtsreiche Verfahren genötigt hätten, schienen nicht vorzuliegen. Der Einsatz des Blasverfahrens an der Front wurde daher beschlossen.

Zur Durchführung wurden beschlagnahmte und neu gefertigte Chlorgasflaschen mit Tauchrohren und Bleischläuchen ausgerüstet, um das Abblasen des flüssigen Flascheninhalts, der sich beim Austreten aus den Flaschen unter hohem Druck in Dampf verwandelte, in vertikaler oder schräger Flaschenstellung zu ermöglichen.

Sturmtruppangriff mit Gasvorbereitung (Blasverfahren).

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      Stellungskrieg. Sturmtruppangriff mit Gasvorbereitung (Blasverfahren).

Die Handhabung der Flaschen wurde besonders ausgerüsteten und ausgestatteten Pionierverbänden übertragen, die neu aufgestellt wurden. Wollte man abblasen, so erkundeten sie zunächst die Geeignetheit der in Aussicht genommenen Frontstellen. Dann hatten sie die Flaschen heranzuführen, einzubauen und beim Abblasen zu bedienen.

Der Einbau war eine überaus mühsame und zeitraubende Arbeit, die selbst unter günstigen Umständen mehrere Nächte - meist war fast nur Nachtarbeit möglich - erforderte. Schon das Vortragen der mindestens 37 kg schweren und wegen der engen Gräben wenig handlichen Flaschen war anstrengend. Dann [501] mußten die Flaschen wegen der Gefahr feindlicher Beschießung im Graben selbst eingegraben werden. Um die Bedienung zu erleichtern, wurden zwanzig und mehr Flaschen in Batterien zusammengefaßt. Auf den laufenden Meter rechnete man etwa eine Flasche, so daß auf ein Kilometer Frontbreite rund zwanzig Tonnen Kampfstoff abgeblasen wurden, eine Menge, die im Vergleich zu den bisherigen Gasmassen ganz ungeheuer war. (Später wurde die Zahl der Flaschen pro Meter sogar noch erhöht.)

Vor dem Abblasen mußten eingehend die Windverhältnisse geprüft werden. Außer gelernten Chemikern wurden den Gaspionieren daher Meteorologen zugeteilt, die neben guten wissenschaftlichen Kenntnissen taktischen Blick und große Entschlußfähigkeit besitzen mußten. Denn von ihrem meteorologischen Urteil hing letzten Endes der Beginn des Abblasens ab. Falsche Beurteilung der Wetterlage führte unter Umständen zu schweren Mißerfolgen.

Beim ersten Abblasen am 22. April 1915 bei Ypern betrug die Breite der Blasfront etwa sechs Kilometer, die Dauer des Abblasens etwa fünf Minuten, die Tiefe der Wolke somit bei einer Windstärke von zwei bis drei Metern in der Sekunde etwa 600 - 900 m. Die schwere, weißlichgelbe, undurchsichtige Wolke, die sich, anfangs in Mannshöhe, später etwas höher werdend, unter lautem Zischen, das durch das Austreten des Gases aus den Flaschen entstand, mit ziemlicher Geschwindigkeit heranwälzte, muß auf die an dieser Front stehenden Engländer einen furchtbar unheimlichen Eindruck gemacht haben. Der Eindruck wurde unwiderstehlich, als sich der scharfe Chlorgeruch bemerkbar machte. Schutz gab es nicht. Eine panikartige Flucht begann. Kampflos konnten die vordersten feindlichen Stellungen, darunter das seit Monaten so hart umstrittene Langemark, besetzt werden.

Kein Zweifel, die angekündigte technische Wirkung war eingetreten, die militärische Ausnutzung aber blieb leider stecken. Das Vertrauen in den Erfolg war zu gering gewesen. Mehrere vergebliche Bereitstellungen vor dem Angriffstage, bei denen infolge schlechter Wetterlage das Unternehmen in letzter Stunde hatte abgesagt werden müssen, hatten den Glauben an die Sache abgekühlt. Man folgte der Wolke zu spät, zu langsam und zu schwach. Der Engländer gewann Zeit, den Widerstand in rückwärtigen Stellungen zu organisieren. Aus dem möglichen großen Erfolg wurde ein Teilerfolg, dessen Umfang allerdings nicht unerheblich war.

Wiederholungen des Abblasens folgten, sobald sie taktisch und technisch möglich waren. Hierbei stellte sich aber bald eine Reihe von Reibungen heraus.

Zu schmale Blasfronten machten Flankierung zu leicht, breite zum Abblasen geeignete Frontstellen schienen nicht viele vorhanden zu sein. Das Schlimmste aber war die Abhängigkeit von Wind und Wetter. Nur bei gewissen Windrichtungen und Windstärken, die nicht viel Spielraum ließen, konnte man abblasen.

Die Ungunst der Witterung bedingte oft wochenlanges Warten und ver- [502] gebliche Bereitstellungen. Die Truppe wurde dann ungeduldig. Ohnedies sah sie den fremden Gaspionier nicht gern in ihren Gräben. Seine Tätigkeit beschädigte ihre schönen Stellungsbauten und konnte das feindliche Feuer auf sie ziehen.

Auch das dichte Folgen hinter der Gaswolke schien nicht geheuer. Zur größeren Sicherheit erweiterte man den Abstand und gab damit dem anfänglich vielleicht überraschten Feind Zeit und Gelegenheit, sich zu erholen und zur Wehr zu setzen.

Alle diese Umstände hemmten die volle Ausnutzung der Blasangriffe. Mehrfach gelangten sie nicht weiter als bis zur Erkundung. Es kam auch vor, daß bereits eingebaute Flaschen wieder zurückgenommen wurden, ohne abgeblasen worden zu sein.

Im Osten verlangte die allgemeine Lage im Frühjahr 1915 größere Tätigkeit als im Westen. Man vermehrte daher die Zahl der Gasbataillone auf vier, die später unter den Obersten Peterson und Goslich zu zwei Regimentern zusammengefaßt wurden, und setzte sie auch im Osten ein, erstmals am 31. Mai 1915 bei Nieborow.

Infolge von Mißverständnissen unterblieb aber hier leider der Infanterieangriff nach dem Abblasen, dessen Wirkung von russischer Seite in der Duma in den dunkelsten Farben geschildert worden ist. Bei einer anderen Gelegenheit traten sogar infolge falscher Beurteilung der Wetterlage nicht unerhebliche Verluste durch eigenes Gas ein. Auch an anderen Stellen kamen kleinere Unglücksfälle vor, die sich mit starken Übertreibungen herumsprachen.

Das neue Verfahren, das technisch so gute Aussichten geboten hatte, verlor dadurch immer mehr an Vertrauen. Es kam dazu, daß der Feind allmählich lernte, sich anzupassen. Der Gedanke, das Abblasen in Verbindung mit eigenen Angriffen zu verwenden, mußte daher als Regelfall zunächst aufgegeben werden. Man entschloß sich, im allgemeinen unter Verzicht auf eigenen Angriff nur noch zur Beunruhigung und Schädigung des Feindes abzublasen und nur, soweit möglich, durch nachfolgende Patrouillen den Versuch machen zu lassen, die Wirkung festzustellen.

In dieser Form kamen in den Jahren 1915, 1916 und 1917 eine große Anzahl deutscher Blasangriffe zur Durchführung, vor allem im Osten, wo der schlechtere Gasschutz der Russen bessere Erfolge erhoffen ließ. Der größte deutsche Blasangriff dieser Art im Westen fand im Herbst 1915 mit 24 000 Flaschen in fast 20 Kilometer Breite in der Champagne statt. Auch auf Gallipoli wollte man um die Jahreswende 1915/16 deutsche Gastruppen einsetzen. Der Engländer entzog sich aber dem Angriff durch Räumung der Halbinsel.

Über die Erfolge des Blasverfahrens liegen sichere zahlenmäßige Feststellungen noch nicht vor. Nach den deutschen Berichten und nach anderen Anzeichen scheinen dem Gegner sehr erhebliche Verluste zugefügt worden zu sein, so daß der Erfolg dem Aufwand entsprach.

[503] Dieses abschließende Urteil schon an dieser Stelle greift den Ereignissen vor. Es wird später auf die weitere Entwicklung zurückzukommen sein. Der ungeheure moralische Eindruck, den das Blasverfahren bei seiner ersten Anwendung 1915 machte, ergibt sich jedenfalls aus dem gewaltigen Widerhall in der Öffentlichkeit, von dem oben die Rede war. Daß auch der materielle Nutzen nicht gering eingeschätzt wurde, kann man aus dem Eifer schließen, mit dem insbesondere Franzosen und Engländer sich auf Versuche stürzten, das deutsche Verfahren nachzuahmen.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte