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Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahnen. 
Tatsachenberichte von der anderen Front aus 
dem Feldzug der 18 Tage
[23]
Als Volksdeutscher -
polnischer Reserveleutnant

Heinz Beckmann

Die polnische Armee zählte, abgesehen von den Kameraden, die als ehemalige Offiziere des deutschen oder österreichischen Heeres in ihrem Dienstrang übernommen, aber gleichzeitig für dauernd vom Heeresdienst befreit worden waren, nur eine geringe Zahl von volksdeutschen Reserveoffizieren, welche aus dem polnischen Heere selbst hervorgegangen sind. Bis zum Jahre 1933 war es keine Seltenheit, daß volksdeutsche "Einjährige" zur Ableistung ihrer Dienstpflicht eingezogen wurden. Nach der Machtübernahme im Reich geschah dies nur noch in ganz beschränktem Umfange.

Ich selbst absolvierte meine aktive Dienstzeit im Jahre 1932/33 in der Fähnrichschule in Zambrow in der Nähe von Bialystok und später im 8. Legionenregiment in Lublin. Nach einer Fähnrichsübung wurde ich zum Leutnant befördert und in dieser Eigenschaft zweimal zu größeren Übungen eingezogen, das letztemal im Jahre 1938 zu den großen Herbstmanövern in Wolhynien, den größten Manövern, die ich in der polnischen Armee mitgemacht habe. Es waren die kritischen Tage des Einmarsches der deutschen Truppen ins Sudetenland, kurz vor der Besetzung des Olsagebietes durch Polen. Schon damals, also zur Zeit der deutsch-polnischen "Freundschaft", war die Stimmung im polnischen Heer, was am besten im polnischen Offizierskorps zum Ausdruck kam, ausgesprochen deutschfeindlich. Man hätte erwarten müssen, daß Polen, das den Gewinn des wertvollen Olsagebietes in erster Linie Deutschland zu verdanken hatte, ein Gefühl der Dankbarkeit seinem westlichen Nachbarn gegenüber empfinden würde. Das Gegenteil war der Fall! Man erging sich in Schimpfreden gegen das Reich und den Führer, behauptete, man würde die Nazis zu Paaren treiben, wenn sie es wagen würde, Polen auch nur anzu- [24] tasten, und es war für mich als Deutschen unerträglich, diese haßerfüllten Äußerungen anhören zu müssen, ohne ihnen entgegentreten zu können. Ich bekam aber auf diese Art bereits im vergangenen Jahre einen Vorgeschmack, wie sich die Dinge für mich im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Polen gestalten würden, und konnte nur im stillen hoffen, daß ich nie dazu gezwungen sein würde, die letzte Folgerung aus meinem Dasein als Volksdeutscher ziehen und gegen mein Vaterland kämpfen zu müssen. Aber auch dies Letzte und Schwerste sollte mir nicht erspart bleiben.

Im Zuge der allgemeinen Mobilmachung erhielt auch ich am 30. August die Aufforderung, sofort, spätestens aber innerhalb von zwei Stunden, nach Lublin zu meinem Regiment abzureisen. Jede Weigerung in dieser Situation wäre sinnlos und gerade bei mir als Offizier gleichbedeutend mit dem sicheren Tode durch Erschießen gewesen. Es blieb kein anderer Ausweg, und so fuhr ich dann noch in derselben Nacht, bereits in Uniform, über Warschau nach Lublin ab, wo ich am Abend des folgenden Tages mit stundenlanger, durch Militärtransporte hervorgerufener Verspätung eintraf. Ich meldete mich sofort bei meinem Regiment und wurde, gleich dem Großteil der übrigen dort bereits versammelten Reserveoffiziere, den sogenannten "Überzähligen" zugeteilt. Die aktive Truppe des Regiments lag, wie sich herausstellte, schon längst irgendwo an der Westgrenze des Landes, und aus den ankommenden Reservemannschaften und den "überzähligen" Offizieren war nun der notwendige Nachschub zu bilden, der dann je nach Bedarf an die Front abberufen werden sollte.

Die Aufgabe für uns Offiziere bestand also fürs erste darin, die Reservisten einzukleiden, aus ihnen Kompanien und Bataillone zu formieren und, so weit noch Zeit dazu blieb, ihnen etwas militärischen Schliff beizubringen, den sie fast durchweg verdammt nötig hatten. Das Menschenmaterial, das zur Verfügung stand, war ausgesprochen schwach. Es befanden sich darunter ein Großteil Analphabeten aus den Ostgebieten, viele Weißrussen, Ukrainer und Juden, die von vornherein als unsicheres Element galten. So wurde die Parole ausgegeben, bei der Formierung der Kompanien darauf zu achten, [25] daß sie nicht mehr als 40 Prozent nationaler Minderheiten enthielten, wobei, abgesehen von Juden, das orthodoxe Bekenntnis als entscheidendes Merkmal für die Volkszugehörigkeit des einzelnen angesehen wurde. Die Unteroffiziere stammten fast alle aus dem Posenschen. Ihnen war die frühere deutsche Schule in Haltung und Auftreten auch schon rein äußerlich anzusehen.

Zu meiner großen Freude fand ich unter den Reserveoffizieren einen volksdeutschen Kameraden, Leutnant K., vor. Wir waren im Nu gute Freunde und haben es beide in den ersten Tagen, wo die seelische Belastung oft fast unerträglich zu werden drohte, und wir beide manchmal der Verzweiflung nahe waren, dankbar empfunden, daß wir untereinander mal einige deutsche Worte wechseln und uns gegenseitig stützen und Mut zusprechen konnten. Leider blieb Kamerad K. nur kurze Zeit bei uns und wurde dann als Führer eines Arbeitskommandos zur Räumung eines Munitionslagers in Demblin abkommandiert. Er ist glücklicherweise nicht mehr dazu gekommen, diesen gefährlichen Auftrag auszuführen, der ihn leicht hätte das Leben kosten können. Einen Tag vor seiner Ankunft in Demblin flog das ganze Lager in die Luft, und es ist K., wie er mir dann nach dem Polenkriege erzählte, auf einer abenteuerlichen Flucht, verkleidet als weißrussischer Bauer, gelungen, glücklich die deutschen Linien zu erreichen.

So blieb ich also allein als einziger Deutscher im Regiment zurück. Abgesehen davon, daß meine Nationalität aus den Militärpapieren einwandfrei hervorging, hatte ich auch unter den Offizieren einige Bekannte von der aktiven Dienstzeit bzw. den verschiedenen Reserveübungen her, u. a. Major S., meinen Bataillonskommandeur. Diese wußten natürlich, daß ich Deutscher war, und so hatte sich die "Sensation" im Offizierskorps schnell herumgesprochen. Ich vermied zwar nach Möglichkeit jedes Gespräch, das auch nur irgendwie den Schein eines Verdachtes aufkommen lassen konnte, es gelang aber doch nicht immer, manchmal recht peinliche Situationen zu umgehen. So wurde mir u. a. mehrmals die Frage gestellt, was ich zu tun gedächte, wenn ich an der Spitze der mir zur Führung anvertrauten Truppe gegen die Deutschen handeln [26] und Entschlüsse fassen müßte. Es ist mir oft nur mit allergrößter Mühe gelungen, mich irgendwie durch eine ausweichende Antwort aus der Schlinge zu ziehen. Immerhin fiel es bald auf, daß ich mich an den dummen und blöden Schimpfreden gegen Deutschland und den Führer nicht beteiligte - man hatte mich offensichtlich anfangs, obwohl deutscher Volkszugehörigkeit, so doch für einen Gegner des Nationalsozialismus gehalten, wie ich aus verschiedenen Äußerungen entnehmen konnte - und ich fühlte instinktiv, daß das Mißtrauen gegen mich von Tag zu Tag wuchs, und daß ich von allen Seiten beobachtet und überwacht wurde.

Schlimmer aber als diese äußeren Mißstände war die seelische Belastung. Abgeschnitten von aller Welt (Zeitungen gab es nicht und die Postbeförderung war längst eingestellt) war man inmitten dieser polnischen Umgebung einzig und allein auf die "Sieges"-Meldungen angewiesen, die der Warschauer Sender verbreitete, und die triumphierend von Mund zu Mund weitergegeben wurden.

Danach war Danzig, wo ich mir besonders nahestehende Menschen hatte, um deren Schicksal ich bangte, schon am ersten Tage von den Polen eingenommen worden, polnische Truppen hatten Ostpreußen teilweise besetzt und befanden sich im siegreichen Vormarsch auf Königsberg, französische Truppen, hauptsächlich farbige, sollten die Deutschen in Westpreußen vernichtend geschlagen haben. Der Westwall war angeblich an zwölf Stellen durchbrochen und die Franzosen weit nach Deutschland hinein vorgedrungen. In Berlin sollte ein Angriff von 600 englischen und polnischen Bombern furchtbare Verwüstungen angerichtet haben. Von Italien hieß es, es habe ebenso wie Amerika, an Deutschland ein Ultimatum wegen der Bombardierung der Zivilbevölkerung in den offenen polnischen Städten gestellt und da dieses unbeantwortet geblieben, den "Nazis" den Krieg erklärt. Wenngleich ich mir bewußt war, daß der größte Teil dieser Meldungen erlogen sein mußte, und sie unmöglich der tatsächlichen Lage entsprechen konnten, so blieb - eine Folge der Einwirkung der Umgebung - bei aller kritischen Einstellung doch eine leise Sorge um Deutschland als böses Gift dieser Lügennachrichten in mir zurück. Es war [27] das Schwerste in diesen Tagen und unter diesen Umständen, die Hoffnung nicht sinken zu lassen und den Glauben an Deutschland nicht zu verlieren.

Es wird mir, nach dem, was ich in jenen Septembertagen erlebte, immer ein Rätsel bleiben, wie man es in leitenden polnischen Militärkreisen wagen konnte, dem besten Heere der Welt mit einer Armee gegenüberzutreten, die wegen ihrer mangelhaften Ausrüstung und Ausbildung - besonders der Reserven - von vornherein auf verlorenem Posten stehen mußte. Nur ein nicht mehr zu überbietender Größenwahn und die Hoffnung auf das in den Augen der Polen "allmächtige" England (die in Gesprächen mit polnischen Kameraden immer wieder zum Ausdruck kam) können vielleicht eine teilweise Erklärung dafür geben, daß Hunderttausende polnischer Soldaten in einen aussichtslosen Kampf und damit in den sicheren Tod getrieben wurden.

Es hat in den ersten Kriegstagen bei der Einkleidung der nur teilweise einrückenden Reservisten (die übrigen haben infolge der Bombardierung der Eisenbahnlinien durch die deutschen Flieger ihre Garnison gar nicht mehr erreicht, sonst wäre die Desorganisation noch größer gewesen) schon an allen Ecken und Enden an dem Nötigsten gefehlt. Einige Beispiele seien herausgegriffen. Bei uns im Regiment ist u. a. die Parole ausgegeben worden, daß diejenigen Reservisten, die einigermaßen gut erhaltenes Zivilschuhwerk mitbrachten, dieses weiter tragen sollten, weil einfach nicht genügend Militärschuhe vorhanden waren. Und dieses schon während der ersten Mobilmachungstage! Ich hatte gegen Schluß des Krieges noch Leute in meinem Zuge, die immer noch in ihren Zivilschuhen herumliefen und einen militärisch sehr merkwürdigen Anblick boten.

Unsere ganze Truppe war ohne Stahlhelme, niemand hatte eine Erkennungsmarke! Beides hatte eine starke psychologische Wirkung auf die Mannschaft, besonders das Fehlen der Erkennungsmarken. Die Leute hatten von vornherein das Gefühl der Unsicherheit, wußten sie doch, daß, wenn sie fielen, sie irgendwo unbenannt verscharrt werden würden wie die Hunde. Wieviel Tausende und aber Tausende von polnischen Soldaten, deren Angehörige sie noch irgendwo in Gefangenschaft ver- [28] muten und vergeblich auf ihre Rückkehr warten, sind auf diese Weise für immer verschollen und schlafen in irgendeinem Massengrab oder zugeworfenen Schützengraben ihren letzten Schlaf. Auch diese Toten sind eine furchtbare Anklage gegen eine leichtfertige Führung, die dieses Heer namenloser Gefallener auf dem Gewissen hat.

Die Verpflegung war ein Kapitel für sich. Friedrich der Große hat einmal gesagt: "Wenn man eine Armee bauen will, muß man mit dem Bauche anfangen, denn dieser ist das Fundament davon!", und Napoleon tat den Ausspruch: "Die Armee marschiert mit dem Magen!" Beide waren große Feldherren und Führer und verstanden ihr Handwerk, ein Prädikat, das die verantwortlichen Männer des ehemaligen polnischen Heeres bestimmt nicht für sich in Anspruch nehmen können. Schon in den ersten Kriegstagen ließ die Verpflegung der Armee sehr stark zu wünschen übrig.

Ganz abgesehen davon, daß die in den Küchen unseres Regiments gekochten Essenportionen der tatsächlichen Zahl der zu verpflegenden Leute nicht entsprachen, konnten die vorhandenen Rationen nur mit erheblichen Schwierigkeiten ausgegeben werden, weil nur ein Bruchteil der nötigen Eßgeschirre aufzutreiben war. So waren bei der Essenverteilung unglaubliche Szenen an der Tagesordnung, und das, wie ich betone, noch in der Kaserne und nicht etwa unter ungewohnten Verhältnissen draußen im Felde. Die Schamröte konnte einem Offizier ins Gesicht steigen, so etwas mit ansehen zu müssen, und es bedurfte aller Energie, um wüste Disziplinlosigkeiten, die durch die mangelnde Organisation zwar erklärlich, aber nicht entschuldbar waren, im Keime zu ersticken.

Es konnte unter diesen Umständen auch nicht wundernehmen, daß die von Anfang an nicht begeisterte Stimmung der Truppe von Tag zu Tag merklich nachließ. Ihr übriges dazu taten die deutschen Flieger. Sie erschienen in regelmäßigen Abständen über der Stadt, zuerst von den verdutzten Menschen begafft und bestaunt, um dann aber bald durch ihre ehernen Grüße, die allerdings nur den strategisch wichtigen Objekten der Stadt wie Bahnhof, Flugzeugfabrik usw. galten und die Kasernen selbst noch verschont ließen, panikartigen Schrecken [29] zu verbreiten. Das Bombardement war so erfolgreich, daß man, anscheinend von amtlicher Seite, dazu in Lublin die Nachricht verbreitete, es hätten Spione von der Erde aus Winkzeichen gegeben und die Flugzeugangriffe entsprechend gelenkt. Man sei dieser Verräter aber bereits habhaft geworden und sie würden der gerechten Strafe nicht entgehen.

Die Furcht vor Spionen führte zu lächerlichen Auswüchsen. Ich war selbst, von der Kaserne aus beobachtend, Zeuge, wie bei einem wirkungsvollen Angriff auf die in nicht weiter Entfernung vorbeifahrende Bahnlinie ein zufällig vorbeigehender harmloser polnischer Mönch, der in seiner Kutte anscheinend besonders verdächtig erschien, trotz Beteuerung seiner Unschuld im Triumph eingeholt und abgeführt wurde. Auch er sollte angeblich den Angriff auf die Bahnlinie auf dem Gewissen gehabt haben.

Von Flakabwehr war in den ersten Tagen überhaupt nichts zu spüren. Später, und zwar als die polnische Regierung für kurze Zeit auf der Flucht ihren Sitz von Warschau nach Lublin verlegte, machte sie sich vereinzelt bemerkbar, ohne allerdings irgendwelche Erfolge zu erzielen. Da es offiziell verboten war, die Kasernen zu verlassen, hatten wir erst verspätet und durch Zufall erfahren, daß die flüchtende polnische Regierung uns mit ihrem Besuch beehrt hatte. Auf diese Nachricht hin verstummten dann auch die wenigen noch vorhandenen Großmäuler, die bis dahin von einer Parade Unter den Linden gefaselt und geprahlt hatten, sie würden schon die ihnen fehlende Ausrüstung in Berlin vervollständigen!

Von den Kasernen aus konnte man jetzt auch auf den vorbeifahrenden Straßen lange Reihen von Flüchtlingen beobachten. Es trafen immer zahlreiche Versprengte, und zwar Angehörige unseres eigenen Regiments, wie auch anderer Truppenformationen bei uns ein, die bereits mit den Deutschen in Berührung gekommen und völlig auseinandergeschlagen worden waren. Sie alle standen unter dem Eindruck der unvergleichlichen technischen Überlegenheit der deutschen Truppen, der gegenüber sie einen Widerstand für ziemlich aussichtslos hielten. Bald aber erhielten sie einen Wink, nichts über ihre Erlebnisse zu berichten, zum mindesten nicht die Wahrheit. [30] Die sowieso schon geringe Begeisterung unter unseren Leuten sollte nicht noch weiter geschwächt werden.

Je verzweifelter sich die Lage Polens gestaltete, um so schwieriger wurde auch meine eigene als einziger Deutscher in dieser polnischen Umgebung. Ein bezeichnender Vorfall sollte mir klar zum Bewußtsein bringen, wie ich beobachtet wurde: Ich hatte als wachhabender Offizier Dienst im Regiment. Im Offizierswachzimmer benutzte ich die Gelegenheit, spät abends, als ich allein war, auf dem dort befindlichen Radioapparat eine deutsche Station und damit authentische Nachrichten über die wirkliche Lage zu bekommen.

Ich hatte vorsichtigerweise den Apparat so leise wie nur möglich eingestellt, in der Eile aber übersehen, daß zu der im Nebenraum befindlichen Mannschaftswachstube ein Lautsprecheranschluß führte, so daß man dort die eingestellte Station mithören konnte. Diese Unachtsamkeit wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Sofort erschien eine Ordonnanz und überbrachte von einem sich zufällig im Wachraum aufhaltenden Hauptmann den Befehl, unverzüglich das Radio auszuschalten. Damit hatte es für diesmal seine Bewandtnis, und ich war noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Man hätte mich auch bei der herrschenden Stimmung ebensogut wegen Sabotage zur Verantwortung ziehen können. Einige Tage darauf wurde dann der Apparat ganz abmontiert!...

Der 9. September brachte den ersten Angriff deutscher Flieger auf die Lubliner Kasernen. Wir Offiziere waren gerade zur Befehlsentgegennahme im Regimentsgebäude versammelt, als wir plötzlich das dumpfe Motorengeräusch deutscher Bomber vernahmen. Alles stob auseinander. Ich selbst gelangte mit langen Sätzen gerade noch bis vor das Haus, wo ich mich lang auf das Pflaster warf. Im nächsten Moment war auch schon die Hölle los. Bombe folgte auf Bombe und ließ die Erde in ihren Grundfesten erzittern. Bald brannte ein Teil der Magazine lichterloh. Es waren furchtbare Minuten, die mir die ganze Tragik meines Schicksals nochmals deutlich vor Augen führten. Als Deutscher in polnischer Offiziersuniform hier fern der Heimat unter den Bomben deutscher Flieger vielleicht sterben zu müssen für ein fremdes Land, [31] für ein Volk von Unterdrückern, das nicht mein Volk war.

Jeden Augenblick konnte das Gebäude, neben dem ich mit einer Reihe polnischer Kameraden lag, zusammenstürzen und uns unter seinen Mauern begraben. Glücklicherweise, d. h. für uns glücklicherweise, fiel der größte Teil der Bomben, bis auf wenige, die in nächster Nähe niedergingen und einige von uns verletzten, etwa 400 bis 500 Meter entfernt in die Parkanlagen des Kasernenhofes, unter deren Bäumen die aus den Gebäuden herausgezogenen Reservisten zur Vervollständigung ihrer Ausrüstung sich gelagert hatten. Ihre Wirkung unter den eng aneinandergedrängten Menschenmassen war fürchterlich.

Als der Angriff vorüber war, stürzte ich sofort im Laufschritt zu meiner Kompanie. Sie hatte noch verhältnismäßig wenig gelitten. Dafür waren die Nachbarkompanien um so mehr betroffen worden. Überall lagen zerfetzte Menschenleiber umher, abgerissene Gliedmaßen, zum Teil noch mit Zivilsachen bekleidet, Reservisten, die nicht mal dazu gekommen waren, in diesem Kriege die Uniform anzuziehen! Dazwischen von allen Seiten Hilferufe und das Wimmern Schwerverwundeter. Ein Volltreffer hatte die Lazarettstube in Trümmer gelegt und alle Insassen unter ihren Mauern begraben, eine andere Bombe hatte, ohne unmittelbar zu treffen, allein durch ihren Luftdruck einen der von den Polen in den letzten Tagen vor dem Kriege in aller Hast aufgeworfenen und leichtfertigerweise nicht abgestützten Luftschutzgraben zugeschüttet und die darin befindlichen Leute unter den Erdmassen lebendig begraben. Ringsum ein Bild der Zerstörung! Ich sammelte sofort meine Kompanie, ohne das Eintreffen der anderen Offiziere abzuwarten, und wir verließen durch eine schnell geschaffene Öffnung in dem Kasernenhofzaun - wir "verzichteten" darauf, noch bis zum Tore zu marschieren - diese Stätte des Grauens, jeden Augenblick eines neuen Angriffs gewärtig, der aber für heute nicht mehr kommen sollte. Der Eindruck dieses Bombardements war so nachhaltig, daß er meine Leute während des ganzen Krieges nicht mehr losgelassen hat. Es hat später nur des tiefen Motorengeräusches eines deutschen Flugzeuges bedurft, [32] um ihnen panikartige Furcht einzujagen. Die Verluste dieses Angriffes wurden nie bekanntgegeben. Meiner Ansicht nach müssen sie ziemlich hoch gewesen sein. Aus begreiflichen Gründen sollte nicht darüber gesprochen werden.

Wir haben dann nach diesem tragischen 9. September noch zwei Tage in einem Dorfe in der nächsten Umgebung von L. zugebracht, um dann endgültig abzumarschieren. Die Führung der Kompanie hatte inzwischen zum dritten Male gewechselt. Sie wurde von einem Hauptmann übernommen, der zu einer anderen Division gehörte und dessen Maschinengewehrkompanie bei Kielce vollkommen aufgerieben worden war. Er hatte sich mit einem Leutnant unter größten Schwierigkeiten bis Lublin durchgeschlagen. Wärend er uns Offizieren gegenüber nach seinen Erfahrungen mit den deutschen Truppen aus seiner pessimistischen Einstellung in bezug auf einen erfolgreichen Widerstand keinen Hehl machte, glaubte er die Leute in einer Ansprache dadurch aufmuntern zu sollen, daß er ihnen ein aus irgendeiner polnischen Zeitung entnommenes Rechenexempel vorführte. Danach war für einen Flug von Berlin nach Warschau für einen deutschen Bomber eine Zisterne Benzin notwendig, und man konnte sich also nach der Meinung des Herrn Hauptmann leicht ausrechnen, daß die bösen Deutschen in wenigen Tagen am Ende ihrer Künste sein müßten. Sie konnten ja keine großen Vorräte an Benzin aufgestapelt haben, so führte er aus, und Rumänien liefere kein Öl mehr. Im übrigen hielt er - jedenfalls den Mannschaften gegenüber - die deutschen Tanks auch gar nicht für so gefährlich (er selbst aber war mit seiner Kompanie von ihnen auseinandergehauen worden!) und fügte dann noch beruhigend hinzu, die Erfahrung hätte gezeigt, daß die Deutschen vor Bajonettangriffen ausrissen wie Schafleder. Also könnte der Krieg von Polen gar nicht verloren werden. Uns Offizieren gegenüber äußerte sich, wie gesagt, sein "Optimismus" ganz anders.

Es begann nun eine Marschperiode, über deren Zweck und Ziel wir uns erst viel später klar werden sollten. Wie sich nachher zeigte, haben wir mit allen Mitteln versucht, der drohenden Umklammerung durch die deutschen Truppen zu entgehen. [33] Vorläufig marschierten wir aber nichts ahnend jeden Tag; oder besser gesagt jede Nacht, bis in den frühen Morgen (denn infolge der Tätigkeit der deutschen Flieger waren Tagesmärsche ganz unmöglich) unsere 30-40 Kilometer, kampierten meist irgendwo im Walde, ohne jedes Dach überm Kopf, die Offizierstasche oder einen Tornister als "Kopfkissen" darunter. Gott sei Dank regnete es nur ganz wenig. Die Witterung war überhaupt ein Kapitel für sich. Es herrschte ein geradezu ideales Wetter, was einen großen Vorteil für die motorisierten deutschen Truppen bilden und sich entscheidend auf den Verlauf der Kampfhandlungen auswirken mußte. Man war sich dieser Tatsache auf polnischer Seite durchaus bewußt, weil man den bei Regen trostlosen Zustand der polnischen Wege kannte, und sandte jeden Morgen, ich habe das immer wieder beobachten können, sehnsüchtige Blicke gen Himmel, ob er denn nicht endlich seine Schleusen öffnen wollte. Aber es herrschte wie auf Bestellung "Hitlerwetter", und dagegen halfen alle frommen Wünsche nichts.

Unmittelbare Fühlung mit den deutschen Truppen hatten wir fürs erste nicht. Nur begleitete uns auf unseren Märschen ständiger Kanonendonner, ein Zeichen dafür, daß die Front nicht allzu weit entfernt sein konnte. Nachrichten über die allgemeine Lage bekamen wir überhaupt nicht, abgesehen von irgendwelchen unkontrollierbaren Gerüchten, die plötzlich auftauchten, von der Führung wahrscheinlich zielbewußt lanciert wurden und die natürlich für die Polen stets günstig lauteten. So sollten u. a. die deutschen Truppen in Südpolen - dahin waren sie also schon gekommen, das hatte man uns bis dato auch vorenthalten - sich in voller Flucht befinden. Von Warschau waren sie angeblich um 70 Kilometer bis Lowitsch zurückgedrängt worden (wir hatten bisher nicht gewußt, daß Warschau schon unmittelbar unter dem Feuer deutscher Batterien stand) und - dies erzählte man uns noch am 20. September - Rumänien, Ungarn und Jugoslawien hätten Deutschland nun auch den Krieg erklärt. Allerdings wollte der Kanonendonner in so naher Entfernung als Begleitmusik nicht recht zu diesen "Siegesmeldungen" passen. Nicht nur ich als Deutscher, sondern auch die vernünftigeren unter meinen pol- [34] nischen Kameraden hatten ihre eigenen Gedanken über diese Dinge und machten auch mir gegenüber daraus durchaus keinen Hehl.

Dadurch, daß ich die Gegend von meiner aktiven Dienstzeit her einigermaßen kannte, konnte ich mich wenigstens soweit orientieren, daß wir uns von Lublin aus erst in nordöstlicher Richtung, und zwar auf Wlodawa und dann weiter auf Brest-Litowsk bewegten, später aber, anscheinend unter der Einwirkung stärkerer deutscher Kräfte, mehr nach Süden über Cholm, Zamosch und Tomaszow Lubelski und Rawa-Ruska marschierten. Wir Zugführer hatten keine Karten, übrigens auch die Kompanieführer teilweise nicht, eine Tatsache, die eben auch nur in der polnischen Armee denkbar war.

Eigenartigerweise ließ jetzt die deutsche Fliegertätigkeit ganz auffallend nach, so daß wir es wieder wagen konnten, auch einmal am Tage die Nase aus dem Walde zu stecken und statt der wenig angenehmen Nachtmärsche auch tagsüber zu marschieren. Selbstverständlich tauchten in diesem Zusammenhang gleich hoffnungsvolle Gerüchte auf. Die Deutschen hätten nicht mehr genügend Benzin und müßten aus diesem Grunde ihre Flüge einstellen. Ebenso mangelte es ihnen an Bomben. Es wären in den letzten Tagen von deutschen Flugzeugen statt Bomben schon zusammengebundene Eisenbahnschienen abgeworfen worden. Diese Lügen waren so plump, daß selbst ein Teil der Polen Zweifel daran hegte und versuchte, sich das Fehlen der Flieger mit ihrem notwendigen Einsatz an der Westfront zu erklären. Das erschien auch mir einigermaßen einleuchtend, machte mich aber gleichzeitig wieder um das Schicksal Deutschlands im Westen besorgt. Das tiefe Brummen der deutschen Motore, so gefährlich es mir selbst auch werden konnte, war mir doch erheblich lieber gewesen als diese unheimliche Stille. Die eigentliche Ursache des Ausbleibens der Luftangriffe, die uns erst eine Woche später klar werden sollte, nämlich die, daß der Krieg in Polen sich bereits seinem Ende zuneigte und wir zu den wenigen polnischen Truppen gehörten, die sich überhaupt noch verteidigten, so daß wir bei den deutschen Fliegern nicht mehr das bisherige Interesse fanden, konnten wir natürlich nicht ahnen.

[35] Nach den langen Märschen der letzten Tage, die die Leute stark mitgenommen hatten, bezogen wir für zwei Tage Lager unter freiem Himmel in den Wäldern der Umgebung von Cholm. Hier waren größere Truppenmassen, zum Teil auch noch uneingekleidete Reservisten zusammengezogen worden, die man neu formiert und deren Ausrüstung, so gut es ging, vervollständigt werden sollte. Wir ließen uns natürlich diese Gelegenheit nicht entgehen, zum sechsten Male von innerhalb knapp drei Wochen den Kompanieführer zu wechseln! Hauptmann O. hat dann bis zum traurigen Ende dieses Amt bekleidet. Ich weiß nicht, ob es seiner Initiative zuzuschreiben war, jedenfalls bekam nun die Kompanie endlich auch drei Handmaschinengewehre, auf jeden Zug also eins. Eigentlich gehörte zu jeder Mannschaft als der kleinsten militärischen Einheit ein solches Handmaschinengewehr, d. h. ein Zug allein hätte also drei haben müssen, aber wir empfanden bei unseren inzwischen stark zurückgeschraubten Ansprüchen diesen Zuwachs schon als eine sehr annehmbare Verbesserung unserer Ausrüstung.

An Stelle von uns drei Reserveoffizieren übernahmen drei Berufsoffiziere, die von der Front kamen, die Führung einzelner Züge der Kompanie. Wir selber wurden stellvertretende Zugführer, ein Wechsel, der mir persönlich einige Tage später vielleicht das Leben gerettet hat.

Solange der Vorrat reichte, und das war nur kurze Zeit, konnte man mit einiger Anstrengung bei dieser Materialverteilung hier mitten im Walde noch diesen oder jenen Tornister, Karabiner, Ledergurt oder sonstige Ausrüstungsgegenstände für seine Leute ergattern. Es handelte sich um zusammengesammelte Sachen von bereits aufgeriebenen polnischen Formationen, die bunt zusammengewürfelt waren und nicht gerade dazu beitrugen, das sowieso schon wenig schöne äußere Bild unserer Truppe einheitlich zu gestalten. Augenscheinlich bereitete man sich aber trotz der doch schon verdammt ernsten Lage noch auf einen längeren Waffengang vor. Es wurden nämlich neben Winterwäsche, deren Verteilung noch einigermaßen erklärlich schien, trotz der außergewöhnlich warmen Septembertage mit ihrem schönen Wetter, unverständlicherweise [36] auch eine Anzahl von Schafspelzen ausgegeben! Die ganze Verteilung der Sachen trug schon deutlich die Zeichen einer Verzweiflungsaktion und vertiefte die sich immer mehr ausbreitende Niedergeschlagenheit bei der Truppe.

Auch diese beiden Ruhetage hatten die Leute nicht wieder genügend auf die Beine bringen können. Erstens wurde infolge der mangelnden Verpflegung die Unzufriedenheit immer größer, dann waren aber auch die körperlichen Anforderungen, die an die Mannschaften gestellt wurden, so groß, daß ihnen wohl eine militärisch gut disziplinierte Truppe gewachsen gewesen wäre, nie aber das hier zur Verfügung stehende Menschenmaterial. Nur in Sichtweite liegende Brunnen und Obstgärten rüttelten ab und zu die matten Geister etwas auf. Die Gärten wurden restlos geplündert, und es gelang nur mit Mühe und mit Hilfe eines handfesten Knüttels, der in gewissen Zeitabständen erneuert werden mußte, die Disziplin notdürftig aufrechtzuerhalten.

In diesen Tagen sickerten zum ersten Male trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Nachrichten darüber durch, daß die Russen die polnische Grenze überschritten hätten, allerdings gleich wieder mit der dieser Hiobsbotschaft beigegebenen Erklärung, es hätte sich nur um einen Streifen von 50 Kilometer Breite ins Innere Polens gehandelt, und auf ein entsprechendes Ultimatum von England, Frankreich, Amerika und vor allen Dingen von Japan hin, hätten sich die Eindringlinge wieder zurückgezogen.

Diese Nachricht schlug wie eine Bombe ein, und der Fähnrich, der sie mir zuerst unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, setzte gleich hinzu, "Herr Leutnant, wenn dies tatsächlich stimmt, dann sind wir unrettbar verloren."

Die Bestätigung sollte uns schon in den allernächsten Tagen werden, und zwar in einer ganz unerwarteten Weise durch die deutschen Truppen selbst. Nachdem wir die letzten drei Tage, nur durch nach kurzen Stunden zählende Pausen unterbrochen, fast dauernd auf dem Marsch und in Bewegung waren, kam das bis dahin nur in der Ferne gehörte Artilleriefeuer jetzt merklich näher. Wir mußten also in unmittelbarer Nähe der Front sein.

[37] Es war die Nacht vom 21. zum 22. September. Nach fast 16stündigem Marsch kamen wir erst wieder gegen Morgen zu kurzem Ausruhen, und nach fünf Stunden Pause ging die Walze weiter. In dem Dorf, in dem wir lagen, waren schon die Deutschen gewesen. Offensichtlich Spähtrupps, die sich wieder zurückgezogen hatten. Ein deutscher Soldatenmantel, der zurückgelassen worden war, wurde allgemein bestaunt. Ich betrachtete ihn mit etwas wehmütigen Blicken, erschien er mir doch wie ein Gruß aus dem fernen Vaterland, und unwillkürlich kam mir der Gedanke, ob es mir wohl auch noch mal vergönnt sein würde, die deutsche Uniform zu tragen?

Während einer kurzen Marschpause sollte Essen verteilt werden. Nur der erste Zug bekam noch etwas in die Eßgefäße. Dann war schon der Befehl zum Weitermarsch da. Wir befanden uns augenscheinlich in unmittelbarer Kampffühlung mit den deutschen Truppen. In der Nähe einer Zuckerfabrik wurde nochmals gehalten, dann gings querfeldein, und zwar ausgeschwärmt in Gefechtslinie weiter. Das Artilleriefeuer wurde ungemütlich. Mit dumpfem Krachen schlugen rechts und links vor und hinter uns die Granaten ein. In aller Eile hatte irgend jemand in der Zuckerfabrik einen Sack Zucker requiriert, und nun kaute jeder den Zucker mit vollen Backen, als ob er irgendwo im Manöver wäre und nicht jeden Augenblick von einer Granate zerrissen werden könnte. Wir kamen, unter ständigem Artilleriefeuer weiter vorrückend, an verlassenen, nun inmitten der Gefechtszone liegenden Bauernhöfen vorüber. Keine lebende Menschenseele war zu sehen. Das Geflügel, und teilweise auch das Vieh, lief frei herum, ein Bild des Friedens mitten im Krieg. Am Horizont brannten mehrere Gehöfte lichterloh. Da niemand da war zum Löschen, genügte der kleinste Funke, um das ganze Anwesen einzuäschern.

Wir hielten in einem kleinen Wäldchen. Am Rand des Wäldchens feuerte eine Batterie, was die Rohre hergeben wollte. Für uns Infanteristen war das ein ungewohntes und interessantes Bild, das entsprechend lange bestaunt wurde. Nach kurzer Atempause ging es bei Einbruch der Dunkelheit weiter. Jetzt standen die brennenden Gehöfte ringsum wie riesige Fackeln am Horizont. Die Feldküchen waren irgendwo liegen- [38] geblieben. Der Magen knurrte, die Mannschaften auch. Aber statt Essens- gab es doppelte Marschrationen. Wir waren wieder die ganze Nacht auf den Beinen, immer in unmittelbarer Nähe der Front und unter direktem Artilleriefeuer.

Der heraufziehende Morgen fand uns alle zum Umfallen müde. Nach einer kurzen Marschpause waren die Leute kaum noch mit guten Worten oder Drohungen hochzubekommen. Sie konnten einfach nicht mehr. Uns alle beherrschte der Gedanke, möglich bald irgendwo Quartier zu beziehen und die müden Glieder wenigstens für einige Stunden strecken zu können. Statt dessen kam plötzlich der Befehl, in Richtung auf ein zur rechten Hand liegendes, teilweise brennendes Dorf zum Sturmangriff überzugehen. Gleichzeitig setzte auch schon von allen Seiten ein wütendes Feuer auf uns ein. Vor uns, der Infanterie, raste unsere Artillerie irgendwo in Stellung in Richtung auf den Feind zu. Man hatte keine Zeit, sich über diesen unsinnigen, gegen die einfachsten militärischen Grundsätze verstoßenden Einsatz der Artilleriekräfte, der von einer völligen Kopflosigkeit zeugte, weiter Gedanken zu machen. Sprungauf marsch, marsch, hinwerfen, sprungauf marsch, marsch, hinwerfen, so ging es über eine etwa 1 Kilometer lange Wiese. Sie war eben wie ein Billardtisch und bot nicht den geringsten Schutz. Dabei bekamen wir ein wütendes Flankenfeuer, ohne den "Gegner" selbst zu sehen. Die Deutschen waren glänzend gedeckt. Die Kugeln pfiffen uns nur so um den Kopf, rechts und links fielen meine Leute. Wenn ich nur jetzt den Stahlhelm gehabt hätte, den ich mir vor wenigen Tagen bei der Ausrüstungsvervollständigung im Walde bei Cholm für alle Fälle "organisiert" hatte. Aber den hatte der Schütze F., der einzige Deutsche in meinem Zuge, dem seine Mütze abhanden gekommen war, und dem ich den Helm bis zum "Besorgen" eines neuen geliehen hatte. Was hätte ich nicht dafür gegeben, ihn in dieser verteufelten Situation statt der leichten Übungsmütze auf dem Kopfe zu haben. Wie durch ein Wunder kam ich unverletzt über die Wiese und war für einen Augenblick im Schutze eines Getreideschobers geborgen, aber schon ging es weiter, rechts hinauf gegen das brennende Dorf. Von hier schlug uns womöglich noch wütenderes Feuer entgegen. Es war ganz un- [39] möglich, hindurchzukommen. Wo waren denn auch nur unsere Maschinengewehre? Wahrscheinlich gar nicht mehr in Stellung gekommen!

Jetzt erhielten wir schon Feuer von drei Seiten, waren also munter in eine Falle gegangen. Die Angriffsrichtung wurde geändert, auf ein linker Hand sich befindendes Wäldchen zu. Auch von dort wurden wir mit stärkstem MG.-Feuer empfangen. Unsere Leute fielen wie die Fliegen. Und immer noch war kein Deutscher zu sehen, nur Feuer, Feuer und nochmals Feuer. Die Hölle war los. Mein Zug hatte nur noch einen Bruchteil seines Bestandes und war dabei noch nicht zum Schuß gekommen. Wir kamen auch auf dieser Seite nicht an den Wald heran. Ich warf mich hin. Ein Lupinenfeld gab notdürftigen Schutz. Etwa 10 Meter vor mir, schon auf dem kahlen Acker, zwischen meinem Liegeplatz und dem Wald, wälzte sich ein Schwerverwundeter hin und her. Es war Leutnant W., der Zugführer, der vor zwei Tagen an meine Stelle getreten war. Bestimmung - Schicksal? Er war dem Zuge vorausgestürmt und hatte eine Kugel mitten in die Stirn bekommen. Es ging zu Ende. Er stieß noch abgerissene Worte hervor, wollte hoch, die Glieder versagten ihm aber den Gehorsam. Ich rief ihm zu, stillzuliegen, und wollte versuchen einen Sanitäter zu holen. Ein solcher war aber weit und breit nicht zu sehen, und auf dem kahlen Acker weiter zu liegen, war unmöglich. Ich mußte zurück in die Lupinen, setzte alles auf eine Karte und erreichte mit einem Riesensatz meinen alten Platz. Mein Zug war vollkommen aufgerieben. Die wenigen, die nicht gefallen oder verwundet waren, vermochten sich in dem rasenden Feuer nicht zu rühren.

Ich selbst konnte nicht vorwärts und nicht zurück. In meiner nächsten Nähe schlugen dauernd Granaten ein, deren Begleitmusik die singenden MG.-Kugeln bildeten. Jetzt kam das Feuer auch schon von der Rückseite, wir waren also vollkommen eingekreist, eine verteufelte Situation! Ich lag platt auf der Erde. Sowie ich auch nur den Kopf hob, ging ein noch wütenderes Geschieße los. Sollte das nun das Ende sein? War es mir bestimmt, noch im letzten Augenblick von einer [40] deutschen Kugel zu fallen? Ich wußte, wenn's mich jetzt hier faßte, war ich für immer verschollen, ohne daß jemand in der Heimat je etwas über mein Schicksal erfahren würde. Die Minuten wurden mir zu Stunden.

Plötzlich tauchte neben mir, auf allen vieren sich fortbewegend, ein Fähnrich von einer anderen Kompanie auf. Auch er war von seiner Truppe versprengt und hielt sich nun zu mir. Er ahnte natürlich nicht, daß er hier in dem polnischen Offizier einen Deutschen vor sich hatte. Wir unterhielten uns in kurzen, abgerissenen Sätzen trotz des dichten Kugelregens. Er war mit seinem Truppenteil an der ostpreußischen Grenze gewesen, zurückgeschlagen worden und dauernd auf der Flucht sich befindend, zu unserer Division gestoßen. Trotz des Ernstes der augenblicklichen Situation durchzuckte es mich freudig. Also Ostpreußen war frei von den Polen, man hatte uns faustdicke Lügen aufgetischt. Der Fähnrich lugte vorsichtig über die Lupinen hinweg, duckte sich aber sofort wieder und flüsterte mir ganz aufgeregt zu, gerade auf die Stelle, wo wir lägen, käme eine ausgeschwärmte deutsche Kompanie zu. Sie kamen aber leider nicht. Etwa 100 Meter vor uns schwenkten die Deutschen ab in den Wald. Verdammt noch mal! Ich konnte, um mich irgendwie bemerkbar zu machen, mich doch nicht rühren. So lagen wir noch gute zwei Stunden. Dann wurde es allmählich ruhiger. Trotz noch vereinzelt vorbeipfeifender Kugeln entschlossen wir uns beide, den Versuch zu wagen, in das links im Tale liegende Gehöft zu gelangen. Der Fähnrich hatte unter den umherliegenden Schwerverwundeten zwei Kameraden, die er unbedingt mit meiner Hilfe auf einem Wagen holen wollte. Wir kamen durch. An dem Gehöft war eine weiße Fahne befestigt, mehrere polnische Offiziere, darunter auch ein Major, standen vor der Scheune. Ich meldet mich bei dem Major und bat um die Erlaubnis, die Verwundeten holen zu dürfen. Er war furchtbar erregt und fragte mich nach den Deutschen. Ich konnte keine genaue Auskunft geben, wußte es ja selbst nicht, gab aber meiner Vermutung Ausdruck, daß wenigstens im Augenblick linker Hand über die Wiesen weg die Luft rein sein könnte. Der Major ließ mich kaum ausreden und war dann schon mit den übrigen Offizieren im Laufschritt [41] weg in der angegebenen Richtung in den Büschen verschwunden.

Wir trieben unterdes einen Wagen auf. Ein paar herrenlos herumlaufende Pferde wurden davorgespannt, und wir holten dann die beiden Schwerverwundeten, einen Leutnant und einen Fähnrich. Sie hielten Furchtbares aus. Dem Leutnant war der ganze Unterleib aufgerissen, der Fähnrich hatte zwei Brustschüsse und einen Bauchschuß. Beide waren bei voller Besinnung und lagen, wie sie erzählten, schon vier Stunden in ihrem Blute. Jetzt fing es auch noch zu regnen an. Wir mußten mit dem Ackerwagen quer über die Kartoffelfurchen, um auf den Weg zu gelangen. Ich fürchtete, sie würden uns beide unter den Händen sterben. Meine Absicht, Leutnant W. noch mitzunehmen, konnte ich nicht ausführen. Ich fand seine Leiche nicht mehr. Nur eine große Blutlache und die zerfetzte Mütze sowie die Gasmaske zeigten die Stelle an, wo er gefallen war. Anscheinend hatten ihn die Deutschen mitgenommen, um ihn zu begraben.

Unser Trauerzug fuhr zurück zum Gehöft. Der Fähnrich hatte auf einem Gut in der Nähe Verwandte, der Leutnant wollte zur Operation nach T., dem nächsten größeren Ort. Beides ungefähr je 15 - 20 Kilometer entfernt, also kaum eine Aussicht, daß die Verwundeten den Transport aushalten würden. Ich ging in die Hütte, um Erkundigungen einzuziehen, und als ich nach einiger Zeit herauskam, waren der Wagen und die polnischen Kameraden verschwunden. Die Bäuerin zeigte auf mein Befragen auf die Wiese hinter dem Hause, wo ich zu meinen Erstaunen zwei deutsche Soldaten zu Pferde sah, die mit vorgehaltener Pistole die Polen, die sich hier noch herumtrieben, zusammenholten. Auch ich war im nächsten Augenblick bei der Schar.

Gefangen - gerettet! Ein Glücksgefühl schlug in mir hoch, das alles andere übertönte. Ich wäre am liebsten dem Wachtmeister um den Hals gefallen, aber soweit war es noch nicht. Der Reiter im Stahlhelm mit den schwarz-weiß-roten Farben war sehr mißtrauisch. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Wie sollte er auch hier und in dieser Aufmachung einen Landsmann vermuten. Aber mein fließendes Deutsch und mein Offiziers- [42] buch mit dem deutschen Namen und der darin verzeichneten Nationalität und Muttersprache (der Mann stammte aus Schlesien und sprach etwas polnisch) überzeugten ihn allmählich. Auch fiel es ihm auf, daß mein Revolver, den ich abgeben mußte, noch das volle Magazin enthielt. Er wurde zusehends freundlicher und gab mir sogar einen der eingefangenen Gäule zum Reiten. Die anderen Gefangenen marschierten zu Fuß. So ging's zu dem einige Kilometer entfernten Sammelplatz. Der Weg war mit Toten, gefallenen Pferden, umgestürzten Kanonen, Wagen und anderem Kriegsgerät übersät. Ein Bild des Grauens! Hier waren nur wenige lebend herausgekommen. Die Offiziere meistens gefallen, man sprach von 50 - 60% Toten.

Der Nachmittag fand mich schon als Gast der Offiziere einer deutschen Batterie. Ich mußte immer und immer wieder erzählen, während etwa 150 Meter von mir die deutschen Kanonen in ununterbrochenem Schuß ihre Grüße den letzten Resten der fliehenden Polen nachsandten. Ich fühlte mich noch wie im Traum. Vor 12 Stunden noch als polnischer Leutnant im dichtesten Kugelregen, und nun unter deutschen Kameraden gerettet und in Sicherheit.

Und jetzt erfuhr ich auch zu meinem Erstaunen, da alles das, was man uns in den letzten Wochen erzählt hatte, nichts als Lügen gewesen waren. Bortnowski, der polnische General, der Ospreußen besetzt haben sollte, war seit einer Woche selbst in Gefangenschaft, die polnische Regierung längst geflüchtet, und wir gehörten zu den kläglichen Resten der geschlagenen polnischen Armee, die sich überhaupt noch gehalten hatten. In wenigen Tagen mußte Warschau fallen, und damit wäre der Polenfeldzug endgültig beendet. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ja, war denn das alles überhaupt möglich!? Hurra, hurra, hurra! Ich konnte mich kaum fassen vor Freude. All die Leiden der letzten Wochen lagen weit hinter mir, waren im Nu vergessen. Was bedeuteten sie demgegenüber, was ich jetzt erlebte. Ich hätte am liebsten jetzt ganz allein das Deutschlandlied anstimmen mögen, aber ich fürchtete, die deutschen Kameraden würden mich für verrückt halten. Sie konnten es ja nicht verstehen, was in mir vorging! -

[43] Ich habe dann noch den Gefangenentransport zu einem größeren Sammellager mitgemacht und war mit meinen polnischen Sprachkenntnissen der bewachenden deutschen Feldgendarmerie ein willkommener Dolmetscher. Sehr aufschlußreich war es dabei, die Stimmung der Gefangenen kennenzulernen, die erst jetzt, nachdem sie wochenlang mit "Sieges"-Nachrichten überhäuft und von ihrer Führung belogen und betrogen worden waren, die Wahrheit erfuhren. Eine tiefe Enttäuschung und Verbitterung hatte diese Menschen ergriffen, und ich bin der festen Überzeugung, daß der größte Teil von ihnen schon längst die Waffen gestreckt hätte, wenn die aussichtslose Lage Polens bekannt gewesen wäre. Wieviel unnötiges Blutvergießen hätte dadurch vermieden werden können. Auch das ist eine furchtbare Anklage gegen die ehemaligen Warschauer Machthaber, die heute selbst irgendwo im Auslande in Sicherheit sitzen.

Von Jaroslau am San, von der neuen Interessengrenze zwischen Deutschland und Rußland, ging es zurück in die Heimat. Die polnische Uniform war abgestreift, und damit verblaßte das Erlebnis dieses Krieges unter fremder Fahne wie ein böser Traum.

Eine neue und schönere Zukunft steht bevor. Hoffentlich wird es uns vergönnt sein, noch einmal die Waffen zu ergreifen, dann aber im grauen Ehrenkleid der deutschen Wehrmacht und für ein hohes Ziel, für unser geliebtes deutsches Vaterland.


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Volksdeutsche Soldaten unter Polens Fahnen:
Tatsachenberichte von der anderen Front
aus dem Feldzug der 18 Tage