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[Bd. 5 S. 246]

5. Kapitel: Von den Septemberwahlen zur Diktatur der Demokratie.

Während des parlamentslosen Vierteljahres war es das eifrigste Bemühen der Regierung Brüning, den bereits zur Höhe von vielen hundert Millionen anschwellenden Fehlbetrag des Reichshaushaltes auszugleichen. Furchtbar war der Druck der Not, und er wurde immer stärker. Die Wirtschaft litt an einem Zustande des Weißblutens. Konkurse und Schließungen von Betrieben häuften sich von Tag zu Tag. Die Kündigung ausländischer Millionenkredite zum Ende des Jahres beschleunigte den Zusammenbruch. Immer größer wurden die Ausfälle an Steuern für Reich, Länder und Gemeinden. Die städtischen Steuereingänge Berlins waren im August 1930 40 Prozent niedriger als 12 Monate vorher. Anderseits wuchs die Not der Arbeitslosigkeit durch diese Entwicklung ins Grauenhafte. Anfang September war die Berliner Verkehrsgesellschaft zu Massenentlassungen genötigt, 1200 Menschen wurden brotlos. Am 9. August wurden in Deutschland 2 750 000 Erwerbslose gezählt, am 25. August waren es 2 845 000, am 31. August schon 2 873 000 Arbeitslose. Täglich wurden im Durchschnitt etwa 5000 Menschen aus dem Wirtschaftsprozeß ausgeschaltet.

  Maßnahmen des Reiches  

Das Deutsche Reich hatte einen Fehlbetrag von 900 Millionen. Schon am 26. Juli setzte der Reichspräsident durch Notverordnung laut Artikel 48 der Verfassung die am 16. Juli vom Reichstag abgelehnten Deckungsvorlagen in etwas veränderter Form in Kraft. So wurde vom 1. September ab eine zehnprozentige Ledigensteuer eingeführt. Ende August hatte die Reichsregierung ein Pensionskürzungsgesetz geschaffen, das sich gegen sogenannte Doppelverdiener richtete, eine Neufestsetzung des Ruhegeldes enthielt und der Beseitigung von Mißständen dienen sollte. Am 14. Oktober nahm der Reichsrat das Gesetz an, das eine Pensionskürzung für Doppelverdiener vorsah und bei Höchstpensionen den Mehrbetrag über 12 000 Mark [247] um 10 bis 50 Prozent kürzte. Am gleichen Augusttage, da die Reichsregierung die Kürzung der Ruhegehälter beschlossen hatte, brachte der Reichsrat die Verordnung über die Bürgersteuer heraus, welche den Gemeinden das Recht gab, ihre gesamten Einwohner gemäß ihrem Einkommen zu besteuern. In dieser Bürgersteuer lebte die von Erzberger beseitigte Gemeindeeinkommensteuer in veränderter Form wieder auf.

Am letzten Septembertage endlich veröffentlichte die Reichsregierung ihren Wirtschafts- und Finanzplan, der nicht nur die Reichsfinanzen, sondern auch die Haushalte der Länder und Gemeinden ins Gleichgewicht bringen wollte. Der Plan hatte folgenden Inhalt: Der Fehlbetrag des Reiches für 1930 in Höhe von 900 Millionen soll getilgt werden durch besondere Fonds innerhalb von drei Jahren, wobei jährlich ein Betrag von etwa 420 Millionen fällig wird. Um den Etat für 1931 auszugleichen, sollen die Ausgaben um eine Milliarde gesenkt werden. Zu diesem Zwecke werden vom 1. April 1931 gekürzt die Gehälter des Reichspräsidenten, der Reichsminister und des Reichskanzlers sowie die Abgeordnetendiäten um 20 Prozent, die Gehälter und Pensionen der Reichsbeamten um 6 Prozent. Die Überweisungen an Länder und Gemeinden werden um 100–140 Millionen verringert. Die Zuschüsse des Reiches zur Arbeitslosenversicherung werden auf 420 Millionen begrenzt, im Etat werden 300 Millionen abgestrichen, und von einer Erhöhung der Tabaksteuer und des Tabakzolles erwartet man einen Mehrbetrag von 167 Millionen. Auch Länder und Gemeinden sollen Gehälter und Diäten nach dem Vorbild des Reiches kürzen. Man faßt außerdem die Mitwirkung des Reiches bei der Haushaltaufstellung der Länder und Gemeinden ins Auge, ja sogar eine ständige Haushaltskontrolle durch das Reich wird geplant. Außerdem soll das Steuersystem vereinfacht, die Wohnungswirtschaft neu geregelt werden. Die Agrargesetzgebung soll ausgebaut und fortgeführt werden. Die so für Reich, Länder und Gemeinden herabgesetzten Ausgaben dürfen innerhalb dreier Jahre nicht erhöht werden, durch höhere Einnahmen etwa erzielte Überschüsse sollen zur Steuersenkung verwendet werden.

[248] Das waren sehr tiefgreifende Maßregeln, die schon längst nötig gewesen wären. Nun, da die deutsche Wirtschaft durch die jahrelang auf ihr ruhende Last fast erdrückt war, entschloß man sich schweren Herzens zu ihnen, allerdings unter lebhaftestem Widerspruch der Beamten und Gemeinden. Mitte Oktober gelang es der Regierung Brüning, durch ein internationales Bankenkonsortium einen Überbrückungskredit von 125 Millionen Dollars zu erhalten, um die erste Rate der schwebenden Schuld von 420 Millionen zu tilgen. – Auch die Zahl der Arbeitslosen zu verringern war man bemüht. Reichsbahn und Reichspost arbeiteten Arbeitsbeschaffungsprogramme aus, mit denen sie 200 000 Menschen Arbeit geben wollten. Der Jungdeutsche Orden im Freistaat Sachsen ging zur Selbsthilfe über, indem er mit Erfolg für seine Mitglieder die Arbeitsdienstpflicht einführte.

  Reichstagswahlkampf  

Der neue Wahlkampf im Sommer 1930 zeigte, wie sehr das politische Leben des Volkes seit dem Sommer 1929 in Fluß geraten war. Entfesselte Kräfte tobten gegeneinander und drohten das bisher noch mühsam zusammengehaltene parlamentarische Gefüge in ein wildes Chaos zu verwandeln. Nicht weniger als 39 Parteien und Gruppen meldeten ihre Ansprüche auf Vertretung im Reichstag an. Doch lassen sich im großen Ganzen vier Gruppen erkennen: die oppositionelle Rechte, die staatserhaltende Mitte, die isolierte Sozialdemokratie und die radikale Linke.

  Parteibewegung  

Zwischen Hitler und Hugenberg kam nicht das Wahlbündnis zustande, das viele seit der Aktion gegen den Youngplan erwartet hatten. Aber wie ein Feuerstrom brauste der Nationalsozialismus in diesen Sommerwochen über Deutschland hin. Die große Thüringer Gautagung in Gera, wo Hitler und Frick am 12. und 13. Juli vor Zehntausenden sprachen, eröffnete gleichsam den Feldzug. Bis in die kleinsten Dörfer hinein gelangten die Sendboten des Dritten Reiches, vor Bauern und Arbeitslosen wurde die rote Fahne mit dem Hakenkreuz entrollt. Tausende von Versammlungen, in denen auch Hitler sprach, so in Essen Mitte August vor Zehntausenden von Menschen, führten das aufhorchende Volk zusammen. Leidenschaftliche Anklagen gegen das demokratische System wurden [249] vorgebracht, das seit November 1918 das Millionenvolk von einer Schmach in die andere, von einer Knechtschaft in die andere geführt habe.

Nationalsozialistisches Wahlplakat zur Reichstagswahl 1930.
[Bd. 5 S. 176a]      Nationalsozialistisches
Wahlplakat zur Reichstagswahl 1930.

Photo Scherl.
Nationalsozialistisches Wahlplakat zur Reichstagswahl 1930.
[Bd. 5 S. 176a]      Nationalsozialistisches
Wahlplakat zur Reichstagswahl 1930.

Photo Scherl.

Eine Leidenschaft war entzündet, die etwas Dämonisches in sich hatte, und wohin die Redner der Nationalsozialisten kamen, da wurden sie vom Jubel umbraust, und die Menschen aller Stände schlossen sich ihnen an. Die Nationalsozialistische Partei, die nichts gemein hatte mit dem gegenwärtigen Staate, ward zum Sammelbecken aller volks- und kulturbejahenden Deutschen, vor allem der jungen Generation. Das vermochten nicht die drakonischen Maßnahmen der Regierungen und der Polizeibehörden zu verhindern, welche die nationalsozialistischen Zeitungen verboten, häufig sogar bereits gefüllte Versammlungen dadurch zu sprengen versuchten, daß sie dem Redner, der schon das Podium bestiegen hatte, das Wort verboten oder ihn gar verhafteten.

Thüringer Gautag der Nationalsozialisten 1930 in Eisenach.
[Bd. 5 S. 112a]      Thüringer Gautag der Nationalsozialisten 1930 in Eisenach.
Links Dr. Frick (ohne Hut).
  [Photo Scherl?]
Hindenburg in Speyer.
[Bd. 5 S. 112a]      Hindenburg in Speyer,
Blick vom Rathaus.
      Photo Scherl.

Die Gegenspieler der Nationalsozialisten waren die Kommunisten. Auch sie hatten keinerlei Beziehung zur Demokratie und verurteilten das System in Grund und Boden. Auch sie strebten nach der Befreiung Deutschlands, allerdings in der Durchführung des Klassenkampfes bis zur letzten Diktatur des Proletariats, wie sie ihnen in Rußland als Ideal erschien. Schon am 19. Juli erschien der Wahlaufruf der Kommunisten. Die Partei rufe und rüste zum Kampf für den proletarischen Sieg. In allen Betrieben, auf allen Stempelstellen, in jedem Büro und jeder Amtsstube, auf jedem Gutshofe, in jedem Bauerndorfe – heran an die Organisation des Massenkampfes gegen die faschistische Hungerregierung Brüning-Hindenburg! "Wählt in allen Betrieben Kampfleitungen, organisiert mit der Revolutionären Gewerkschaftsopposition die Arbeitskämpfe gegen die mörderische kapitalistische Rationalisierung unter selbstgewählter Führung. Schafft das Bündnis der Betriebsarbeiter und Angestellten mit den Erwerbslosen. Bildet rote Betriebswehren gegen den Mordfaschismus." Ende August erschien ein neuer Aufruf zur "nationalen und sozialen Befreiung Deutschlands". Gegen Youngplan, Versailler Vertrag und alle kapitalistischen Unterdrückungen sowie die nationalen Vergewaltigungen der Minderheiten wird volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen gefordert. "Nur die soziale Revo- [250] lution der Arbeitermassen kann die nationale Frage Deutschlands lösen."

Auch die Kommunisten hielten wie die Nationalsozialisten in Stadt und Land Massenversammlungen ab. Auch sie riefen die Leidenschaften auf, und Hunderttausende von Verzweifelten schlossen sich der roten Fahne mit Sichel und Hammer an, von der sie alles Heil erhofften. Mit Jubel stimmten sie den Fanatikern zu, die unentwegt den Bürgerkrieg, den rücksichtslosen Bürgerkrieg proklamierten. Aber die Kommunisten sahen in den Nationalsozialisten eine unerlaubte Konkurrenz, welche ihnen die Arbeitermassen abspenstig machte, und mit unerhörtem Hasse verschärften sie ihren Kampf gegen die Anhänger Hitlers. Es schien, als wolle die junge Generation, gespalten in die unversöhnlichen Gegensätze Nationalsozialismus und Kommunismus, sich gegenseitig zerfleischen. Die Kommunisten drangen in die Versammlungen der Nationalsozialisten, griffen diese gewalttätig an, verwundeten und töteten ihre Gegner. Überall tobten diese Saalschlachten, die kaum von der Polizei beendet werden konnten. Im Dunkel der Nacht rotteten sich bewaffnete kommunistische Banden zusammen, durchzogen die Straßen und überfielen die Nationalsozialisten mit Messern, Gummiknüppeln und Revolvern. Verfügten doch die Kommunisten noch über eine Anzahl Schußwaffen, wie zufällige Entdeckungen von Waffenlagern, wie z. B. in Schrebergärten bei Leipzig, genugsam bewiesen. Schon Ende Juli war ein derartiger Zustand des Bürgerkrieges erreicht, daß die Regierung durch Notverordnung das Tragen sämtlicher Waffen verbot, um "das bewaffnete Auftreten von Organisationen radikaler Parteien" zu unterbinden.

Zwei feindliche Brüder im Wahlkampf: Sozialdemokraten und Kommunisten.
[Bd. 5 S. 176b]      Zwei feindliche Brüder
im Wahlkampf: Sozialdemokraten
und Kommunisten.
      Photo Scherl.
Sozialdemokratie verteilt Stückchenseife als Wahlpropaganda!!
[Bd. 5 S. 176b]      Sozialdemokratie verteilt Stückchenseife als Wahlpropaganda!!
Photo Scherl.

Der Wahlkampf der Sozialdemokratie richtete sich gegen die Regierung Brüning. Der Wahlaufruf der Partei im Vorwärts erklärte:

      "Es ist nicht wahr, daß der Reichstag versagt hat, die Regierung Brüning hat versagt. Ihr einziges Bestreben war darauf gerichtet, die Sozialdemokratie, die politische Vertretung der Arbeiterklasse, auszuschalten und mit den Großindustriellen und den Großgrundbesitzern zu regieren. Daran ist sie gescheitert... Die Regierung Brüning wollte gegen die [251] Sozialdemokratie und mit der Rechten regieren, wie es der Reichspräsident befohlen hatte."

Aber es gab doch innerhalb der Sozialdemokratie auch radikalere Strömungen, besonders unter den Jungsozialisten. Sie erklärten, daß ihnen die Republik allein nicht genüge, sie erstrebten die sozialistische Gesellschaft durch den Klassenkampf. So demonstrierten diese am 1. August gemeinsam mit den Kommunisten, sie verleugneten die schwarz-rot-goldene Fahne und marschierten unter den "roten Fahnen des Aufruhrs", sie führten Transparente mit, auf denen zu lesen stand: "Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist unser Ziel!"

Das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Hindenburg, und damit auch zu Brüning und den bürgerlichen Parteien hatte sich infolge der westdeutschen Stahlhelmangelegenheit verschlechtert. Hindenburg hatte an den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Preußen, Braun, einen Brief geschrieben, daß er nur dann das befreite Rheinland besuchen würde, wenn das dort seit dem Oktober geltende Stahlhelmverbot aufgehoben würde. Braun war dazu bereit, doch sollte der Stahlhelm den ersten Schritt tun, damit das Ansehen der Regierung nicht leide. Doch die bürgerlichen Minister widerstanden diesem Verlangen Brauns, und Mitte Juli zog in Preußen eine Regierungskrise herauf. Braun gab zwar nun doch nach, da er keine Mehrheit erhalten konnte, aber der Erfolg war eine Vertiefung der Kluft zwischen Sozialdemokratie und bürgerlichen Regierungsparteien.

Hugenberg gab für die Deutschnationale Partei die Parole "Rechts heran!" aus.

      "Die rollende Bewegung der marxistischen Revolution ist nur durch die konservativen Kräfte zu bändigen, die eine Synthese zwischen national-revolutionärem Angriffsgeist und staatspolitischer Beharrlichkeit bilden. Die Zeit zur Lösung dieser Lebensfrage ist gekommen. Die Macht des Marxismus muß gebrochen werden. So geht der Kampf zugleich um Preußen."

Die Deutschnationalen standen in unbedingter Opposition gegen Brüning an der Seite der Nationalsozialisten.

Der Stahlhelm, der an sich überparteilich war, gab an seine Mitglieder die Weisung aus, daß man nur die deutschnationale oder nationalsozialistische Liste wählen könne. Der Stahlhelm [252] selbst griff durch Aufmärsche mit Fahnen und Musikkapellen und Ansprachen in den Wahlkampf zugunsten der nationalen Opposition ein. Besonders in Westdeutschlands Großstädten fanden diese Veranstaltungen statt, nachdem das Stahlhelmverbot aufgehoben worden war, und Zehntausende von deutschen Männern und Frauen beteiligten sich daran.

Das waren die Gegner der Regierung Brüning und der gegenwärtigen Staatsordnung. Sie waren kompakt, zusammengefaßt in vier disziplinierten großen Parteien, selbst einander feind, aber in dieser mächtigen Geschlossenheit gegen die Regierung mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten umfassend.

Welches Bild der Zersplitterung und Ratlosigkeit boten die vielen kleinen Parteien, welche sich für die Regierung Brüning einsetzten! Die Regierung selbst griff in den Wahlkampf ein, indem sie ihr Programm als "Hindenburgprogramm" bezeichnete. Noch einmal versuchte die Regierung, sich des Namens von Hindenburg als eines Magneten zu bedienen, doch sie vergaß, daß dieser Name schon längst seine Zugkraft bei den Anhängern des nationalen und marxistischen Flügels eingebüßt hatte.

Das Rückgrat der demokratischen, oder, wie sie sich nannten, der staatserhaltenden Parteien war das Zentrum, die Partei Brünings. Neben ihm spielte die Deutsche Volkspartei eine hervorragende Rolle als Kämpferin für die Reichsregierung, für Hindenburg und Brüning. Aber dann gab es da noch die Demokratische Partei und die Volksnationale Reichsvereinigung Mahrauns sowie die vielen Splitter, die sich von den Deutschnationalen losgesagt hatten.

Mahraun, der Führer des Jungdeutschen Ordens, hatte, wie das in der Linie seiner Bestrebungen lag, am 28. Januar die Volksnationale Reichsvereinigung gegründet. Sie wollte unabhängig sein von den "anonymen Finanzgewalten", auch sollte der Mandatsschacher unmöglich gemacht werden. Das neue Gebilde forderte auch die Lockerung des verderblichen Fraktionszwanges, der die Persönlichkeit entwürdigte. Man wollte Marxismus, Plutokratie und antisoziale Gesinnung bekämpfen, verlangte Wahlreform und Reichsreform, an Stelle der veralteten und überholten Ländergliederung sollte die organische Stammesgliederung gesetzt werden. Die Volksnationale Reichs- [253] vereinigung, die Anfang April in Berlin ihre Gründungsversammlung abhielt, trat mit eigenen Listen zu den Wahlen auf, wie in Sachsen, mußte aber erleben, daß sie über den Kreis des Jungdeutschen Ordens hinaus keinen Widerhall im Volke fand.

Wir wenden uns jetzt den Splitterparteien zu, welche aus der Deutschnationalen Volkspartei ausgeschieden waren. Bereits im Februar 1928 hatte sich die Christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei abgesondert, unter der Führung von Männern wie Gereke, Hepp, von Sybel, Schlange-Schöningen. Bereits bei den Maiwahlen hatte die Partei mehr als eine halbe Million Stimmen erhalten. Diese Partei stand zur Regierung Brüning und erklärte es für verwerflich, daß die Regierung durch die Reichstagsauflösung mitten aus der Agrar- und Osthilfegesetzgebung herausgerissen worden sei.

Gerade diese Erwägungen bewogen auch den Reichslandbund, zum ersten Male sich von der Deutschnationalen Volkspartei zu trennen und mit eigenen Listen den Wahlkampf aufzunehmen. Der Reichstag sei durch falsch geführte Kräfte der Rechten und Linken gesprengt worden. Man wollte eine "Front der Tat" bilden mit Hindenburg und Schiele gegen die "Haufen der Negativisten auf der äußersten Rechten wie auf der Linken".

      "Der Bundesvorstand des Reichslandbundes hat deshalb beschlossen, unter bewußter Abkehr von der bisher geübten Methode für die kommenden Wahlen seine Mitglieder aufzufordern, der Sammelparole des Berufsstandes zu folgen und, soweit es die örtlichen Verhältnisse irgend zulassen, einzutreten für die Wahl auf Landvolklisten in allen Provinzen und Ländern."

So wandelte sich der Reichslandbund aus einer Wirtschafts- und Berufsvertretung zur politischen Partei, die ihrerseits die Gegensätze zwischen Stadt und Land zu vertiefen imstande war, ein Umstand, auf den vor allem die Deutschnationale Partei hinwies, da sie durch diese Landbundpolitik am heftigsten beeinträchtigt wurde.

Treviranus, der Ende 1929 der Deutschnationalen Partei den Rücken gekehrt hatte, gründete am 28. Januar die "Volkskonservative Vereinigung", welcher acht Abgeordnete der zwölf Mann umfassenden neugebildeten Reichstagsfraktion der [254] Deutschnationalen Arbeitsgemeinschaft beitraten, und zwar diejenigen, die sich nicht der christlich-sozialen Gruppe angeschlossen hatten. Der Aufruf, der von 450 Namen unterzeichnet war, forderte "Erneuerung des Parteiwesens" und unbedingte Verantwortung des eigenen Gewissens für das politische Handeln, Mehrheitsbeschlüsse oder Fraktionszwang wurde strikte abgelehnt.

Nun hatte sich bei der Abstimmung im Reichstag am 19. Juli ein neuer Zwiespalt in der Deutschnationalen Partei enthüllt, da eine Gruppe von Abgeordneten unter Führung des Grafen Westarp der Regierung ihr Vertrauen bezeugt hatte. Die Gruppe Westarp glaubte es nicht verantworten zu können, Brüning weittragende Schwierigkeiten zu bereiten, gerade in dem Augenblicke, da er ernstlich die Hilfe für den deutschen Osten und die Landwirtschaft vorbereitete. Durch diese zwiespältige Abstimmung teilte sich die Deutschnationale Reichstagsfraktion in eine Hugenberg- und eine Westarpgruppe. Da sich aber Parteivorstand und Parteivertretung bei ihrer Besprechung in Berlin am 24. und 25. Juli auf Hugenbergs Seite stellten, war die Westarp-Gruppe in aller Form fallen gelassen worden. Westarp aber kam diesem Parteiverdikt zuvor, indem er sogleich nach der Reichstagsabstimmung die Partei verließ und schon am 23. Juli mit der Volkskonservativen Vereinigung des Treviranus die Konservative Volkspartei gründete. Um Verwechslungen infolge des Namens vorzubeugen, rückte der Vorstand des Hauptvereins der alten Konservativen durch eine Erklärung Anfang August deutlich von der neuen Partei ab.

Schließlich gehörte auch der Christlich-soziale Volksdienst zu diesen neuen Parteien, die aus der Opposition zu Hugenberg hervorgegangen waren. Er stützte sich besonders auf die breiten Massen der evangelischen Arbeitnehmer.

Es war zweifelsohne eine gewaltige Parteiumwälzung, die sich im Sommer 1930 vollzog. Sie war hervorgerufen worden durch die zunehmende Verschärfung der Gegensätze zwischen den Rechts- und Linksparteien. Es handelte sich um grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Die neuen Parteien lehnten die Opposition ab, sie wollten hinein in den Staat, sie wollten durch Mitarbeit an und in ihm zur Befreiung des Volkes ge- [255] langen. Das, was die Deutsche Volkspartei in ihrem Aufruf vom 18. Juli sagte, war in gleicher Weise die Auffassung der Volksnationalen Reichsvereinigung, der Christlich-nationalen Bauern- und Landvolkpartei, des Landbundes, der Konservativen Volkspartei und des Christlich-sozialen Volksdienstes:

      "Durch die Reichstagsauflösung sind die bedeutsamen Reformen in Frage gestellt, völlig zerschlagen ist das große Programm zur Rettung des deutschen Ostens, zerschlagen sind die Hilfsmaßregeln für den befreiten Westen und die Weiterführung des landwirtschaftlichen Hilfswerkes. Die Kämpfer gegen Separatismus und Landesverrat müssen weiter auf die befreiende Amnestie warten. Für alles das mag das deutsche Volk sich bei Hugenberg und seinen Freunden bedanken, die im Bunde mit Nationalsozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten der staatsbürgerlichen Front in den Rücken fielen."

Diese weitgehende Übereinstimmung und die weitgehende besorgniserregende Zersplitterung ließen die Frage auftauchen, ob es nicht möglich sei, doch noch eine Einigung unter den einzelnen Gruppen zu erzielen und eine einzige große Partei der nationalen Mitte zu schaffen. Bahnbrecher dieses Gedankens war Mahraun gewesen, er hatte mit seiner Volksnationalen Reichsvereinigung den Grundstein zu dieser großen Partei der Mitte legen wollen. Das erste Echo fanden diese Bestrebungen in der Demokratischen Partei. Schon Ende April entwickelte der demokratische Professor Hellpach in Heidelberg einen ganz gleichen Plan. Deutschland müsse an Haupt und Gliedern erneuert werden. Man müsse schleunigst eine große Partei der Mitte bilden, um das notwendige Gegengewicht gegen die Sozialdemokratie zu schaffen. Er richte den feierlichen Appell an die Führer der Deutschen Volkspartei: Wenn bis Pfingsten diese Tat nicht getan sei, stünde ein großer Kreis von Männern und Frauen bereit, die dann entschlossen wären, den entscheidenden Schritt zu tun und wirklich ein Sammelbecken für eine große politische Mittelpartei zu schaffen. Die Notwendigkeiten des Staates müßten zielbewußt in den Mittelpunkt der ganzen Politik gestellt werden, dafür sei die Stunde reif. Auch der Parteivorsitzende Koch-Weser bekannte sich zu der Notwendigkeit, die staatsbürgerlichen Kräfte zu- [256] sammenzufassen, doch von einer Fusionierung bestehender Parteien, d. h. der Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, wollte er nichts wissen.

Ende Mai tagte in Halle an der Saale der Reichsparteiausschuß der Demokraten. Wieder erhob Hellpach seine Stimme, eine große neue Parteischöpfung, die volksbürgerliche Zusammenfassung sei dringend notwendig. Gegen eine stark nach links tendierende Minderheit wurde die Entschließung angenommen, "die Front einer republikanischen und demokratischen Mitte gegen rechts und links durch Zusammenfassung gesinnungsverwandter Kräfte über den Parteirahmen hinaus zu stärken". In Stuttgart beschloß der Landesausschuß der württembergischen Demokraten: "Die Partei ist so zu führen, daß eine große Zusammenfassung der Mitte möglich wird." Man solle mit der deutschen Volkspartei zusammenarbeiten.

Bei der Demokratischen Partei fand Mahraun ein Verständnis für seine Gedanken, und das war entscheidend; so förderte er persönlich die Annäherung der Volksnationalen Reichsvereinigung an die Demokratische Partei.

Diesen Bemühungen erhob sich in der Deutschen Volkspartei und in der Konservativen Volkspartei eine Konkurrenz. Beide faßten ebenfalls den Plan einer großen Sammlung der Mitte, doch kamen sie Ende Juli damit zu spät. Die Volkskonservative Partei wollte sogleich nach ihrer Gründung auch die Deutsche Volkspartei zu engster Zusammenarbeit gewinnen. Man dachte daran, die Regierungsparteien und ‑gruppen als "Hindenburg-Block" zu deklarieren, doch sah man hiervon ab, da man nicht die Person des Reichspräsidenten in den Wahlkampf hineinziehen wollte. Auch dachte man nicht an die große Sammelpartei, sondern mehr an eine Art Burgfrieden.

Die Verhandlungen zwischen Treviranus und der Christlich-nationalen Bauern- und Landvolkpartei führten auch zu keinem Ergebnis. Gereke und Schiele waren überzeugt, daß nur in der Zusammenfassung weitester staatspolitischer Kräfte die Abkehr vom "zersetzenden Radikalismus" erreicht werden könne, doch eine Listenverbindung zwischen beiden Richtungen kam nicht zustande.

Schon am 22. Juli hatte Dr. Scholz, der Vorsitzende der [257] Deutschen Volkspartei an die Christlich-soziale Arbeitsgemeinschaft, die Demokratische Partei, die Wirtschaftspartei und die Gruppe des Grafen Westarp die Anfrage gerichtet, ob sie zu einer Besprechung bereit seien, deren Ziel die Zusammenfassung all derer sein solle, die unter Zurückstellung des Trennenden bereit sind, sich aktiv in den Dienst des Staates zu stellen.

Während diese Besprechungen vorsichtig und zögernd geführt wurden und Christlich-soziale wie Volkskonservative, Demokraten und Wirtschaftsparteiler schließlich die Sammlungsbestrebungen der Volkspartei ablehnten, – die Demokraten erklärten, sie könnten unmöglich mit "Konservativen" zusammengehen – wurde man plötzlich von der am 27. Juli erfolgten Gründung der Deutschen Staatspartei überrascht. Diese Deutsche Staatspartei war die Frucht der Zusammenarbeit zwischen Mahraun und den Demokraten. Sie trat mit einem Aufruf vor das Volk, der von Mahraunschem Geiste erfüllt war. Er sprach von Agrarhilfe, Osthilfe, Einigung auf dem Boden des Staates, er forderte eine Wahlreform, die wieder der Persönlichkeit zu ihrem Rechte verhelfen sollte, er verlangte weiter eine Reichsreform, die unter Wahrung des Heimatgefühls zustande kommen sollte. Im übrigen enthielt der Aufruf das Bekenntnis zum Staat, zur Republik. Unterzeichnet war der Aufruf unter anderen von Professor Aereboe, Gertrud Bäumer, Reichsminister Dietrich, Finanzminister Höpker-Aschoff, Erich Koch-Weser, Reichsminister a. D. Dr. Külz, Arthur Mahraun, Bürgermeister Petersen-Hamburg.

Ende August gab die Staatspartei ein langes "Manifest" heraus, worin die Ziele der staatspolitischen Erneuerung, die kulturpolitische Klärung und die Stellung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik erörtert werden. Einige der charakteristischen Sätze darin lauteten: "Die Außenpolitik ist mehr als je die Kunst des Möglichen und nicht des Wünschenswerten." "Die deutsche Kultur ist wesentlich durch die Kräfte des Christentums bestimmt und geformt worden." "Eine blühende Wirtschaft ist die Vorbedingung für den sozialen und kulturellen Fortschritt der Nation." Es wurde betont, daß die Deutsche Staatspartei weder eine Fortsetzung der Demokratischen Partei noch eine Linkspartei sei.

[258] Es war nun keineswegs so, daß die Demokratische Partei in die Staatspartei umgewandelt war, wenigstens nicht der Form nach. Man war vorsichtig und nahm Rücksicht auf die Gefühle radikaler Elemente, die mit der Sozialdemokratie sympathisierten. Trotzdem Koch-Weser aufs wärmste vor dem Parteiausschuß das Aufgehen der Demokratischen Partei in der Staatspartei befürwortete, wurde die Fusion formell nicht vollzogen, sondern die Demokratische Partei stellte lediglich ihre Parteiorganisation der neuen Staatspartei für den Wahlkampf zur Verfügung. Gleiche Beschlüsse faßten die Landesverbände von Baden, Sachsen und Bayern. Zwischen Koch-Weser, der sehr "rechts heran" wollte, und Höpker-Aschoff, welcher der Sozialdemokratie ein freundlicheres Gesicht zeigte, ergaben sich starke Spannungen.

Nach dieser Entwicklung inniger Beziehungen zwischen Demokratischer Partei und Staatspartei hatte in Nürnberg Professor Quidde, der Pazifist, eine Vereinigung unabhängiger Demokraten gegründet. Sie stellten sich hinter Schwarz-Rot-Gold und lehnten Mahrauns Ansicht ab, die auch die der Staatspartei war, man wolle über den Streit um Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold erhaben sein. Man forderte auch den unitarischen Einheitsstaat und lehnte Mahrauns Heimatgliederung ab. Man war sogar für Aufhebung des Abtreibungsparagraphen 218 im Strafgesetzbuch.

      "Gegen alle Bestrebungen, die mit dem Schlagwort vom christlichen Staat die kulturelle Reaktion fördern wollen. Gegen offenen und versteckten Antisemitismus. Für die Erziehung der Jugend im Geiste der Verfassung und Völkerversöhnung und für eine entschieden pazifistische Außenpolitik."

Diese Linksdemokraten wollten zwar keine besondere Liste für die Wahl aufstellen, beschlossen aber, sozialdemokratisch zu wählen. – Da war der Demokrat Erkelenz konsequenter, er trat einfach zur sozialdemokratischen Partei über, und tausende andre Demokraten taten dasselbe.

Durch die Gründung der Deutschen Staatspartei fühlte sich Dr. Scholz aufs empfindlichste in seinen Sammlungsbestrebungen gestört. Die Staatspartei, sagte er, könne den Zweck des Zusammenschlusses keineswegs erfüllen, im Gegenteil, sie habe [259] den Sammlungsbestrebungen Abbruch getan. Das weitgesteckte Ziel der deutschen Volkspartei sei nun nicht mehr zu erreichen. Sie werde nun für sich allein in den Wahlkampf eintreten und ihre Forderungen mit stärkster Entschlossenheit verteidigen. Allerdings setzte Scholz seine Einigungsversuche noch im ersten Drittel des August fort, da die jungen Volksparteiler nach wie vor nach einer Sammlung drängten. Auch in der Volkspartei offenbarte sich insofern die Wende der Zeit, als wie bei den Sozialdemokraten, Kommunisten und Nationalsozialisten die junge Generation ihr Recht der Mitbestimmung geltend machte.

Die Reichsvereinigung der jungen Volksparteiler bezeichnete die Gründung der Staatspartei als eine Störung der ehrlichen Sammelbestrebungen des Bürgertums; so werde allerdings keine wahre deutsche Volksgemeinschaft auf breitester Grundlage geschaffen. Aber diese Sammlung sei nötig gegen die Staatsverneinung; das Volk sei müde des Parteistreites. Aufgabe der jungen Volksparteiler sei es, dafür zu sorgen, daß die zur großen Sammlung drängende Parteienbewegung der Mitte nicht vorzeitig erstarre.

Scholz setzte seine Bemühungen fort, doch ohne Erfolg. Die Staatspartei war dem Ziele der Einheit weit entrückt. Höpker-Aschoff verlangte, daß die Sozialdemokratie als staatserhaltende Partei anerkannt werde. Das lehnte Scholz ab. Jetzt forderte die Staatspartei, die sich übrigens auch um ein gutes Verhältnis zum Reichsbanner bemühte, den Rücktritt des Parteivorsitzenden Scholz. Darauf wurden die Verhandlungen abgebrochen. Lediglich in Süd-Deutschland, in Baden und Württemberg, einigten sich Volkspartei und Staatspartei auf eine gemeinsame Wahlliste.

Die bürgerliche Sammelbewegung war geistig völlig zusammengebrochen. Diese Tatsache, die Mitte August feststand, zeigte, wie brüchig die Verteidigungsfront der bürgerlichen Demokratie war. Sie war unfähig zu jener großartigen Geschlossenheit, die allein den Fortschritt der Zukunft in sich birgt. Sie war erfüllt von der Todesschwäche des sterbenden parlamentarischen Systems. Denn in der Not der Stunde, die man erkannte, siegte schließlich das Parteiinteresse über den [260] Willen zum Staate. Die Verteidiger Hindenburgs und Brünings hatten der Welt ein trauriges Schauspiel gegeben.

Das magere Ergebnis war ein gemeinsamer Wahlaufruf der Deutschen Volkspartei, der Wirtschaftspartei und der Konservativen Volkspartei. Die drei Parteien, vertreten durch ihre Vorsitzenden Scholz, Drewitz und Treviranus, setzten sich für das "Hindenburgprogramm" ein: Rettung des Ostens, Belebung der Wirtschaft, Beschäftigung der Arbeitslosen, Hilfe für die Landwirtschaft und soziale Gesetzgebung. Drei Tage später, am 24. August, erschien ein Wahlaufruf der Deutschen Volkspartei, welcher Fortsetzung von Stresemanns nationaler Befreiungspolitik, Revision der Friedens- und Tributverträge, Kampf gegen die Kriegsschuldlüge, Reichsreform und Parlamentsreform sowie Verteidigung der christlichen Kultur gegen das Vordringen des Bolschewismus versprach. Zwei Tage vorher war das Manifest der Staatspartei veröffentlicht worden. –

Die Wochen des Wahlkampfes mit ihren Leidenschaften und Gewalttaten gingen dahin. Die nationale und die marxistische Opposition standen im Vordergrunde, während die zersplitterte regierungstreue Mitte kaum zu Worte kam. Selbst das Ausland brachte dem deutschen Wahlkampfe Teilnahme entgegen. Französische Zeitungen forderten die Verhaftung Hitlers. Als Treviranus in einer Wahlrede Revision der Ostgrenzen forcierte, war Frankreich empört und Polen trumpfte auf: "Niemals Grenzrevision!" In Frankreich und Polen verbreitete sich ein Zustand der Beklemmung in Erwartung der kommenden Reichstagswahlen.

  Reichstagswahl 1930  

So nahte, mit gewaltiger Spannung erwartet, der 14. September. Vom frühen Morgen an strömten die Menschen zu den Wahlurnen. In den großen Städten kam es hin und wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. In Dortmund, in Stettin, in Braunschweig und an anderen Orten mußten Verletzte den Krankenhäusern zugeführt werden, in Berlin wurden sogar Tote vom Platze getragen.

In den frühen Morgenstunden des 15. September lag das Wahlergebnis vor, das alle Welt überraschte: 6¼ Millionen Nationalsozialisten und 2½ Millionen Deutschnationale, 4½ [261] Millionen Kommunisten und 8½ Millionen Sozialdemokraten; von den Regierungsparteien hatten nur das Zentrum, die Bayrische Volkspartei und die Landvolkpartei gewonnen: sie stiegen insgesamt von 5¼ Millionen auf 6,1 Millionen. Alle anderen Parteien hatten zum Teil recht schwere Verluste, die Volkspartei ging von 2,7 auf 1,6 Millionen zurück, trotz des Erfolges der Stresemannpolitik, der Räumung des Rheinlandes. Die Staatspartei, ehemalige Demokraten, verloren 150 000 Stimmen, die vergreiste Volksrechtpartei büßte 50 Prozent ein, Treviranus hatte gar nur 314 000 Stimmen erhalten, und der Christlich-soziale Volksdienst hatte kaum 850 000 erreicht. – Von 40 Millionen Wählern hatten 35 Millionen ihre Stimmen abgegeben.

Diese Wahl war eine Überraschung. Die bürgerliche Mitte sprach von einem "Siege des Radikalismus", von einer "Fieberkurve der Not". Die enttäuschte Volkspartei war zwar überzeugt, daß der Radikalismus seine Anhänger bald aufs schwerste enttäuschen werde, daß die "Sieger" bald die "Besiegten" sein werden, aber sie war nun doch entschlossen, eine Rechtsregierung zu ermöglichen: los von Versailles! d. h. auch los von der Sozialdemokratie! Auch die ebenso enttäuschte Staatspartei hoffte, daß das Volk bald "aus dem Taumel erwacht". Die Sozialdemokratie betrachtete sich plötzlich als Hüterin der Verfassung. Was werde die Folge der Radikalisierung sein? Wirtschaftskrise, wachsende Arbeitslosigkeit, Massenelend. "Hinweg mit dem Spiel der Diktatur, zurück zur verfassungsmäßigen Gesetzgebung!" So wie Hugenbergs Diktatur die einst stärkste bürgerliche Partei, die deutschnationale Volkspartei, zertrümmert habe, so würde jeder Diktaturversuch im Staate ganz Deutschland in einen Trümmerhaufen verwandeln.

  Urteile des Inlands  
und des Auslands

Die Urteile der Rechtspresse Deutschlands über den Wahlausfall waren maßvoll bis in die Volkspartei hinein. Die Deutsche Zeitung sprach vom Sieg der Freiheitsfront und von der vernichtenden Niederlage der Mittelparteien und des Kabinetts Brüning. Das war überhaupt der Grundton der Ausführungen in der Rechtspresse: die Wahlen sind die Gegenwirkung gegen Versailles und den Youngplan und gegen das [262] herrschende System, sie enthalten den entschiedenen Willen zur Abkehr von der bisherigen Außen- und Innenpolitik. Die Schlußfolgerung, daß nun eine Wendung der deutschen Geschicke sich anbahne, war nur ganz natürlich. Die Wahlen seien die stärkste Bejahung eines neuen Staatswillens, meinte der Völkische Beobachter, und die Deutsche Allgemeine Zeitung schrieb:

      "Mit gewaltiger Kraft hat sich in dem Wahlergebnis dumpf und unklar die Sehnsucht nach Autorität, nach sozialer Gerechtigkeit und nach einer stolzen Haltung gegenüber dem Ausland, das unterdrückt, offenbart. Die Stunde der Reform der Verfassung hat geschlagen."

Selbst die regierungsfreundliche und liberale Kölnische Zeitung stellte fest: "An diesem 14. September 1930 wird wirklich ein neues Blatt in der deutschen Innenpolitik umgeschlagen."

Die Presse des Landbundes, des Zentrums und der Demokraten war verstimmt. Die Deutsche Tageszeitung urteilte, die im ungeeigneten Augenblick erzwungene Reichstagsauflösung habe zu einem schweren Mißerfolg geführt. Der Reichstag vom 14. September werde wahrscheinlich nur ein kurzes Dasein haben. Bei einem neuen Wahlkampf werde das Gespenst der Staatskrise deutlich hervortreten. Das Zentrum aber ließ sich nicht in Verwirrung stürzen. Seine Presse drückte deutlich aus, daß das Zentrum nicht gewillt war, durch den Sieg des "Radikalismus" von seiner bisherigen Regierungspolitik sich abdrängen zu lassen. Die Germania brachte einen Artikel "Ruhig Blut!", darin hieß es:

      "Diese Wahlen sind Konjunkturwahlen. In diesem Debakel gibt es einen Lichtblick: Das Zentrum hat einen Stimmenzuwachs zu verzeichnen, der ihm das Recht gibt, nicht nur zufrieden, sondern stolz zu sein. Die Politik der Regierung Brüning muß fortgesetzt werden, weil es eine andere Politik nicht gibt. Die rechte Opposition ist regierungsunfähig. Die Frage, die jetzt beantwortet werden muß, ist die, ob alle staatserhaltenden Parteien auf Grund dieser Wahl zur Einsicht und Vernunft gelangt sein werden. Das muß sich in den nächsten Tagen zeigen."

Die Kölnische Volkszeitung erging sich in folgenden Betrachtungen:

      "Das im ganzen für den politischen Wirklichkeitssinn der Deutschen blamable Wahlergebnis hat das deutsche Volk Herrn Hugen- [263] berg und den Sozialdemokraten zu verdanken. Dieses Schauspiel, über dessen außenpolitische Wirkung jetzt nicht gesprochen zu werden braucht, ist ein Trauerspiel und eine Komödie zugleich. Die Frage der Regierungsbildung ist mehr als jemals eine offene Frage. Das Zentrumsvolk wird mit vollkommenster Sympathie diejenigen Handlungen begleiten, die der Festigung der Autorität gelten."

Die demokratischen Zeitungen stellten sich im allgemeinen auf den Standpunkt des Zentrums. Die Vossische Zeitung hat sich nichts träumen lassen von dem Erfolg der Nationalsozialisten. Die Regierung Brüning werde aber sicherlich in unveränderter Zusammensetzung im Oktober vor den Reichstag treten mit dem Programm, das sie vor den Wahlen in mehreren Gesetzentwürfen aufgestellt habe. Im neuen Reichstag würden die Parteien begreifen müssen, daß es kein anderes Programm gebe als das Deutsche Reich. Die Frankfurter Zeitung forderte eine feste verfassungsmäßige Regierung auf der Basis der Parteien, die den bestehenden Staat bejahen. Allerdings sei das bisherige Kabinett dazu untauglich. Das linksdemokratische Berliner Tageblatt meinte, das Zentrum stehe vor der Entscheidung, ob es mit den Nationalsozialisten oder mit den Sozialdemokraten regieren wolle. Die Bildung einer neuen Regierung sei durch die Stärkung der Extreme und die Schwächung der Mitte erschwert. Die Verantwortung ruhe allein beim Zentrum.

Neben diesen grundlegenden Auffassungen der Parteipresse konnte als ein sehr allgemeines Kriterium der Wahlen gelten, daß in den Blättern fast aller bürgerlichen Richtungen auch die Ansicht zum Ausdruck kam, der Wahlausfall sei eine Mahnung an das Ausland, die unvernünftigen Tribute herabzusetzen, bevor Deutschland und mit ihm Europa ins Chaos gestürzt würde. Daneben erging man sich in der Mittelpresse mit Ausnahme des Zentrums und der Demokraten in Vermutungen über eine neue Regierungsbildung. Die nationalen Hamburger Nachrichten legten die letzte Entscheidung darüber in Hindenburgs Hand. Seine historische Stunde sei gekommen und von ihm hänge es ab, ob eine Regierung von Hitler bis Brüning zustande komme.

[264] Vor allem aber glaubte die Sozialdemokratie, daß, nachdem sie im März aus der Regierung ausgeschieden sei, nun wieder ihre Stunde kommen werde. Der Vorwärts schrieb, die Erhaltung parlamentarischer Entwicklung zur Rettung des Volkes sei nötiger denn je. Jeder Versuch, nun die Sozialdemokratie von der Regierung auszuschalten, führe zur Gefährdung der Republik, der Wirtschaft und des Lebens des ganzen Volkes. Die sozialdemokratische Presse hoffte auf die Macht der acht Millionen, die hinter ihr stand. –

Auch die Presse des Auslandes beschäftigte sich eingehend mit den deutschen Wahlen. Die französischen Rechtsblätter waren beunruhigt. Das Journal erklärte den nationalsozialistischen Sieg damit, daß das deutsche Volk plötzlich den Kopf verloren habe. Das Ergebnis übertreffe die schlimmsten Befürchtungen. Hitler und Hugenberg seinen die Herren des Landes. Der Figaro war im höchsten Maße beunruhigt. Der Petit Parisien beklagte die Niederlage Brünings. Sicher werde sich das Wahlergebnis sehr stark auf die deutsche Außenpolitik auswirken.

In England war man zurückhaltend. Der Manchester Guardian war das einzige Blatt, das den Mut fand, die deutschen Wahlen als Protest nicht bloß gegen die wirtschaftliche Notlage, sondern auch gegen Versailles, die unwürdige Stellung gegenüber dem Ausland, gegen die Besetzung des Rheinlandes, deren Ende viel zu spät gekommen sei, gegen die zahlreichen Härten, Unmenschlichkeiten und Erniedrigungen, gegen den Bruch des internationalen Versprechens der allgemeinen Abrüstung und gegen das Versagen des Völkerbundes und der Mächte in Frage des Minderheitenschutzes, besonders in Polen, zu bezeichnen.

Die amerikanische Hearstpresse erklärte, der Versailler Vertrag sei ebenso dumm wie brutal. Jetzt sei es an der Zeit, die Torheit und das Verbrechen des Versailler Vertrages ungeschehen zu machen und die schwere, untragbare Last vom Rücken des deutschen Volkes zu nehmen. Es werde dazu zu spät sein, wenn sich Deutschland wirklich Rußland und der bolschewistischen Politik zuwende.

Die faschistischen Zeitungen Italiens empfanden eine Genug- [265] tuung über die deutschen Wahlen, aus Gegensatz zu Frankreich. Im Giornale d'Italia schrieb Senator Corradini, der Sieg der Hitlerpartei, die den Instinkt für die organische nationale Einheit und für die Souveränität habe, trage in sich mehr als die Anzeichen und mehr als die Anfänge des künftigen Gesundungsprozesses. Dasselbe Blatt schrieb weiter: Das neue Deutschland sei unruhig, es zerre an der eisernen Kette der Verträge, die auf dem gesamten Wirtschaftsleben der Nation mit dem Youngplan laste und bis zum Ende des Jahrhunderts lasten würde. Viele Millionen deutscher Wähler lehnten die gegenwärtige Ordnung Deutschlands und die Verträge ab. Lavoro Faszista bemerkte, die Geschichte Deutschlands stehe vor einer entscheidenden Wendung. Die römische Tevere aber sagte es ganz offen: Die deutschen Wahlen seien der Erfolg der französischen Politik, die Franzosen hätten Angst, denn sie verstünden die Stimme der Geschichte nicht.

Die dänische Nationaltidende in Kopenhagen urteilte: wenn die Nationalsozialisten und Deutschnationalen mit den rechts eingestellten Parteien zusammengingen, dann sei der große Rechtsblock in Deutschland als Inhaber der Gewalten geschaffen. Das Bürgertum in Deutschland habe eine letzte Gelegenheit, seine verlorengegangene Macht zurückzugewinnen. –

Am Wahltag weilte der ehemalige Reichsbankpräsident Dr. Schacht in Amerika, in Neuyork. Als das Ergebnis der Wahl bekannt wurde, stürmten Dutzende von Journalisten Schachts Vorzimmer, überschütteten ihn mit Fragen, deren Sinn immer wieder war: "Was wird in Deutschland werden?" Schacht antwortete mit einer Gegenfrage: "Warum findet man es höchst lobenswert, wenn der Brite, der Franzose, ja der Chinese national denkt? Und warum, um alles in der Welt, erhebt sich über den ganzen Erdball ein Gezeter, wenn auch einmal ein Deutscher national empfindet?" Dann sagte er: "Hitler oder nicht, das ist hier nicht die Frage. Die Frage lautet ganz anders. Sie lautet: Soll Deutschland leben oder sterben? Ich sage Ihnen, meine Herren, die Sie so entsetzt sind über die Wahl Hitlers: Wenn Sie Deutschland zum Sterben verurteilen, werden Sie nicht einen Hitler finden in Deutschland, sondern sehr viele!"

Die Septemberwahl 1930 bedeutete für Deutschland die [266] Schicksalswende. Das junge Deutschland hatte seinen Willen zum Leben, sein Recht auf Selbstbestimmung erklärt. Dieser 14. September 1930 ist ein Markstein im natürlichen Leben des deutschen Volkes wie der 19. Juli 1917 einer gewesen war. Das junge Deutschland wandte sich mit entschlossener Mehrheit gegen ein altes, überlebtes Regierungssystem. Zwei Gewalten standen von nun an schroff widereinander: ein alternder Staatswille und ein junger Volkswille. So, wie die Geschichte der deutschen Republik am 19. Juli 1917 beginnt, so beginnt die Geschichte des Dritten Reiches am 14. September 1930. Auch nach dem 19. Juli 1917 änderte sich noch nicht sofort der Kurs in Deutschland, es dauerte noch 16 Monate, ehe der Wunsch des 19. Juli Wirklichkeit wurde. Auch nach dem 14. September änderte sich nicht sogleich der Kurs der deutschen Politik. Im Gegenteil! Selbst unter Preisgabe der großen Errungenschaften der Revolution war die republikanische Regierung entschlossen, sich zu behaupten. Sie trat in die letzte Phase ihrer Entwicklung, indem sie jetzt die parlamentarische Demokratie durch die Diktatur der Mitte ersetzte.

Die Nationalsozialisten verhielten sich sehr diszipliniert. Ihre Presse sprach die Erwartung aus, daß der Reichspräsident Dr. Frick mit der Regierungsbildung beauftrage. Natürlich gab man sich keinen Illusionen hin: Brüning werde so tun, als ob nichts geschehen sei, aber die Nationalsozialisten würden strikteste Innehaltung der Verfassung verlangen.

Verhalten der
  Reichsregierung  

Allerdings ließ Brüning keinen Zweifel darüber, daß er, wenn die nationale Opposition seinen zaghaften Annäherungsversuchen unzugänglich sein sollte, so tun würde, als sei nichts geschehen. Schon am zweiten Tage nach der Wahl hielt der Innenminister Wirth, der nach seinem Ausspruch "Der Feind steht rechts" der "rote Wirth" genannt wurde, eine Rundfunkrede, in der er folgendes sagte: Der deutsche Radikalismus habe zwar eine Schlacht gewonnen, aber die Regierung behaupte das Schlachtfeld, sie regiere, sie bleibe im Amte. Der Regierung Brüning, hinter der heute 209 Abgeordnete stünden, fehlten 80 Stimmen an der Mehrheit. Selbst bei völliger Stimmenthaltung der Sozialdemokratie fehlten immer noch 17 Stimmen. Eine bloße Neutralität der Sozialdemokraten reiche [267] also nicht aus, um die Regierung vor einem Mißtrauensvotum zu schützen. Die sogenannte Rechtsfront könne nur dann politisch wirksam werden, wenn die Bayrische Volkspartei und das Zentrum dazuträten. Das sei aber politisch nicht diskutierbar, eine solche Entwicklung liege also außerhalb der politischen Möglichkeit.

Die Linie lag also fest: Die Regierung der deutschen Republik würde gegebenenfalls über die Reichstagswahl zur Tagesordnung übergehen; sie wollte nicht die Nationalsozialisten und konnte nicht die Sozialdemokraten in sich aufnehmen.

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion entwickelte am 3. Oktober ihre Pläne: erste Aufgabe sei Erhaltung der Demokratie, Sicherung der Verfassung und Schutz des Parlamentarismus gegen die Kommunisten, die kapitalistische Bourgeoisie und den Faschismus. Die Arbeitszeit solle verkürzt werden, um Arbeitslose beschäftigen zu können; die bisherige Außenpolitik müsse weitergeführt werden. Die Fraktion erklärte ihre Entschlossenheit, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeiterschaft aufs energischste zu verteidigen.

Gegen diese marxistische Energie richtete sich mit gleicher Heftigkeit die nationale Opposition. Am 6. Oktober hatte Brüning den Deutschnationalen Oberfohren und von Winterfeld angeboten, auf Grund des von der Reichsregierung vorgelegten Wirtschafts- und Finanzprogramms verantwortlich an der Regierung mitzuarbeiten, d. h. also die Regierung durch wohlwollende Haltung zu unterstützen. Von einer klaren Aufforderung, die Regierung durch Eintritt der Deutschnationalen nach rechts zu erweitern, war dabei nicht die Rede. Auch den Nationalsozialisten brachte der Kanzler sein Programm zur Kenntnis, jedoch ohne das Angebot der Mitarbeit an der Regierung daran zu knüpfen. Eine ganze Woche beriet der deutschnationale Parteivorstand über Brünings Angebot, kam aber zu einer Ablehnung, solange das Zentrum in Preußen mit der Sozialdemokratie zusammenregiere. So schrieben denn Hugenberg und Oberfohren am 14. Oktober an Brüning einen Brief: Die Schaffung einer wirklich nichtmarxistischen Reichsregierung sei nur möglich, wenn auch in Preußen sich [268] das Zentrum von der Sozialdemokratie trenne. Unter dieser Voraussetzung seien auch die Deutschnationalen zur Teilnahme an der Regierung bereit. Bei der bevorstehenden neuen Abstimmung sei grundsätzlich die Frage der Regierungsbildung und des Regierungssystems in Preußen einer politischen Zusammenarbeit der nichtmarxistischen Parteien zur Lösung der immer gefahrdrohender für Deutschland und die Welt aufsteigenden deutschen Frage hinderlich. Die Zusammenarbeit des Zentrums mit der Sozialdemokratie in Preußen sei schuld an der Tribut-, Finanz-, Wirtschafts- und Kulturkrise Deutschlands. Deshalb würden die Deutschnationalen für die Mißtrauensanträge und für die Aufhebung der Notverordnung stimmen.

So suchte die marxistische und die nationale Opposition das Zentrum für sich zu gewinnen. Doch Brüning erhörte weder die eine noch die andre. Aber inzwischen wurde die regierungsfreundliche Mitte von einer neuen Krise befallen. Am 5. Oktober tagte in Rendsburg das Meisterkapitel des Jungdeutschen Ordens, und hierbei erklärte Mahraun, von dem katastrophalen Mißerfolg des 14. September überwältigt: Herren wie Dr. Stolzer, Reinhold und Höpker-Aschoff gefährdeten die Sammlung des verantwortungsbewußten deutschen Staatsbürgertums, sie seien untragbar für die Volksnationale Reichsvereinigung. Wesensfremde plutokratische und parteibürokratische Elemente dürften nicht in der Bewegung sein. Die Deutsche Staatspartei sei weder eine Fortsetzung der Demokratischen Partei noch eine Linkspartei. Solange ein klares Abrücken von den genannten Herren nicht erfolgt sei, sei nur die Volksnationale Reichsvereinigung in der Lage, den Kampf um die staatsbürgerliche Aktivierung vorwärtszutreiben.

  Krisis der Staatspartei  

Zwei Tage später beantragte Mahraun beim Hauptaktionsausschuß der Staatspartei in Berlin, durch Ausschaltung bestimmter Persönlichkeiten die Führung der Partei zu ändern. Das wurde abgelehnt, und nun erklärten Mahraun und die übrigen Mitglieder der Volksnationalen Reichsvereinigung ihren Austritt aus der Partei mit der Begründung, daß weltanschauliche Gegensätze ihnen das weitere Verbleiben in der Partei unmöglich machten. Die Demokraten waren beleidigt. Sie [269] warfen Mahraun vor, er wolle der "Hitler der Mitte" sein. Koch-Weser legte den Vorsitz der Demokratischen Partei nieder, Höpker-Aschoff wurde sein Nachfolger. Der demokratische Reichsparteiausschuß faßte seine Beratungen Mitte Oktober dahin zusammen: Man habe Sorge vor den Stürmen der nächsten Monate. Diese würden aber den Verblendeten die Augen öffnen und die Gefahren des blinden Radikalismus sowie der bornierten Interessenpolitik zeigen. Aufgabe der Partei sei der Kampf um die Behauptung der Verfassung und die verfassungsmäßige Weiterentwicklung der Republik. Dem Parteitag wolle man den Übergang in die Staatspartei vorschlagen. Die Forderung Höpker-Aschoffs, die aus der Staatspartei ausgeschiedenen gewählten Reichstagsabgeordneten des Jungdeutschen Ordens (Volksnationale Reichsvereinigung) sollten ihre Mandate niederlegen, blieb unberücksichtigt.

Wir wollen der Entwicklung etwas voraufgreifen und kurz die weiteren Schicksale der Demokratischen Partei betrachten. Am 8. November fand in Hannover ein außerordentlicher Parteitag statt, wo schwere Angriffe gegen Mahraun geführt wurden und die Auflösung der Partei erörtert wurde. Es gab stürmische Zusammenstöße mit der Richtung Quidde, die nichts von der Staatspartei wissen wollte. Quiddes Anhänger bekannten, sozialdemokratisch gewählt zu haben. Höpker-Aschoff aber lehnte aufs schärfste den Pazifismus Schönaichs ab. Mit 318 gegen 16 Stimmen wurde die Auflösung der Partei und der Anschluß an die Staatspartei beschlossen. Am nächsten Tage wurde die Deutsche Staatspartei gegründet, zu deren Vorsitzenden mit allen gegen 22 Stimmen Reichsminister Dietrich gewählt wurde.

      "Die Staatspartei will die Partei des heutigen Staates sein. Sie steht weder links noch rechts. Sie zieht einen scharfen Strich gegen die Parteien, die den Sozialismus wollen, und gegen die, welche die Republik bekämpfen. Unser Ideal ist ein freier, mächtiger, sozialer deutscher Volksstaat."

In der Außenpolitik wurden folgende Richtlinien aufgestellt: Zurücknahme der Lüge von der deutschen Alleinschuld, Rückgabe der Kolonien, Schluß mit der wirtschaftlichen Ausplünderung Deutschlands, grundsätzliche Beseitigung aller Reparationsverpflichtungen, Neufestsetzung der an Amerika zu zahlenden [270] Kriegsschulden und Verteilung dieser Schulden unter alle am Kriege beteiligten Staaten, Rückgabe des Weichselkorridors und Danzigs, Rückgabe des Memelgebietes, Neufestsetzung der polnischen Grenze, ehrliche Aussöhnung mit Frankreich und bedingungslose Rückgabe des Saargebietes.

Schon am folgenden Tage erklärte die Vereinigung unabhängiger Demokraten: Die Staatspartei sei eine Fortsetzung der demokratischen Partei.

      "Auch wir halten am Privateigentum fest, wir lehnen es aber ab, mit dieser Forderung die rücksichtslosen Machtansprüche der heutigen kapitalistischen Machthaber zu decken. Wir sind für die soziale, gegen die plutokratische Republik."

Am letzten Novembertage konstituierte sich diese Vereinigung in Kassel gegen den Willen Quiddes als "Radikaldemokratische Partei", deren Vorsitz ein Berliner Rechtsanwalt Braunbach übernahm. Die neue Partei wollte kämpfen für die "zweite Republik", für eine gerechte Wirtschaftsordnung, gegen das Großkapital, gegen Großgrundbesitz und Zölle, für das Siedlungswesen. Sie bekämpfte die "kulturelle Reaktion", den Militarismus und forderte radikale Abrüstung der Welt. In der Außenpolitik versagte sie dem deutschen Nationalismus jedes Zugeständnis: "Die neue Linke greift an." –

Die Wirtschaftspartei benutzte die Verworrenheit im Lager der Mitte, um sich durch ein vorbeugendes Programm der Regierung Brüning gegenüber Handlungsfreiheit zu sichern. Anfang Oktober kamen die Mitglieder des Parteivorstandes, der Reichstagsfraktion und Länderparlamente zu einer Besprechung in Berlin zusammen. Das Regierungsprogramm berühre sich zwar weitgehend mit den Zielen der Wirtschaftspartei, aber, um an der Reichsregierung teilnehmen zu können, müsse man noch folgende Forderungen hinzufügen: Einleitung von Moratoriumsverhandlungen für die Reparationszahlungen mit dem Ziel einer Revision des Youngplanes; durchgreifende Verwaltungsreformen in Reich, Länder und Gemeinden, wobei die Parteibuchbeamten und alle überflüssigen Stellen zu beseitigen seien; um die Arbeitslosigkeit zu mildern, sei sofort die allgemeine Arbeitsdienstpflicht einzuführen, auch weitere Reformen der Sozialversicherung müßten verlangt werden. Schließlich [271] forderte man weiteren planmäßigen Abbau der Ausgaben der öffentlichen Hand, Beseitigung der Regiebetriebe, Überführung des öffentlichen Wohnungsbauwesens in die freie Wirtschaft, Abbau der Realsteuern, Senkung der Preise und der überspannten Zinssätze.

Am Tage der Reichstagseröffnung beschloß die Fraktion, ihren Justizminister Bredt zurückzuziehen, damit dem Ergebnis der Wahlen vom 14. September durch Umbildung oder Neubildung des Kabinetts Rechnung getragen werden könne. Jedoch erhob sie kein Bedenken gegen ein nicht von parteipolitischen Gesichtspunkten abhängiges Verbleiben Bredts auf seinem Posten, wenn die Gewähr gegeben sei, daß die künftige Regierung allen grundlegenden Richtlinien für Gesundung von Volk, Staat und Wirtschaft, welche die Partei aufgestellt habe, folgen werde. Bredt hatte sein Rücktrittsgesuch bereits eingereicht, ließ sich aber dann doch von Hindenburg und Brüning bestimmen, weiter im Amte zu bleiben.

  Reichswehrprozeß  

Die Reichstagseröffnung war auf den 13. Oktober festgesetzt. Inzwischen geriet das Volk immer mehr in eine Gewitteratmosphäre. Nach ihrem Siege brauste die nationalsozialistische Bewegung wie ein Sturm durch Deutschland. 70 000 Versammlungen wurden abgehalten. Im Hintergrunde stand der Hochverratsprozeß, der gegen die drei nationalsozialistischen Offiziere vor dem Reichsgericht in Leipzig geführt wurde und in dem Hitler selbst als Zeuge auftrat. Hier schied sich ganz offen die junge Generation von der alten. Mit ungeheurer Spannung verfolgten alle Parteien die Verhandlungen. Vor dem Gerichtsgebäude, im Saale ballten sich die Massen, die offen ihre Sympathie für Hitler bekundeten. Der Vertreter des Reichsinnenministeriums, Dr. Zweigert, verschwand ganz im Hintergrunde bei diesem gewaltigen Ringen des Neuen gegen das Alte. Anfang Oktober wurden die Offiziere als Hochverräter zu Festung verurteilt. Die Menge tobte, kaum vermochte Polizei und Feuerwehr sie zu zügeln. Das demokratische Berliner Tageblatt schrieb, man hätte keine bessere Propaganda für Hitler machen können!

Auch die Kommunisten waren eifrig. In Berlin streikten 126 000 Metallarbeiter. Ihr Lohn genüge nicht mehr. Am Tage [272] der Reichstagseröffnung, dem 13. Oktober, ward Berlin von Unruhen erschüttert. Banden von Erwerbslosen zogen durch die Geschäftsstraßen, besonders die Leipziger Straße, und zerstörten die Schaufenster der Warenhäuser durch ein Bombardement mit Pflastersteinen. Jüdische Hetzer reizten die Masse zu Gewalttaten gegen jüdische Geschäfte: "Jetzt alle in die Leipziger Straße: Wir wollen der Bande da die Scheiben einschmeißen!" Auf diese Weise sollten Gründe geschaffen werden, daß der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel in Berlin gegen die Nationalsozialisten vorgehen konnte. Berittene Polizei attakierte mit dem Gummiknüppel die nationalsozialistischen Ansammlungen vor dem Reichstagsgebäude. Drei Tage und drei Nächte hielten die polizeilichen Verfolgungen der Nationalsozialisten an, und immer wieder ereigneten sich Zusammenstöße. Die demokratische Presse wollte diese Ausschreitungen den Nationalsozialisten schuld geben; unter den 108 Verhafteten befanden sich 45 Nationalsozialisten. Doch die Untersuchung ergab, daß diese unschuldig waren. In erhöhtem Maße beunruhigten die nächtlichen Kämpfe des heimlichen Bürgerkrieges zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten die Städte.

  Reichstagseröffnung  

So wurde am 13. Oktober der Reichstag eröffnet. 576 Abgeordnete zogen ins Parlament, darunter 107 Nationalsozialisten in braunen Hemden. Doch die stärkste Partei waren noch die Sozialdemokraten mit 143 Abgeordneten. In der Opposition standen ferner 41 Deutschnationale und 76 Kommunisten. Das Zentrum hatte 68, die Bayrische Volkspartei 19, die Deutsche Volkspartei 30 Abgeordnete. Dann kamen die Wirtschaftspartei mit 23, die Staatspartei mit 20, das Landvolk mit 18 und 5 Splitterparteien mit zusammen 31 Abgeordneten. Gegen den Willen der Nationalsozialisten wurde der Sozialdemokrat Löbe zum Präsidenten des Reichstages gewählt. Erster Vizepräsident wurde der Nationalsozialist Stöhr.

Brüning gab eine längere Erklärung über sein Regierungsprogramm ab. Der Reichstag solle den Notverordnungen zustimmen.

      "Höchstes Ziel jeder deutschen Innen- und Außenpolitik ist die Erringung der nationalen Freiheit sowie der moralischen und materiellen Gleichberechtigung Deutschlands. [273] Der Weg zur Verfolgung dieses Zieles wird wie bisher der Weg des Friedens sein. Eine Politik der Abenteuer lehnt die Reichsregierung ab. Was unser Volk und besonders die Jugend aufs tiefste erregt, ist die Tatsache, daß nach der ersten schweren Enttäuschung über die Nichteinhaltung der Wilsonpunkte jetzt nicht einmal die Bestimmungen des Versailler Vertrages, die zu unsern Gunsten sprechen, von der Gegenseite eingehalten werden. Das uns gegebene Wort, daß der erzwungenen Abrüstung Deutschlands die freiwillige Abrüstung der anderen folgen werde, ist bisher nicht der Verwirklichung nähergebracht worden."

Die Reichsregierung werde die vertraglich gegebenen Möglichkeiten für den Ausbau der Landesverteidigung ausnutzen, sie werde sich stets für die Erhaltung der Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes einsetzen.

Die Sozialdemokraten schwiegen zunächst. Dann bestieg Strasser, der Nationalsozialist, die Rednertribüne. 106 Braunhemden erhoben sich, reckten die Hände zum faschistischen Gruß und riefen: "Deutschland erwache!" Das volle Haus war auf jedes Wort gespannt.

      "Wir wollen an die Stelle des seit zwölf Jahren bestehenden Systems der Schamlosigkeit, der Korruption und des Verbrechens die sittliche Staatsidee des Bismarckischen Reiches wieder setzen. Wir wollen keinen Bürgerkrieg, wir wollen eine neue Ordnung. Nicht Verfassung, sondern Erhaltung der Nation ist das Ziel. Mit uns ist die Vernunft und die Seele des deutschen Volkes. Wir wollen keine Reaktion, sondern Gesundung. Wir scheuen den Krieg nicht, wenn er das letzte Mittel sein sollte um die deutsche Selbständigkeit und soziale Freiheit wieder herzustellen. Als Grundrecht der deutschen Verfassung verlangen wir die Proklamation der allgemeinen Wehr- und Arbeitspflicht. Wir haben das tiefste Mißtrauen gegen dieses Kabinett und werden darum für jeden Mißtrauensantrag stimmen, weil wir die Politik dieses Kabinetts bekämpfen. Wir Nationalsozialisten, denen sich jetzt die Mehrheit des Volkes zugewendet hat, werden alle Macht in Anspruch nehmen, die uns die demokratische Verfassung überläßt. Wir verlangen die Wiederherstellung der deutschen Ehre und darum Vernichtung des Diktates von Versailles und die Vernichtung aller jener Diktate, die auf der Kriegsschuldlüge [274] basieren. Sie mögen hier tun, was Sie wollen. Sie mögen den Reichstag auflösen oder nach Hause schicken. Wir freuen uns auf eine Auflösung, weil dann unserem Volke die Gelegenheit gegeben wird, zu entscheiden über das, was die Marxisten und Zentrümler mit ihm getrieben haben. Bei uns, mit uns Nationalsozialisten ist das Volk! Deutschland erwache!"

Das waren stolze Worte voller Siegeswillen. Der Deutschnationale Oberfohren ergänzte sie dann. Das Volk habe mit den Wahlen eine eindeutig radikale Abkehr von dem bisherigen System der Innen- und Außenpolitik verlangt. Aber die Regierung Brüning habe dem Wahlausgang in keiner Weise Rechnung getragen. Die wirkliche Ursache unserer Wirtschaftsnot seien die Tributzahlungen, davon suche die Regierung durch den Hinweis auf die Weltwirtschaftskrise abzulenken. Seine Partei verwerfe deshalb Brünings Sanierungsplan, weil er die Katastrophenpolitik weiterführe, deren Ende das Chaos sein würde. Der Kampf gegen den Youngplan müsse mit allen Mitteln fortgesetzt werden.

Dingeldey, Führer der Deutschen Volkspartei
[Bd. 5 S. 224a]   Eduard Dingeldey, Führer der Deutschen Volkspartei.
Photo Scherl.
Dingeldey, der Sprecher der Volkspartei, verlangte von der Regierung energische Maßnahmen zur Behebung der Not und der Arbeitslosigkeit. Die Selbstkosten der Wirtschaft müßten gesenkt werden, der Geist der Wehrhaftigkeit müsse gefördert werden. – Für die Staatspartei sprach der Abgeordnete Weber. Die Krise sei eine Weltwirtschaftskrise, dafür sei die Regierung nicht verantwortlich. Not sei vor allem eine bessere Organisation des Absatzes. Die Kartelle müßten der Aufsicht des Staates unterstellt werden. Die Kapitalflucht sei aufs schärfste zu verurteilen, aber sie bewiese den Mangel an Vertrauen zu Wirtschaft und Regierung. Die Wirtschaft könne sich nur entwickeln, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer einträchtig zusammenwirken. Die Aufhebung der Notverordnung lehne die Staatspartei ab, aber sie verlange die Reichsreform. In der Außenpolitik werde Deutschland auch in Zukunft nur etwas auf dem Wege vernünftiger Verhandlungen erreichen können.

Inzwischen hatten Nationalsozialisten und Deutschnationale Mißtrauensanträge eingebracht. Die Kommunisten erklärten ihre Zustimmung. Dagegen beantragten Zentrum, Deutsche Volkspartei, Bayrische Volkspartei, Staatspartei und Volks- [275] nationale Reichsvereinigung, die Regierungserklärung zur Kenntnis zu nehmen und über alle eingebrachten Mißtrauensanträge zur Tagesordnung überzugehen. Mit 318 gegen 236 Stimmen wurde dieser Antrag angenommen. Nach einer Sitzungsdauer von 10 Tagen wurde der Reichstag auf den 3. Dezember vertagt. –

Brüning hatte die Erkenntnis gewonnen, daß er mit diesem Reichstag nicht zusammenarbeiten könne. Die beiden Gewalten des Staates, Volk und Regierung, hatten nicht mehr die gleichen Ziele, die gleiche Willensrichtung. Damit war auch das Bindeglied zwischen Volk und Regierung, welches dem Staate erst seinen demokratischen Inhalt gab, der Parlamentarismus, gegenstandslos geworden. In allen Tonarten sang man im Herbst 1930 das Lied von der Krise des Parlamentarismus in Deutschland. Was Brüning seit dem Juli mehr gezwungen tat, das tat er nun seit dem Oktober mit wohlerwogener, klarer Absicht: er verengerte die parlamentarische Regierungsbasis, indem er nicht mehr den Reichstag, mit dem er nicht arbeiten zu können vorgab, sondern lediglich den Reichsrat als die parlamentarische Körperschaft betrachtete, der er Rechenschaft abzulegen schuldig war. Der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, Dingeldey, gab diesem Wandel scharfgeprägten Ausdruck in einer Rede Anfang Dezember:

      "Wir haben schon seit geraumer Zeit die Grundlagen des bisherigen Parlamentarismus verlassen und sind zu einem andern Parlamentarismus hinübergewandelt, den wir für sachlicher halten. Was bedeutet es denn, daß jetzt der Reichsrat der Boden geworden ist, wo die Regierung ihr Programm entwickelt? Nichts anderes als die sichtbare Bestätigung der Tatsache, daß der Parlamentarismus in seinen alten Grundlagen solchen außergewöhnlichen Zeiten nicht gewachsen ist."

  Direktorialregierung  

Um die Demokratie zu retten, tat Brüning den Schritt zur Direktorialregierung, hatte er sich entschlossen, im Bunde mit Hindenburg die halbe Diktatur der Demokratie zu errichten. Vor allem hatte Brüning die Sorge, daß es ihm gelingen möge, die Reichsfinanzen zu sanieren. Ende Oktober hatte das Reich den stattlichen Fehlbetrag von 772 Millionen. Brüning, Stegerwald und Dietrich sprachen vor dem Reichsrat [276] herrliche Worte von Sparsamkeit, Vereinfachung und Umgestaltung der Bauwirtschaft, Senkung der Realsteuern, daß die Herren vom Reichsrat in allen Stücken einverstanden waren. Die Frucht der Bemühungen war die umfassende erste Notverordnung vom 1. Dezember zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen, ein wahres Mammutwerk, das von Grund aus die öffentlichen Einnahmen, die Steuern, die sozialen Maßnahmen usw. dem Notstand des Volkes anpassen wollte.

Vor allem hatte der Reichswirtschaftsminister seit dem Sommer einen Gedanken, von dem er glaubte, daß er dem Volke das Heil und das Glück bringen würde. Er forderte unentwegt eine Senkung der Preise. Große Verhandlungen mit allen möglichen Industrie- und Handelsvertretern wurden gepflogen, und meist war es so, daß niemand einer Preissenkung zustimmen wollte, wenn nicht zugleich auch auf allen andern Gebieten Verbilligungen erfolgten. Vor allem glaubten die Arbeitgeber, daß nun der Zeitpunkt zum Abbau der Löhne und Gehälter gekommen sei. Für Dietrich waren die Preissenkungsverhandlungen keine leichte Sache. Trotzdem forderte er nach wie vor "Preissenkung bis zum letzten Verbraucher". Denen aber, die Widerstand leisteten, kündigte er Anfang November an: "Die Reichsregierung wird alle Widerstände brechen. Wenn es nicht ohne Zwang geht, dann erfolgt rücksichtslosester Druck im Interesse von Volk und Wirtschaft." In der Tat traten einige kleine Ermäßigungen der Preise für Brot, Fleisch, Milch, Obst, Gemüse, Kartoffeln, Seefische, auch für Bekleidung ein. Aber sie waren nicht von langer Dauer. Die Wirtschaft war stärker als der Wirtschaftsminister.

  Schwierigkeiten der Regierung  

Vornehmlich durch die Preissenkungspolitik zog sich die Regierung den Groll der Wirtschaftspartei zu. Ende November zog dann die Partei ihren Justizminister Bredt aus der Regierung zurück und lehnte weitere Unterstützung des Kabinetts ab. Die Ereignisse der letzten Zeit hätten bewiesen, daß die Reichsregierung ihre Politik in Anlehnung an die Sozialdemokratie unter Preisgabe lebenswichtiger Interessen des deutschen Volkes und der deutschen Wirtschaft durchzuführen versuche. Nach Ansicht der Wirtschaftspartei könnten auf diesem Wege [277] die großen lebenswichtigen Probleme des deutschen Volkes in der Innen- und Außenpolitik nicht gelöst werden.

Auch die Christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei erteilte Brüning Anfang Dezember eine scharfe Absage. Das Scheitern des deutschen Abrüstungsvorstoßes in Genf war die Ursache. Die Kardinalforderung der Partei sei die Gleichhaltung Deutschlands mit den andern Mächten in der Abrüstungsfrage. Auch müßten die Ostgrenzen einer Revision unterzogen werden. Die gemeinsame Front aller nationalen Kräfte sei notwendig.

Mit dem Abschwenken dieser beider Parteien hatte die Regierungsfront im Reichstag eine Einbuße von 41 Stimmen erlitten. Doch die Deutsche Volkspartei, deren Vorsitz Dingeldey an Stelle von Scholz am 1. Dezember übernommen hatte, hielt an Brünings Seite aus. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, da sie streng antimarxistisch sei, auch ein Kabinett zu unterstützen, das die Beziehungen zur Sozialdemokratie ablehne. Der Außenminister Curtius, der allerdings nicht ebenbürtige Nachfolger Stresemanns im Reichskabinett, war der Vertreter dieser Partei in der Reichsregierung. Sie ließ aber keinen Zweifel darüber, daß sie auch bereit sei, aus der Regierungsfront abzuschwenken, wenn Brüning der Linken irgendwelche Zugeständnisse machen sollte. So verschieden waren die Auffassungen! Die Wirtschaftspartei löste ihre Verbindung mit Brüning, da er sich zu stark an die Sozialdemokratie anlehne, die Volkspartei unterstützte Brüning, um ihn weiter im antimarxistischen Lager zu halten.

  Vorgänge im Reich  

Inzwischen wuchs die Not des Volkes immer ungeheuerlicher. Die Wirtschaft starb, die Arbeitslosigkeit wuchs. Anfang November gab es 3¼ Millionen Arbeitslose, Mitte November 3½ Millionen, Ende November 3¾, Mitte Dezember 4 Millionen. Mitte Dezember 1929 betrug die Zahl 2,36 Millionen. Der tägliche Zuwachs der Arbeitslosen betrug also in den Spätherbstwochen mehr als 16 000! Zusammenbrüche und Stillegungen großer Betriebe führten zu dieser unheimlichen Entwicklung. Geradezu katastrophal erging es den deutschen Bauern. Im Jahre 1930 wurden im Reiche 16 159 bäuerliche Zwangsversteigerungen eingeleitet und davon 4 500 durch- [278] geführt. Das Ergebnis war, daß für 574 Millionen Mark Schulden nur 100 Millionen Mark erzielt wurden. Die Gläubiger büßten mehr als vier Fünftel ihrer Kapitalien ein! – Die Einsichtigen rieten zur Vernunft: Immer lauter wurden die Stimmen, welche die Revision des Youngplanes forderten. Schacht forderte sogar endgültige Abschaffung der Reparationen.

Und immer wilder wurden die Leidenschaften der hungernden Menge. Kein Tag verging, ohne daß in verschiedenen Teilen des Reiches sich die Erwerbslosen zusammenrotteten und Gewalttaten begingen. Überall erfolgten Zusammenstöße mit der Polizei. An einem Tage Ende Oktober wurden in Berlin sieben Lebensmittelgeschäfte nacheinander von bewaffneten Banden ausgeraubt. Solche Dinge kamen jetzt täglich in Berlin vor. Und wie schon in den früheren Jahren, organisierten die Kommunisten diese Revolten planmäßig in der Hoffnung, so den Staat zu stürzen und die Macht in die Hände zu bekommen. Seit Anfang Dezember hallte Deutschland von Rebellion und Aufstand wider. In Chemnitz schränkte der Rat der Stadt den Straßenbahnverkehr ein; das war Anlaß, Barrikaden zu errichten und gegen die Ordnungsmacht des Staates zu kämpfen. In Berlin wurde geplündert. Leipzig wurde der Schauplatz blutiger Krawalle. In Dresden wurde gegen den Hunger demonstriert. Eine Welle schwerer Unruhen brauste am 10. Dezember über Deutschland hin. Viele Tausende aufgewühlter Menschen liefen Sturm gegen den Hungerstaat, gegen die Hungerregierung, in Berlin und Breslau, in Kolberg, in Chemnitz und Plauen, in Thüringen, Oldenburg, Hameln, Cannstadt, in Düsseldorf und Bonn. In St. Pauli zu Hamburg kam es aus Anlaß einer kommunistischen Massenkundgebung gegen Hunger und Arbeitslosigkeit zu schweren Schießereien. Das Schreckgespenst des Bürgerkrieges erhob sich erbarmungsloser denn je, und die Behörden konnten feststellen, daß die Kommunisten über Waffen verfügten; fand man doch bei einem Führer in Bayern vier schwere Maschinengewehre!

Auch die Nationalsozialisten rührten sich. Aber sie verfolgten keine niedrigen Zwecke, sondern bäumten sich in einer großen Idee gegen die Beschimpfung des Vaterlandes auf; das von der demokratisch-pazifistischen Presse propagierte Buch Remar- [279] ques: Im Westen nichts Neues, das eine Verunglimpfung des deutschen Heeres darstellte und in seiner gefährlich verschleierten Würdelosigkeit die Ehre und das Empfinden jedes Kriegsteilnehmers aufs tiefste beleidigte, war verfilmt worden. Bei der Erstaufführung des Films in Berlin kam es am 8. Dezember zu gewaltigen Tumulten im Lichtspieltheater, die sich auf den Nollendorffplatz fortpflanzten. Die Polizei konnte kaum Herr der Lage werden. Die Nationalsozialisten waren die Sprecher des anständigen Deutschland. Sie brachen mit ihrem Sturm gesunden Empfindungen weiter Volkskreise Bahn. So verlangte die Sächsische Regierung Verbot des Filmes, in Thüringen, Braunschweig und Baden durfte er nicht aufgeführt werden. Das Reichswehrministerium sprach sich gegen ihn aus, und die Besitzer der Lichtspieltheater lehnten ihn ab. Am 11. Dezember verbot die Filmoberprüfstelle den Film. Es sei der Film nicht des Krieges, sondern der deutschen Niederlage "und ich möchte das Volk sehen, daß sich die Darstellung der eigenen Niederlage gefallen läßt!" Darüber große Empörung bei den Demokraten und den Sozialdemokraten, besonders bei den betreffenden Ministern Preußens. Um sie zu versöhnen, wurde von der Filmoberprüfstelle am folgenden Tage der Film vom Koblenzer Stahlhelmaufmarsch verboten, er könnte im Ausland Anstoß erregen. Aber weder das Ministerium des Äußeren noch das der Reichswehr hatten Einwände gegen diesen Film erhoben!

  Dezembersitzung  
des Reichstages

In diesen turbulenten Zeiten hatte sich der Reichstag wieder versammelt. Dietrich machte den Abgeordneten in langer Rede den neuen Etat schmackhaft, der anderthalb Milliarde niedriger sei als der gegenwärtige. Es sei überall gespart worden, wo es anging. Seine Positionen waren folgende: Überweisungen an Länder und Gemeinden 3 Milliarden, innere und äußere Kriegslast 4 Milliarden, Verzinsung und Tilgung der Reichsschulden 1 Milliarde, desgleichen für soziale Zwecke 1 Milliarde, und für Verwaltung des Reiches schließlich 1½ Milliarde. Aber die Opposition kämpfte gegen die Notverordnung des 1. Dezember. Sie wollte eine gleiche Lage schaffen wie im Juli und die Reichstagsauflösung erzwingen oder den Sturz der Regierung Brüning. So beantragten also [280] Nationalsozialisten, Deutschnationale und Kommunisten am 6. Dezember die Aufhebung der Notverordnung. Der Antrag wurde mit 292 gegen 254 Stimmen abgelehnt. Die Mehrheit der Regierung betrug kaum mehr 40 Stimmen. Sie hatte durch den Abfall der Landvolk- und Wirtschaftspartei 40 Stimmen verloren. Auch bei den anderen Abstimmungen zeigte sich, daß Brüning nur auf schwacher Basis stand. Seine Mehrheit betrug meist 40 Stimmen, erhöhte sich aber bisweilen noch auf 70.

Vor Weihnachten wurde der Reichstag nach Hause geschickt, vertagt bis zum 3. Februar. Die Überzeugung vom Bankrott des Parlamentarismus hatte sich allgemein im Volke verbreitet. Ein trübes Weihnachtsfest der Hoffnungslosigkeit ging über das Volk. In Berlin und Hannover, in Duisburg, Weimar und anderen Städten demonstrierten die Erwerbslosen am Heiligen Abend. Kommunisten störten die Gottesdienste, und die Kirchengemeinden mußten wieder nächtliche Wachen vor den Gotteshäusern einrichten, um Kirchenschändungen durch Gottlose zu verhindern.

Drohend zog am politischen Himmel Deutschlands die Finanzkatastrophe auf. Durch die Inflation und eine verantwortungslose Pumpwirtschaft war Deutschland in einen Zustand nicht nur der Verarmung, sondern auch der Verschuldung hineingeraten, der unweigerlich eine Katastrophe heraufführen mußte. Die Männer der Regierung und der Wirtschaft glaubten diesen bevorstehenden Zusammenbruch zu verhindern, indem sie die Schraube, die erst nach vorwärts immer stärker angezogen worden war, einfach zurückdrehten: sie redeten von Preisabbau und vom Abbau der Löhne und Gehälter. Aber viel Köpfe, viele Sinne, es blieb in der Hauptsache nur bei großen Worten.

Der Bergbau des Ruhrgebietes wagte Anfang Janaur 1931, die Löhne abzubauen. Dazu kündigte sie die Belegschaften. Sofort entfesselten die örtlichen Zellen der kommunistischen Revolutionären Gewerkschaftsopposition Streiks auf den Zechen. Im Revier Hamborn, Recklinghausen, Hamm hatten am 2. Januar 2500 Bergleute, die Hälfte der Belegschaft, die Arbeit niedergelegt und hinderten die Arbeitswilligen an der Arbeit. Am nächsten Tage hatte die Bewegung auch auf Gladbeck, [281] Mörs, Gelsenkirchen übergegriffen, und es wurden etwa 16 000 Ausständische gezählt. Man plante Terrorakte, Unterbrechung von Gas, Wasser, elektrischem Strom. In Mörs kam es zu einem regelrechten Feuergefecht mit der Polizei. In Lintfort versuchten 2000 Mann die Polizeiwache zu stürmen. Bei dem Gefechte mit der Polizei, das eine Stunde dauerte, hatten die Angreifer zahlreiche Verluste. Auch in Bottrop, Langenbochum gab es schwere Zusammenstöße. In Marl wurde die Polizei mit Flaschen und Ziegelsteinen beworfen. In der nächtlichen Dunkelheit – alle Laternen waren zertrümmert worden – wurde aus den Häusern auf die Polizeibeamten geschossen. Doch sie blieben Herren der Lage.

  Kommunistische Unruhen  

Besonders heftig war der Streik im linksrheinischen Gebiet. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften mahnten zur Ruhe, doch um so erbitterter wurden die Kommunisten. Sie organisierten Frauenbataillone. Diese führten Nadelkissen mit, die sie den Arbeitswilligen ins Gesicht schlugen. Ihre Kinder mußten sie begleiten, "zur wirkungsvollen Abwehr der Polizeikosaken". Hinter den Bemühungen der Kommunisten standen große politische Ziele; sie wollten einen roten Einheitsverband der Bergarbeiter schaffen, einen politischen Massenstreik entfesseln und die Regierung Brüning sowie die "faschistische Diktatur" stürzen.

Erst das energische Durchgreifen der Polizei, Haussuchungen in Bochum, wobei 100 Kommunisten verhaftet wurden, Versammlungsverbot in Recklinghausen und die durch den Lohnausfall heraufgeführte Not brachte die gefährliche Welle zum Rücklauf. Am Mittag des 5. Januar waren es nur noch 5000, zwei Tage später nur noch 2500 Streikende.

Inzwischen hatten in Essen die Schlichtungsverhandlungen begonnen. Die Bergarbeiterverbände lehnten zwar die Lohnabbauforderungen des Zechenverbandes ab, verurteilten aber ebenso die wilde Streikbewegung der Kommunisten. Der Reichsarbeitsminister Stegerwald begab sich selbst ins Ruhrgebiet, versuchte vergeblich zu vermitteln. Die Sache war so hoffnungslos, daß die Regierung bereits daran dachte, den Ruhrbergbau, der mit Stillegung drohte, durch gewisse Subventionierung in Form von baren Zuschüssen in die Lage zu ver- [282] setzen, die bisherigen Löhne weiterzuzahlen. Am 8. Januar beendete Hindenburg den Ruhrkonflikt durch Notverordnung. So wurde denn nach zwei Tagen der Schiedsspruch gefällt, welcher die Löhne um 6 Prozent senkte. Die Kommunisten drohten mit einem neuen Streik, doch kam dieser infolge der Ablehnung der Gewerkschaften nicht zustande.

  Arbeitslosigkeit  

Inzwischen bemühte sich der Reichsfinanzminister Dietrich auf seine Weise, der Wirtschaftsnot zu steuern. Er forderte energischen Preisabbau, schlug aber auch vor, statt den Arbeitslosen die Versicherungsgelder auszuzahlen, diese Summen zur Verbilligung und Vermehrung der Produktion zu verwenden. Man solle für jeden Arbeitslosen, der in die von der Krisis befallene Wirtschaft wieder eingereiht werde, dem Betriebe eine entsprechende Summe zuzahlen. Dies sei aber nicht etwa als Subventionierung, als Unterstützung des Unternehmers von Reichs wegen, aufzufassen.

Dieser Plan löste bei den Ministerkollegen Dietrichs Kopfschütteln aus. Sie waren sehr skeptisch und befürchteten nur einen vorübergehenden Erfolg. Denn die Frage der Beschäftigung der Arbeitslosen sei weniger eine Frage der Produktion als vielmehr des Absatzes. Aber die sozialdemokratischen Gewerkschaften waren entrüstet. Sie argwöhnten sofort einen hinterlistigen Angriff auf die Arbeitslosenversicherung, und die schützten sie ja wie ihr Heiligtum!

Eine andere Lösung des Arbeitslosenproblems versuchte Stegerwald. Am 11. Januar erörterte er mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft die dem Reichstag vorliegenden Anträge auf Einführung der Arbeitsdienstpflicht. Allerdings lehnten Arbeitgeber wie Gewerkschaften aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen die Arbeitsdienstpflicht ab. Man kam zu dem Schlusse, daß der Wert der Produktion und die Belebung der Kaufkraft unsichere Größen seien. Die gegenwärtige Krise sei bedingt durch die vorwiegend unzureichende Kapitaldecke und die fehlenden Absatzmöglichkeiten. Man leide ohnehin an Überproduktion. Da könne auch der Arbeitsdienst keine Abhilfe schaffen.

Nichtsdestoweniger propagierten die nationalen Kreise weiterhin den freiwilligen Arbeitsdienst. Die Reichsarbeitsgemein- [283] schaft für Deutsche Arbeitsdienstpflicht, der sich 61 nationale Parteien und Verbände angeschlossen hatten, kamen am 17. Januar mit einem Vertreter des Arbeitsministeriums zusammen und forderten die freiwillige Dienstpflicht. Sie sagten, die Berechnung des Ministers eines Arbeitslosentagewerks mit 10 Mark sei viel zu hoch. Dennoch erklärte der Vertreter des Ministers, die amtlichen Stellen stünden den ganzen Bestrebungen in dieser Richtung vorläufig noch abwartend gegenüber. Gewiß würde der Einsatz von 450 000 Mann die Arbeitslosenkosten um 420 Millionen verringern. Aber er müsse doch den Standpunkt vertreten, den der Minister in seiner Aussprache mit den Wirtschafts- und Gewerkschaftsführern gewonnen habe. So war auch diese Hoffnung auf eine Herabminderung der Arbeitslosigkeit gescheitert. Aber die Reichsregierung setzte jetzt unter dem Vorsitz des ehemaligen Reichsarbeitsministers Brauns eine Kommission ein, die nach Mitteln suchen sollte, die Arbeitslosigkeit zu mildern.

Regierung und Volk waren machtlos der wachsenden Not gegenüber. Nicht allein die Privatwirtschaft litt unter dem Versiechen der Einnahmen, auch die großen Reichsbetriebe spürten es ganz empfindlich. Die Reichsbahn hatte 1930 rund 800 Millionen Einnahmeausfall gehabt, die Reichspost 120 Millionen. Diese Verluste konnten nicht ersetzt werden durch erhöhte Arbeitsleistungen. Denn die Lösung der Arbeitslosenfrage scheiterte nicht bloß am Widerstand der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, sondern auch an der absoluten Unmöglichkeit der Wirtschaft, ihre Produktion zu steigern. Der Abbau der Preise scheiterte am Widerstande weiter Wirtschaftskreise, die ihrerseits Senkung der Zinsen, der Löhne und der Steuern forderten. Damit aber waren nicht die Banken, die Arbeitnehmer und die Regierungen einverstanden. So sah Dietrich Mitte Januar sich genötigt, zu erklären, für die Zukunft könne niemand mit Bestimmtheit vorhersagen, ob es besser oder schlechter werde. Mit der behördlichen Preissenkungsaktion müsse endlich einmal Schluß gemacht werden, sonst werde eine Wirtschaftserholung nicht möglich sein. So stieg die Ziffer der Arbeitslosen unaufhaltsam, von 4,4 Millionen Ende Dezember auf 4¾ Millionen Mitte Januar, auf [284] 4,9 Millionen Ende Januar. Etwa anderthalb Hundert Lohntarife waren bis Ende Januar gekündigt.

Maßnahmen auf Lohnabbau, die von den Regierungen ergriffen wurden, wirkten wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Bei den Eisenbahnern wurde der Lohn herabgesetzt, trotz heftigem Widerstreben. Bei den Reichs- und Staatsangestellten wurde eine fünfprozentige Gehaltssenkung durchgeführt. Man sann auch noch auf andre Mittel, das ungeheure Mißverhältnis zwischen brachliegenden Arbeitskräften und mangelndem Gelde zu mildern. In Sachsen entließen die Gemeinden, Bezirks- und Zweckverbände die Doppelverdiener. Die Preußenregierung hatte große Pläne. Sie erdachte gleich vier wirksame Mittel, um die Arbeitslosigkeit zu vermindern: es sollte in einzelnen Wirtschaftsgebieten die Kurzarbeitswoche von 5 Tagen oder 40 Stunden eingeführt werden. Man wollte ein neuntes Schuljahr einrichten, das, wie Handelsminister Schreiber sagte, eine Viertelmillion Jugendlicher vom Arbeitsmarkt fernhalte. Die Kosten von etwa 15 Millionen hierfür seien geringer als die Kosten für eine Viertelmillion Arbeitslose. Man entwarf ein großzügiges Meliorationsprogramm, 78 000 Arbeitslose sollten bei der Erschließung von Hoch- und Niederungsmooren und bei der Intensivierung von Grünlandwirtschaften verwendet werden. Man wollte für das kommende Jahr keine ausländischen Wanderarbeiter zulassen, so würden weitere 110 000 Arbeitslose Beschäftigung finden. Nichts von all den großen Plänen wurde Wirklichkeit. Im Gegenteil, der Reichsrat ließ Ende Januar mit Rücksicht auf die Lage der Landwirtschaft die Verwendung von ausländischen Wanderarbeitern in beschränktem Umfange wieder zu, doch sollten vier Fünftel wenigstens weibliche Kräfte sein. –

Verschärfung der
  inneren Gegensätze  

Dabei nahm die politische Spannung immer leidenschaftlichere Formen an. An die Seite der Kommunisten trat jetzt auch das Reichsbanner in seinem Kampfe gegen die Nationalsozialisten. Hörsing, der Führer, erklärte Anfang Januar in Husum, die Lage sei ganz katastrophal, es könne jeden Augenblick zur Explosion, zum Bürgerkrieg kommen. Der Nationalsozialismus sei eine moderne Krankheit. Das Reichsbanner sei zwar bisher etwas schlapp gewesen, aber es werde schon Adolf, gemeint [285] war Hitler, überwinden. Von nun an wurden die Formationen des Reichsbanners in regelrechten militärischen Kursen ausgebildet, so daß Hörsing Ende Februar feststellen konnte, 160 000 ausgebildete Reichsbannerleute stünden der Republik zur Verfügung.

Schwere kommunistische Ausschreitungen gegen Nationalsozialisten forderten täglich Blutopfer. In Güstrow in Pommern kam es zu Kämpfen, in Berlin wurde eine richtige Saalschlacht geschlagen. In einer nationalsozialistischen Versammlung erhoben sich 600 Sozialdemokraten und Kommunisten gegen 2000 Nationalsozialisten. Über 100 Verletzte wurden vom Platze getragen. In Altona, in Brunsbüttel-Koog, in Bismarck, bei Königsberg, in Danzig, in Geesthacht bei Hamburg, in Hannheim im Rheinland – überall prallten die Gegner aufeinander. Kommunistische Waffenlager wurden in Berlin, in einem Kinderheim zu Elgersburg in Thüringen, in Düsseldorf-Germersheim ausgehoben. Immer aufs neue entdeckte man verborgene Waffen, deren Bestimmung auf den kommenden Bürgerkrieg hinzielte. Selbst das Zentrum begann Streitkräfte zu formieren zum Kampf und Abwehr gegen die Nationalsozialisten, Prälat Ulitzka bildete in Oberschlesien die "Kreuzschar". So wurde die Front von Tag zu Tag breiter gegen die Nationalsozialisten, die in siegesgewisser Kühnheit im Kampf ums Dritte Reich die Hand bereits nach der Macht ausstreckten.

In den Reichstagsausschüssen spiegelte sich die zunehmende Kampfstimmung wider. Finanzminister Dietrich mußte ein düstres Bild von der Finanzlage des Reiches geben. Der Etat für 1930 schloß mit 1 Milliarde Fehlbetrag ab. Was nun? Alle Maßnahmen, welche die Regierung ergriffen habe und noch ergreifen werde, hätten das Ziel, der Wirtschaft wieder Auftrieb und Rentabilität zu geben und eine möglichst große Anzahl Erwerbsloser wieder in den Arbeitsprozeß einzufügen. Der Nationalsozialist Albrecht entgegnete, seine Partei würde alle diejenigen Beamten ohne jede Pension abbauen, die in den letzten zwölf Jahren auf Grund ihres Parteibuches sich in Amt und Würden hineingeschlichen hätten. Er verlangte Ablehnung sämtlicher Tributzahlungen und den Rücktritt des Ministers. Selbst die Volkspartei, die bisher noch zur Regierung gestanden [286] hatte, drohte mit Opposition. Sie machte Dietrich den Vorwurf der Leichtfertigkeit, er berücksichtige nicht den Ausfall der Reichseinnahmen durch den Rückgang der Wirtschaft. Alle seine Maßnahmen seien halb. Die Partei machte ihre Mitarbeit am Etat abhängig von der Vorlegung eines Programms vor der Etatsberatung im Reichstagsplenum, das noch mindestens 300 Millionen Abstriche vorsehe. Der Sozialdemokrat Hilferding wies auf das Defizit der Gemeinden hin, das 1931 auf 1,1 Milliarde anwachsen werde. – Ja, die Regierung war in der Tat machtlos und gehetzt.

  Regierungsschwierigkeiten  

Zu offenem Gegensatz kam es am 22. Januar bei der Beratung des Justizetats. Ein Nationalsozialist erwiderte auf Beleidigung von seiten der Sozialdemokratie: "Bekanntlich betreiben die Sozialdemokraten seit zehn Jahren Hochverrat." Der nationalsozialistische Vorsitzer des Ausschusses weigerte sich, seinen Parteigenossen zur Ordnung zu rufen. Darauf verließen die Sozialdemokraten den Saal, Kommunisten und Zentrum schlossen sich an, da es doch zwecklos sei, ohne eine solche große Partei weiterzuberaten.

Bei den weiteren Besprechungen im Haushaltsausschuß beantragten die Sozialdemokraten, die Kürzung der Beamtengehälter zu staffeln. Doch lehnten Dietrich und andern Parteien dies ab, da hierdurch der finanzielle Ertrag in Frage gestellt würde und die Besoldungsordnung erheblich zerschlagen würde. Auch ein nationalsozialistischer Antrag wurde abgelehnt, welcher die Kürzung der Gehälter bis zu 20 Prozent bei Oberbürgermeistern und ähnlichen Beamten staffeln wollte.

Zentrum und Sozialdemokratie waren unterdessen dabei, ein neues Mittel zu ersinnen, um die Opposition der Regierung im Reichstag zu knebeln. Sie berieten gemeinsam über eine Parlamentsreform durch Änderung der Geschäftsordnung, um ein ungestörtes Arbeiten des Parlamentes zu sichern und es vor Beschimpfungen und Störungen zu schützen. Im Zusammenhang hiermit wurden dem Geschäftsordnungsausschuß des Reichstags Ende Januar 283 Anträge auf Aufhebung der Immunität von Abgeordneten zugeleitet; davon bezogen sich 209 Anträge auf Nationalsozialisten, und 65 auf Kommunisten. Der Nationalsozialist Stöhr kämpfte energisch dagegen. [287] Nach langer Aussprache wurde endlich mit einer Stimme Mehrheit die Immunität des Nationalsozialisten Spangemacher aufgehoben.

Brüning hat sich inzwischen mit dem Problem der Osthilfe beschäftigt. Er hat die Grenzmark bereist und wurde mit feindlichen Kundgebungen der Kommunisten und Erwerbslosen empfangen, wie übrigens kurz danach auch auf einer Reise nach Chemnitz. Der Reichskanzler beschloß eine Erweiterung des geplanten Osthilfegesetzes in der Weise, daß dem deutschen Osten eine Milliarde Mark in sechs Jahresraten zur Verfügung gestellt werden sollten. Ende Januar schien es so, als sei zwischen dem Kanzler und der parlamentarischen "Grünen Front" eine Einigung in den Fragen der Osthilfe und Agrargesetze erzielt. Brüning atmete auf. Er glaubte, bei der bevorstehenden Reichstagssitzung eine kümmerliche Mehrheit von 20 bis 30 Stimmen zu erlangen.

Doch da bereitete ihm der Reichslandbund eine neue Enttäuschung. In einer Riesenversammlung Anfang Februar machten die Landwirte dem Kanzler schwerste Vorwürfe. Zehn Monate sei nichts getan. Der Bauer habe tiefstes Mißtrauen gegen die Regierung. Tönende Worte aber und halbe Maßnahmen lehne die Landwirtschaft ab, denn diese führen nur zu Mißerfolgen.

Zum Überfluß wurde jetzt auch die Volkspartei völlig rebellisch. Sie teilte nicht Dietrichs Optimismus und verlangte 300 Millionen Abstriche am Etat. Es sei ja zwecklos, wenn die Parteien Sanierungsanträge stellten. Diese würden in den Ausschußbesprechungen zerrieben. Die Regierung müsse selbst Abhilfe schaffen und Vorschläge machen. Die Lage sei ernst, und die Volkspartei werde die Konsequenzen ziehen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden.

Brüning sah sich veranlaßt, nun selbst mit der Volkspartei zu verhandeln. Er machte Zugeständnisse, und schließlich – der Reichstag war schon eröffnet, – kam noch einmal eine Einigung zustande. Brüning versprach, Ausfälle von Reichseinnahmen nur durch weitere Ausgabenkürzungen, nicht durch Erhöhung der Lasten oder Vermehrung der Schulden auszugleichen. Dafür [288] aber wollte Brüning vom Reichstag eine Sparermächtigung fordern. –

Das waren schwere Sorgen, mit denen die Regierung der kommenden Reichstagssitzung entgegensah. Die Dinge standen mit großer Wahrscheinlichkeit so, daß Brüning keine Mehrheit erlangen konnte. Dann mußte entweder die Regierung zurücktreten oder der Reichstag aufgelöst werden. Beides wollte Brüning nicht. Nur keine Reichstagsauflösung, auf welche die nationale Opposition ihre Hoffnung setzte! Hatten doch die Nationalsozialisten bereits beim Reichspräsidenten den Antrag auf Reichstagsauflösung nach Artikel 25 gestellt! Immerhin, man mußte gerüstet sein. Die Regierung rechnete Anfang Februar stark mit einer Vertagung oder gar Auflösung des Reichstages. Sie wollte dann durch Notverordnung das Wahlalter heraufsetzen, um die nationale Jugend von den kommenden Wahlen auszuschließen. Aber vorderhand waren diese Gedanken noch tief in der Brust der Regierenden verschlossen. Sie wollten Mut zeigen und dem Reichstag gegenübertreten, ehe sie ihre Staatsstreichpläne enthüllten! Hoffte doch die Regierung auf eine Mehrheit von 25 bis 35 Stimmen für den Etat, wenn Deutsche Volkspartei, Bayrische Volkspartei und Sozialdemokratie geschlossen dafür stimmten.

  Reichstagswahlkampf  
Februar 1931

Am 3. Februar eröffnete der Reichstag seine Sitzung. Dies geschah vollkommen ruhig, und die Reichsregierung nahm vorläufig keine Notiz vom Parlamente, denn bei Beginn der Sitzung waren ihre Plätze vollkommen leer. Aber eine gewisse Nervosität hatte die Mittelparteien befallen:

      "Die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
      Ihn jagen der Sorgen Qualen."

wie Schiller sagt. Die Angst um Neuwahlen, welche die Sozialdemokratie beunruhigte.

Schon den folgenden Tag enttäuschte der Reichsfinanzminister Dietrich das hoffende Volk aufs tiefste: es sei gar kein Gedanke mehr, daß die Steuern gesenkt würden, denn dadurch würde das Reich 95 Millionen einbüßen. Damit war abermals ein schöner Traum vergangener Wochen zu Ende. Dann kam Brüning. Die Regierung weise alle Staatsstreichpläne weit [289] von sich. Sie lege Wert darauf, daß der Etat nicht durch Notverordnung, sondern parlamentarisch verabschiedet werde. Man werde bemüht sein, die Ausgaben zu senken und weitere Ersparnisse zu machen. Doch bitte die Regierung um eine Sparermächtigung.

Als die Reichstagsaussprache am 6. Februar über den Etat begann, verließen die Kommunisten den Saal. Die Nationalsozialisten und Deutschnationalen schlossen sich an. Sorgen umwölkten die Stirn der Regierung, denn der Reichstag war beschlußunfähig geworden. Jedoch wurden am folgenden Tage nationalsozialistische und kommunistische Mißtrauensanträge abgelehnt, dagegen mit 312 gegen 206 ein Zentrumsantrag angenommen, über die Oppositionsanträge zur Tagesordnung überzugehen.

Am 9. Februar wagte Dr. Bell im Namen des Zentrums den Vorstoß gegen das Parlament, womit er die nationale Opposition treffen wollte. Er sprach von einer Änderung der Geschäftsordnung, um Agitationsanträge zu verhindern. Auch schlug er eine Änderung des Pressegesetzes vor, um dem "vielfachen Mißbrauch der Immunität" ein Ende zu machen. Da entgegnete der deutschnationale Vizepräsident Graf, die ganze Parlamentsreform sei nichts anderes als eine Sicherung des Paktes, den Dr. Faust–Brüning mit Mephisto–Braun geschlossen habe, eine gegenseitige Garantie zwischen Reichskanzler und Sozialdemokratie in Preußen. Der Nationalsozialist Franck schleuderte der Regierung ins Gesicht:

      "Behalten Sie diese Republik mit ihren geschäftlichen Vorteilen, wir nehmen uns das deutsche Volk. Sie geben jetzt glatt zu, daß Sie keine rechtliche Möglichkeit mehr haben, mit der nationalen Opposition fertig zu werden. Sie sind darauf angewiesen, sich mit Geschäftsordnungstricks über Wasser zu halten. Die Reichsverfassung wird immer dann gebrochen, wenn es sich um die Nationalsozialisten handelt. Der Antrag Bell ist eine Sammlung von Verfassungsbrüchen. Sie selbst sind heute nur noch da durch einen Irrtum der deutschen Geschichte."

Dennoch wurde der Antrag Bell mit 300 gegen 160 Stimmen angenommen. Auch die Änderung des Preßgesetzes wurde gegen die Stimmen der Nationalsozialisten, Deutschnationalen und Kommunisten angenommen, [290] schließlich wurde in allen zur Sprache stehenden Fällen die Immunität mit Stimmenmehrheit aufgehoben. Um ½3 Uhr nachts war die Sitzung zu Ende, die 107 Nationalsozialisten erhoben sich und verließen den Saal, das Horst-Wessellied singend.

  Auszug der nationalen Opposition  

Als am 10. Februar der Reichstag sich wieder versammelt hatte, legte der nationalsozialistische Vizepräsident Stöhr sein Amt nieder. In flammenden Worten protestierte er gegen die Vergewaltigung der nationalsozialistischen Opposition und erklärte, daß alle weiteren Beschlüsse dieses Reichstages, der dem Volkswillen nicht mehr entspräche, verfassungswidrig seien und daß die deutsche Opposition, verkörpert in den Nationalsozialisten, sich in nichts daran gebunden fühle. Sie würden den Reichstag erst wieder betreten, wenn sich die Möglichkeit biete, eine besonders tückische Maßnahme der Mehrheit gegen die Minderheit abzuwehren. Eine ähnliche Erklärung gaben die Deutschnationalen ab. Dann verließen Nationalsozialisten und Deutschnationale den Saal, 4 von den 20 Landvolkparteilern schlossen sich an. Stürmische Rausrufe der Regierungsparteien und Sozialdemokraten begleiteten den Auszug der nationalen Opposition.

Das Rumpfparlament tagte dann weiter. Es erörterte Fragen der Außenpolitik, wo man Revision der Kriegsschuldlüge, des Youngplanes und gleiche militärische Sicherheit forderte. Aber der Auszug der nationalen Opposition machte sich im Leben des Volkes unangenehm bemerkbar. Zwar glaubte Severing, einen gewissen Optimismus an den Tag legen zu müssen. Die Staatsmacht, sagte er, sei dieser hetzerischen Opposition überlegen. Er habe den Eindruck, daß heute bei den Nationalsozialisten von Angriff nicht mehr, höchstens von Abwehr die Rede sein könne. Es gelte jetzt, sie weiter zurückzudrängen. Die Nationalsozialisten sollten wissen, daß die Polizei sie beobachte. Hörsing war allerdings etwas nervöser. Er ließ sein Reichsbanner zur Bürgerkriegstruppe ausbilden und hatte, wie er versicherte, bereits eine ausgebildete Schutzgarde von 160 000 Mann. Die republikanischen Parteien sollten endlich Schluß machen mit der Duldsamkeit gegenüber dem Todfeinde der Demokratie.

General Litzmann in einer nationalsozialistischen Massenversammlung.
[Bd. 5 S. 208a]      General Litzmann in einer nationalsozialistischen Massenversammlung im Berliner Sportpalast, Anfang 1931.
[Photo Scherl?]
[291] Die Spannung zwischen der Opposition und dem Rumpfparlament nahm zu. Während die Mehrheitsparteien und Sozialdemokratie daran dachten, den Auszug der nationalen Opposition als Mandatsniederlegung aufzufassen, hielten die Nationalsozialisten an einem Sonntage tausend Versammlungen in Deutschland ab, in denen sie mit beredten Worten das zum Untergang reife System geißelten. Mit den Deutschnationalen verhandelten sie darüber, ob man eine Volksbefragung wegen der Auflösung des Reichstages einleiten sollte. Dann tauchte auch, aber ohne feste Gestalt zu gewinnen, der Gedanke auf, ein Oppositionsparlament nach Weimar zu berufen. Hierdurch wurde der Reichsinnenminister Wirth sehr beunruhigt und er drohte Anfang März mit der Reichsexekution, falls Frick etwa den Plan verwirklichen sollte, das sei eine revolutionäre Tat.

Viel schlimmer aber für Brüning und seine Freunde war etwas anderes. Die starken Kreditabzüge des Auslandes zu Beginn des Jahres hatte die Führer der deutschen Wirtschaft veranlaßt, bei Frankreich einen Kredit von etwa 400 Millionen nachzusuchen. Ende Januar weilten dann auch acht französische Bankiers in Berlin und verhandelten mit Vertretern der Großbanken, der Metall- und Elektroindustrie. Als dann der Reichstag auseinanderfiel, scheiterten die Verhandlungen mit den französischen Banken, zu denen auch noch Belgier getreten waren. Die ausländischen Geldgeber zogen ihre Angebote zurück, indem sie sich auf die Spaltung des deutschen Parlamentes bezogen. Darin liege ein großes Gefahrenmoment. Anfang März wurde in der französischen Kammer ohne Umschweife gesagt, es sei kein Gedanke daran, daß Deutschland von Frankreich Geld bekomme. Auch Amerika sah diese Ausschaltung der nationalen Opposition mit mißtrauischen Augen an. In der Woche vom 11. bis 17. Februar zog es 30 Millionen Dollar kurzfristige Kredite zurück. Man hatte im Auslande die Besorgnis, daß der Auszug der nationalen Opposition etwa der Anfang eines Bürgerkrieges sein könnte und daß in der Folge die Deutschland geliehenen Gelder verloren sein dürften.

Das allerdings hatte die Reichstagsmehrheit nicht erwartet, als sie so schnell dabei war, den Reichstag auf ein Parlament von "Nur-Regierungs-Anhängern" zu beschränken. Insbeson- [292] dere Brüning war von dieser Entwicklung wenig erbaut. Immer wieder versuchte er insgeheim, mit den Deutschnationalen anzuknüpfen und ihre Rückkehr zu erreichen. Aber mit harter Entschlossenheit bestand Hugenberg auf seiner Forderung: radikale Trennung des Zentrums von der Sozialdemokratie in Preußen.

Neue Unzufriedenheit rief auch das Osthilfegesetz hervor, das vom Reichskabinett Mitte Februar verabschiedet wurde und zur Entschuldung der Landwirtschaft 950 Millionen unverzinslich zur Verfügung stellte. Die Industrie- und Handelskammer von Breslau war enttäuscht, weil nur die äußersten Randgebiete berücksichtigt werden sollten und die bescheidenen Wünsche von Industrie, Handel und Gewerbe vollkommen unbeachtet geblieben seien. Auch die Landwirtschaftskammer von Niederschlesien war ganz unzufrieden. Und ebenso, wie die Besitzenden der Regierung gegenüber mißtrauisch waren, so versuchten die Arbeitnehmer auf eigene Faust den Gang der inneren Politik zu beeinflussen. Ende Februar begab sich der sozialdemokratische Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Leipart, zu Hindenburg, um mit ihm die Lösung des Arbeitslosenproblems zu besprechen. Man müsse die Kaufkraft der Landwirtschaft wieder heben, auch die 40-Stunden-Arbeitswoche könne schon eine große Zahl von Erwerbslosen wieder in den Wirtschaftsprozeß einreihen. Vor allem aber müsse man alle Angriffe auf die Lohntarife und Sozialversicherung zurückschlagen. Allerdings, gegen die 40-Stunden-Woche war die Reichsregierung ebenso skeptisch wie gegen den Vorschlag der Arbeitsdienstpflicht. Stegerwald war der Ansicht, daß von der Verkürzung der Arbeitszeit etwas ganz Entscheidendes nicht zu erwarten sei. Die Krise stelle schwere Anforderungen an die Regierung. Die Preissenkung habe sich noch nicht genügend ausgewirkt. Das Ausbleiben der Preissenkung sei in größerem Maße auch bei der Lohnpolitik zu berücksichtigen. – In der Tat hatte sich die ganze, mit großen Hoffnungen begonnene Regierungspolitik des Preisabbaues und der Lohnsenkung im Februar festgefahren. Sie war auf Widerstände an allen Orten gestoßen und die ganzen Bemühungen der Regierung um Verringerung der Arbeitslosig- [293] keit, welche die Wintermonate ausgefüllt hatte, waren gescheitert. Die Ziffer der Arbeitslosen, die Mitte Februar 4 991 000 betrug, war Ende des Monats ganz unerheblich auf 4 972 000 zurückgegangen.

Aber noch eine ganz andere Folge hatte der Auszug der nationalen Opposition. Der Vorwärts triumphierte am 10. Februar über die "Marneschlacht" der Nationalsozialisten, doch kaum zwei Wochen später erkannten die Sozialdemokraten, daß sie die Marneschlacht verloren hatten! Brüning hatte die Sozialdemokratie in der Gewalt. Dafür, daß das Zentrum bereit war, in Preußen mit der Sozialdemokratie zu regieren, verlangte Brüning, daß die Sozialdemokratie die gegenwärtige Reichsregierung toleriere. Indem Brüning der oppositionellen Sozialdemokratie entgegenkam und um ihre Freundschaft warb, drohte er zugleich bei Widersetzlichkeit mit seinem Rücktritt und einer Regierung der nationalen Opposition bzw. mit einer Reichstagsauflösung. Beides war den Sozialdemokraten in gleicher Weise unangenehm.

So standen die Dinge Anfang März, ohne daß zwischen beiden Verhandelnden eine Einigung erzielt wurde. Die Sozialdemokraten wollten die erste Baurate zum Panzerkreuzer B verweigern. Dann werde der Reichswehrminister zurücktreten. Gut! Die Sozialdemokraten wollten dem Panzerkreuzer zustimmen, aber dafür sollte der Zuschlag zur Einkommensteuer erhöht werden, also eine Art Wehrbeitrag der Besitzenden für den Panzerkreuzer eingeführt werden, es sollte ferner die Gewähr gegeben werden, daß der Lohnabbau nicht weiter durchgeführt und die Sozialversicherung in vollem Umfange aufrecht erhalten werde. Brüning bedauerte, daß die erste Forderung nicht erfüllt werden könne, da der Finanzminister bereits bindend erklärt habe, daß neue oder erhöhte Steuern in diesem Jahre nicht durchgeführt werden könnten, für die anderen Forderungen sei der Reichsarbeitsminister Stegerwald zuständig.

Brüning und
  die Sozialdemokratie  

Die Sozialdemokraten blieben hartnäckig. Brüning wurde brüsk: er lehne es ab, sich von dieser Partei Forderungen in solch unberechtigter Form stellen zu lassen. Sollten die Sozialdemokraten gegen den Panzerkreuzer stimmen, so würde er in gleicher Stunde dem Reichspräsidenten seinen Rücktritt mit- [294] teilen. Dem preußischen Ministerpräsidenten Braun und seinem Freunde Heilmann aber ließ der Kanzler sagen: Für den Fall der Ablehnung des Wehretats durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion werde das Zentrum die preußische Regierungskoalition lösen. Die Sozialdemokratie war in eine verhängnisvolle Sackgasse geraten. Also sie durfte um keinen Preis die Verhandlungen abbrechen. Sie selbst war in sich uneins. Die Unversöhnlichen meinten, die Partei habe schon viel zu viel geschluckt, viel zu viel Zugeständnisse gemacht. Es wäre geradezu eine Katastrophe, wenn sie um das Linsengericht einer sehr zweifelhaften Regierung vergesse, was sie ihrem Namen und ihrer Zukunft schuldig sei. Vor allem handle es sich doch darum, ob die Regierung Brüning im Kampfe der Sozialdemokratie zur Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus eine unentbehrliche Barrikade sei, so daß man ihr auch auf sachlichem Gebiete Zugeständnisse machen müsse, um ihren Sturz zu verhindern. Man müsse sich vor überstürzten Beschlüssen hüten, wenn sie die Ablehnung sozialdemokratischer Forderungen bedeuteten. Die gemäßigte Richtung, die "Ministeriellen" aber wollten reale Politik treiben, sie wollten einer weiteren Ausschaltung von der Regierung des Reiches vorbeugen.

So blieb alles in der Schwebe. Die Sozialdemokraten beharrten auf dem Einkommensteuerzuschlag, obgleich die Regierung und die anderen Parteien ihn glatt ablehnten. Die Volkspartei wandte sich klar und scharf gegen jedes Zugeständnis an die Sozialdemokratie. Brüning wurde des Verhandelns müde, und Stegerwald trat an seine Stelle. Der Sozialdemokratie war nicht wohl in ihrer Haut. Vorsichtig schrieb der Vorwärts am 8. März: Die Partei könne zwar den Panzerkreuzer ablehnen, aber ihre Linke sei geschwächt durch die starke kommunistische Partei. Die Mitte allein, vor allem das Zentrum, trage die Verantwortung für den Panzerkreuzer. Vielleicht könne die Sozialdemokratie auch weiterhin noch genötigt sein, eine Regierung der Mitte zu halten, um das Kommen einer halb oder ganz faschistischen Reichsregierung zu verhindern.

Schließlich gab es doch einen Ausweg: Der Haushaltsausschuß nahm die Baurate für den Panzerkreuzer mit allen Stim- [295] men gegen die Kommunisten an, die Sozialdemokraten enthielten sich der Stimme. Der Kampf zog sich über den größten Teil des März hin. Am 20. März wurde im Reichstag abgestimmt. Wels entfesselte mit seiner Rede großen Tumult. Die Sozialdemokratie sei grundsätzlich gegen das Panzerschiff B. Aber sie wolle nicht die Staatsgewalt den Faschisten und terroristischen Feinden der Demokratie ausliefern: "Nieder mit dem Faschismus! Es lebe die Republik! Es lebe die Sozialdemokratie!" Die Panzerkreuzerrate wurde angenommen. 107 sozialdemokratische Abgeordnete hatten vor der Abstimmung fluchtartig den Saal verlassen. Aber 34 Sozialdemokraten stimmten gegen den Panzerkreuzer. An diesem Tage lag der Bruch in der Sozialdemokratie klar vor aller Augen. Die Partei war letzten Endes durch das Verhalten der nationalen Opposition zerschlagen worden.

Nun hatte der Steuerausschuß gegen den Willen der Regierung am 12. März eine Erhöhung der Aufsichtsratssteuer von 10 auf 20 Prozent und einen 10prozentigen Zuschlag zur Einkommensteuer für alle Einkommen von mehr als 20 000 Mark angenommen. Auch der Reichstag nahm diese Erhöhungen an mit den Stimmen der Sozialisten, Kommunisten und einiger Abgeordneten des Zentrums und der Bayrischen Volkspartei. Brüning kam nun mit der Volkspartei und den Volkskonservativen überein, diesen Beschluß außer Kraft zu setzen, indem die Regierung beim Reichsrat Aufhebung der neuen Steuern verlangte. Bereits am 27. März hob der Reichsrat die Steuern auf.

Die Sozialdemokraten hatten eine große Schlacht verloren. Was nützte es, daß sie radikale Agitation trieben gegen die Höhere Schule, deren Aufhebung sie verlangten? Was nützte ihnen der kleine Erfolg, daß der Reichstag ihren Antrag annahm, das Verbot des Remarquefilms sei sachlich nicht begründet?

Das letzte, was dieses Rumpfparlament beschloß, war die Annahme der Zollermächtigung, der Osthilfe, sowie der Vertagung bis zum Herbst, am 24. März. Diese Vertagung auf den 13. Oktober, die unter lärmendem Protest der Kommunisten beschlossen wurde mit großer Mehrheit der anderen Parteien, [296] war das Bedeutsamste, was dieses Rumpfparlament überhaupt geleistet hatte. Verschiedene Erkenntnisse hatten dazu geführt. Die Regierung Brüning sah, daß sie nicht mit diesem unbequemen Reichstag regieren konnte, die Opposition war zu stark, die Krisis lag stets allzu nahe. Die Regierungsparteien besaßen zu wenig Selbstvertrauen, besonders, da deutsche Volkspartei, Landvolk und Wirtschaftspartei allzu leicht geneigt waren, in die Fußstapfen der nationalen Opposition zu treten. Es war ein ewiges Spiel mit dem Feuer, das mit der Zeit die Nerven überanstrengte. Die Sozialdemokratie war zwar nicht mit einer Vertagung von fast sieben Monaten einverstanden. Während dieser Zeit war die Regierung Brüning, welche von der Sozialdemokratie stets mit mißtrauischen Gefühlen beobachtet wurde, außer Beaufsichtigung. So fühlte sich der sozialdemokratische Reichstagspräsident Löbe als Hüter des Parlamentarismus und trat "unter allen Umständen" für eine kurze Sommertagung vor oder kurz nach Pfingsten ein. Aber auch die Sozialdemokratie brauchte andererseits vorläufig eine Atempause, um die ihr beigebrachten Schläge zu heilen und ihren inneren Riß zu kurieren. So fand man den Ausweg der Vertagung mit der Klausel: Sobald es nötig sei, solle das Parlament auf Vereinbarung zwischen Reichstagspräsidium und Reichsregierung einberufen werden. –

  Politische Notverordnung  
März 1931

Kaum war der Reichstag nach Hause geschickt, da erließen, am 28. März, Hindenburg, Brüning und Wirth eine Notverordnung, die das neue System der Demokratischen Diktatur in aller Form bestätigte und die gefahrdrohende Entwicklung der nationalsozialistischen Politik im Keime ersticken sollte. Die Notverordnung war bereits am 18. März auf einer Konferenz der Innenminister der deutschen Länder besprochen und gutgeheißen worden. Brüning aber besaß nicht den Mut, den Reichstag, der noch nicht geschlossen war, von seinen Plänen zu unterrichten, wie ja überhaupt eine gewisse Heimlichkeit und Unaufrichtigkeit, aus innerer Schwäche geboren, das bestimmende Merkmal der Brüningregierung war. Durch diese Notverordnung wurden die Polizeiorgane mit geradezu diktatorischen Vollmachten gegenüber dem politischen Leben des Volkes ausgestattet. Sie erhielten weitgehende Befug- [297] nisse, Versammlungen zu verbieten, gegen einzelne Personen einzuschreiten, das Tragen von Uniformen zu verbieten. Plakate und Flugblätter mußten den Polizeibeamten zur Zensur vorgelegt werden, Tageszeitungen durften bis zu 8 Wochen, periodische Zeitschriften bis zu 6 Wochen verboten werden. Ja, um diese gewalttätigen Maßnahmen auch rücksichtslos durchführen zu können, wurden die in Artikel 48, Absatz 2, der Verfassung genannten Grundrechte der Deutschen außer Kraft gesetzt. Diese außer Kraft gesetzten Grundrechte betrafen die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis und was damit zusammenhängt, das Recht der freien Meinungsäußerung und Zensurfreiheit. Das Versammlungsrecht, das Vereinsrecht, das Recht auf Eigentum und Besitz sogar! Auf die geringsten Vergehen gegen diese drakonischen Bestimmungen stand eine Mindestgefängnisstrafe von drei Monaten!

Die nationale Opposition erhob Einspruch gegen die Notverordnung. Sie verlangte Aufhebung. Sie forderte Hindenburg auf, sich von seinen gegenwärtigen Beratern zu trennen. Auch die Kommunisten protestierten. Die Mittelparteien begrüßten den Schritt der Regierung, da er geeignet sei, die nationale Bewegung zu schwächen. Die Sozialdemokraten waren in Sorge, daß sie in ihren Bestrebungen behindert werden könnten.

In Paris sprach man vom ersten Schritt zur Diktatur. Allerdings hatte man gleich Argwohn, daß das Kabinett Brüning nun eine außerparlamentarische Geheimpolitik treiben wolle. Auch in Neuyork beurteilte man die Notverordnung als eine Einführung der Diktatur. Das World Telegram meinte, es bestehe nur wenig Hoffnung, die kapitalistische Demokratie in Deutschland zu retten, wenn die Reparationen und Kriegsschulden nicht gestrichen und die Zölle ermäßigt würden. Amerika und die andern Mächte müßten helfen, sonst würde Deutschland das Opfer des Faschismus und dann des Bolschewismus! –

So war der Parlamentarismus, welcher zwölf Jahre Deutschland regiert hatte, seiner Bedeutung entkleidet worden. Regierung und Parlament verstanden sich nicht mehr. In dieser höchsten Krisis der Selbsterhaltung griff das herrschende System [298] zum letzten Mittel, das ihm noch übrig blieb: zur demokratischen Diktatur. Man hatte wohl noch auf Mittel gesonnen, den Parlamentarismus neu zu beleben. Eins dieser Mittel war der Antrag der Deutschen Volkspartei Anfang März im Reichstag, das Wahlalter von 20 auf 25 Jahre hinaufzusetzen. Doch die vergreisten Parteien hatten nicht mehr die Kraft, dieses dringende Gebot ihrer Selbsterhaltung durch Verfassungsänderung zu bewirken.

War Brüning mit großer Mühe bestrebt, die Führung des Reiches auf einer mittleren Linie zu halten und die gewaltsame Auseinandersetzung der beiden großen Prinzipien Nationalsozialismus und Sozialdemokratie um die Macht zu verhindern, so wirkten doch in den einzelnen Ländern die feindlichen Tendenzen unmittelbar aufeinander. Heftig war der Kampf der sozialdemokratischen Regierung Preußens gegen die nationale Macht, und ebenso entschlossen kämpfte in der nationalsozialistischen Regierung Thüringens Dr. Frick gegen die Widerstände, die ihm die Sozialdemokratie und der Reichsinnenminister Wirth entgegensetzte. Im Winter 1930 zu 1931 standen sich die beiden hervorragenden Exponenten der beiden Machtkreise, Dr. Frick und Severing, als Innenminister gegenüber: Frick in Thüringen, Severing in Preußen.

  Kampf in Preußen  

Gegen die gewaltige Entfaltung des Nationalsozialismus ging die Preußenregierung zunächst mit Verordnungen vor. Im Juni wurde das Uniformverbot herausgegeben, das den Nationalsozialisten wie den Kommunisten das Tragen ihrer Uniformen verbot. Die Nationalsozialisten fochten das Verbot an, und Mitte März 1931 hob das Kammergericht dieses Verbot als unbegründet auf. Aber in der Zwischenzeit machte die Polizei in den Städten energisch Jagd auf jedes braune Hemd der Nationalsozialisten. Die Träger wurden verhaftet und auf der Wache ihrer Uniformstücke entkleidet, häufig auch noch bestraft.

Das Staatsministerium Braun sah sich Anfang Juli 1930 genötigt, den Behörden bekanntzugeben, daß nach "der Entwicklung, welche die nationalsozialistische und kommunistische Partei genommen haben, beide Parteien als Organisationen anzusehen seien, deren Ziel der gewaltsame Umsturz der bestehenden Staatsordnung sei." Es wurde den Beamten verboten, sich daran [299] zu beteiligen. Jede Beteiligung sei Dienstvergehen, Verletzung der Treuepflicht gegenüber dem Staate, die disziplinarisch geahndet werden würde. (Übrigens maßregelte gleichzeitig auch Baden verschiedene Lehrer, die sich in der nationalsozialistischen Partei betätigt hatten, und verbot unter Androhung sofortiger Amtsenthebung jede Teilnahme der Unterrichtspersonen an der Partei.)

Ein empfindlicher Stoß für Braun und seine Partei war es, daß er der Forderung Hindenburgs nachkommen mußte, das Stahlhelmverbot in Rheinland und Westfalen aufzuheben, Juli 1930. Die Verschärfung der Gegensätze brachte der Reichstagswahlkampf mit sich. Die nationale Opposition Nationalsozialisten, Deutschnationale und Stahlhelm, führten diesen Kampf zugleich unter der Losung von Neuwahlen in Preußen. Sie verlangten Auflösung des Landtags und machten dem Zentrum bittere Vorwürfe, daß es so lange an der Verbindung mit der Sozialdemokratie festhalte. Als dann der Landtag Mitte Oktober 1930 zusammentrat, ließen die Abgeordneten der nationalen Opposition keinen Zweifel darüber, daß sie das Volk aufrufen würden zur Entscheidung über Neuwahlen. Allerdings wurden die Auflösungsanträge der Kommunisten und Wirtschaftspartei abgelehnt.

Das Anwachsen der Nationalsozialisten bewog das Staatsministerium, den bisherigen Innenminister Wäntig durch den entschlosseneren und rücksichtsloseren Severing abzulösen, am 22. Oktober 1930. Severing fühlte in sich die Kraft, den Kampf gegen den Nationalsozialismus aufzunehmen. Ein Mißtrauensantrag der Kommunisten gegen Severing wurde am 6. November mit nur 33 Stimmen Mehrheit (229 : 196) abgelehnt. Severing ließ vernehmen, daß er nicht davor zurückschrecken werde, wenn nötig mit Reichswehr gegen die Welle des "nationalen Chauvinismus" vorzugehen. Die Möglichkeit eines offenen Aufstandes in Deutschland sei nicht ausgeschlossen, doch werde die Sozialdemokratie alles Mögliche tun, um einer revolutionären Bewegung die Grundlage zu entziehen. Er dachte auch vorübergehend an ein Verbot der nationalsozialistischen Partei, scheute aber davor zurück, da es doch nur die gegenteilige Wirkung haben könne.

[300] Mit rücksichtsloser Rigorosität gingen Braun, Severing und Grimme gegen die Angehörigen der nationalen Parteien und des Stahlhelms vor. Besonders die akademische Jugend strömte in Massen zur nationalsozialistischen Partei, und so kam es zu ersten schweren Zusammenstößen zwischen Studenten und Staatsgewalt. In Königsberg hatte der Rektor der Universität zwei schwarz-weiß-rote Schleifen von Kränzen entfernen lassen, welche die Studenten anläßlich des Jahrestages von Langemarck, 11. November, an der Heldentafel niedergelegt hatten. Die Aufschrift "Die deutsche Studentenschaft" sei in dieser Verallgemeinerung unstatthaft. Eine gewaltige Empörung tobte in den Studenten, und durch ihre Demonstration zwangen sie den Rektor, "ausnahmsweise", wie er sagte, die Schleifen wieder anzubringen.

Das gefiel natürlich der preußischen Regierung ganz und gar nicht. Anfang Dezember berief Grimme eine Konferenz der Hochschulrektoren in sein Ministerium. Es seien mehrfach Ausschreitungen an den preußischen Universitäten vorgekommen. Die Studenten hätten versucht, mit Kundgebungen, Zusammenrottungen und Drohungen die akademische Lehrfreiheit zu beeinträchtigen und gewaltsam auf die Beschlüsse akademischer Behörden einzuwirken. Dagegen müsse man mit aller Festigkeit eingreifen. Er ermahnte die Rektoren, bei ähnlichen Vorfällen im Interesse der Staatsautorität sofort die Polizei herbeizurufen. Gleichzeitig verfügte Severing an die Oberpräsidenten, Präsidenten usw. einen Runderlaß folgenden Inhalts: Die akademische Freiheit sei durch Terror und Gewalt gestört worden. Weder in sachlicher noch in örtlicher Beziehung seien die Befugnisse der Polizei gegenüber den Universitäten, ihren Organen und Besuchern irgendwie beschränkt. Die Polizei habe sofort und mit möglichster Beschleunigung einzugreifen, wenn die Universitätsbehörden dies verlangten.

Auch Grzesinski, der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, schritt gegen die Studenten ein. So ließ er gegen Ende November gegen 200 Berliner Studenten verhaften, weil sie trotz dem Mensurverbote Bestimmungsmensuren abgehalten hatten.

Eine gute Stütze von Severing war das Reichsbanner. Aus [301] seinen Reihen gingen dem Minister dauernd Denunziationen zu, die zur Verhaftung von Angehörigen nationaler Organisationen führten. So fanden Anfang Dezember in Breslau Massenverhaftungen von Nationalsozialisten statt, die sich hinterher als ganz zwecklos herausstellten.

Trotz all dieser Drangsale wurde ein deutschnationaler Mißtrauensantrag gegen Braun und Severing Mitte Dezember 1930 im Landtag mit 224 gegen 182 Stimmen abgelehnt. Allerdings war der Antrag begründet mit der ablehnenden Haltung der beiden Minister beim Verbot des Filmes "Im Westen nichts Neues".

Severing hatte das Zeug zum Diktator in sich und so war es gar nicht weiter wunderbar, daß in zahlreichen sozialdemokratischen Versammlungen Entschließungen gefaßt wurden, die eine Diktatur in Preußen forderten, damit nicht die Republik durch einen etwaigen Sieg der Nationalsozialisten bei den Landtagswahlen 1932 bedroht werde.

  Stahlhelmvolksbegehren  

Inzwischen nahm die Forderung des Stahlhelms, ein Volksbegehren für Landtagsauflösung zu beantragen, greifbare Formen an. Die Regierung traf vorbeugende Maßnahmen. Zunächst einmal verbot der Disziplinarhof den Beamten jede Betätigung im Stahlhelm, da er "nicht einwandfrei auf dem Boden der geltenden Verfassung" stehe. Dann auch versuchte man, die Aktion des Stahlhelms als zwecklos und überflüssig hinzustellen, indem man scheinbar erwog, bereits im Herbst neue Landtagswahlen auszuschreiben. Das konnte viele Menschen gleichgültig machen gegen die Aktion des Stahlhelm.

Am 1. Februar 1931 stellte Seldte, der Führer des Stahlhelms, dem Innenminister Severing den Antrag auf das Volksbegehren zu. Severing machte erst Einwendungen, aber als Seldte bereits nach kurzer Zeit 42 000 Unterschriften allein aus Berlin und Brandenburg brachte, bequemte sich Severing, wenn auch sehr zögernd, das Volksbegehren zuzulassen, aber nicht ohne zu bemerken, daß er den Beamten die Beteiligung am Volksbegehren verbieten würde. Doch sofort bildete sich eine breite Front, die gegen die Regierung Stellung nahm und das Volksbegehren befürwortete: die Nationalsozialisten, die Deutschnationalen, die Volkspartei, die Wirtschaftspartei, die Volkskonservative [302] Partei, die Volksrechtspartei, der Landbund, die Haus- und Grundbesitzer, der Christlich-soziale Volksdienst. –

Wie ein Feuer, das an tausend Enden zugleich aufzüngelt und das vergeblich an der einen Stelle gelöscht wird, um an der anderen mit besonderer Heftigkeit hervorzubrechen, so war die nationale Bewegung in Preußen. Severing gab sich alle erdenkliche Mühe, die Lohe zu löschen, doch vergeblich. Die Provinzialschulkollegien mußten Verfügungen erlassen, welche den Schülern die Mitgliedschaft an "staatsfeindlichen" Organisationen verboten. Doch kräftiger denn je zuvor blühten die nationalen Bünde der Jugend, die Hitlerjugend besaß Ortsgruppen bis in die kleinsten Dörfer hinein. Dann kam man auf den Gedanken, Polizeispitzel in die nationalsozialistischen Sturmabteilungen zu schicken, und mit Hilfe dieses Systems führte Severing unmittelbar nach dem Auszug der nationalen Opposition einen Schlag gegen die Berliner Nationalsozialisten. Umfangreiche Haussuchungen wurden abgehalten, Verhaftungen vorgenommen. Und es war wieder nichts. Es stellte sich bald heraus, daß man einen Fehlschlag getan hatte. Aber das Spitzelunwesen nahm dergestalt zu, daß Hitler sich genötigt sah, verschiedene Sturmabteilungen aufzulösen.

  Freiheitskampf  
in Thüringen

Wie in Preußen die nationale Opposition die sozialistischen Ministerien, so versuchte in Thüringen die marxistische Opposition das nationalsozialistische Ministerium Frick zu erschüttern. Der Verbündete der thüringischen Linken war der Reichsinnenminister Wirth. Die Sozialdemokraten und Kommunisten brachten die verschiedenartigsten Anträge vor den Landtag, die sich entweder gegen diesen oder gegen den Minister Frick und seinen nationalsozialistischen Staatsrat Marschler richteten. Zu Beginn des November brachten die Kommunisten den Antrag ein, den Landtag aufzulösen. Demgegenüber legten die Nationalsozialisten ein Vertrauensvotum für die Gesamtregierung vor, während die Sozialdemokraten einige große Anträge einbrachten, die sich mit den Reden Fricks und Marschlers im sächsischen Wahlkampf beschäftigten. Der Sozialist Frölich, Führer der Linken, hatte nämlich festgestellt, daß Frick und Marschler verfassungs- und gesetzwidrige Maß- [303] regeln angekündigt und Reichsregierung und Länder herausgefordert hätten. Man möchte wissen, ob die beiden hierbei die Meinung der Landesregierung zum Ausdruck gebracht hätten. Der Staatsminister Baum erwiderte, daß diese beiden Kabinettsmitglieder nicht als Mitglieder der thüringischen Regierung, sondern als Nationalsozialisten und Parlamentsmitglieder im Wahlkampfe aufgetreten seien. Ihre Äußerungen hätten keinen amtlichen Charakter gehabt. Der Landtag lehnte auch den kommunistischen Auflösungsantrag ab. Über den nationalsozialistischen Antrag war man verschiedener Meinung. Der Fraktionsvorsitzer der Deutschen Volkspartei, Witzmann, billigte zwar die Haltung der Regierung im Polizeistreit, lehnte aber den Antrag der Nationalsozialisten als demonstrativ, unbegründet und unangebracht ab. Die Partei werde auch weiterhin mit der Landesregierung zusammenarbeiten.

Immerhin war doch innerhalb der Regierungskoalition ein Spannungsmoment aufgetreten. Frick wollte den Führer der Landtagsfraktion der Wirtschaftspartei, Gerstenhauer, zum Ministerialdirektor im Innenministerium ernennen. Gerstenhauer gehörte erst dem Landbund an, war dann deutschvölkisch und schließlich Wirtschaftsparteiler. Die Volkspartei lehnte ihn entschieden ab. Das führte zu Kontroversen Fricks mit der Deutschen Volkspartei, die in weiten Kreisen große Besorgnis auslöste. Darum beschwor der Landbundführer Höfer die Koalitionsregierung, zusammenzubleiben, denn Neuwahlen seien eine Gefahr, sie würden der Linken die Mehrheit bringen. Deshalb stelle sich der Landbund vorbehaltslos hinter die jetzige Regierung, hinter Frick.

In seinen Kampfe gegen den Reichsinnenminister Wirth war es Frick gelungen, wichtige Feststellungen zu machen. In der thüringischen Polizei war vom Reichsbannergeschäftsführer in Weimar ein umfangreiches Spitzel- und Denunziantentum eingerichtet worden, das dem Reichsinnenminister über preußische Regierungsstellen in Erfurt eine Fülle anfechtbaren und unwahren Materials zukommen ließ. Diese angeblichen Vorfälle sollten für Wirth wichtiges Material gegen Thüringen vor dem Staatsgerichtshof bilden. Frick, der hiervon Kenntnis erhalten hatte, ließ bei Polizeibeamten und beim Reichsbanner Haus- [304] suchungen vornehmen, wobei ihm das Material in die Hände fiel. So konnte er diese feingesponnene, hinterhältige Lügenpolitik entlarven. Ein Polizeihauptmann in Gotha, der auf Grund dieser Vorgänge von der thüringischen Regierung fristlos entlassen wurde, fand bald darauf neue Anstellung in preußischen Diensten. Das gleiche Schicksal teilte der Polizeidirektor von Altenburg, der gleichzeitig Führer der Reichsbannerortsgruppe war.

Die Sozialdemokraten glaubten dennoch, Frick zu Falle bringen zu können. Mitte November brachten sie je einen Mißtrauensantrag gegen Frick und Marschler ein, um den Parteien, welche mit den beiden Kabinettsmitgliedern nicht einverstanden seien, sowie den bürgerlichen Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, die beiden Nationalsozialisten zum Rücktritt zu veranlassen. Doch vor der Abstimmung fünf Tage später erklärten die Regierungsparteien gemeinsam, daß sie die sozialdemokratischen Anträge lediglich als Störungsversuche mit dem Endziele betrachteten, die Aufbauarbeit der Landesregierung zu unterbinden und unmöglich zu machen. Gegen diese durchsichtige Haltung der Linksopposition würden die Regierungsparteien alles daransetzen, die Geschäfte des Landtages so zu beeinflussen, daß die Arbeit der Regierung ungestört fortgeführt werden könne. Auch die Deutsche Volkspartei erklärte, sie sei entschlossen, die Regierung weiterhin gegen Wirth zu unterstützen. So wurden die Mißtrauensanträge durch Übergang zur Tagesordnung erledigt, ein Vertrauensvotum wurde mit 28 gegen 25 Stimmen angenommen, wobei der Demokrat dagegenstimmte, der Mißtrauensantrag wurde mit 28 gegen 24 Stimmen abgelehnt, wobei sich der Demokrat der Stimme enthielt.

Mit zielbewußter Energie förderte Frick die deutsch-christliche Kultur in Thüringen. Er legte dem Landtag ein Gesetz vor, durch welches das sozialistische Kirchenaustrittgesetz von 1922 abgeändert und die Bedingungen für den Kirchenaustritt erschwert wurden. Sozialisten und Kommunisten stimmten mit 23 Stimmen dagegen, aber die 27 bürgerlichen Stimmen waren dafür. Freidenkerische und kommunistische Lehrer wurden von den Schulen entfernt. An der Landesuniversität Jena verhinderte Frick die Wahl eines sozialdemokratischen Rektors. [305] Eine verschärfte Presseüberwachung sorgte dafür, daß die Gegner keine Verleumdungen öffentlich aussprachen. Ein sozialdemokratischer Antrag, das schon gleich zu Beginn der Regierungstätigkeit Fricks aus den Schulen als untauglich entfernte Buch Remarques Im Westen nichts Neues als Schulbuch wieder einzuführen, hatte keinen Erfolg.

Inzwischen wurde auch Anfang März der Polizeikostenstreit mit dem Reichsinnenminister Wirth durch einen Vergleich beigelegt. Der Staatsgerichtshof hatte keine Veranlassung, gegen Thüringen zu entscheiden. Das war ein Sieg Fricks, eine Niederlage Wirths. Der Reichsinnenminister, dem es nicht gelungen war, Frick zu stürzen, strafte diesen von nun an mit Verachtung. Zu einer Länderkonferenz Mitte März, wo Maßnahmen gegen die Gottlosenpropaganda besprochen werden sollten, erhielt Frick keine Einladung.

  Dr. Fricks Sturz  

Was weder Severing, noch Wirth, noch die Sozialdemokratie vermochte, das brachte bürgerlicher Parteihader zustande: Frick und Marschler zu stürzen. Die Zeitung Der Nationalsozialist in Weimar hatte sich Anfang März über die Politik der Deutschen Volkspartei in der Reichsregierung verbreitet und dabei Ausdrücke gebraucht wie "trottelhafte Greise", "charakterlose Parteigänger", "Betrüger und Verräter". Die Landtagsfraktion der Volkspartei nahm so etwas sehr übel und forderte von den Nationalsozialisten Aufklärung, die verweigert wurde, worauf die Volksparteiler am 10. März das Parlament verließen. Die Nationalsozialisten schrieben der Volkspartei, Fragen der Reichspolitik hätten im Koalitionsverhältnis der Thüringer Regierung keine Rolle zu spielen. Auf die volksparteiliche Forderung, die ausgesprochenen Beleidigungen zurückzunehmen, antwortete der Nationalsozialist: "Es wird nichts zurückgenommen. Wir denken nicht daran!" Hierauf erwiderte die Volkspartei, die Nationalsozialisten hätten die Koalition gebrochen.

Jetzt konnte die Sozialdemokratie mit Aussicht auf Erfolg die Rolle des Loki spielen. Sie brachte neue Mißtrauensanträge gegen Frick und Marschler ein und forderte den Zusammentritt des Landtages noch vor Ostern. Mit neuem Mute und neuer Hoffnung begann die Linke gegen das Werk Fricks Sturm zu [306] laufen, denn unverzüglich legte sie dem Haushaltausschuß eine Entschließung gegen die Berufung Günthers in Jena vor, aber diese Entschließung wurde abgelehnt.

Die Nationalsozialisten waren doch etwas überrascht von dieser Entwicklung. Sie erklärten, sie hätten keinen Anlaß, aus der Regierung auszuscheiden. "Wir bleiben in der Regierung, solange es uns gefällt. Wir lassen uns nicht herausdrängen." Aber die Volkspartei blieb unerbittlich, sie sagte, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit seien endgültig zerstört. Vermittlungsversuche des Ministerpräsidenten Baum blieben erfolglos.

Am 1. April fand die entscheidende Landtagssitzung statt. Eine stürmische Aussprache ging der Abstimmung über die sozialdemokratischen Mißtrauensanträge voraus. Dann wurden sie mit 29 gegen 22 Stimmen angenommen. Die Kommunisten, die Sozialdemokraten, Staatspartei und Volkspartei stimmten dafür, Deutschnationale, Landvolk, Wirtschaftspartei und Nationalsozialisten dagegen. Frick und Marschler gaben darauf dem Landtagspräsidenten von Thümmel ihren Rücktritt bekannt. Auch der deutschnationale Staatsrat Kien erklärte seinen Rücktritt.

Von allen Ministerstürzen der deutschen Republik ist dieser vielleicht der tragischste, da er ohne Schuld des Ministers Frick zustande gekommen war. Es war ein hinterlistiger Überfall, ein Meuchelmord. Die Volkspartei nahm Äußerungen der Presse, die noch nicht einmal eine Beziehung zu Thüringen hatten, zum Anlaß, um den Minister zu stürzen. Das war ein Vorziehen egoistischer Parteiinteressen vor das Staatsinteresse. Das war vielleicht auch eine gewisse, gefühlsmäßig hervorgerufene Verkennung der Machtverhältnisse. Die Volkspartei hatte sich im Reiche wieder Brüning genähert, und so rückte sie in Thüringen von Frick ab. Vielleicht war auch durch die soeben beschlossene österreichisch-deutsche Zollunion das Machtbewußtsein der Volkspartei allzusehr gewachsen, daß sie sogar mit dem Hinweis auf den Erfolg des Curtius selbst vor Neuwahlen nicht zurückschreckte. Jedenfalls hatte die erste Etappe der Machteroberung durch die Nationalsozialisten ihren Abschluß gefunden. Deutschland hatte erlebt, daß sich ein nationalsozialistischer Minister gegen Reichsregierung und [307] Marxisten behaupten konnte. Es hatte aber auch erlebt, daß er durch bürgerliche Gegner gestürzt worden war. –

  Nationalsozialistischer Minister  
in Braunschweig

Seit dem 1. Oktober 1930 hatte noch ein andres deutsches Land einen nationalsozialistischen Minister: Braunschweig. Auf Grund der Landtagswahlen vom 14. September waren Dr. Küchenthal von der Bürgerlichen Einheitsliste und der Nationalsozialist Dr. Franzen zu Ministern gewählt worden, worauf sich der Sozialdemokrat Dr. Jasper sofort in Opposition begab. Franzens erste Taten waren die Aufhebung des Sieversschen Schulerlasses vom 6. Januar 1928 und die Wiederherstellung der Bekenntnisschule, sodann die sofortige Beurlaubung und spätere Entlassung von vier sozialdemokratischen Kreisdirektoren in Braunschweig, Blankenburg, Holzminden und Gandersheim. Darauf begann Wirth dasselbe Spiel wie in Thüringen: er drohte mit Sperrung der Polizeikostenzuschüsse.

Nun hatte sich folgendes zugetragen: Bei den Steinattentaten in der Leipziger Straße zu Berlin am 13. Oktober war ein Landwirt Guth verhaftet worden, der aber den Ausweis des nationalsozialistischen Abgeordneten Lohse bei sich hatte. Auf Grund dieses Ausweises, dessen Identität er nicht prüfte, verwandte sich Franzen für die Freilassung Guths, zog aber seinen Freilassungsantrag sofort zurück, als der Betrug bekannt wurde. Dennoch wurde gegen Franzen ein Strafverfahren wegen Begünstigung eingeleitet. Diesen Vorfall nahm der Sozialdemokrat Thielemann Anfang November zum Anlaß, um im Landtag nach gehässigen Angriffen zu erklären, daß Franzen für Braunschweig unmöglich sei. Die sozialdemokratische Forderung, daß Franzen bis zur Entscheidung des Strafverfahrens sein Amt niederlege, wurde von der Regierung abgelehnt.

Wie Frick in Thüringen, so trieb Franzen in Braunschweig eine Politik der Gerechtigkeit und Sparsamkeit. Er beseitigte die einseitige Bevorzugung sozialistischer und kommunistischer Gewerbebetriebe, indem er den Konsumvereinen die Gewerbesteuer auferlegte. Er schuf ferner ein Gesetz, welches die Ministergehälter auf eine Höhe von 12 000 Mark festsetzte und Übergangsgelder sowie Pensionen für Minister beseitigte. Außerdem ersuchten die Nationalsozialisten das Staatsministe- [308] rium um eine Vorlage, wonach die Gehälter der oberen Beamten so weit herabgesetzt werden sollten, daß sie zu den Amtsbezügen der Minister in angemessenem Verhältnis stehen.

Daß die braunschweigische Bevölkerung mit der Regierungsweise Franzens nicht unzufrieden war, erwiesen die Kommunalwahlen vom 1. März 1931, bei denen etwa ein Drittel aller Stimmen für die Nationalsozialisten abgegeben wurden. Auch die Hoffnung der Opposition, daß der Sturz des thüringischen Ministers Frick auch auf Braunschweig zurückwirke, erfüllte sich nicht. Hier kam es zu keinerlei Gegensätzen innerhalb der Koalition. –

All diese Vorgänge spielten sich an der Oberfläche ab, während das Volk im Kampf der Meinungen und Ideen entbrannt war. In Berlin ereigneten sich täglich Zusammenrottungen und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften. Hier waren vor allem die hungernden Erwerbslosen beteiligt. Man war machtlos gegenüber diesem Bandenunwesen.

Jungsturm voran!
[Bd. 5 S. 160a]      Jungsturm voran!
Photo Uhlich.
Aber ebenso sehr wühlten die politischen Gegensätze das Volk auf. Nationalsozialismus und Kommunismus waren die beiden entgegengesetzten Pole, um welche die Millionen kreisten. In hellen Haufen strömte die Jugend zu den Fahnen Hitlers. Vor allem die Studenten. Bei den Studentenwahlen in Gießen, Greifswald und Karlsruhe Anfang Februar erhielten die Nationalsozialisten die überlegene Mehrheit. Von den Studentenunruhen in Königsberg ist oben gesprochen worden. An der Universität Heidelberg kam es Ende Januar 1931 zu Zusammenstößen, weil der Minister Remmele den Allgemeinen Studentenausschuß aufgelöst hatte. Mit dem Gummiknüppel ging die Polizei gegen die Studenten vor. – Bei den Betriebsratswahlen in den Fabriken eroberten sich die Nationalsozialisten mehr und mehr Sitze. Der Siegeszug der zwingenden Idee des Nationalsozialismus war durch nichts mehr aufzuhalten.

Nationalsozialistische deutsche Studenten in Rom.
[Bd. 5 S. 240b]      Nationalsozialistische deutsche Studenten in Rom nach der Kranzniederlegung
am Grabe des unbekannten Soldaten, 30. März 1931.
      Photo Scherl.

Mit Sorge verfolgten die andern Parteien diese Entwicklung. In Wort und Schrift traten sie dem geheimnisvollen Neuen entgegen, suchten es zu widerlegen, Widersprüche zu konstruieren, durch Lächerlichkeit zu schwächen. Jedes Mittel war recht. Ende Januar 1931 mußte die Filmoberprüfstelle auf Verlangen des Reichsinnen- und Außenministers einen sozialistischen Film [309] "Das Dritte Reich" verbieten, weil man Bedenken trug, daß er Gewalttätigkeiten herbeiführen könnte!

Vor allem das Zentrum und die katholische Kirche stellten sich in Kampffront gegen den Nationalsozialismus. Der Vorsitzende der preußischen Zentrumsfraktion, Dr. Heß, erklärte Ende Januar in einer Dortmunder Versammlung, der Nationalsozialismus sei in seinen politischen Bestrebungen und Auswirkungen als eine rein antikatholische Welle zu bewerten. Man müsse in ihm eine Gefahr für die katholischen Lebensinteressen erblicken, dementsprechend stelle sich auch das Zentrum ein.

Bischöfe gegen
  Nationalsozialismus  

Der Kardinalerzbischof Faulhaber war ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Er inspirierte die Kundgebung der acht bayrischen Bischöfe von Mitte Februar 1931:

      "Der Nationalsozialismus enthält in seinem kulturgeschichtlichen Programm Irrlehren, weil er nach Erklärung seiner Führer eine neue Weltanschauung an die Stelle des christlichen Glaubens setzen will. Führende Vertreter des Nationalsozialismus stellen die deutsche Rasse höher als die Religion. Sie lehnen die Offenbarungen des Alten Testamentes und sogar das mosaische Zehngebot ab. Sie lassen den Primat des Papstes nicht gelten und spielen mit dem Gedanken einer neuen deutschen Nationalkirche. Die Bischöfe müssen also als Wächter der kirchlichen Glaubenslehre vor dem Nationalsozialismus warnen, solange und soweit er Auffassungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar sind. Den katholischen Geistlichen ist streng verboten, an der nationalsozialistischen Bewegung in irgend einer Weise mitzuarbeiten."

Bald darauf folgten die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz mit einer ähnlichen Erklärung, und Mitte März wandte sich auch Erzbischof Kaspar von Paderborn im Verein mit den Bischöfen von Fulda und Hildesheim gegen die Bewegung. Nach einer besonderen Polemik gegen die schriftstellerische und agitatorische Tätigkeit Alfred Rosenbergs, des Hauptschriftleiters am Völkischen Beobachter, kommt die Kundgebung zu dem Schluß, daß für katholische Christen die Zugehörigkeit zur N.S.D.A.P. unerlaubt sei, "so lange und so weit sie kulturpolitische Auffas- [310] sungen kundgibt, die mit der katholischen Lehre nicht vereinbar sind".

Die Kommunisten verübten immer öfter schwere Gewalttaten gegen ihre politischen Gegner. An einem Sonnabend, dem 24. Januar 1931, gab es nicht weniger als 90 mehr oder weniger schwer Verletzte in politischen Schlägereien. Mit Revolvern und Messern und Schlagringen wurden die Nationalsozialisten angegriffen. Dabei unterstützte jetzt auch das Reichsbanner die Kommunisten. In allen Städten spielten sich blutige Tumulte ab. In Stuttgart, Mannheim, Köln, Altona, Lyck, Zittau, Leipzig, Danzig. Ende Februar beherrschten die Kommunisten mit einem Weltkampftag die Straße. Tausende demonstrierten für die Weltrevolution in Hamburg, Köln, Braunschweig, Magdeburg, Leipzig, Berlin, Bremen, Wiesbaden, München. Es wurde geplündert, es gab Tote und Verletzte, aber immer noch vermochte die Staatsgewalt die Epigonen Lenins und Sinowjeffs im Zaume zu halten. Max Hölz weilte in Rußland und prophezeite bereits die Rätediktatur in Deutschland, aber es kam nicht soweit, weshalb die Sowjetmachthaber in Rußland sehr ungehalten über die deutschen Kommunisten waren.

In diesem Frühjahr ward viel Haß gesät, in diesem Frühjahr floß viel Blut für Zukunftsideale.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra