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Mädel im Kampf. Erlebnisse und Erzählungen.
[84]
Flucht
Nacherzählt von Margarete Dargel

Es war die Zeit, da der Osten rot aufglühte von dem Brand, den der Russe in deutsches Land legte.

Treppauf und treppab stürmten die russischen Soldaten die Häuser, schlugen Türen und Fenster ein, zerstörten die Möbel, holten die Bilder aus dem Rahmen und rissen alle Gegenstände aus Fächern und Schränken. Was sie gebrauchen konnten, nahmen sie mit, was sie dalassen mußten, vernichteten sie. Kein Stuhl und Tisch blieb ganz, die Betten zerschlitzten sie, und hell stoben die Federn in den Zimmern. Selbst auf Böden und in Keller stiegen sie, bis hinter ihnen aus den zerstörten Wohnungen die Flammen schlugen, die alles vernichtend in das verstreute Gerät griffen.

Ganze Straßenreihen standen in Flammen, und wo sie verloschen, standen traurige Mauern da, aus denen die dunklen Fensteröffnungen wie Höhlen sahen.

Doch auch in die Dörfer kamen die Feinde, und aus den Flammen hörte man weithin das verbrennende Vieh brüllen.

Selbst die stillsten Höfe fanden diese Zerstörer. Viele Jahre hatten diese unter den schützenden Eichen gestan- [85] den, die sie vor Blitz und Wetter bewahrt hatten. Jetzt standen nur noch die Mauern, und die Eichen waren verkohlt.

Die Heidehöfe mit den Fichten und Birken darum und die hölzernen Fischerhäuser an den Seen waren ganz niedergebrannt, und manch Heimkehrer fand nur ein schwarzes Geviert aus Asche vor, in dem eisernes Gerät lag.

Vor den brennenden Dörfern her zogen auf allen Straßen Ostpreußens Leiterwagen an Leiterwagen, manche hatten gegen das Wetter einen Plan darüber gezogen, die meisten fuhren offen.

In einem solchen Wagen fuhr auch Nina. Sie saß mit ihren beiden kleinen Brüdern neben der Mutter auf dem Brett, das sie über das Heu gelegt hatten. Einen Häckelsack hatten sie daraufgetan, so daß man ganz weich saß. Die meisten Frauen fuhren selbst oder ihre ältesten Jungen, da alle Männer an der Front standen. Lustig war die Fahrt. Die Kinder waren noch nie so weit gefahren, und diesmal sollte es bis zur Regierungsstadt gehen. Sie riefen sich gegenseitig zu, wenn sie etwas Neues sahen, und das gab es genug. Bei Meluhns, die vor ihnen fuhren, hatte sich die Kuh losgerissen, die wollte auf einmal in die Weide. Darüber wurden Mrotzecks Braune wild und sausten wie toll an den anderen Wagen vorbei. Der Hans Töpler [86] fiel sogar aus dem Wagen heraus, was zu komisch aussah.

Doch als es Stunden um Stunden weiterging, wurden alle schon stiller. Mutter legte die Kleinen hinter das Brett in das Heu, wo sie gleich einschliefen. Nina dachte noch einmal, wie schön das Aufladen gewesen war. Was die Mutter auch alles hervorgeholt hatte. So viel Blankes und so schöne weiße Wäsche. Die guten Tassen und alle Kleider. Auch die beiden Bilder von den Großeltern aus der Stube. Alle Töpfe mußte sie in das Heu packen. Bis nachher der Wagen voll war und nicht mehr viel zurückblieb.

Warum die Mutter nicht die Hühner mitgenommen hatte und die Schweine, verstand sie zwar nicht. Wer sollte die nun füttern. Nur die beiden Kühe wurden angebunden.

Sie wollte die Mutter noch danach fragen, doch die war heute so still, sie sprach so wenig. Da lehnte sie sich an sie und hörte in den Schlaf hinein das dauernde: "Go - go!" der Frauen, die ihre müden Tiere antrieben.

Dann wachte sie erst am nächsten Tag in der großen Stadt auf. Alle schliefen sie auf der Erde in einem Zimmer, in dem nur ein Tisch mit vier Stühlen stand und alle Sachen aus dem Leiterwagen. Die drei waren schnell auf, um sich alles genau zu besehen, bis die [87] Mutter sie bei der Hand nahm und viele Treppen hinunterging. Dann kam man über eine glatte Straße mit vielen Menschen, die alle in ein großes Haus gingen. Da standen lange Tische drin, und jeder bekam ein Stück Brot und Milch.

Das war viel schöner als beim Frühstück zu Hause. So viele Kinder saßen dort noch. Bald liefen sie auch um die Bänke herum, sahen zu den großen Fenstern hinaus, kletterten auf die Stufen und spielten Versteck in den vielen Ecken und unter den langen Bänken.

In diese Schule ging die Mutter zweimal am Tage mit ihnen. Man kannte nun schon alles. Nur das Essen wurde immer weniger, und manchmal hätten sie gern mehr gehabt. Doch das gab es nicht. Die Großen sprachen darüber, daß es eines Tages sicher ganz zu Ende sein würde. Und die Mütter waren schon ganz zersorgt und schoben den Kindern immer noch die Hälfte von ihrem Brot hin.

Bis eines Tages die Mutter sagte:

"Hier können wir nicht länger leben. In der nächsten Woche fahren wir nach Hause. Die Russen sind schon aus den Dörfern heraus, die deutschen Soldaten werden jetzt hoffentlich Ostpreußen schützen."

Nina und die Kleinen freuten sich mächtig. Die Stadt kannten sie jetzt, und sie gefiel ihnen gar nicht mehr. Überall Steine, kein Hof zum Spielen, Stall [88] und Scheunen gab es hier überhaupt nicht. Für immer wollte da niemand bleiben.

So ging es wieder zurück.

Alles wurde wieder aufgeladen, nur die beiden Kühe fehlten. Mutter konnte man wieder nicht danach fragen.

Wie anders sah auf dieser Fahrt alles aus. Ob ihr Haus auch nur noch die Mauern hatte und keinen Zaun und Stall mehr? Nein, das konnte doch nicht sein. Und als sie spät am Abend ankamen, stand auch noch alles da: Dort das Haus, die Scheune, der Stall. Aber wie sah es innen aus? Alles war zerschlagen, kein Stuhl war mehr ganz, Peters Bett war durchgesägt, die Kacheln am Ofen zerschlagen. Nichts war wiederzufinden.

Mutter sprach kein Wort, hing das Fenster in der Stube mit einer Decke zu, wickelte die Kinder in die anderen und räumte die ganze Nacht hindurch.

Am nächsten Tag, schon ganz in der Frühe, liefen die Kinder zu ihren gewohnten Plätzen. Peter fand seine Schaukel nicht mehr, Fritz suchte traurig im Stall nach seinen Geräten, und von den Tieren fand Nina keins mehr.

Da gingen sie zur Mutter in die Küche, weil sie sich so fremd vorkamen, und halfen mit, Stangen für Stuhlbeine zu suchen und räumten die mitgebrachten Sachen ordentlich ein.

Von Tag zu Tag wurde es gemütlicher, da alle ganz- [89] machen halfen und mitbastelten, sogar der kleine Peter, der überall Nägel suchte und Bindfaden.

Allmählich kehrten auch Meluhns und Mrotzecks und die anderen zurück, es war schon bald wie früher.

Da kam an einem Morgen der Karl Meluhn ganz aufgeregt in den Hof gejagt und schrie:

"Die Russen sind geschlagen und wollen nach Rußland zurück. Ihr sollt euch und eure Kinder verstecken, da sie durch unsere Dörfer fliehen."

Gab das einen Schreck!

Die Mutter rannte mit den Kindern in die Scheune, packte Peter und Fritz auf die eine Seite ins Heu, Nina auf die andere und sagte nur:

"Ihr habt es gehört. Nina, du paßt auf, daß die Jungens still sind. Ich komme euch wieder holen, wenn alles vorbei ist!"

Die Mutter hatte gerade die Tür geschlossen, als Nina schon das Geschrei von der Straße hörte und Pferde vor dem Haus hielten. Lange Zeit hörte man sie sprechen, bis dann die Pferde wieder losgaloppierten und alles still wurde.

Unheimlich still wurde es.

Ganz vorsichtig hob Nina das Heu über dem Kopf hoch, um zu hören, ob die beiden Kleinen auch still waren. Doch noch rührten sie sich nicht. Und voller Angst dachte sie, wenn sie nur so still blieben. Angestrengt [90] lauschte sie herüber. Da hörte sie ganz deutlich ein Rascheln vom anderen Ende des Stalles.

"Nina!" rief jetzt Peter ganz deutlich.

Ihr blieb das Herz stehen. Wenn das die Russen gehört haben! Sie lauschte angestrengt. Nichts war zu hören, nur immer wieder Peters Ruf. Da buddelte sie sich frei, lief zu den Brüdern und sagte erregt:

"Noch ein Wort von euch, und ich schmeiße euch vor die Tür, dann werden euch die Russen mitnehmen und auf ihre Spieße stecken und braten."

Der Peter schluckte ein paarmal vor Angst, bis ihm Fritz in die Rippen stieß, und dann war er wenigstens eine lange Zeit still.

Nina lag unbeweglich und lauschte nur nach draußen. Nichts war mehr zu hören als das Rauschen vom Heu, wenn wieder ein Haufen abrutschte. Sie mußte wohl zu tief gekrochen sein, denn sie bekam gar nicht mehr ordentlich Luft, und überall hindurch spickte es, wo man sich gar nicht bewegen durfte.

Endlos schien die Zeit. Ob sie hier nun schon Stunden lagen? Warum kam die Mutter nicht sie holen? Draußen war doch kein Mensch mehr zu hören, die Russen mußten schon lange weggeritten sein.

Da hörte sie ganz deutlich einen Ton, der vom anderen Ende der Scheune kam. Peter wimmerte vor sich hin. Nina rief ihn leise an und verstand endlich sein:

[91] "Mi hungert so! Mi hungert!"

Nun würde Peter nicht mehr still zu bekommen sein. Auch bei ihr tat es im Magen ordentlich weh. Das Mittag mochten die Russen inzwischen gegessen haben, und jetzt mußte es schon spät sein. Vorsichtig machte sie sich frei, beruhigte erst Peter und lauschte lange an der Tür. Es war schon ganz dämmrig in der Scheune, und nach langem Zögern öffnete sie die Tür, sah nirgends einen Menschen und hörte keinen Laut und schloß behutsam die Scheunentüre hinter sich.

Da sah sie, daß die Flurtür ganz weit aufstand. Warum Mutter sie nicht zugemacht hatte, wenn sie schon ins Dorf gegangen war? Aber dann sah sie auch das andere. Die Stühle lagen umgeworfen da, der Küchenschrank stand weit auf, die Töpfe waren vom Herd gerissen. Nichts war am gewohnten Platz, alles war durchgewühlt, die Schränke und die Betten.

Aber mitgenommen hatten sie diesmal nichts.

Zu essen fand sie auch nichts mehr.

Peter würde bestimmt zu weinen anfangen, wenn er noch lange warten mußte. Da wollte sie denn schnell zum nächsten Gehöft laufen und Mutter Mrotzeck fragen, ob sie ihnen etwas leihen würde, bis Mutter zurückkäme. Sie nahm den leeren Kartoffelkorb und war schon auf der Straße, als sie ganz nahe Pferdegetrampel hörte und drei Reiter ansprengten. Daß es Russen waren, er- [92] kannte sie sofort und wollte auch gleich zurückspringen. Doch alle waren schon von ihren Pferden, einer lief auf sie zu, nahm sie hoch, so sehr sie auch schrie und sich wehrte, und setzte sich vor sie auf das Pferd.

Es mußten die letzten Russen gewesen sein, denn sie trieben ihre Pferde immer wieder an und jagten an Bäumen und Zäunen vorbei. Der Mann hielt Nina fest an sich gedrückt mit der freien Hand, daß es ihr ordentlich weh tat, und hart schlug sie bei jedem Tritt des Pferdes auf dessen Rücken. Der rasende Ritt, die schneidende Luft und das Kreuz, das schon ganz lahm vom ewigen Aufschlagen war, nahmen ihr zu Anfang alle Gedanken. Auch mußte man so aufpassen, daß man nicht einmal doch abrutschte.

Angst hatte sie zwar keine. Der Mann hatte gar nicht ein so böses Gesicht, wie sie es sich bei einem Russen immer vorgestellt hatte, auch hielt er sie immer so besorgt fest.

Bis sie auf einmal an Peter denken mußte. Der würde jetzt bestimmt laut weinen und nach ihr und der Mutter rufen. Auch hatte sie von außen die Stalltür fest zugemacht. Ob Fritz die aufstoßen konnte? Wer sorgte nun für die Kleinen, die doch die Mutter noch so nötig brauchten? Wohin es mit ihr gehen sollte, wußte sie von vielen Gesprächen der Großen. Nach Rußland ging es, über die Grenze, wohin schon so viele [93] Ostpreußen verschleppt waren. Und die Grenze war nur fünfzig Kilometer weit von ihrem Dorfe, das hatte Vater ihr einmal erzählt.

Wie weit mögen nur fünfzig Kilometer sein, überlegte sie. So weit wie bis zur nächsten Stadt, oder zur großen Stadt, wohin sie damals gefahren waren? Sie sah gespannt vor sich, ob irgendwo ein großer Zaun auftauchte, der um Rußland ging. Denn die Grenze mußte doch so sein, wie um ihre Höfe, nur riesenhoch, daß niemand herüberklettern konnte, und mit viel Draht darüber, wie beim Herrn Lehrer.

Über diesen Zaun wollte sie auf keinen Fall mitgehen, denn sie mußte zu den beiden Kleinen zurück, wo Mutter vielleicht auch auf der Straße von Russen mitgenommen worden war, als sie zu Mrotzecks Brot holen ging.

Der Gedanke, daß die Russen die Mutter mitgenommen haben konnten kam ihr erst jetzt, und sie fing an, bitterlich zu weinen. Wo mochte nur die Mutter sein? Als sie so weinte, mußte sie an Peter denken und Fritz, die jetzt sicherlich auch weinten in der dunklen Scheune und verhungern mußten. Da sah sie wieder immer geradeaus, um rechtzeitig den großen Zaun zu sehen.

Plötzlich zeigten die Reiter alle nach vorn. Hier mußte also die Grenze sein! Sehen konnte sie nichts, da sie zu klein war und der Hals des Pferdes ihr den Blick nahm. Da ritten sie noch schärfer an, und auf einmal [94] ging es vorbei an Gruppen von Russen. An jeder Gruppe ließ der Mann die rechte Hand los und grüßte, daß sie sich ordentlich an der Mähne halten mußte.

Immer mehr Reiter überholten sie, als ihr blitzschnell der Gedanke kam, sich am Pferd heruntergleiten zu lassen, wenn er wieder einmal grüßte. Wenn man dabei das Pferd um den Hals faßte, war es gar nicht so schlimm. Das machte doch schon der Fritz.

Beim nächsten Gruß bäumte das Pferd wohl auf, ging aber im Galopp weiter, und über Nina trampelten die Pferdehufe. Die Tiere verhielten kurz vor ihr und setzten dann glatt über sie hinweg. Vor dem nächsten Trupp kroch sie schnell in den Straßengraben. Sich aufzurichten wagte sie nicht, damit die Pferde sie nicht umrannten oder man sie gar bemerkte.

Immer weiter kroch sie in die Sträucher hinein. Ganz entfernt vernahm sie Stimmen und sah Licht aufleuchten auf der Straße, bis alles wieder ruhig war.

Diesmal wollte sie aber lange warten, ehe sie zurückging, damit es ihr nicht erging wie beim Brotholen.

Sie überlegte besorgt, wo sie jetzt sein mochte, wo der Weg zurückführte. Nun wollte sie auch nicht länger Zeit versäumen. Wie würden sich die beiden in der finsteren Scheune fürchten, wo sie manchmal nicht einmal in der dunklen Stube einschlafen wollten, wenn Vater und Mutter nebenan in der Küche saßen.

[95] So ging sie die Fahrstraße entlang, immer im Weggraben, damit sie sich bei Gefahr bergen konnte. Mühsam war das aber. Mal stolperte man über ein Grasbüschel, dann lag ein Stein dazwischen. Manchmal ging man im Dunkeln etwas schräg und geriet auf die Böschung. Sie hätte sich so gern hingelegt und geschlafen, wenn sie nur nicht immer Peter hätte weinen hören. Oft machte sie schon die Augen zu beim Gehen. Sehen konnte man sowieso nichts. Bis sie auf etwas Hartes fiel und nicht mehr aufstehen konnte, weil es in den Knien so schmerzte. Zu Peter kam sie nun nicht mehr, aber schlafen konnte sie endlich.

Am nächsten Morgen wachte sie auf, und Mutter Mrotzeck saß neben ihr und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

"Nun hab' ich euch wenigstens alle drei bei mir", sagte sie herzlich, beinahe wie Mutter. "Fritz und Peter sind auf dem Hof. Dich brachte heute früh der alte Meluhn auf dem Wagen mit. Auf einem zerbrochenen Wagenrad hast du im Graben gelegen, ein Stück hinter Tannenwalde."

"Tannenwalde? Ist doch dicht an der Grenze, Mutter Mrotzeck?" fragte Nina.

"Nein, Kind, von da sind noch vierzig Kilometer. Nun trink aber die Milch und verschlaf deinen Schreck. Bist ein tapferes kleines Mädchen."

[96] Das nannte man schon tapfer, überlegte Nina. Ich habe doch nur dem kleinen Peter helfen wollen. Jetzt kümmern sich die beiden nicht einmal um mich, wo ich mich so um sie gesorgt hatte.

Nach ein paar Tagen war Nina wieder flink auf den Beinen, war in einer halben Stunde zu ihrem Haus hin und zurück, um nachzusehen, ob Mutter schon zurückgekommen war. Das tat sie jeden Morgen und Abend. Mutter sollte keine Sorge um sie haben, wenn sie zurückkamen. Sie sollte ihre Kinder gleich finden.

Inzwischen gab es für sie viel Arbeit. Die beiden Jungen waren ewig schmutzig, und gehorchen wollten sie auch nicht, so daß Mutter Mrotzeck manchmal ordentlich schimpfen mußte. Dann half immer nur die Erinnerung an die Mutter. Was die wohl zu so ungezogenen Jungen sagen würde?

Dann weinten die beiden gleich, und Nina mit, weil die Mutter doch gar nicht wieder heimkam.

Eines Tages sagte dann Mutter Mrotzeck, daß Nina nicht immer zum Hause laufen sollte, wenn die meiste Arbeit war. Morgens mußte das Geflügel herausgelassen werden, gefüttert und Wasser hingestellt werden. Es war auch sonst manches zu besorgen. Am Abend gab es abzutragen und zu spülen. Nina sah das ein. Wo nun drei Kinder mehr mitaßen, mußte auch mehr zugepackt werden.

[97] So kam sie nur Sonntags in ihr Haus. Die anderen Tage über quälte sie sich mit der Vorstellung, wenn Mutter nun heimkam und niemand dafand. Da wollte sie nun der Mutter einen Brief schreiben, wie ihn der Vater immer aus dem Feld geschickt hatte. Darüber war Mutter so froh gewesen. In dem wollte sie schreiben:

"Liebe Mutti, wir drei leben noch alle und warten auf Dich. Seit Du fort gingst, wohnen wir bei Mutter Mrotzeck.
Nina und die beiden Kleinen."
Sie allein konnte das noch nicht schreiben. Mutter Mrotzeck konnte es auch nicht mehr so richtig. Was sollte man da bloß tun? Mutter durfte sich doch nicht so erschrecken, wenn sie kam.

Als sie an einem Sonntag wieder darüber grübelte, sah sie die Kiste mit dem feinen Flußsand stehen.

Da kam ihr ein ganz feiner Gedanke.

Am Sonnabend, wenn alles blank gescheuert war, dann streute Mutter immer den reinen Sand über Flur und Küche und legte an den Rand Kalmusstückchen. Dann begann für alle schon immer der Sonntag. Am Abend war sie oft böse, daß alles von den Kindern zertrampelt war. Besonders in der Stube, in die man vor Sonntag nicht herein durfte, erkannte sie an den Stapfen, wer dort gegangen war.

[98] Nun wollte sie den ganzen Fußboden dick bestreuen, und alle drei sollten sie darüber gehen. Die anderen verstanden sie sofort. Zogen ihre Schuhe aus und tippelten und tappelten hin und her. Das machte ordentlich Spaß, weil es immer verboten gewesen war. Nachher sahen die Stuben ganz lustig aus mit ihrem Muster.

Nun hatte Nina wenigstens morgens und abends Ruhe zur Arbeit.

Nur die Sonntage wurden immer trauriger. Jedesmal fand Nina das Haus so vor, wie sie es verlassen hatte. Auch sahen die Leute sie immer so mitleidig an, wenn sie zum Haus ging.

"Na, Ninachen, suchst wieder die Mutter?" fragten sie dann so eigentümlich. Ob die nicht mehr glaubten, daß Mutter wiederkam?

Bis dann eines Tages ein Soldat, ganz braun, vor ihnen stand und alle drei auf einmal in den Arm nehmen wollte. Peter lief gleich schreiend los. Man konnte es aber auch gar nicht begreifen, daß es Vater sein sollte.

Doch es stimmte. Er sprach wie früher und lachte genau so. Peter ließ sich nachher sogar auf den Arm nehmen, als sie alle zum Haus gingen.

Sie erzählten ihm auch von den Spuren. Als er alles sah, schaute er immer auf den vertretenen Sand und machte ein so komisches Gesicht. Einmal wischte er [99] mit der Hand übers Gesicht. Ob der Vater etwa weinte? Aber, das konnte nicht stimmen. Das hatte er noch nie getan.

"Du bist wie deine Mutter, Kind", sagte er zu Nina, die ganz stolz war. Denn wie Mutter wollten alle drei werden.

"Mutter!" Nun war das Wort zwischen ihnen gesprochen, und die Kleinen verzogen schon das Gesicht.

"Mutter wird jetzt bald heimkommen!" sagte der Vater ernst. "Der Friede zwischen Deutschland und Rußland ist geschlossen. Die Gefangenen werden ausgetauscht. Ich habe Urlaub bekommen um an die Grenze zu fahren, wo die Transporte ankommen. Von dort hole ich sie uns wieder."

Sie saßen wieder wie früher am Abend auf der Bank vor dem Hause. Peter war auf Vaters Schoß eingeschlafen, und alle hatten nach so langer Zeit wieder einmal glückliche Gesichter.


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