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Deutschland und der Korridor

[129]
Wie die Ostgebiete des Reiches
verlorengingen (Teil 3)

Karl C. von Loesch

Das Abstimmungsgebiet im Süden

Wie schon bemerkt, war eine Volksabstimmung in Oberschlesien ursprünglich nicht vorgesehen. Artikel 88 ist also einer der wenigen, die erst nachträglich in das Versailler Diktat hineingesetzt wurden infolge der lebhaften Volksbewegung, die die Friedensbedingungen ausgelöst hatten. Auch hier war die Abgrenzung ganz willkürlich, da Teile Oberschlesiens beim Reiche ohne Abstimmung verblieben, andere aber, gemäß Artikel 83 des Versailler Diktats, [130] gleichfalls ohne Abstimmung und sehr gegen den Willen ihrer Bevölkerung zur Tschecho-Slowakei kamen (Hultschiner Ländchen, ein Teil des Kreises Ratibor). Doch davon später.

Oberschlesien, wie es laut Friedensvertrag und Volksentscheid hätte aussehen müssen und wie es vergewaltigt wurde Oberschlesien, wie es laut Friedensvertrag und Volksentscheid 
hätte aussehen müssen und wie es vergewaltigt wurde
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In einem Gebiete, wie es die Bildstatistik [rechts] darstellt, wurde die Bevölkerung dazu berufen, "kundzugeben, ob sie mit dem Reiche oder mit Polen vereint zu werden wünsche". Auch hier hatte das Reich binnen zwei Wochen das Abstimmungsgebiet zu räumen; sämtliche Arbeiter- und Soldatenräte, militärische und halbmilitärische Vereine, die aus Einwohnern der Zone gebildet waren, mußten abgelöst werden; auch diese Zone wurde einem internationalen Ausschuß von 4 Mitgliedern unterstellt, Vertretern der Vereinigten Staaten, Frankreichs, des Britischen Reiches und Italiens. (Die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten das Diktat von Versailles nicht ratifizierten und daß Frankreich den Vorsitzenden der oberschlesischen Abstimmungskommission stellte, sollte sich als höchst verderblich erweisen.) Im übrigen entsprachen die Bestimmungen ungefähr denen der Abstimmung in Ost- und Westpreußen. Es hieß in §4 und 5 der Anlage: "Das Abstimmungsergebnis wird gemeindeweise, und zwar nach der Stimmenmehrheit in jeder Gemeinde festgestellt; nach Beendigung der Abstimmung teilt der Ausschuß den alliierten und assoziierten Hauptmächten die Zahl der in jeder Gemeinde abgegebenen Stimmen mit und reicht gleichzeitig einen eingehenden Bericht über die Wahlhandlung sowie einen Vorschlag über die Linie ein, die in Oberschlesien unter Berücksichtigung sowohl der Willenskundgebung der Einwohner als auch der geographischen und wirtschaftlichen Lage der Ortschaften als Grenze Deutschlands angenommen werden soll." Diese unklare Bestimmung sollte später die formale Grundlage für die ungerechte Teilung Oberschlesiens abgeben.

Der Verlauf der Volksabstimmung war - ganz anders als in Allenstein und Marienwerder, wo die Kommission wirklich neutral gewesen war - voll von dramatischen Ereignissen. Es darf hier zur Vorgeschichte folgendes ausgeführt werden. Ähnlich wie in Ostpreußen, lebte seit alters in Oberschlesien eine zweisprachige Bevölkerung, die im Hause teils deutsche Dialekte, teils einen polnischen Dialekt, das sogenannte Wasserpolnisch, teils mährisch (Hultschin) sprach. Von 1861 bis 1910 sank die Zahl der einen polnischen Dialekt sprechenden Bevölkerung von 59,12 auf 52,6 v.H. Das Entscheidende war aber für die Bevölkerung nicht so sehr die Sprache als die Religion. Die Deutschsprechenden waren teils evangelisch, teils katholisch, die polnisch sprechende Bevölkerung bis auf kleine Teile im Norden des Landes katholisch. Politisch gehörten deutsch und polnisch sprechende Katholiken bis zum Begin des 20. Jahrhunderts zur Zentrumspartei. So konnte noch im Jahre 1892 der polnische Erzbischof Stablewski von Posen und Gnesen die Erklärung abgeben, die Oberschlesier seien polnisch sprechende Deutsche, die großpolnische Propaganda in Oberschlesien sei eine aussichtslose und unberechtigte Maßnahme. Selbst noch im Jahre 1903 gab der Oberpräsident von Schlesien mit vollem Recht im Herrenhause die Erklärung ab, es gebe in Oberschlesien keine polnische Frage. Freilich war inzwischen in Oberschlesien doch eine polnische Bewegung aufgetaucht, zunächst im Zeitungswesen. Sie knüpft sich an die Persönlichkeit des auch später viel genannten Korfanty. Im Gegensatz zu der wasserpolnisch-konservativen Politik Napieralskis innerhalb des deutschen Zentrums und in Konkurrenz mit der sozialistischen Bewegung in Oberschlesien entwickelte Korfanty eine sozial- und nationalrevolutionäre Agitation. Die Wahlen vom Jahre 1903 und 1907 brachten Korfanty auf Kosten des Zentrums und der deutschen Sozialdemokratie nicht unbeträchtliche Erfolge. 1907 vermochte er 39 v.H. der oberschlesischen Stimmen auf seiner Liste zu vereinigen; diese Zahl ging freilich 1912 auf 34 v.H. zurück. Wenn auch über die Gesinnung Korfantys kein Zweifel besteht, so müssen seine Erfolge bei den Wählern doch viel mehr auf seine sozial-radikale Agitation gebucht werden als auf sein [131] national-polnisches Programm. Dies zeigt vor allen Dingen die vorbildliche Haltung Oberschlesiens und der oberschlesischen Regimenter während des Weltkrieges; so rechtfertigt sich auch Pilsudskis bereits erwähnte Erklärung: "Was sollen wir denn in Oberschlesien? Oberschlesien ist doch seit alters eine preußische Kolonie."

Korfanty dachte anders. Und als mächtige Volkskundgebungen der oberschlesischen Bevölkerung mit englischer Hilfe für dieses Gebiet eine Volksabstimmung ertrotzt hatten, brach auf seine Veranlassung am 17. August 1919, wenige Wochen nach der Annahme des Versailler Vertrages durch die Nationalversammlung in Weimar, der erste Aufstand aus. Damit setzte er
Einzug englischer Truppen in Danzig am 11. Februar 1920
Einzug englischer Truppen in Danzig am 11. Februar 1920.
Polens später so berühmte Politik, vollendete Tatsachen zu schaffen, fort. Diesmal mißlang es. Freiwillige Formationen des alten Reichsheeres schlugen den Aufstand nieder, und das Abstimmungsgebiet konnte am 11. Februar 1920 der interalliierten Plebiszit-Kommission in durchaus gesetzlichen Zuständen übergeben werden.

Diese sollten freilich nicht lange anhalten; eine neue Leidenszeit Oberschlesiens begann. Sie knüpft sich an den Namen des Generals Le Rond, des französischen Vorsitzenden der Abstimmungskommission. Dieser konnte zwischen der Sache Polens und Frankreichs nicht unterscheiden; eng verbunden mit dem Führer der polnischen Bewegung Korfanty, war er das Gegenteil eines unparteiischen Vorsitzenden. Überall hinderte er die Deutschen und begünstigte die Polen, so daß es zu mehr als einem schweren Konflikt mit den englischen und italienischen Mitgliedern der Abstimmungskommission kam, ja so weit, daß 22 italienische Soldaten der Besatzungstruppe von den Polen getötet werden konnten. Er begann damit, "zur Beruhigung" jede Propaganda zu verbieten, und verhinderte praktisch nur die deutsche. Mit seiner Zustimmung brach im August 1920, als sich trotzdem gezeigt hatte, daß die Bevölkerung Oberschlesiens in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht mit Polen sympathisiere und daß die Abstimmung keinen guten Ausgang für Polen nehmen würde, ein zweiter Aufstand aus. Le Rond hinderte die Abstimmungstruppen am Widerstand gegen die polnischen Banden, die vor keinem Verbrechen zurückschreckten. Ja, er zog sie systematisch aus eben jenen Gebieten zurück, in denen die deutsche Gegenwehr offensichtliche Fortschritte machte. Der von General Le Rond aufgezogene und folgerichtig gehandhabte Abstimmungsapparat war, wie J. P. Warderholt in Grenzdeutschland nach Versailles schreibt, völlig verschieden von den Abstimmungsbedingungen der übrigen Abstimmungskommissionen des Reiches und Österreichs außer Ödenburg, die im wesentlichen sachlich verfuhren. In Oberschlesien dagegen maß man mit anderem Maß und beeinflußte so das Ergebnis in gänzlich unzulässiger Weise.

Auch sonst stand die oberschlesische Abstimmung unter einem Unstern. Hatte die Kulturkampfbewegung der siebziger und achtziger Jahre schon schwere Wunden gerissen, so mußte es für die katholische oberschlesische Bevölkerung erst recht schwer zu tragen sein, daß die Revolution in Berlin an die Spitze der preußischen Kulturverwaltung in Adolf Hoffmann eine durchaus religionsfeindliche Persönlichkeit gebracht hatte. Diese Tatsache lieferte der polnischen Propaganda eine schneidige Waffe, und sie benutzte sie in dem Sinne: polnisch ist katholisch, und deutsch ist evangelisch, der liebe Gott und die Mutter Gottes verstünden nur polnisch; wer deutsch stimme, verrate die Kirche. Ein großer Teil der Geistlichkeit Oberschlesiens schloß sich zwecks polnischer Propaganda zu der Sektion des Pfarrers Kapitza zusammen.

Wenn trotzdem der polnischen Propaganda größere Erfolge nicht beschieden waren, so lag es eben an der Tatsache, daß Geschichte, Kultur und Wirtschaft ebenso wie alle Familienbeziehungen die oberschlesische Bevölkerung an Preußen-Deutschland banden. Ähnlich wie in Ostpreußen, war überdies eine starke Abwanderungsbewegung in andere Teile des Reiches zu [132] verzeichnen gewesen. Aus dem übrigen Reiche waren andererseits wiederum viele Personen nach Oberschlesien zugewandert, von denen freilich nur ein Teil, nämlich die seit vor 1904 Ansässigen, zur Abstimmung berechtigt waren. Bei der Abstimmung selber reisten 170.000 Abstimmungsberechtigte aus dem Reiche nach Oberschlesien zurück, von denen freilich ein Teil, nach polnischen Angaben 25 v.H., für Polen gestimmt haben soll, eine Zahl, die vermutlich übertrieben ist.

Von großer Bedeutung war die Unklarheit in den Bestimmungen über die Auswertung der Volksabstimmungsergebnisse. Die deutsche Rechtsauffassung ging dahin, daß die absolute Mehrheit bei der Abstimmung über die Zuteilung des ganzen Landes an Deutschland oder Polen entscheiden sollte. Die alliierten Kommissionen weigerten sich, diese Frage zu klären; offenbar wollten sie erst das Ergebnis abwarten. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß eine polnische Mehrheit, wäre sie noch so klein gewesen, Anlaß gewesen wäre, das ganze Land Polen zuzusprechen. Der Bevölkerung aber wurde geflissentlich vorgetäuscht, es handle sich darum, ob das ganze Gebiet durch Mehrheitsentscheid zu diesem oder jenem Staat kommen solle. Damit erreichte Le Rond sehr viel; denn wäre es bekannt gewesen, daß man die Absicht hatte, Oberschlesien, wenn sich die erwartete deutsche Mehrheit gezeigt hätte, zu zerschneiden, so hätten auch polnisch Gesinnte nicht für Polen gestimmt: aus dem sicheren Bewußtsein heraus, daß eine Teilung Oberschlesiens das größte Unglück des Landes sein müßte, dessen Verkehrswege, Straßen, Bahnen und Flüsse und dessen gesamte Wirtschaft nach dem Reiche wiesen. Auf polnischer Seite aber arbeitete man mit den gleichen Propagandamitteln wie in West- und Ostpreußen. Überdies noch nutzte man das soziale Ressentiment aus sowohl in der bergmännischen und Industriebevölkerung als auch auf dem flachen Lande, wo dank einer verkehrten Durchführung der Stein-Hardenbergschen Reform 57 v.H. des Landes in der Hand des Großgrundbesitzes geblieben waren. Mit fast bolschewistischen Methoden, dem Versprechen einer primitiven Landteilung, konnte auch Korfanty, gerade bei der zwergbäuerlichen Bevölkerung, Erfolge erringen. So erklärt sich auch das merkwürdige Stimmbild, das der 21. März ergab.

  Stimm-  
  berechtigte
 
abgegebene Stimmen
Kreis   für das Reich     für Polen  
Beuthen Stadt und Land 152 553       73 531         73 055    
Cosel 49 310       36 356         12 221    
Gleiwitz Stadt und Tost 88 885       53 077         35 510    
Groß-Strelitz 46 437       22 390         23 023    
Hindenburg 88 605       45 222         43 282    
Kattowitz Stadt und Land 150 631       75 617         69 964    
Königshütte Stadt 44 052       31 848         10 764    
Kreuzburg einschl. Namslau 46 177       43 346         1 799    
Leobschütz 66 000       65 128         256    
Lublinitz 29 818       15 478         13 675    
Neustadt O.-S. (Ob. Glogau)   38 190       32 722         4 476    
Oppeln Stadt und Land 105 553       77 031         25 827    
Pleß 72 256       18 670         53 372    
Ratibor Stadt und Land 71 063       48 277         20 630    
Rosenberg 35 976       23 861         11 147    
Rybnik 82 045       27 924         52 332    
Tarnowitz 45 613       17 076         27 500    

Summe 1 213 164       707 554         478 833    

[133] Rund 60 v.H. der Bevölkerung hatten also für das Deutsche Reich, 40 v.H. für Polen gestimmt. Eine einzige Stadt, das winzige Städtchen Beruhn, hatte eine polnische Mehrheit. Doch wollen wir die Darstellung der Wirkung der Volksabstimmung nach nationalen Gesichtspunkten auf das Ende dieses Aufsatzes verschieben und bemerken nur, daß innerhalb der wasserpolnischen Bevölkerung neben den landarmen und landlosen Bauern im wesentlichen die Grubenorte mit den ungelernten Kohlenarbeitern für Polen stimmten, namentlich die Zinkorte, welche wegen geringeren Lohnes und wegen hygienischer Unzuträglichkeiten gerade von den aufstrebenden Arbeitern gemieden wurden. Man kann ungefähr sagen: die jungen Bergwerks- und Industrieorte mit einer noch fluktuierenden Bevölkerung erlagen der polnischen Propaganda; die alten Gruben- und Industrieorte dagegen stimmten, obgleich die Wohnungsverhältnisse dort schlechter waren als in den Neusiedlungen, ganz überwiegend für das Deutsche Reich.

Auch die Grenzfestsetzung führte zu dramatischen Ereignissen. Jeder Deutsche und jeder Pole im Abstimmungsgebiet war überzeugt gewesen, daß das Mehrheitsergebnis für das Schicksal des Landes entscheidend sein würde. Aber es kam anders. Die Abstimmungskommission war geteilter Auffassung und gelangte nicht zu einem gemeinsamen Votum. General Le Rond konstruierte in seinem Bericht, obwohl weitaus die Mehrzahl der Gemeinden sich für das Reich erklärt hatten, auf Vorschlag Korfantys eine Grenzlinie, die fast drei Viertel des Abstimmungsgebietes Polen geben sollte. Gestützt auf die Bestimmung, daß das Abstimmungsergebnis gemeindeweise zu werten sei, setzte der Gemeinden von nur 100 Einwohnern Städten von 80.000 Einwohnern gleich. Die englischen Mitglieder der Abstimmungskommission kamen gleichfalls zu einem Teilungsvorschlag; dieser sah aber nur die Abtretung des
Bürgerwehr
In Oberschlesien suchte Polen entgegen dem Willen der Bevölkerung mit Gewalt deutsches Land zu rauben. Aufständische fielen in das Land ein.
Oben: Bürgerwehr schützt die Fabriken vor den Aufständischen.
Unten: Deutscher Selbstschutz in Myslowitz.

Deutscher Selbstschutz in Myslowitz
Kreises Pleß und des südlichen Teiles des Kreises Rybnik vor, Gegenden, in denen klare polnische Mehrheiten zu verzeichnen gewesen waren. Die Italiener machten einen Kompromiß aus beiden Vorschlägen. Vor dem Obersten Rat in Paris kam es zu diplomatischen Kämpfen, die für Polen ungünstig auszugehen schienen.

Da wagte Korfanty zum dritten Male das Glück der Waffen. Am 3. Mai 1921 ließ er, unterstützt, wahrscheinlich sogar aufgefordert durch den General Le Rond, den dritten, den blutigsten aller Aufstände ausbrechen. Le Rond förderte ihn offen. Französische Truppen verbrüderten sich mit den Polen. Sie gaben den Aufständischen Waffen und ließen es zu, daß italienische Truppen schwere Verluste gegenüber den Polen erlitten. Freiwillige eines "Deutschen Selbstschutzes" unter der Führung des General Hoefer sammelten sich dann zu kräftiger Gegenwehr. Es kam zur Erstürmung des Annaberges bei Cosel durch den Selbstschutz. Nunmehr lag ganz Oberschlesien offen vor den deutschen Freiwilligen, die es rasch von den Polen gesäubert hätten. Da erst griff Le Rond ein und hinderte wiederum das Vorgehen der Deutschen,
Trümmer des Bahnhofes in Rosenberg
Spuren des polnischen Aufstandes: Trümmer des von den Polen gesprengten und angezündeten Bahnhofes in Rosenberg.

Von polnischen Aufständischen gesprengte Oderbrücke in Cosel.
Gesprengte Oderbrücke

nachdem Lloyd George im englischen Parlament Le Ronds Rechtsbruch gebrandmarkt hatte.

Es kam zu erneuten Verhandlungen des Obersten Rates. Im August gelang es den Franzosen, wahrscheinlich auf Grund von Kompensationen im Orient, wie so oft schon, Englands Widerstand zu brechen, und so wurde die Entscheidung dem Völkerbunde zugeschoben. Dessen Rat, in dem damals auch China und Brasilien vertreten waren, erstattete ein Gutachten. Es wurde die Grundlage der Entscheidung, welche die Note des Botschafterrates vom 20. Oktober 1921 fällte. Eine Grenzlinie durch Oberschlesien wurde gezogen, und überdies wurden dem Reiche Verpflichtungen auferlegt, die das Wirtschaftsleben des abzutretenden Gebietes betrafen; endlich wurden für fünfzehn Jahre Übergangsbestimmungen für beide Oberschlesien vorgesehen, die unter den Schutz einer gemischten Kommission gestellt wurden. Diese Verhandlungen wurden [134] zwischen dem Reiche und Polen unter dem Vorsitz des schweizerischen Alt-Bundespräsidenten Calonder geführt und endeten mit dem 15. Mai 1922. Hierüber sagt das Taschenbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Heft Oberschlesien, folgendes:

Die Zerschneidung Oberschlesiens Die Zerschneidung Oberschlesiens
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    "Die Ziehung der neuen Grenze ist ein Musterbeispiel für die Böswilligkeit, unter der Deutschland seit dem Friedensvertrag von Versailles zu leiden hat. Der Völkerbundsrat stellte sich zur Aufgabe, das Land im Verhältnis von 4 : 6 gemäß dem Ver- [135] hältnis des Abstimmungsergebnisses zu teilen. Er glaubte, in diesem mathematischen Grundsatz die gerechte Teilung gefunden zu haben. Die Grenzlinie legte er aber so, daß die wirtschaftlich wichtigen Betriebe, alle wichtigen Rohstoffquellen Polen zufielen. Die drei größeren Städte Ratibor, Gleiwitz, Beuthen schnürte er von ihrem Hinterland derart ab, daß sie wirtschaftlich in schwerste Not kommen mußten und daß sie strategisch im Falle kriegerischer Verwicklungen völlig unhaltbar sind. Was geschichtlich und organisch gewachsen war, wurde zerschnitten und damit vielfach lebensunfähig gemacht, gleichgültig, ob es sich dabei im Zerschneidung von Wasserleitungen, Elektrizitätsleitungen, Straßen oder einheitlichen Wirtschaftsleitungen, wie Gruben und Eisenwerke, handelte. Wegen dieser Zerreißung des einheitlichen oberschlesischen Industrieorganismus ist die Bevölkerung Oberschlesiens niemals befragt worden. Während des [136] Abstimmungskampfes ist der Gedanke einer Teilung Oberschlesiens gerade von polnischer Seite entschieden abgewiesen worden. Kurz vor der Abstimmung hatte der polnische Sejmmarschall Tramczynski erklärt: 'Komme, was da wolle, wir wollen Oberschlesien nicht zerreißen, es soll ganz der oder jener Seite gehören.'"

Polen hat das abgetretene Gebiet am 16. Juni 1922 übernommen. Darzustellen, wie sehr die kommende Entwicklung den warnenden Voraussagen der deutschen Sachverständigen, die Zerreißung würde die schwersten politischen und wirtschaftlichen Folgen haben, recht gab, gehört nicht mehr zur Aufgabe dieser Darstellung.

Eine weitere Folge der Abstimmung in Oberschlesien ergab sich für das Hultschiner Ländchen. Gemäß Artikel 83 des Versailler Diktates hatte, wie schon ausgeführt, das Reich zugunsten der Tschecho-Slowakei ohne jede Volksbefragung auf einen Teil des Kreises Ratibor verzichten müssen; am 4. Februar 1920 war das Hultschiner Ländchen durch die Tschecho-Slowakei in Besitz genommen worden, nicht ohne Rechtsverwahrungen der Bevölkerung gegen dieses Unrecht. Für den Fall, daß die deutsch-polnische Grenze nach der oberschlesischen Abstimmung so gezogen werden sollte, daß der südliche Teil des Kreises Leobschütz, der an das Hultschiner Ländchen grenzt, seinen Zusammenhang mit dem Deutschen Reiche verlieren würde, sollte - so bestimmte es das Versailler Diktat - auch dieser an die Tschecho-Slowakei fallen. Die endgültige Grenzfestsetzung nach der Volksabstimmung in Oberschlesien erfüllte diese Bedingungen glücklicherweise nicht, und so blieb diesem Teile des Kreises Leobschütz das Schicksal des Hultschiner Ländchens, gegen seinen Willen an die Tschecho-Slowakei abgetreten zu werden, erspart.8




Anmerkungen

8Über die Volksabstimmungen siehe Sonderheft 8/9, Jahrgang 1930, der Zeitschrift Volk und Reich, das den Abstimmungen in deutschen Grenzgebieten gewidmet ist. ...zurück...

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