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[Bd. 4 S. 594]
Horst Wessel, 1907 - 1930, von Wilfrid Bade

Horst Wessel als Sturmführer.
[600a]      Horst Wessel als Sturmführer.
[Bildquelle: Presse-Illustrationen
Heinrich Hoffmann, Berlin.]
Am 23. Februar 1930 starb Horst Wessel, zweiundzwanzig und ein halbes Jahr alt, am Beginn seines Lebens, am Ende seiner Aufgabe.

Er wurde zu Grabe getragen unter Steinwürfen und den Ausbrüchen eines unmenschlichen Hasses, der alle die in seiner Schrankenlosigkeit erschreckte, die ihm ausgesetzt waren, und der erst einige Zeit später erklärlich wurde, als überhaupt die Aufgabe Horst Wessels, die das Schicksal ihm auferlegt hatte, klar und rein erkannt werden konnte. Nicht daß es niemanden gegeben hätte, der nicht schon zu Horst Wessels Lebzeiten oder doch im Augenblick seines Todes den wirklichen Sinn dieses Lebens und Sterbens begriffen hätte – die SA und der verschworene Kreis nationalsozialistischer Kämpfer wußte schon immer, wie es um Horst Wessel stand und daß er eine besondere und über das natürliche Maß hinausgehende Berufung erfahren hatte. Die große Menge des deutschen Volkes aber erkannte es erst später, wenngleich auch sie an jenem Tage, da der tote Sturmführer zu Grabe getragen wurde, einer dunklen Ahnung teilhaftig wurde, daß hier mehr geschah als die bloße Beisetzung eines aus politischen Gründen ermordeten Parteigängers.

Immerhin waren die Wutausbrüche der Berliner Kommunisten so ungeheuerlich in Form und Dauer, daß ohne weiteres anzunehmen ist, daß auch sie in diesem Augenblicke schon genau wußten, worum es ging, es nicht weniger genau begriffen hatten als die Berliner SA, die dem Toten die letzte Ehre erwies. Ja, die Berliner Kommune mußte begriffen haben, daß sie den Kampf um Deutschland gerade in dem Augenblick verlor, als sie ihn für immer dadurch zu gewinnen glaubte, daß sie Horst Wessel niederschoß. So wollte sie denn wenigstens noch an den Pforten des Friedhofs versuchen, den Toten aus dem Sarg zu reißen und ihn, mit allen nur denkbaren Mitteln, völlig zu vernichten, gleich als fühlte sie, daß auch nicht ein Etwas übrigbleiben dürfte von diesem Menschen, sollte nicht das äußerste Verhängnis über seine Mörder hereinbrechen.

Während so sich eine bis zum unnatürlichen Vernichtungswillen aufgeschlagene Wut gegen den blumenüberschütteten, hakenkreuzbannerumhüllten Sarg warf, standen in den Straßen Berlins, die der Trauerzug langsam und unter Polizeibewachung durchfuhr, Zehntausende und nahmen Mütze oder Hut vom Kopfe, schweigend und in einer Ergriffenheit, die sie selbst bis in ihre letzte Tiefe nicht auszudeuten vermochten, und gedachten, während hier und dort auch [595] Tränen über Männergesichter rannen, dieses jungen toten Horst Wessel, von dem sie bislang wenig mehr wußten, als daß er im roten Berlin die Fahne des Nationalsozialismus aufgepflanzt hatte, Führer des fünften Sturmes der Berliner SA war und das Lied "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen" geschrieben hatte.

Die feierliche Beisetzung Horst Wessels in Berlin.
Die feierliche Beisetzung Horst Wessels in Berlin.
Der Trauerzug bewegt sich unter starker polizeilicher Bedeckung durch die Jüdenstraße
in Berlin.   [Bundesarchiv, Bild 102-09303 / CC-BY-SA 3.0, nach wikipedia.org.]

Und so, wie diese Zehntausende in Trauer und Ergriffenheit stumm verharrten, erging es vielen anderen überall in Deutschland: daß es sie plötzlich an diesem Tage anrührte und der Gedanke in ihnen groß wurde, daß nun und zu dieser Stunde in Berlin ein nationalsozialistischer Kämpfer zu Grabe getragen würde; und dann verhielten auch sie einen Augenblick in ihrem Tun und nahmen die Mütze vom Kopf. Ganz Deutschland spürte, daß eine ungeheuere Entscheidung gefallen war, eine Entscheidung, die nie mehr rückgängig gemacht werden konnte und die nur zu ewigem Untergang oder ewigem Siege führen konnte.

Denn hier war ein Opfer geschehen.

Vor diesem Tode wurde fast das Leben des Erschossenen ohne Belang, ja es wurde erst wichtig und sinnvoll, nun es zu diesem Tode geführt hatte, und wenn millionenfach der Tod als der Abschluß des Lebens erscheint, so wurde hier das Leben selbst ausschließlich zur Vorbereitung für diesen Tod, den das Schicksal gewollt hatte.

Eine solche Umkehrung in der Wertung von Leben und Tod eines Menschen ist stets das Zeichen echten, vom Schicksal bestimmten Opfers. Seine Verwirklichung entzieht sich dem natürlichen Wollen des einzelnen. Es kann nicht herbeigezwungen werden, man kann sich nicht vornehmen, es zu vollbringen, man kann ihm aber auch nicht ausweichen. Alle Entscheidungen, die der Auserlesene und Bestimmte in seinem Leben trifft, mögen sie im einzelnen noch so belanglos und noch so frei und nach logischer Überlegung getroffen erscheinen – in dem Augenblick, da das Opfer sich vollzogen hat, ist ihre außernatürliche, schicksalshafte Bedingtheit mit aller Nachdrücklichkeit deutlich und ist von niemandem mehr zu übersehen oder gar zu leugnen. Und der Schmerz und die Trauer um den Dahingegangenen wird überstrahlt von dem Stolze, daß gerade dieser Mensch es war, den das Schicksal unter Millionen mit der höchsten Aufgabe bedachte.

Es gibt wenige große Opfer in der Weltgeschichte.

Wenn aber sie geschehen, dann wirken aus ihnen Kräfte, die Jahrtausende umwerfen und für neue Jahrtausende neue Formen prägen. Es sind elementare Geschehen, die, weder bewußt herbeigeführt noch mit Überlegung gewollt, im Augenblicke des Geschehens sich als solche erweisen und auch sogleich, zumindest mit einem unaussprechlichen Gefühl, einer dunklen Ahnung, daß nunmehr etwas nicht wieder Aufzuhebendes geschehen sei, erkannt werden.

Die Erde bebt, und ein Vorhang zerreißt von oben bis unten.

Aus dem hingemordeten Menschen wird im Augenblick der Tat selbst eine unüberwindliche, weil außermenschliche Kraft, und sie erfüllt sogleich undämpfbar [596] die Idee, für die der Tote geopfert wurde. Sein Blut fließt unmittelbar in den Strom des ewigen Lebens, das dem Glauben, für den es ausgegossen wurde, die Berufung durch das Schicksal verbürgt.

Menschen nennen solche Opfertode ein Mysterium, ihre Wirkungen Wunder. Dieses Wunder geschah 1930 an der nationalsozialistischen Bewegung. Und da die Erkenntnis eines Wunders elementar ist, so begriffen auch die Mörder, daß sie hier im Auftrage des Schicksals gerade die Wirkung hervorbringen mußten, die sie unter keinen Umständen und um keinen Preis hervorbringen wollten. Sie wollten in der Person Horst Wessels die nationalsozialistische Idee töten. Sie hatten ihr mit dem Tode Horst Wessels die ewige Dauer errungen und damit ihrer eigenen Idee des Bolschewismus den Tod gegeben.

Mit einer letzten, aberwitzigen Anstrengung versuchten sie, das Geschehene ungeschehen zu machen, versuchten sie, den Körper Horst Wessels der ewigen Aufbahrung in der Erde zu entreißen, in dem sinnlosen Glauben, daß es gelänge, die Wirkung jener Opferstunde zu vernichten, ja sie vielleicht auf die eigenen Symbole abzulenken, wenn es nur möglich wäre, den Körper des Opfers in die eigene Gewalt zu nehmen. Auch dieser letzte Versuch, unsinnig schon in der Hoffnung auf seine Folgen, mißlang im Tatsächlichen. Auf dem Friedhof von St. Nikolai wurde der Mensch Horst Wessel, Sturmführer der SA der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, zur ewigen Ruhe bestattet. Fahnen senkten sich über sein Grab, Fahnen, die ein halbes Jahrzehnt später als Banner des Dritten Reiches über Deutschland wehten, und sein Lied stieg auf, gleichsam als sänge es der Tote noch aus seinem Sarge: "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt. Kam'raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsren Reihen mit!" – das Lied, das ebenfalls wenige Jahre später zur Nationalhymne eines nationalsozialistischen Volkes wurde, so, wie der Tote es geglaubt. Und überall, wo nun Deutsche marschieren, marschiert der Tote vom 23. Februar in ihren Reihen mit.


Wasser der Weser taufte den jungen Horst Wessel, der am 9. Oktober 1907 in Bielefeld geboren wurde, ältestes Kind des Pfarrers D. Ludwig Wessel und seiner Frau Margarete, die ebenfalls eines westfälischen Pfarrers Kind war. Nicht nur die blutmäßige Erinnerung an fernste Großzeiten germanischen Volkes lebte so in dem jungen Horst, sondern auch die eindringliche Erfahrung der deutschen Geschichte umgab seine Kindheit, und wenn er in dem Geburtshause der Mutter, jenem alten, weinlaubumrankten, hochgiebeligen Pfarrhause in Ärzen spielte, so überfielen ihn unversehens die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, als fremde Heere an diesem Haus vorüberzogen und seine Beschaulichkeit ein wildes Ringen störte, das deutsche Menschen um einen neuen Glauben führten.

[597] Bald nach der Geburt des Knaben übersiedelte die Familie nach Mülheim an der Ruhr. Hier lernte er im Heranwachsen die Arbeit kennen, die in lichtlosen Schächten Kohle bricht, die flammende Glut riesiger Hochöfen steuert, die Erze zu feurigen Güssen befreit unter dunklem, stauberfülltem Himmel, von Geklirr und Gedonner unzähliger Maschinen erfüllt und kaum an den Feiertagen von einem Schimmer des großen Stromes Rhein gegrüßt, Arbeit, die Stunde um Stunde für kärglichen Lohn geleistet wird von Menschen, denen das Vaterland nicht weniger verdankte, aber weniger Ehre gab als den Gefeierten, die mit ihres Geistes Kraft statt mit der Gewalt ihrer Hände zum Wohle des Volkes schufen. Und wenn später der Student Horst Wessel im Ringen um die Seele des Volkes den Entschluß fand, sein Studium beiseitezulassen und als Wagenlenker und Erdarbeiter mitten unter den Volksgenossen, die er der nationalsozialistischen Idee gewinnen wollte, zu arbeiten und so wie sie sich sein tägliches Brot zu verdienen, da er begriff, daß niemand zu diesen Menschen zu sprechen vermöchte, der nicht ganz einmal ihr Leben gelebt – dann mögen in ihm wohl manchmal Erinnerungen aufgestiegen sein an jene ersten Zeiten seiner Jugend, da sein Vater den Arbeitern von Mülheim Gottes Wort auslegte und sein Sohn, auf den Mülheimer Straßen spielend, ihrem freudlosen Gange nachsah, mit dem sie zur Arbeit schritten.

Ein Jahr vor dem Kriege kam die Familie nach Berlin. Der Pfarrer D. Ludwig Wessel erhielt die Stelle zum Predigen angewiesen, von der aus im siebzehnten Jahrhundert der große Paul Gerhardt gesprochen, in der ältesten Kirche der Stadt. Das Pfarrhaus, das nun die Heimstatt der Familie wurde, lag in der Jüdenstraße, wenige Schritte vor ihm der Jüdenhof, jener todstille Platz, auf dem eine uralte Akazie schattete, der symbolische Baum des Juden, einmal vor einem halben Jahrtausend den Mittelpunkt des Berliner Ghettos bezeichnend. Kein Lärm des Tages drang auf diesen stillen Platz, ganz ferne nur rauschte die Großstadt mit ihrem ständigen Gebrause. Die drei Geschwister, Horst, Werner und Inge Wessel, hörten ihn kaum.

Aber nur wenige Monde dauerte dieser stille Friede, dann kam der Tag, da der Vater seine Bücher aus der Hand legte, die geliebten, aus denen er so oft abends im Kreise seiner Kinder vorgelesen, da er seine Predigten, denen jeden Sonntag eine große Gemeinde ergriffen gelauscht, zu einem Bündel verschnürte, da er ein letztes Mal noch mit seinen Kindern musizierte, all die schönen Bilder abschiednehmend betrachtete, die, von der Hand Eduard von Gebhardts gemalt, die Zimmer schmückten, dann seine Bibel ergriff, sie sorgsam zu sich steckte und als erster deutscher Geistlicher freiwillig als Feldprediger an die Front eilte.

Der Weltkrieg überschattete von diesem Tage an das Leben Horst Wessels. Er hört in der Schule von den Siegen der deutschen Heere, und er liest in den Briefen des Vaters von der Zuversicht, die Heimat vor dem Einbruch des Feindes zu bewahren. Aus immer ferneren Gegenden kommen die trostvollen und anfänglich so siegesgewissen Schreiben. Aus Belgien, aus Rußland und vom Balkan finden [598] sie den Weg in das stille Pfarrhaus. Dann eines Tages tragen sie als Absender das Zeichen des Großen Hauptquartiers. Hindenburg hat den Feldprediger Wessel geholt, damit er ihm zwischen den Schlachten Gottes Wort auslege.

Seltener werden die Siegesfeiern in den Schulen, sorgenvoller die Briefe des Vaters. Die Not faßt auch das Haus in der Jüdenstraße an. Und dann kommt jener furchtbare Tag, da das Reich zerbricht, der Aufruhr durch die Straßen Berlins tobt, Maschinengewehrfeuer und das Krachen explodierender Handgranaten die Stille des Jüdenhofes zerreißen. "Wo ist Deutschland?" stammelt der tieferschütterte Horst, und seine Mutter konnte ihm zum ersten Male keine Antwort geben.

So lief denn der Knabe zwischen den Revolutionskämpfen umher, und je öfter er diese sinnlosen Schießereien, diesen Verfall, diesen Kampf aller gegen alle und das Versinken des Vaterlandes sah, desto mehr fiel die Kindheit von ihm ab. Seine großen, unbekümmert strahlenden Augen empfingen jene Traurigkeit eines frühen Wissens um die Dinge, die sie von nun an nicht mehr verloren.

Als das Diktat von Versailles unterzeichnet wurde, hatte der junge Horst Wessel schon so viel gelernt, daß er genau wußte, was dieses entsetzliche Stück Papier zu bedeuten hatte. Aber er sah keinen Weg, der ins Freie zu führen schien, und auch der heimgekehrte Vater konnte ihm keine Hoffnung geben. Der Prediger Ludwig Wessel zerbrach an der Niederlage seines Volkes. Auf seinem Schreibtisch stand das große Bild Hindenburgs, er konnte stundenlang in dieses Gesicht starren und auf die starken, männlichen Schriftzüge der Widmung, aber Trost gab das nicht.

Der junge Horst verschaffte sich von irgendwoher eine Pistole, er lernte schießen, aber auch diese mechanische Handfertigkeit mit einer Waffe, die damals allein schon Politik zu sein schien, konnte eine Zukunft nicht aufschließen. Der Vater welkte rasch dahin. Schon dem Tode nahe, unfähig schon, sich vom Krankenbette noch einmal zu erheben, hatte er nur noch den einen Wunsch, selbst den Sohn einzusegnen, ihm abschiednehmend als Seelsorger und als Vater in feierlicher Handlung die Hände auf das blonde Haar zu legen. In der Tür des Krankenhauszimmers wird ein kleiner Altar aufgebaut, und unterstützt von einem seiner Mitgeistlichen, konfirmiert der sterbende Pfarrer Ludwig Wessel seinen Sohn.


So steht der Junge nun völlig allein. Mutter und Geschwister können ihm nicht helfen bei seinem Suchen nach Deutschland. Eines ist ihm sicherer Besitz seines Denkens geworden: daß man gegen diese Revolte ankämpfen müsse, daß sie nicht das Letzte, das Entscheidende für vielleicht Hunderte von Jahren sein dürfe, sollte nicht Deutschland aus dem Kreise der Völker für immer ausscheiden, sollte nicht eine zweitausendjährige deutsche Geschichte in namenloser Schmach untergehen. Fragwürdig blieb nur, und vorläufig in keiner Weise zu erhellen, der Weg, [599] den man zur Abwendung dieses Unheils beschreiten müsse. Eine Zeit immer erneuter, immer fanatischer betriebener Suche brach an. An jeder kleinen Möglichkeit, an jedem irgendwo aufgerichteten Widerstand, mochte er so äußerlich sein, wie er wollte, entzündete sich die Begeisterung nicht nur Horst Wessels, sondern all jener Millionen Deutscher, die suchten gleich ihm.

Überall fanden sie sich zusammen und spürten doch, daß sie des letzten Zusammenhaltes entbehrten. Nur daß sie niemals, wenn diese Zusammenschlüsse wieder auseinanderbrachen und die Hoffenden einsamer dastanden denn zuvor, zu sagen vermochten, wie das denn nun beschaffen sein müßte, was sie so schmerzlich entbehrten. Lange Zeit glaubten sie, es müßte genügen, noch fanatischer als bisher Disziplin zu zeigen, sich unterzuordnen, zu arbeiten und äußere Machtmittel anzusammeln, um den Gegner mit der Waffe zu überwinden. Formationen jeglicher Art, sofern sie nur militärischen Charakter trugen, schienen bereits geeignet zu sein, das Unheil zu wenden; denn waren nicht jene roten Zerstörer des Reiches gerade dadurch siegreich geworden, daß die militärische Macht versagte? Und mußte es also nicht möglich sein, sie wieder von ihrem Vernichtungswerke zu vertreiben, wenn es nur gelänge, ihnen die geschlossene militärische Macht, Männer mit Handgranaten in der Faust und Gewehren auf der Schulter, gegenüberzustellen? So dachte auch Horst Wessel. Mit fanatischer Verbissenheit tat er seinen Dienst als Zeitfreiwilliger bei der Reichswehr. Er zwängte seine jungen sechzehn Jahre in die feldgraue Uniform, drückte die Mütze in das blonde Haar und umklammerte mit seinen schön gegliederten, aber starken Händen den Karabiner. Als er aus der Zeitfreiwilligenformation ausschied, ging er zum Bismarck-Bund, jener deutschnationalen Jugendorganisation, die unter der Fahne des alten Reiches die Kämpfer für ein neues aufzustellen schien.

Aber schon hier spürte Horst Wessel es deutlich, daß irgendwo diese Hoffnung trügerisch war, er spürte die Leere, die Zukunftslosigkeit des ganzen Beginnens. So schied er auch hier aus und begann erneut nach jenem verschworenen Kreise zu suchen, der die geheimnisvolle Formel besitzen mußte, Deutschland zu erlösen. Denn daß irgendeiner im Reich diese Formel besaß, daran zweifelte Horst Wessel nie. Es kam für alle anderen und also auch für ihn nur darauf an, diesen Menschen, diesen Kreis zu finden, sich ihm zu verschreiben und einzugliedern.

Verständlicherweise glaubte er, daß die Zukunftslosigkeit des Bismarck-Bundes darin liegen müßte, daß er eben noch nicht genug soldatisch, noch nicht genug waffenmäßig organisiert wäre.

So ging er denn zum Wiking über, jener halb im Dunkel arbeitenden Organisation des Kapitäns Erhardt. Das bronzene Wikingerschiff auf dem Ärmel, den Gardestern auf dem Kragen, so tat er verbissen seinen Dienst, übte Aufmarsch um Aufmarsch, Handgranatenwerfen und militärischen Drill immer aufs neue. Hier im Wiking wehte Putschlust, ging das Abenteuer um. Und doch spürte schon nach wenigen Wochen Horst Wessel genau, daß auch hier jenes Letzte fehlte, dem [600] er sich freudig und bis ins Innerste angerührt hätte hingeben können. Zunächst glaubte er noch, daß der Mangel bei ihm läge, daß er vielleicht noch nicht genug tue im Dienen, und so verschärfte er seine äußere Hingabe an diese Organisation bis zur völligen Aufopferung und Erschöpfung. Was galten nun Schule und Elternhaus? Bis tief in die Nacht hinein arbeitete er für den Wiking, kam todmüde für wenige Stunden Schlafes nach Hause und konnte doch die Ruhe nicht finden. In der schweigenden Nacht quälte er sich, was es sein könnte, das ihn des Dienstes niemals ganz froh werden ließ, ihn niemals, auch bei den größten Leistungen nicht, ganz beglückte. Stets sprachen die alten Kameraden im Bund, die den Krieg überstanden hatten, von den alten Zeiten. Kam das Wort "Zukunft" überhaupt in ihrem Denken vor? Redeten sie nicht ständig davon, daß es wieder einmal so werden müßte, wie es gewesen war, bevor diese roten Verbrecher die Front erdolchten und das Reich in den Abgrund stießen?

Horst Wessel litt schwer. Konnte denn überhaupt das, was gewesen war, wiederkehren? Und wenn dies unmöglich war – und alles in dem Jungen wehrte sich dagegen, daß es möglich sein könnte –, was konnte dann an die Stelle jener großen Leere treten, die sich für die Zukunft auftat? Konnte überhaupt diese Zukunft, dieses neue Deutschland, an das sie alle so fanatisch glaubten, aus den Läufen der Maschinengewehre kommen?

Zermürbendes Fragen. Immer sicherer nur die Überzeugung, daß auch die Führer des Bundes selbst keine Antwort zu geben vermochten, ja daß sie zum Teil diese Fragen überhaupt nicht begriffen und also – eine furchtbare, aber auf die Dauer nicht fernzuhaltende Erkenntnis – überhaupt keine Zukunft besaßen. Mit ihnen dann aber auch nicht der von ihnen geführte Bund, der also unfähig war, die Revolte von 1918, den Marxismus und die Republik des Diktatfriedens von Versailles zu überwinden.

Die sogenannten nationalen Verbände waren ein Irrtum, weil sie zwar Waffen besaßen, Fanatismus und Gehorsam, aber das Herzstück nicht, die Idee des neuen Reichs. Der Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1923 schlug diese Idee in die Erde hinein, sie flog nicht herüber nach Norddeutschland, und auch Horst Wessel erkannte sie nicht, nun sie einige Tage im Mittelpunkt des Geschehens gestanden hatte, sein Herz erkannte sie nicht, so leidenschaftlich es sich gerade nach ihr verzehrte.

So blieb zunächst nichts übrig als der Abschied vom bisherigen Leben. Tief enttäuscht, verzweifelnd am bisherigen Bemühen, nicht aber hoffnungslos in der Zuversicht, doch die rechte Stelle zu finden, warf sich Horst Wessel auf die lange vernachlässigte Tagesarbeit der Schule. Er machte sein Abitur und zog auf die Universität.

Aber nur eine kurze Zeit hält er es aus bei den trockenen Vorlesungen über römisches Recht. Am 24. Februar 1925 hatte Adolf Hitler die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei aufs neue gründen können, und sie faßte nun auch Wurzel [601] in der Hauptstadt des Reiches. Als das erste Semester Horst Wessels zu Ende geht, da steht er in den Reihen der auferstandenen Partei. Allzusehr hatte die Politik ihn bereits erfaßt, als daß er ohne sie hätte leben können, und da alle anderen Organisationen versagt hatten und nun diese neue sich darbot, so kam er aus Enttäuschung und wohl vielleicht mit wenig Hoffnung zu ihr, und gerade hier, wo er keine stürmische Begeisterung, keine fanatische Bereitschaft mitbrachte, geschah ihm das Wunder, daß ihm die Idee gegenübertrat, die zu erkennen er sich so sehr in den vergangenen Jahren bemüht hatte. Staunend, überwältigt, hingerissen, nahm er die neue Lehre auf; ja, das war es, was er in manch schlafloser Nacht dunkel gefühlt hatte, das aber zu klarer Erkenntnis zu bringen ihm immer die Kraft gefehlt! Hier war, was er bei allen anderen vermissen mußte: das neue Deutschland, die Vision der Zukunft, das Dritte Reich.

Mit Feuereifer wirft er sich, im Innersten gepackt und angerührt, ein Verwandelter, der die Erleuchtung empfing, in die Arbeit für die Bewegung. Jetzt wußte er, daß es der Sozialismus war, der in all jenen nationalen Verbänden gefehlt hatte, und daß dieser Mangel die Überwindung des Novemberstaates unmöglich gemacht hatte. Und da er gewöhnt war, alle Dinge, die er tat, ganz und bis aufs äußerste zu tun, so nahm er nun auch die nationalsozialistische Idee völlig und bis in ihre radikalste Verpflichtung in sich auf. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, als er begriff, daß es der Klassenkampf war, der das Volk in das Verderben gestoßen hatte, und daß dieser Klassenkampf eine Erfindung der Marxisten war, die ihn nur zu seiner letzten Konsequenz entwickelten, sondern daß der Klassenkampf des Arbeiters erst in dem Augenblick einsetzte, als das Bürgertum ihn von seiner Seite eröffnete und den deutschen schaffenden Menschen zum Proletarier zu degradieren versuchte.

Hier nun erkannte auch der Korpsstudent Horst Wessel, daß es niemals wieder ein Deutsches Reich geben würde, wenn es nicht gelang, den deutschen Arbeiter aus dem Proletariertum herauszureißen, ihm das Bewußtsein seines Wertes wiederzuverschaffen, den Klassenkampf völlig zu vernichten und durch die Volksgemeinschaft aller Schaffenden zu ersetzen. Mit Leidenschaft bekannte er sich zum deutschen Arbeiter. Ihn zu gewinnen für die Idee Adolf Hitlers, erschien ihm wichtiger als die Überzeugung der Gebildeten. Mit beißendem Hohn und ingrimmigem Haß verfolgte er jene Elemente des Bürgertums, die in Dünkel und Hochmut – mochten sie nun auf die Farben Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gold verschworen sein – sich noch immer vermaßen, auf den Mann im Arbeiterkittel von oben herunterzusehen, in ihrer eingebildeten Dummheit überhaupt nicht begreifend, daß sie gerade damit dem Marxismus, den sie doch, wenigstens soweit sie die schwarz-weiß-rote Fahne aufzogen, zu bekämpfen vorgaben, erst und immer wieder die Grundlagen seiner Existenz lieferten.

Aber Horst Wessel war nicht der Mann, der es sich an der theoretischen Erkenntnis dieser Tatsache genügen ließ. Er machte Ernst mit ihn, auch für sein [602] persönliches Leben. Er fand, daß es nicht anginge, diese Grundsätze überall in den Versammlungen, bei den Aufmärschen und auf den Abenden der SA zu verkünden – und er war bald ein gesuchter Redner des Gaues Berlin, der in der Zahl der von ihm abgehaltenen Versammlungen nur wenig hinter dem Gauleiter Dr. Goebbels zurückstand –, wenn man nicht selbst so lebte, wie man es als notwendig für die Wiedergeburt des deutschen Volkes verkündete. Gerade er, der aus dem Bürgertum herkam, der Korpsstudent war, der niemals bisher von eigener Hände Arbeit sich seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen, er mußte zum Arbeiter als Arbeiter gehen, um ihm zu zeigen, daß der Klassenkampf von oben in der Nationalsozialistischen Partei wirklich aufgehört hatte und daß somit auch der Klassenkampf von unten in ihr seine selbstmörderische Berechtigung verloren hatte.

Nicht alle aus seiner bisherigen Umgebung verstanden ihn, und es gab manche unter seinen Mitstudenten, die die Nase rümpften über den Plebejer Horst Wessel, der sich da plötzlich entpuppt hatte und nun als Taxischofför und als Bauarbeiter an der Untergrundbahn sich kümmerlich ein paar Pfennige verdiente, der in einer Proletenbude da irgendwo in der finstersten Arbeitergegend hauste, anstatt mit dem Gelde seines Vaters ein anständiges Studentendasein zu führen. Aber seine Sturmkameraden aus der SA und die Berliner Arbeiter, denen er den Nationalsozialismus predigte, die verstanden genau, was Horst Wessel ihnen damit sagen wollte, und so war er es auch, der in kürzester Frist den besten Sturm Berlins zusammenschweißte, eine Schar von Männern hinstellte, die für ihn blindlings durchs Feuer gingen und einen Arbeiter nach dem anderen den kommunistischen und marxistischen Organisationen abnahm und der nationalsozialistischen Bewegung gewann.

Wieder wie vor Jahren in der Bismarck-Bewegung und im Wiking arbeitete er Tag und Nacht. Keine freie Stunde, die nicht der Bewegung und seinem Sturm gehörte. Keinen Pfennig, den er nicht opferte. Mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der er selbst alles, was er war und was er hatte, der Bewegung verschrieb, verlangte er von seinen Leuten gleichfalls den letzten Einsatz. Da sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten und daß er niemals ein Opfer von ihnen forderte, das er selbst nicht zuvor gebracht, so folgten sie ihm. Sein Leben wurde die größte Propaganda. Er zeigte den Nationalsozialismus nicht in Worten, sondern mit der größten Tat, die überhaupt möglich ist, mit der Verwirklichung im eigenen Sein.

Niemals ging er von der Front zurück, und die Front stand für ihn dort, wo der Bolschewismus am stärksten, Berlin am rötesten war.

Darum auch hatte er sich den Trupp 34 im Bezirk Friedrichshain ausgesucht, den er dann zu dem berühmten Sturm 5 machte. Bald kamen Warnungen. Seine Werbearbeit ließ die Kommunisten ihren ganzen Haß und ihre ganze Abwehrkraft auf ihn vereinigen. Täglich mußten sie zusehen, wie Arbeiter, die sie fest [603] in ihrer Hand zu halten glaubten, die bolschewistische Lehre verließen und sich einreihten in die Partei, die Horst Wessel darstellte. Führer der kommunistischen Organisationen rieten persönlich dem Sturmführer 5, seine Arbeit abzubrechen und sich lieber einen anderen Propagandaplatz auszusuchen als gerade die Hochburgen der Berliner Sowjetmacht. Dieser Mann imponierte selbst ihnen, und sie erklärten ihm, daß es ihnen leid tun würde, wenn sie mit anderen Mitteln seine fernere Arbeit verhindern müßten.

Horst Wessel sprach von diesen Andeutungen niemals zu seinen Kameraden. Nur noch verbissener, nur noch zielbewußter nahm er die Arbeit jeden Morgen wieder auf, wo er sie spät in der Nacht hatte lassen müssen. Keine Versammlung, kein Aufmarsch, die er versäumt hätte. Nacht für Nacht schlichen er und seine Getreuen nach schwerem Saalschutzdienst oder kampfesreicher Propagandafahrt nach Hause, immer gewärtig, noch im letzten Augenblick, bevor die schützenden Haustore sich hinter ihnen schlossen, von einer roten Kugel aus dem Hinterhalt niedergestreckt zu werden.

Horst Wessel an der Spitze seines Sturmes in Nürnberg, 1929.
Horst Wessel an der Spitze seines Sturmes in Nürnberg, 1929.
[Bundesarchiv, Bild 147-0503 / CC-BY-SA 3.0, nach wikipedia.org.]

Schwer litt die Mutter in diesen Jahren unter der steten Sorge um den Sohn, die nur noch größer wurde dadurch, daß auch der jüngere Bruder Werner SA-Mann wurde wie Horst. Auch die Parteiführung erkannte, daß irgendwann einmal Horst Wessel von den Kommunisten niedergeschlagen werden mußte, daß sein Vorbild zu leuchtend, zu anziehend war, sein Leben zu kämpferisch und zu bedingungslos der Bewegung anheimgegeben, als daß nicht endlich doch die Kommune den Entschluß hätte fassen können, mit Gewalt den Mann zu beseitigen, der ihr einen deutschen Menschen nach dem anderen entriß. Die Parteiführung aber wollte Horst Wessel nicht in den sicheren Tod schicken, sie wollte diesen kostbaren Menschen erhalten, ihn aus der ständigen Bedrohung herausnehmen, und so bot sie ihm den Posten eines Standartenführers in Greifswald an, indem sie ihm zugleich vorstellte, daß er dort seine Studien abschließen könnte. Horst Wessel lehnte ab. Hier sei er notwendig, so sagte er, wo der Kampf um die Seele des deutschen Arbeiters geführt werde, hier bliebe er auch, bis der Letzte dem Führer gewonnen wäre und die Hakenkreuzfahne aus jedem Fenster flattere. Er bäte deshalb, von der vorgesehenen Beförderung Abstand zu nehmen und ihn bei seinem Sturme 5 und im Friedrichshain zu lassen.

Seine Mutter hatte gehofft, ihn mit einer Einladung seines Onkels nach Südamerika zu verlocken. Eindringlich stellte sie ihm vor, daß er wohl nie wieder Gelegenheit bekäme, die Welt zu sehen, wenn er diese Einladung ausschlüge. Horst Wessel tat es trotzdem. Das Schicksal hatte ihm den Weg vorgeschrieben, und diesen Weg ging er, ohne zu schwanken, zu Ende. Er trug den Nationalsozialismus in die deutsche Arbeiterschaft, er zerbrach eine Bastion des Kommunismus nach der anderen, und während er so in unermüdlicher Kleinarbeit, in hinreißender Treue, in nimmer endender Bereitschaft seinen Dienst tat, ein Berliner Sturmführer, ein Berliner Arbeiter unter Millionen anderer Arbeiter, [604] ein Propagandist der Bewegung unter tausenden, wurde er Vorbild, Symbol, Lebensausdruck des vom Führer gesehenen nationalsozialistischen Menschen der Zukunft.

Er selbst merkte es nicht, aber die anderen spürten es und begannen auf ihn zu sehen. Seine Lieder, die er für seinen Sturm schrieb, wurden in wenigen Wochen von der ganzen SA gesungen. Aus ihm sang die Bewegung selbst, durch seinen Mund sprach sie aus, was sie dachte und fühlte, wie sie kämpfte, litt, glaubte und siegte. Und so gelang ihm auch das, was mit dem Verstande und mit dem Willen niemals einem Menschen gelingen kann, eine Hymne zu dichten, eine Hymne, die sogleich und bedingungslos von allen anerkannt und begriffen wird als der wirkliche Ausdruck einer Idee, als ein Lied, von dem man in dem Augenblick, da es zum erstenmal über die Lippen springt, sofort weiß, daß es gerade dieses Lied war, das bislang fehlte und dessen bisheriges Fehlen man in dem Augenblick erst ganz empfindet, wo es nun da ist und die Herzen emporreißt, nicht heut und morgen, sondern für alle Zeit.

So geschah es Horst Wessel, als er das Lied der Bewegung fand, als es der nationalsozialistische Geist aus seinem Herzen hervorsang: "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen!"

Im Augenblick, als Deutschland nationalsozialistisch wurde, wurde dieses Lied mit Recht seine andere Nationalhymne.

Einen Tag vor dem Weihnachtsfest 1929 verunglückte Werner Wessel tödlich beim Skilaufen im Riesengebirge. Die Nachricht traf Horst auf das schwerste; war er es doch gewesen, der dem Bruder geraten hatte, mit einigen Berliner Nationalsozialisten in das Gebirge zu fahren. So schrieb er sich in seiner geraden Art, die sich vor keinerlei Verantwortung jemals gescheut hatte, die Schuld am Tode des Bruders zu. Er selbst fuhr nach Schlesien und brachte den Verunglückten in martervoller Nachtfahrt über vereiste Straßen im Lastwagen nach Berlin. Noch bevor das Jahr zu Ende ging, trug die Berliner Bewegung den jungen Toten wie einen Fürsten zu Grabe. Als der Sturm 5 nach der Beerdigung durch die Jüdenstraße marschierte, stand Horst Wessel am Fenster und grüßte stumm mit erhobenem Arm seinen Sturm, der ihm so mit dem schweigenden Marsch durch die Winternacht ein wenig von dem vergalt, was Horst Wessel ihm gegeben.

Die Arbeit der vergangenen drei Jahre hatte Horsts Gesundheit schwer erschüttert. Der Tod des Bruders warf ihn aufs Krankenbett. Eine Zeit schwebte er zwischen Tod und Leben, aber dann überwand er das Fieber. Es war nicht seine körperliche Kraft, die die Krankheit besiegte, es war sein fanatischer Wille, nicht auszuscheiden vor dem Tag, da Hitlerfahnen über allen Straßen wehen sollten. Jetzt, da es hineinging in das Jahr 1930, konnte er, wollte er seinen Sturm nicht allein lassen. Die Mutter, die Schwester, die treuen Kameraden, sie flehten ihn an, wenigstens nicht wieder in sein möbliertes Zimmer in der Frankfurter Straße zurückzukehren, sondern sich zu Hause in dem stillen Pfarrhaus völlig gesundpflegen [605] zu lassen. Tag für Tag bestürmten sie den Genesenden, bis er endlich seine Einwilligung gibt. Aber nur für kurze Zeit soll seine Zustimmung gelten, nur so lange, bis er wieder ganz bei Kräften ist.

Den Kameraden fällt ein Stein vom Herzen. Sie wissen von den kommunistischen Plänen, Horst Wessel zu beseitigen; es gibt überall Spitzel, die solche Pläne verraten. Seit einiger Zeit schon hatte der Sturm, ohne daß Horst Wessel es wußte, eine besondere Schutzwache vor sein Haus postiert. Nun endlich war es gelungen, ihn aus dieser gefährlichen Lage herauszuführen. Wenn auch sein Leben bedroht blieb, so schien es doch, als würden die kommunistischen Terrorgruppen es nun schwerer haben, es auszulöschen, als vorher.

Horst Wessel hätte zu Hause bleiben können, er hätte niemals wieder in diese Wohnung, die einer kommunistischen Wirtin gehörte, zurückzukehren brauchen. Seine Sturmkameraden hätten ihm die wenigen Sachen gebracht, die noch in seinem Zimmer in der Frankfurter Straße lagen, ein paar Uniformstücke, ein paar Bücher, etwas Wäsche. Seine Mutter wollte es so, seine Kameraden wollten es auch. Aber wie er sich geweigert hatte, den Posten in Greifswald zu übernehmen, wie er es ausgeschlagen hatte, auf eine Weltreise zu gehen, so weigerte er sich auch jetzt und schlug die Hilfe der Kameraden aus. Selbst wollte er seine Sachen nach Hause bringen.

Am Nachmittag des 14. Januar machte er sich auf. Seine Wirtin empfing ihn mit scheelen Augen. Kaum war er im Zimmer, als sie in das nächste Kommunistenlokal lief. Eine Viertelstunde später schlichen Verbrecher und Zuhälter, geführt von einer kommunistischen Jüdin, die Treppe zur Wohnung Horst Wessels empor. Zweimal zögerten selbst diese hartgesottenen Kreaturen. Zweimal peitscht sie die Jüdin vorwärts. Dann endlich ist es so weit. Es klopft an der Tür Horst Wessels. Ahnungslos ruft der vom Schicksal Bezeichnete "Herein!", wähnend, es sei einer seiner Sturmkameraden. Er öffnet selbst die Tür. Viele Schüsse fallen. In den Mund getroffen, bricht Horst Wessel zusammen. Die Mörder flüchten in ihr Lokal, bei Schnaps und Bier wird der Sieg gefeiert.

Aber Horst Wessel ist nicht tot. Im Krankenhaus am Friedrichshain mühen sich die Ärzte verzweifelt, sein Leben zu erhalten.

Nicht nur die Berliner Bewegung, ganz Deutschland ist wie erstarrt, als die Mordtat bekannt wird. Ein jeder, Freund und Feind, spürt, daß hier eine Entscheidung gefallen ist und daß diese feige Tat eine andere ist als die vielen politischen Überfälle, von denen die Zeitungen täglich berichten. Die Kommunistische Partei verhilft eilends mit gefälschten Pässen den Verbrechern zur Flucht. Einen vollen Monat lang bangt die nationalsozialistische Bewegung um das Leben Horst Wessels. Einmal scheint es so, als wollte der Tod doch an ihm vorübergehen. Das Fieber geht zurück, der Schwerverwundete kann beglückt seinen Gauleiter empfangen, seine Sturmkameraden sehen. Da setzt die Kommune zu einem neuen Schlage an. Horst Wessel sollte nicht länger leben, durfte nicht länger leben. Sie [606] befiehlt den Sturm auf das Krankenhaus, aber irgendeiner aus der KPD hat nun doch eine anständige Regung. Ein anonymer Zettel verständigt die Schwester Horst Wessels von dem geplanten Überfall, und als die Kommunisten zum Angriff antreten, da steht der Sturm 5 in den Gängen des Pavillons, wo der auf den Tod Verwundete liegt, und schlägt mit Erbitterung in einem viertelstündigen Kampf die Kommunisten zurück. Von diesem Tage an steht das Krankenzimmer Horst Wessels unter ständigem SA-Schutz.

Aber die Treue kann den Tod nicht besiegen. Am 23. Februar 1930 stirbt Horst Wessel.

Das Opfer ist geschehen.

Aus seinem vergossenen Blut erhebt sich, für ewige Zeiten geweiht, das Dritte Reich.

Das Horst-Wessel-Ehrenmal auf dem alten Friedhof von St. Nicolai in Berlin.
[600b]      Das Horst-Wessel-Ehrenmal
auf dem alten Friedhof von St. Nicolai in Berlin.

[Bildquelle: Presse-Bild-Zentrale, Berlin.]




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz