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[Bd. 5 S. 428]
Wilhelm Busch, 1832-1906, von Friedrich Castelle

Wilhelm Busch.
Wilhelm Busch.
Photo von Edgar Hanfstaengl, München 1878.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Die großen Niederdeutschen, die in deutsches Wesen und deutsche Volkheit hineingewachsen sind: die Droste, Wilhelm Raabe und Wilhelm Busch, sind deshalb so kerndeutsche Menschen, weil ihre enge Umwelt in der Not der schöpferischen Bedrängnis ihnen die raumschaffende Weite für ihre Gesichte und Gestalten gegeben hat. Von einer stillen Wasserburg geht der Lebensstrom der Droste aus. Wilhelm Raabe kommt vom Solling, aus Eschershausen, in dessen Nähe das Kloster Amelungsborn Jahrhunderte hindurch seine geistige Wirksamkeit ausströmte. Wiedensahl, der Geburtsort von Wilhelm Busch, liegt in der Nähe des als Baudenkmal berühmten Klosters Loccum. Was allen dreien die Umwelt gegeben hat, vertiefte sich innerlich durch die Einsamkeit ihrer Lebensgestaltung.

Wilhelm Busch ist am 15. April 1832 geboren, ein halbes Jahr später als Wilhelm Raabe. Beide sind sich nie begegnet, trotzdem sie sicher manches Mal in Wolfenbüttel aneinander vorbeigegangen sind. Sie waren eben zwei Naturen von jener niederdeutschen Eigenwilligkeit, die sich ganz auf sich selbst stellt. Busch hat niemals über Raabe ein Wort fallen lassen. Raabe hat, bei aller ehrlichen Bewunderung für Wilhelm Busch, die großen Erfolge dieses seltsamsten deutschen Künstlers einmal ein "ethisches Armutszeugnis des deutschen Volkes" genannt und in seiner schroffen, unwirschen Art dann gesagt: "Er war eigentlich ein Marterkasten." Wie ganz anders klingt dagegen das Wort, das ein anderer niederdeutscher Dichter, Hermann Löns, 1901 über Wilhelm Busch schreibt: "Unsere ganze Banda, die Maler, verehren ihn hoch, stellen ihn neben Goethe. Ich auch. Hier geht die Sage, er ekle sich selber vor seinen Werken. Das wäre schade, denn was der Mann, abgesehen von dem malerischen und künstlerischen Wert seiner Werke, für die Stärkung des Deutschtums, des Reichsgedankens und des Stammesbewußtseins getan hat, das ist doch sehr dankenswert."

Diese beiden gegensätzlichen Urteile offenbaren die gegensätzliche Welt, in die Wilhelm Busch hineingestellt war und aus der er mit der Sicherheit eines gesunden Stammes herauswachsen mußte. Seine Jugend ist dörflich-still. Das kleine Wiedensahl, nahe der Grenze von Schaumburg-Lippe und dem ehemaligen Herzogtum Westfalen, hat nur eine Straße des Lebens, an der sich beiderseits die schlichten Häuser der Ackerbürger reihen, mit dem großen Dielentor zur Straße. Die Wohnräume schon liegen, so auch in dem heute endlich unter Mitwirkung der Wilhelm-Busch-Gesellschaft wieder hergerichteten Geburtshause des Künstlers, [429] zum kleinen Hausgarten und gehen dann mit weitem Blick in die fruchtbare Ebene hinaus. Kleine Ackerbürger sind auch die Eltern, aber der neunjährige Junge kommt nach Ebergötzen bei Göttingen zu dem Bruder seiner Mutter, dem Pastor Klein. Hier erschließt sich ihm die Welt, die durch die Nachbarschaft von Loccum schon in den dörflichen Vorfahren ungeahnt schlummerte. Hier liest der Knabe die großen Schöpfungen der Weltdichtung, den Homer, die Bibel, den Don Quichotte. Hier wird sein Sinn geweckt für die geheimnisvollen Offenbarungen der Natur, die auch dem verwegensten Karikaturisten Busch immerdar untrüglichste Lehrmeisterin geblieben ist. Der Fünfzehnjährige geht 1847 als "Maschinentechniker" auf die Technische Hochschule in Hannover; merkwürdig: ein Gedicht, ein Sonett, öffnet ihm die Tore der Wissenschaft. Das Revolutionsjahr 1848 überbraust und erschüttert ihn mit den Stürmen einer jähen Revolution, die leider keine Volkwerdung bringen konnte und daher jenen herben Pessimismus weckte, der das geistige Deutschland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht und bedrückt. Busch geht in dieser Stimmung 1851 nach Düsseldorf, "um Maler zu werden", wie es in der Abgangsbestätigung von Hannover heißt. Ein Jahr Düsseldorfer Kunstakademie macht ihn in fremder Umwelt einsam und verschlossen. Ein Malerfreund geht nach Antwerpen und zieht 1852 auch Wilhelm Busch dorthin. Der junge Künstler wohnt in Antwerpen an der Kaasbrück bei dem Bartscherer Jan Timmermans, einem der Vorfahren des heute in Lier bei Antwerpen wohnenden Dichters und Malers Felix Timmermans.

Antwerpen ist für Wilhelm Busch das große Erlebnis. Die Kunstgeschichte hat diese Zeit wohl dann und wann die Tragik seiner Jugend genannt, weil Busch hier ganz in den Bann der alten Niederländer gerät. Wer sein Werk tiefer anschaut, der weiß, daß diese Zeit in Wirklichkeit die große Offenbarung für ihn werden sollte und mußte. Denn hier spürte der vereinsamte Niederdeutsche stammverwandtes niederdeutsches Blut. Hier auch steigen schon die Ahnungen seiner späteren schöpferischen Sehnsüchte auf. In dem großen Antwerpener Museum lachen an den Wänden all die köstlichen Lebensbilder der niederländischen Kleinmeister des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, jener Künstler, die wir Kleinmeister nennen, weil sie ihre Freuden und Leiden und die Leiden und Freuden des Volkes meist auf Holzplatten von geringem Ausmaß niedergeschrieben haben: Gerd Dou, Jan Vermeer van Delft und die unzähligen berühmten und weniger berühmten Bildner, die hier das Leben des Volkes in all seiner bunten Vielgestaltigkeit wiedergeben: die Schlachtfeste, die Eisvergnügungen, die Tanzereien, die Schlägereien und was sonst zu den Behaglichkeiten oder auch Unbehaglichkeiten des Lebens zu zählen ist. Wir wissen von Busch selber, daß er diesen Meistern, in deren Art er leidenschaftlich malt, sein Leben lang Dank gesagt hat, denn sie haben ihn den raschen, sicheren Griff ins Menschentum gelehrt. Aber neben diesen Kleinmeistern hängt einer, den Busch stets als den größten Menschendarsteller aller Zeiten verehrt hat: Frans Hals, der herrliche [430] Porträtist, der mit seinem breiten, wuchtigen Pinselhieb in zwei, drei Strichen einen ganzen Menschen hinhaut. Sollte nicht hier die Umrißkunst von Wilhelm Busch ihre Urgründe haben?

Wilhelm Busch: ‘Alte Frau'.
Wilhelm Busch: "Alte Frau".
Ölgemälde, 1852.
Hannover, Wilhelm-Busch-Museum.
[Bildarchiv Scriptorium.]

Selbstbildnis, 1866.
Wilhelm Busch.
Selbstbildnis, 1866.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 414.]
Mit einem Schock Ölbilder "in Rembrandt-Manier" geht Wilhelm Busch nach einem Jahre aus Antwerpen fort. In seinen Alterstagen hat er diese Bilder einmal vernichten wollen. Man hat sie gerettet, und heute sind sie wertvolle Besitztümer der besten deutschen Bildsammlungen. Der Entschluß des Künstlers, diese Schöpfungen zu vernichten, kam wohl aus der gleichen Bedrückung, mit der er Antwerpen verließ. Er erkannte die Unzulänglichkeit der malerischen Befähigung, die ihn beim Abschied von Antwerpen so sehr ergriff und ihn über ein Jahr mehr lebensunmutig als krank nach Wiedensahl zurücktrieb. Aber der Kranke genest an dem Quell lautersten deutschen Volkstums. In jenem Heimatjahre sammelt er aus dem Munde seiner dörflichen Landsleute Volkssagen und Märchen, zunächst aus Zerstreuungssucht, dann aber doch wohl in dem Gefühl, daß hier Schätze ruhten, die gehoben werden mußten. Später hat er sie dann unbeachtet gelassen. Erst nach seinem Tode sind sie in einem Sammelbande Ut ôler Welt veröffentlicht worden, und nun erkannte man, daß sie zum Teil wertvolle Ergänzungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm waren, die ja unter Mitwirkung der Droste ebenfalls ganz aus niederdeutschem Volkstum gewachsen sind.

Wilhelm Busch mußte dieses Jahr der Einkehr auf sich nehmen, um sich selber endlich zu finden. Die Entwicklung des niederdeutschen Menschen geht langsam und zäh, aber dann um so sicherer. Er mußte noch einmal in der Heimat sein, mußte wieder verwachsen mit dem heiligen Mutterboden, mußte Wurzel schlagen, um im Sturmwind der Entwicklung stehen zu können. 1854 im Herbst geht er auf die Kunstakademie nach München. Er gerät in den großen Wandel der Zeit. Das deutsche Volk befreit sich langsam von der niederdrückenden Entmutigung der vierziger Jahre. Es wartet auf die große geistige Erlösung, die kommen muß, wenn nicht alle Triebkraft erstickt werden soll. München selbst lebt im Taumel königlicher Kunstfreudigkeit dahin. Am Hofe führen Dichter und andere Künstler das Leben behaglicher Untätigkeit. Sturm muß kommen übers Land, und dieser Sturm braust 1859 plötzlich einher: Schillers hundertster Geburtstag weckt in der deutschen Menschheit jene große Sehnsucht, die sich drei Vierteljahrhunderte später, 1933, endlich verwirklichen sollte und der Wilhelm Raabe in seinem großen Gedicht zu Schillers hundertstem Geburtstag als einziger deutscher Dichter Worte verliehen hat, die eigentlich erst uns Menschen des Dritten Reiches verständlich geworden sind, die uns beglücken, weil sie Erfüllung bedeuten:

      Um einen Führer scharen sich die Stämme,
      Die Schranken fallen ein, gebrochen sind die Dämme,
[431] Der Franken Herz, das Herz der Schwaben, Bayern, Sachsen,
      Zum Herz des Vaterlands in ihm zusammenwachsen.
      Die Glocken hallen, und die Banner wehen
      Dem schönen Feste, das wir heut begehen.
      Die Herzen schlagen, und die Augen glänzen
      Dem stolzen Bilde, das wir heut bekränzen.
      Am Krönungstag des Geists, in Tat, in Wort, in Liedern
      Ein einig-einzig Volk, ein einzig Volk von Brüdern."

Was ohne Beachtung dieser deutschen Weltgeschehnisse vielleicht nebensächlich klingen könnte, jene beiläufige Bemerkung, die Wilhelm Busch einmal in einer kleinen Lebensbeschreibung Was mich betrifft gemacht hat: "so etwa im Jahre 1859 brachten die Fliegenden Blätter die erste Zeichnung mit einem Text von mir" – das wird heute letzte Erkenntnis jener Wandlung, die auch Busch durchmachen mußte. Fünf Jahre hatte er verträumt und vertändelt, im fröhlichen Umkreis fröhlicher Genossen, plötzlich ein übermütig aufgeschlossener Mensch, der in Kneipzeitungen und auf Einladungskarten zu Festlichkeiten alle aufgespeicherte Kraft vergab, der für seine Musikfreunde Grotesken und Singspiele schrieb, der in launigem Behagen sich und seine Freunde konterfeite und karikierte, nicht bloß von der Schauseite, sondern vor allem auch aus jener Humorigkeit heraus, die an sich selbst und an den lieben Mitmenschen erfahren hat, daß die Kehrseite oft viel wertvoller, weil wahrhaftiger ist, daß das "Sonntagsnachmittagsbeinbekleidungsstück" des ehrenwerten Herrn Tobias Knopp an der Stelle, wo der Rücken des Menschen einen anderen Namen bekommt, viel schönere Gesichter zu schneiden vermag als das freundliche Antlitz, das wir uns immer so liebenswürdig entgegenhalten.

Diese ganze überschwengliche Zeit ist mit einem Male wie weggeblasen, da die Arbeit für die Fliegenden beginnt. Sie ist eigentlich zunächst eine kleine Verlegenheitsarbeit gewesen: Wilhelm Busch hatte dem Verleger der Fliegenden Blätter, dem prächtigen Caspar Braun, einen Beitrag versprochen. Es fiel ihm nichts ein, und so nahm er als "Text von mir" einen jener Volksschwänke, die er in dem Krankheitsjahr der Jugend daheim aufgezeichnet hatte, die berühmte Geschichte vom Mann ohne Kopf: "Es war einmal ein unvernünftig harter Winter..." Diese Geschichte erschien mit den ersten Zeichnungen von Busch und erregte gleich großes Aufsehen. Bis dahin waren die Fliegenden Blätter politisch-satirische Streitschrift gewesen. Hier, in einem winzig bescheidenen Ansatz, gab Wilhelm Busch jener stillen Sehnsucht nach schlichter Volkwerdung Ausdruck und fand gleich Widerhall. Hinzu kam freilich auch seine Art, zu zeichnen. Während die Holzschneider der Zunft mit dem Stichel jedes Fäserchen aus dem Holzblock herausholen mußten, um ein einigermaßen ebenmäßiges Menschenbildnis zu schaffen, kam hier ein Frechling, der einfach wie mit [432] der Peitsche ein paar Hiebe auf das Papier setzte und größere Wirkung erzielte als alle Zunftgenossen.

Wilhelm Busch: Sitzender Bauer, Bleistiftzeichnung.
[436b]      Wilhelm Busch: Sitzender Bauer, Bleistiftzeichnung.
Hannover, Wilhelm-Busch-Museum.

Aus ‘Die fromme Helene' von Wilhelm Busch.
[435]      Aus "Die fromme Helene"
von Wilhelm Busch.

[Bildquelle: Bassermannsche Verlagsbuchhandlung,
München (aus Wilhelm-Busch-Album,
Humoristischer Hausschatz).]
Und nun begann das Werben um Wilhelm Busch. Heft um Heft erschienen seine Zeichnungen und Verse. Es wurde ein unablässiges, überströmendes Schaffen, das ihn äußerlich ergriff und überwältigte. Man wollte ihn fesseln, bot ihm eine Professur an der Akademie an. Er lehnte lächelnd ab. Er brauchte nicht die Menschen; er, der niederdeutsche Bauernjunge, blieb Bauer und Niederdeutscher in der süddeutschen Umwelt. Und diese niederdeutsche Welt wurde immer lebendiger in ihm, je frischer sich seine Kunst entfaltete. Immer wieder geht er von München heimwärts. In Wiedensahl und in Ebergötzen und an anderen stillen Stätten macht er seine Naturstudien. Man muß einmal vor den Mappen und Schränken gestanden haben, um zu erleben, wie diese leichte Kunst von Wilhelm Busch, diese flotte, den lässigen Beschauer fast flüchtig anmutende Umrißkunst mühsam erarbeitet worden ist. Die Natur ist seine Lehrmeisterin. Ihr lauscht er in der stillen Einsamkeit alle Heimlichkeiten und Wunder ab. Wie mit dem Silberstift Albrecht Dürers sind seine Skizzen hingehaucht, das Wehen eines Blattes, das Schwirren eines Insektflügels, das wiegende Spiel eines Zitterhalmes. Mit Staunen erkennt man später in einer der fertigen Zeichnungen vielleicht eine Bewegung, einen Strich aus zwanzig und mehr Skizzen wieder.

Der Weg von der Studie zum fertigen Bild, zur fertigen Zeichnung, geht bei Wilhelm Busch eben immer in der gleichen Folgerichtigkeit der Vorarbeit. Auch seine Bildergeschichten, die den Hauptteil dieser Lebensjahre von 1860 bie 1880 ausfüllen, von Max und Moritz an bis zu der köstlichsten Tiergeschichte, die wir besitzen: Schnurrdiburr – die Bienen, sind mit zäher Treue geschaffen worden, in jahrelanger, ringender Not um die letzte, leichteste Ausdrucksform. Das gerade bleibt ja wohl auch zu allen Zeiten das große Geheimnis der Wirkung dieses Künstlers, der wie kein anderer die ganze Menschheit erobert hat, daß er eben aussparen kann und dem Beschauer die Möglichkeit läßt, nun mit seiner eigenen Phantasie auszufüllen, was der begnadete Künstler ihm in der goldenen Schale seiner wundervollen Verskunst darbietet.

Wilhelm Busch: Das Häschen.
[432a]      Wilhelm Busch: Das Häschen.
Aquarellierte Federzeichnung. Hannover, Wilhelm-Busch-Museum.

Ja, selbst all die Unannehmlichkeiten und Grausamkeiten, die den Ausspruch Wilhelm Raabes von dem "Marterkasten Wilhelm Busch" sicherlich bewirkt haben, sind in der goldigen Leichtigkeit der Zeichnungen und Verse schon stille Freuden, weil jeder Beschauer wenigstens unbewußt spürt: hier hat ein großer Lebenskämpfer und einsamer Mensch sich durchgerungen zu jener beglückenden Gelassenheit, mit der Wilhelm Busch an seinem siebzigsten Geburtstag all die lauten Huldigungen von sich wies:

      "Doch eines war mir oftmals recht verdrießlich,
      Besah ich was genau, so fand ich schließlich,
      Daß hinter jedem Dinge, höchst verschmitzt,
[433] Im Dunkel erst das wahre Leben sitzt.
      Doch wozu all das peinliche Gegrübel –
      Was sichtbar bleibt, ist immerhin nicht übel."

Um die Lebenswende, da Goethe, der "Mann von fünfzig Jahren", die Summe seines Lebens zog und die Schlangenhaut der Entwicklung abstreifte, da Raabe in die braunschweigische Heimat zurückkehrte und in jahrelangem Schweigen die gleiche goethische Sammlung suchte – um diese selbe Lebenswende zieht sich auch Wilhelm Busch in die Einsamkeit von Wiedensahl zurück und bleibt ihr hier und in Mechtshausen die letzten dreißig Jahre seines Lebens unabänderlich treu. Selten noch wagt er sich weiter in die Welt hinaus bis nach Bayern, bis nach Italien, bis an die Nordsee und bis nach Holland. Er

Skizzenblatt von Wilhelm Busch, 1892.
[438]      Skizzenblatt von Wilhelm Busch, 1892.
muß eben Ordnung in sein reiches Lebenswerk bringen und in der Stille die Bildergeschichten gestalten, die ihn bedrängen. Unablässig ist er tätig. Unübersehbar fast sind die Studien und Skizzen in seinem Nachlaß, reich und lebendig die Briefwechsel, die er mit der Welt führt.

Die Heimkehr von Wilhelm Busch in die Heimat ist zweifellos durch die Blutverbundenheit des Niedersachsen mit der Scholle beeinflußt worden, denn hier ruht ja sein Herz, hier ruht die geliebte Mutter, der Wilhelm Busch wohl eines der schönsten Erinnerungsgedichte deutscher Zunge gewidmet hat:

      "O du, die mir die liebste war,
      Du schläfst nun schon so manches Jahr,
      So manches Jahr, da ich allein,
      Du gutes Herz, gedenk ich dein.
      Gedenk ich dein, von Nacht umhüllt,
      Dann tritt zu mir dein treues Bild;
      Dein treues Bild, was ich auch tu –
      Es winkt mir ab, es winkt mir zu.
      Und scheint mein Wort dir gar zu kühn,
      Nicht gut mein Tun –:
      Du hast mir einst so oft verziehn –
      Verzeih auch nun!"

Die "gute alte Rausch- und Rumpelmühle zu Ebergötzen" zieht ihn immer wieder an. Dort hat er den letzten und schönsten Teil seiner Kinderjahre verlebt und schreibt davon einmal an seinen Freund, den Münchener Maler Franz Lenbach: "Noch immer erschüttert es mich, wenn das enge felsige Tal mich umfängt, in dem die Quellen sich zu dem Bach vereinigen, worin ich vor dreißig Jahren Forellen mit der Hand gefangen. Kein Ort ist mir so vertraut wie Ebergötzen. Ich lese es wie ein Buch, wie eine Chronik. Bei jedem neuen Besuche fange ich ein neues Kapitel an." Hier wohnt sein Jugendfreund Erich [434] Bachmann, mit dem er Freud und Leid seines Daseins teilt und dem er am 12. August 1907 nach Ems die besten Wünsche für seine Kur schickt – seltsam: an dem gleichen Tage, da dieser Lebensfreund dort die hellen Augen schließt.

Bildnis der Johanna Keßler.
Wilhelm Busch: Bildnis der Johanna Keßler.
Öl auf Leinwand, 1870-72.
[Bildarchiv Scriptorium.]

Wilhelm Busch.
[436a]      Wilhelm Busch.
Gemälde von Franz von Lenbach, ca. 1875.
Hannover, Wilhelm-Busch-Museum.
Neben Ebergötzen ist natürlich Wiedensahl die ewige Sehnsucht des Heimgekehrten. "Rücke ich", so schreibt er einmal an die befreundete Frau Keßler in Frankfurt, "wieder in mein gutes einsames Wiedensahl, so fühl ich: nur hier ist eine angestammte und angewöhnte Heimstätte, um die mich freilich wenige beneiden werden. Was schadt's? Reden nicht meine toten Freunde von den besten Dingen mit mir, wenn ich will? Darf ich nicht im Federkleide der Gedanken durch den Schornstein fliegen zu den Lebendigen?" Es ist die Gelassenheit des Mannes, der in sich selber ruhend auch sich selber ganz genügt, der den Konflikt mit der Welt, nach Goethe die wertvollere zweite Epoche des Lebens, in sich selber auszutragen vermag. Das sind die Zeiten jener großen inneren Erlebnisse, von denen Busch in mehreren Briefen an Lenbach so köstlich spricht, meist ein wenig zurückhaltend und zögernd, mit dem Gefühl eines Mannes, der sich ergebenst zurückzieht "ins Gedankenstübchen, welches stets gleichmäßig erwärmt ist", der als "Brillen-Besitzer oder ‑Beseßner" die Welt mit andern Augen ansieht, dessen Boot "wohl schon zu stark angefaßt ist von der Strömung des Katarakts auf dem Kongo der Zeit", an dem die Tage vorüberziehen "gleich den Telegraphenstangen an der Eisenbahn, die bekanntlich eine ausgeprägte Familienähnlichkeit haben", der "in die Jahre der bequemen Hausschuhe" gekommen ist, der wieder sich abgeliefert hat in die "aller bescheidenste Einsamkeit" und der kein Bedürfnis hat für das "Geknuff der Welt": "So ist man nun! – Die gewohnten Verhältnisse, und schienen sie dem andern noch so wenig wünschenswert, so ziehen sie uns vertraulich-schmiegsam in die alten Arme zurück. Mir ist, als wäre ich da und dort auf der Kirchweih gewesen, käme heim, zöge die Stiefel aus, die Hausschuhe an und dehnte mich im treuen, langerprobten Lehnstuhl aus..."

Der "graudurchwirkte Freund" fühlt sich eben "schon verpackt und petschiert für die Ewigkeit..." Eine gewisse Scheu, sich selber mitzuteilen, kommt hinzu: "Studenten, Handwerksburschen und Soldaten greifen nur ungern zur Feder ehe nicht der Wechsel oder die Hose oder die Butter zu Ende ist." Diese "eingewurzelte Federfaulheit, hervorgegangen aus bauernmäßiger Scheu vor schriftlichen Dokumenten", macht ihm auch den Abstand von der Welt leichter und weiter: "Gibt's doch ehrenmännische Autoritäten, die uns fest versichert haben, daß die Zeit ideal sei. Wer sich die Freud' macht, dran zu glauben, dem ist insoweit ganz wohl, dem kommt's auf ein paar tausend Jahre nicht an. Für den ist's egal, wann die Griechen ihre Schulden bezahlen. Zu sagen darüber braucht er nicht viel, weil die Sach' schon ohnehin unklar genug ist; nur tut er gut, derweil fein still abseits zu sitzen, wo er die Welt, die sogenannte, bloß leise summen und pfeifen hört wie die Dreschmaschinen am anderen Ende des Dorfes." – [435] Mittlerweile "hat der treue Kalender einen Tag nach dem andern verzeichnet in seiner gewohnten geräuschlosen Weise. Etwas Denkwürdiges ist mir nicht passiert, außer, daß die jungen Hänflinge im Efeu unter meinem Fenster glücklich ausgeflogen sind. Seit dem ist es still geworden".

Aber: "inzwischen handhabt die Zeit, die alte Urschel, unermüdlich den Besen und fegt das Gegenwärtige auf den Kehrichthaufen der Vergangenheit." Geschäftig huscht sie "in ihren Filzschuhen, mit dem Haarbesen in der Hand durch die beste Stube und kramt zwischen den Nippsachen herum, die wir so gern haben. Und oha! alle Augenblick klirrt es. Eigentlich ist's ja nur ein Spukeding, ein Phantom des Gehirns, aber wir glauben dran wie die Kinder ans Märchen, das ihnen die Großmutter hinter dem Ofen erzählt."

Es ist die gütige Weisheit des Philosophen, der da zu Neujahr 1900 schreibt: "Wir tun, als ob ein neues Jahrhundert begonnen hätte, und das ist falsch. Das letzte Jahr davon ist noch nicht ausgezahlt. Aber im Grunde ist's einerlei, denn die Zeit geht in einem fort, ob die Leute so oder so zählen." Es ist die große Gelassenheit des Menschen, der ein Jahr vorher schon an Lenbach schrieb: "Im Besonderen reitet ja jeder ins neue Jahr, wie ein Ritter in den verdächtigen Märchenwald, wo er nicht weiß, ob er von wohlmeinenden Feen geliebkost und bewohltätigt, oder von schlechtdenkenden Spukedingern potzgründlich versudelt wird; von Tod und Teufel ganz abgesehn."

[436] Aber diese Abkehr ist nicht etwa ein nutzloses Verzichten auf die Welt, ist nicht griesgrämige Stubenhockerei, sondern innigste Verwachsenheit mit der Natur und mit der umgebenden Welt. Wohl selten hat ein Künstler den Wandel und Wechsel der Jahresläufte mit solcher Inbrunst verfolgt und aufgezeichnet wie Wilhelm Busch in seinen Briefen, "besonders den werdenden Frühling, doch auch den fertigen Sommer, den sanft melancholischen Herbst und den frischen Winter im weißen Gewande". Wie köstlich ist etwa die folgende Winterschilderung an Lenbach:

"Es war grausam gemütlich. Man fühlte sich so weich und sauber verpackt wie eine Pflaume im Auflauf. Der Schlummer sanft und erklecklich. Zureisende Skrupel vermutlich irgendwo festgeschneit. Nur mal, noch ganz in dunkler Früh, wurd' ich aufgeschreckt und schmerzhaft horchend wach erhalten durch die Wehklagen eines der vielen Schweine, welche der Genußsucht alljährlich zum Opfer fallen. Jetzt wird's herausgezerrt aus dem lieben, duftenden Stalle; jetzt liegt's geknebelt; jetzt der Stich; Notwehr geboten und heftig ausgeübt; Blutverlust fast beruhigend, scheint's dann aber erst recht, dicht vor der Todesgewißheit, der höchste, gräßlichste Unmuth; dann röchelnde Entsagung; zuletzt Stille mit Nachdruck. Die Metamorphose in Wurst kann beginnen. Wahrlich! Gewisse Dinge sieht man am deutlichsten mit den Ohren. Und dann, nach der höchsten musikalischen Offenbarung, hegt man doch wieder leichtfertig seiner animalischen Nahrung nach, als ob man nichts gehört hätte, und als ob's keine Nachwelt gäbe, die, sagen wir mal im Jahre 1989, über ihre kannibalische Vorwelt recht abfällige Ansichten äußert; vermutlich. – Am kalten Tage kamen viele hungrige Raben ins Dorf geflogen und schrien; Arrack! Die fetten Feldmäuslein gehen eben nicht aus bei dem Wetter, sondern bleiben im Loch. Wir servierten Brot, Fleisch und Knochen. Doch die schönen Sachen, weil die überschlauen Vögel zu schüchtern waren, um gleich näher zu treten, fraß sämtlich der Nachbarshund. Was ich daher unbillig finde; denn der Hund hat eine feste Anstellung, aber die Raben nur ein unsicheres Einkommen..." "Notgedrungen besuchten die scheuen Feldhühnchen im Hausgarten den Winterkohl, und wie manches Häslein, welches dem Weidmann, dem sogenannten echten und gerechten, entflohen, hat wohl ebendaselbst sein Leben gelassen, bei Mondenschein, heimtückisch erlegt aus den Stubenfenstern der Bauern..." Aber "trotz verglaster Ohren und rinnender Nasen" kommt ja doch immer wieder der "landesübliche Frühling: die Haselstauden blühen schon lange: von weiblicher Seite die roten Krönlein, von männlicher, verliebt darüber baumelnd, die goldstaubigen Klunkern..." Durch den Sommer mit seinen blühenden Wiesen und wogenden Saatfeldern schreitet der Dichter Wilhelm Busch, und schon wieder wird es Herbst, "unter den Eichen und Buchen, falls der Wind grad weht, rasselt es von der Fülle fallender Früchte. Ahnungslos wühlend, im Genuß einer üppigen Gegenwart, schwillt das grunzende Schwein der Schlachtbank, der Rauchkammer und dem [437] Pökelfaß des triumphierenden Antisemiten entgegen." Wieder wird's Winter, wieder wird's Februar: "Frau Grippe, die Hex, scheint endlich doch abzufahren. Den Herbst, den Winter hat sie wiederholentlich dagesessen zur Nacht vor dem Bett und hat mir was vorgesungen zu ihrer alten Gitarre, daß ich ärgerlich munter blieb, ja zuweilen sogar phantasievoll-bedenklich wurde..."

"Die Welt voller Verzweiflung" läßt er getrost ihre Gleise ziehen, die Holzstöcke, in die er unermüdlich die Gestalten seiner Phantasie einkerbt, sind seine Welt. In die andere verlockt's ihn nur selten, denn "ich bin ja leider so reisefeig, daß ich mich fast vor den Schwalben schäme, die jüngst mal wieder nach dem Orient abgereist sind". Nur Lenbach vermag ihn auf seine alten Tage noch mal tiefer nach Italien hineinzuziehen. "Aber schon in Florenz hatte ich so überwältigend viel gesehen, daß ich Lust hatte, wieder umzukehren, hätte ich nicht dem Lenbach versprochen gehabt, ihn in Rom zu besuchen." Es war eben ein gründlich verregneter italienischer Frühling, er sehnte sich heim nach dem angestammten deutschen Frühling, und er schließt seinen Reisebericht am Ostersonntag in Venedig mit den lakonischen Worten: "Die Gegend dahier ist fast so schön wie die Lüneburger Haide."

Tieferes Erlebnis wird ihm eine zweite Reise in Lenbachs Gesellschaft nach Holland und Belgien. Besonders Antwerpen, die wichtigste Stätte in seiner künstlerischen Entwicklung, wird für ihn zu neuem reichem Gewinn. Er sucht nach den alten Bekannten, findet aber nur noch den biederen Klempner gegenüber seiner Wohnung, während sein Hauswirt, der Bartscherer Jan Timmermans am Eck der Käsbrücke, verstorben ist. Aber "der Rubens und der Frans Hals werden immer schöner mit den Jahren".

Die Einsamkeit des Alters überfällt auch ihn. Aber er bewahrt sich "eine heitere Gelassenheit, die jeden anderen gewähren läßt". Die Dinge der Welt berühren ihn nur noch von ferne. Nur zwei große Namen klingen dunkel und geheimnisvoll auf: Moltke und Bismarck, und man fühlt, wie tief Wilhelm Busch mitlitt an den Schicksalen seines Volkes, wenn er an Lenbach unter dem 29. April 1898 schreibt: "Moltkes Tod hat mich beklemmt. Man verspürt Weltschmerz, wenn man sieht, wie die Bildnerin Natur auch ihre besten Arbeiten in den großen Thonkübel zurückschmeißt und sie einstampft mit den andern. Wer weiß, wann sie uns mal einen wieder backt gleich diesem." Noch inniger aber ist seine Teilnahme an dem Schicksal Bismarcks, von dem Lenbach 1891 ihm aus Friedrichsruh – oder, wie Busch ergreifend schreibt, aus "Kanzlersruh" – berichtet. Sein Antwortbrief an Lenbach vom 3. Februar 1892 ist ein rührendes Bekenntnis zu diesem großen Deutschen: "Und so warst Du am Schluß des Jahres also beim großen Steuermann, den sie leidergotts nun schon lange aufs Trockne gesetzt haben. Ich bin nicht elegant und mobil genug, um Hühneraugen zu besitzen. Aber die, welche dergleichen prophetische Auswüchse ihr eigen nennen, wollen ja behaupten, sie hätten so ein fatales Gefühl drin, als ob wir [438] stürmisches Wetter kriegten. Gute Vorsätze freilich und schutzverheißende Plänchen tummeln sich geschäftig auf Dreck herum. Nur, daß der Obige nicht mehr das Ruder hält, will doch hie und da etwas bedenklich erscheinen. So dampfen wir dahin, und wohl dem, der nicht nervös ist, sondern still vor sich hin flötend in der Koje sitzt voll schönen Vertrauens auf Schwimmgürtel, Hühnerkörbe und Rumfässer, mit denen man sich verhältnismäßig... und lustig auf den Wellen schaukelt..."

Noch ergreifender und erschütternder klingt der letzte Freundesbrief aus Wiedensahl an Lenbach vom 12. März 1898 aus. Er enthält als Nachschrift folgende Worte: "An den Abenden letzt her las ich Bismarcks selbstverfaßte Lebens- und Leidsgeschichte mit schmerzlicher Bewunderung."

Selbstbildnis, 1894.
Wilhelm Busch: Selbstbildnis.
Federzeichnung, 1894.
[Bildarchiv Scriptorium.]
So geht dieses reiche, trotz aller äußeren Ruhe tief durchschütterte Menschenleben in jenem geruhigen Frieden vorbei, der schönster Lohn und köstlichste Zierde eines erfüllten Erdendaseins ist, und fast wie ein Selbstbekenntnis wollen uns heute die Trostworte dünken, die Busch einmal auf die Nachricht aus dem Frankfurter Freundeskreise, daß ein Sohn des Hauses ertrunken sei, an die Trauernden schrieb: "Es ist ein grausames Unglück, aber der die Geschichte, der die Herzen erschüttert, der hat in die Menschenbrust eine oft lange sorglos schlummernde Kraft gelegt, die, wenns not tut, erwacht, um den Schmerz zu bekämpfen und den Willen zu läutern. Allmählich breitet dann auch die Zeit über das Schreckliche ihren verhüllenden Schleier. Unsere geliebten Toten werden in der Erinnerung immer schöner und schöner, und so nehmen wir ihr geliebtes Bild mit hinüber in die Ewigkeit."




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Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz