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III. Das Deutschtum in nichtdeutschen Staaten

8. Das Sudetendeutschtum
(Mit dem Deutschtum im Hultschiner Ländchen)

Von all dem, was die Verträge von 1919 dem deutschen Volke angetan haben, ist kaum etwas eine stärkere Verletzung des Grundsatzes vom Selbstbestimmungsrecht der Völker als die Tatsache, daß die nahezu 3½ Millionen deutschen Menschen in Böhmen, Mähren und Schlesien gegen ihren ausgesprochenen Willen, zum Teil sogar gegen einen unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen gewagten bewaffneten Widerstand, dem neuentstandenen tschechoslowakischen Staate eingegliedert wurden. Dadurch wurde künstlich eine deutsche Minderheit geschaffen in Gebieten, in denen das Deutschtum weithin in geschlossener Siedlung zusammenwohnt und in denen vor 1918 kaum ein Tscheche zu finden war. Eine reinliche politische Abgrenzung der Völker nach dem Gesichtspunkte der Volkszugehörigkeit wäre hier leicht - viel leichter als z. B. an der deutsch-polnischen Grenze - durchzuführen gewesen. Das Deutschtum hätte bei einer solchen Regelung vermutlich auf eine Reihe dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet vorgelagerter Sprachinseln verzichten müssen, ebenso auf die Deutschen der innerböhmischen Städte, besonders Prags; die Tschechen dagegen hätten kaum einen irgend nennenswerten Verlust an Volksgenossen zu buchen gebraucht. Die Nationalitätenkämpfe, die Böhmen seit Jahrhunderten immer wieder durchtobten, hätten damit eine Lösung gefunden, die beiden, [81] bisher durch das politische Schicksal zu einer wenig glücklichen Ehe gezwungenen Völker Lebensrecht und Lebensfreiheit nach eigenem Willen ermöglicht hätten.

Aber da die Verträge von Versailles und St. Germain auf dem Prinzip aufgebaut waren, daß Macht überall dort vor Recht geht, wo dem Deutschtum dadurch geschadet wird, so konnte auch in der böhmischen Frage nicht diese Lösung gewählt werden, die ein friedliches Nebeneinanderleben der Völker ermöglicht hätte. So entstand auf den Trümmern der Habsburgermonarchie der tschechoslowakische Staat: ein Staat, der von allem Anfang an das Prinzip verleugnete, dem er selbst sein Dasein verdankte. Denn wenn es das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts auch der kleinen Nationen war, mit dem die Tschechen um Eigenstaatlichkeit, um Herauslösung aus dem Herrschaftsverbande des Habsburgerreiches gekämpft hatten, so war der Staat, den der Sieg der Entente ihnen schenkte, doch nichts weniger als ein Nationalstaat, sondern ebenso wie Österreich-Ungarn ein Nationalitätenstaat, von vornherein belastet mit den gleichen inneren Gegensätzen und Spannungen, die die südosteuropäische Großmacht in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens von innen heraus ausgehöhlt hatten.

Die im Sinne imperialistischer Zielsetzung geschickte Politik der tschechischen Führer hat es verstanden, dem neuen Staate bei den Friedensverhandlungen einen Umfang zu erkämpfen, der sowohl über die historischen Grenzen wie auch über den Siedlungsraum des tschechischen Volkes weit hinausgeht. Zu den historischen Landesteilen Böhmen, Mähren und Schlesien mußte das Deutsche Reich das "Hultschiner Ländchen" (einen Teil Oberschlesiens), mußte Deutsch-Österreich die Gebiete von Feldsberg und Weitra, mußte Ungarn die Slowakei und Karpathorußland abtreten; für das Teschener Gebiet Ostschlesiens dagegen mußte sich die Tschechoslowakei zu einer Teilung mit Polen verstehen, um nicht hier den sonst so peinlich vermiedenen Weg einer Volksabstimmung betreten zu müs- [82] sen. So entstand ein Staatswesen, in dem die Tschechen überhaupt nur durch die Fiktion eines "tschechoslowakischen" Volkes die Majorität erreichten, während in Wirklichkeit Tschechen und Slowaken zwei auch sprachlich scharf geschiedene Völker sind, ein Staat, dessen Form und Grenzlänge eine wenig glückliche geopolitische Struktur bekunden. Dazu tragen die einzelnen Landesteile sozial und kulturell denkbar verschiedenen Charakter. Denn während das hochentwickelte, weitgehend industrialisierte Gebiet Deutsch-Böhmens völlig in den mitteleuropäischen Raum hineingehört, trägt z. B. Karpathorußland mit einer auf sehr tiefer Kulturstufe stehenden Bevölkerung noch heute geradezu mittelalterlichen Charakter. Dieser Staat umfaßt heute insgesamt 140 576 qkm (also etwa 30% der Fläche Deutschlands), von denen 52 000 auf Böhmen, 49 000 auf die Slowakei, 22 000 auf Mähren und 4 000 auf Schlesien entfallen.

Daß die heutige Tschechoslowakei wirklich ein Nationalitätenstaat ist, muß auch die staatliche Statistik zugeben, deren Objektivität von guten Sachkennern stark bestritten wird. Denn nach der Volkszählung von 1921 entfielen auf den Zwitter des "tschechoslowakischen" Volkes nur 65% der Staatsangehörigen, während die Deutschen über 23%, die Magyaren fast 6%, die Ruthenen 3½% ausmachten. Die österreichische Volkszählung von 1910 hatte für die heute zur Tschechoslowakei gehörigen Gebiete noch einen deutschen Bevölkerungsanteil von 27,75% festgestellt! Nach der Volkszählung von 1910 lebten in dem Gebiet der heutigen Tschechoslowakei 3 750 673 Deutsche, nach der Volkszählung von 1921 dagegen nur 3 218 000; in Wirklichkeit dürften es 3½ Millionen sein. Nach den Berechnungen von Oberschall umfaßt das deutsche Siedlungsgebiet 3120 Gemeinden mit einer Fläche von rund 26 000 qkm.

In den folgenden Ausführungen soll von dem Deutschtum der Slowakei und Karpathenrußlands abgesehen [83=Karte] [84] werden. Diese rund 200 000 Deutschen leben außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets; sie sind nicht Grenzland-, sondern Auslanddeutschtum im engeren Sinne, ihre Behandlung ist daher dem diesem gewidmeten Bande vorzubehalten. Auch hatten sie, da früher zu Ungarn gehörig, mit dem Deutschtum der Sudetenländer vor 1918 keine engere Berührung. Dagegen sollen die außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets gelegenen Sprachinseln und das städtische Deutschtum wegen ihrer engen nationalen und historischen Verbundenheit mit den deutschen Hauptsiedlungsgebieten hier mit behandelt werden.

Das Deutschtum in den Sudetenländern
[83]   Das Deutschtum in den Sudetenländern.
(Hauptsächlich nach A. Oberschall entw. von Th. Stocks.)

Minderheiten unter 500 sind vernachlässigt. Die Größen der Kreise entsprechen den Zahlen für die Gesamteinwohner der betreffenden Gerichtsbezirke bzw. den Zahlen der einzelnen Nationalitäten. Die Mehrheit ist jeweils als Ring, die Minderheit als Punkt gekennzeichnet. Man erkennt dadurch die Gebiete, in denen z. B. das Deutschtum durchlöchert ist.
[Vergrößern]
(Scriptorium merkt an: eine ähnliche Karte mit eingezeichneten Ortsnamen, erstellt nach den amtlichen Volkszählungsergebnissen vom 1. 12. 1930, finden Sie hier.)

Bei einem Vergleiche der Grenzen des tschechoslowakischen Staates mit dem deutschen Siedlungsraum fällt zweierlei sofort in die Augen: das ist einmal der tschechische Keil im deutschen Raum, zweitens der Randsiedlungscharakter des deutschen Gebietes. Wirklich wie ein vorgeschobener Keil des Slawentums dringt das tschechische Siedlungsgebiet in den deutschen Raum ein, bei seinem Eintritt zwischen Niederösterreich und Österreich-Schlesien nur auf ziemlich schmaler Basis, dann zunächst langsam, später kräftig nach Nordwesten breiter ausladend. Nun ist es charakteristisch, wie auf allen Seiten das deutsche Siedlungsgebiet über die heutigen Grenzen der Republik Österreich und des Deutschen Reiches hinübergreift, manchmal nur in schmalen Streifen, vielfach aber, wie im Böhmerwaldgau, im Egerland, in den Randgebieten des Erzgebirges und in Österreichisch-Schlesien in breiter, wuchtiger Siedlungseinheit. Nur an ganz wenigen Stellen berührt das tschechische Siedlungsgebiet unmittelbar die heutigen Staatsgrenzen. Ein breiter tschechischer See, fast überall umgeben von schmäleren oder breiteren deutschen Uferlandschaften, von größeren und kleineren deutschen Sprachinseln durchsetzt: das ist das Bild der nationalen Struktur, die die böhmisch-mährisch-schlesischen Teile des tschechoslowakischen Staates heute aufweisen.

[85] Man hat sich in der Nachkriegszeit gewöhnt, das Deutschtum Böhmens, Mährens und Schlesiens mit dem Sammelnamen "Sudetendeutschtum" zu bezeichnen. Dieses Sudetendeutschtum zerfällt seiner Lage und seinem Stammescharakter nach in vier deutlich unterschiedene Teile.

Im Südosten beginnend, finden wir zunächst als in sich geschlossene Einheit das Deutschtum Südmährens, unmittelbar angrenzend an das Deutschtum Niederösterreichs und mit diesem auch stammlich eng verbunden. Es handelt sich hier um ein überwiegend landwirtschaftliches Deutschtum, mit kleineren Städten, von denen Znaim und Nikolsburg die bedeutendsten sind. Vorgelagert sind die großen Sprachinseln von Brünn, der mährischen Hauptstadt (rund 60 000 Deutsche) und dem bereits nach Böhmen hinüberleitenden Iglau, das auch noch nach der tschechischen Volkszählung von 1921 eine deutsche Mehrheit aufwies; in der ganzen Iglauer Sprachinsel wurden etwa 26 000 Deutsche gezählt, doch dürfte diese Zahl in Wirklichkeit nicht unbeträchtlich höher sein.

Von dem deutschen Volksboden Südmährens durch einen nicht sehr breiten tschechischen Keil getrennt, schließt sich als nächster, beträchtlich größerer Teil des deutschen Sprachgebiets, in nordwestlicher Richtung die bayrische Grenze entlang streichend, der Böhmerwaldgau an. Hier tritt uns der das Sudetendeutschtum beherrschende Charakter der Mittelgebirgssiedlung bereits deutlich entgegen. Adalbert Stifter, der Sohn dieses Waldlandes, hat es geschildert in aller ungebrochenen Naturhaftigkeit, von der sich auch heute noch hier soviel erhalten hat wie an keiner anderen Stelle des deutschen Volksbodens in Mitteleuropa. Der Wald hat von alters her das Leben des Böhmerwäldlers bestimmt, er bestimmt es noch heute. So ist hier, ganz im Gegensatz zum industriereichen Nordböhmen, der Charakter des Volkes ländlich geblieben: Einzelhöfe im Gebirge, Dörfer im Vorland, nur kleine Städte, wie Krumau, Prachatitz, Winterberg. Vorgelagert ist die deut- [86] sche Sprachinsel von Budweis, in der das Deutschtum gegen die immer stärker andrängenden Tschechen einen schweren Stand hat.

Nur ganz schmal ist die bis zur Staatsgrenze vordrängende Zunge tschechischen Sprachgebiets, die den Böhmerwaldgau von dem deutschen Hauptsiedlungsgebiet im Norden und Nordosten trennt, das nun, mit dem Egerland beginnend und von tschechischem Sprachgebiet kaum noch unterbrochen, entlang dem Erzgebirge, Lausitzer Gebirge, Riesen- und Isergebirge und dem Glatzer Bergland die Staatsgrenzen in geschlossenem Zuge begleitet. Das Egerland, in dem der deutsche Volksboden seine größte Massigkeit und Breite erreicht, nimmt historisch im Ringe des Sudetendeutschtums eine Sonderstellung ein, da es 1322 an die Krone Böhmen verpfändet und erst spät endgültig staatsrechtlich mit Böhmen vereinigt wurde. Diese historische Sonderstellung zeigt sich heute noch in dem besonders starken Gemeinschaftsgefühl, das die Egerländer innerhalb des Sudetendeutschtums verbindet und das sie auch in der Fremde sich zur "Eghalanda Gmoin" (Egerländer Gemeinde) zusammenschließen läßt. Das Egerland ist mit seinem fruchtbaren Boden ein ausgesprochenes Bauernland, in dem die Industrie nur an wenigen Stellen größere Bedeutung gewonnen hat. Weltbekannt wurde es durch seine großen Bäder Karlsbad, Marienbad und Franzensbad, deren urdeutschen Charakter der neue Staat heute unter aufgezwungenen tschechischen Namen erfolglos zu verbergen sucht. Der städtische Mittelpunkt des Gebietes, Eger, ist alte deutsche Reichsstadt; von seinen 28 000 Einwohnern sind auch heute noch 23 000 Deutsche, die Tschechen sind ausnahmslos - nach dem Kriege vorwiegend als Beamte, Soldaten, Eisenbahnangestellte - zugewandert. Den gleichen deutschen Charakter tragen auch die kleineren Städte des Gebiets, wie z. B. (außer den genannten drei Badeorten) Mies, Asch, Tepl, Falkenau.

Mit den östlich anschließenden Städten Graslitz, Podersam, [87] Saaz - der Saazer Hopfen ist weit über die böhmische Grenze hinaus bekannt - kommen wir bereits zu dem nordböhmischen Erzgebirgsland, dessen Charakter durch Bergbau und Industrie entschieden bestimmt ist. Zwar der Erzbergbau, nach dem das Gebirge seinen Namen erhielt, spielt heute keine Rolle mehr. Aber im nordwestböhmischen Becken mit den Städten Brüx, Dux, Bilin und Komotau bis nach Teplitz-Schönau, das auch als Badeort seiner warmen Quellen wegen bekannt ist, und bis Aussig an der Elbe, dem Sitz einer bedeutenden chemischen Industrie, hat der Braunkohlenbergbau ein industrielles Zentrum ersten Ranges erstehen lassen, leider aber auch durch die ins Land geholten tschechischen Arbeiter eine tschechische Minderheit im rein deutschen Sprachgebiet, von der noch zu reden sein wird. Und jenseits der Elbe ziehen sich in nicht abreißender Kette die Städte und Städtchen, in denen die großen Industrien des sudetendeutschen Landes, besonders die Textil- und Glasindustrie, ihren Sitz haben: Schluckenau, Rumburg, Warnsdorf, Friedland, Reichenberg, Gablonz, Trautenau, um nur die wichtigsten zu nennen.

Freilich schieben sich zwischen dieses industrie- und gewerbereiche Land immer wieder auch Gebiete vorwiegender Landschaft bzw. in den Gebirgen Forstwirtschaft: das landwirtschaftlich wunderbar begünstigte Elbetal mit der alten Bischofsstadt Leitmeritz, das ruhige Ackerland um Böhmisch-Leipa und Dauba, die stillen, einsamen Höhen des Riesen- und Isergebirges.

Wiederum durch einen tschechischen Keil, der bei Nachod sogar mit einigen tschechischen Dörfern in das Gebiet des Deutschen Reiches hinübergreift, vom sudetendeutschen Hauptgebiet getrennt ist das vierte Hauptstück, Nordmähren mit Österreichisch-Schlesien, dessen städtische Hauptorte Mährisch-Schönberg, Sternberg und Neutitschein in Mähren, Jägerndorf, Freudental und Zuckmantel in Schlesien sind; Schlesiens Landeshauptstadt Troppau, gerade noch an der [88] Grenze des deutschen Siedlungsgebiets gelegen, ist zu etwa zwei Drittel deutsch. Dem deutschen Nordmähren vorgelagert sind die beiden größeren Sprachinseln des Schönhengstgaus mit Zwittau und die der alten Stadt Olmütz, in der heute jedoch die frühere deutsche Mehrheit verlorengegangen ist.

Ein besonderes Wort muß an dieser Stelle dem Hultschiner Ländchen gewidmet werden, dem einzigen Teil des tschechoslowakischen Staates, der - ebenfalls ohne jede Volksbefragung - unmittelbar vom Deutschen Reiche an ihn abgetreten werden mußte. Es handelt sich bei diesem um ein Gebiet von 333 qkm mit rund 50 000 Einwohnern, das vor 1919 zum südlichen Teil des Kreises Ratibor in Oberschlesien gehörte. Während die Tschechen sonst in Böhmen, Mähren und Schlesien ungeachtet der Volkszugehörigkeit die "historischen Grenzen" forderten, machten sie hier auf einmal nationale Gesichtspunkte geltend. Etwa 75% der Bevölkerung dieses Gebietes sprechen nämlich "mährisch". Es hat sich aber gezeigt, daß diese "Mährer" des Hultschiner Gebietes über ihre "Befreiung" alles andere als erfreut waren, so daß z. B. bei den Parlamentswahlen 1925 die überwiegende Mehrzahl der Stimmen für die deutschen Parteien abgegeben wurde. Die historische Entwicklung hatte die Hultschiner Bevölkerung trotz sprachlicher Sonderart eben in ein so enges Verhältnis zum Deutschen Reiche gebracht, daß sie dem Tschechentum und dem tschechischen Staate völlig fremd gegenüberstanden und daß die Abtretung gegen den einwandfrei kundgetanen Willen der Hultschiner eine grobe Verletzung des Grundsatzes vom Selbstbestimmungsrecht der Völker bedeutet.

Ebenfalls einer besonderen Behandlung bedarf das städtische Deutschtum, das außerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in der Landeshauptstadt Prag ansässig ist. Prag ist zwar niemals eine deutsche Stadt gewesen in dem Sinne, daß das Deutschtum hier die Mehrheit der Bevölkerung gehabt hätte; aber schon von der Zeit der Przemysliden an - wir werden davon bei der Behandlung der Geschichte des Sudetendeutschtums noch zu reden haben - haben die Prager Deutschen eine Rolle gespielt, die weit über ihre zahlenmäßige Bedeutung hinausging, da sie kulturell und wirtschaftlich durchaus die führende Schicht bildeten. Erst etwa seit der Mitte des [89] vorigen Jahrhunderts wurde das Deutschtum durch die nationale Emanzipation des tschechischen Volkes allmählich zurückgedrängt, um dann nach der Staatsumwälzung zu einer auf das heftigste befehdeten Minderheit zu werden. Auch für das Sudetendeutschtum selbst hat Prag als politischer, organisatorischer und kultureller Mittelpunkt eine hervorragende Bedeutung gehabt, die größte wohl für das sudetendeutsche Kulturleben, das hier in der Deutschen Universität, dem Deutschen Theater und den größten deutschen Zeitungen Böhmens die wichtigsten Stützpunkte fand. Auch eine beträchtliche Anzahl der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Organisationen des Sudetendeutschtums hatte und hat in Prag ihren Sitz. Freilich hat heute unter den Einwirkungen des gerade in Prag besonders kraß hervortretenden tschechischen Chauvinismus die Landeshauptstadt an Bedeutung für das sudetendeutsche Leben zugunsten der größeren Städte des rein deutschen Gebietes verloren; das würde noch stärker hervortreten, wenn der Plan einer Verlegung der deutschen Universität, von dem noch zu reden sein wird, Wirklichkeit werden würde. Der Rückgang der Bedeutung des Deutschtums in Prag läßt sich auch zahlenmäßig sehr deutlich feststellen. Während 1880 unter einer Gesamtbevölkerung von 162 000 rund 33 000 Deutsche gezählt wurden, war die Bevölkerung 1920 auf 676 000 gestiegen, die Zahl der Deutschen dagegen auf 30 000 zurückgegangen. Während Prag bis dahin von allen böhmischen Städten immer die größte Zahl von Deutschen aufgewiesen hatte, ist es jetzt an zweite Stelle hinter die aufstrebende Industriestadt Aussig zurückgetreten; Reichenberg reiht sich mit 28 000 Deutschen dicht an. —

So bunt und vielgestaltig wie der geographische Charakter des sudetendeutschen Lebensraumes ist auch die stammesmäßige Zugehörigkeit seiner Bewohner. Diese läßt deutlich erkennen, wie eng Sudetendeutschland mit dem übrigen deutschen Sprachgebiete Mitteleuropas zusammengehört; sind [90] doch überall die Sudetendeutschen gleichen Stammes wie die Bewohner der angrenzenden deutschen Gebiete des Reiches. So finden wir den bayrisch-österreichischen Stamm in Südmähren, im Böhmerwaldgau und im Egerland. Obersächsisch ist der Nordwesten, das Erzgebirgsland; und im ganzen Norden und Osten, von Rumburg bis nach Österreich-Schlesien, greift das Wohngebiet des schlesischen Stammes über die Reichsgrenzen hinüber. Infolge dieser Verschiedenheit der Stammesart ist natürlich auch der Volkscharakter der Sudetendeutschen kein einheitlicher, sondern findet in den einzelnen Wohngebieten eine durchaus eigenartige Ausprägung. Die Schriften von Adolf Hauffen und Emil Lehmann geben uns über Volkscharakter und Volkskunde der Sudetendeutschen wertvolle Aufschlüsse.

Wir haben so den geographischen Raum und die ethnographische Struktur dargestellt, die die ersten Grundlagen des sudetendeutschen Lebens bilden. Wir wenden uns nun der Geschichte zu, die das Bild des sudetendeutschen Menschen geprägt hat, und werden im Anschluß daran die Bedingungen und Verhältnisse erörtern, unter denen dieser heute im tschechoslowakischen Staate lebt und arbeitet.

Bunt, blutig und schwer ist die Geschichte Böhmens - Grenzlandgeschichte, in der immer wieder Lebenswille und Geltungsstreben des deutschen und des tschechischen Volkes aufeinanderstoßen, bald das eine, bald das andere die Herrschaft erringt. Aber wenn heute auch der Tscheche "der neue Herr von Böhmen" geworden ist, so gibt ihm das nicht das Recht, die Leistung zu verkleinern, die das Deutschtum in der Geschichte dieses Landes vollbracht hat, und ihm das Vätererbe entreißen zu wollen, den Boden, den deutsche Arbeit und deutsches Blut sich durch Jahrhunderte immer neu erworben haben.

Die Tschechen haben ihre Ansprüche auf das deutsche Siedlungsgebiet mit der Behauptung zu begründen versucht, daß es sich hier um ursprünglich tschechischen Volksboden handelte, der von den Deutschen erst im Mittelalter kolonisiert worden wäre; diese "Kolonisationstheorie" der Entstehung des Sudetendeutschtums geht auf den bedeutenden tschechischen Historiker Palacky [91] zurück. Dagegen hat der deutsche Historiker Berthold Bretholz in seinem großen Werke Geschichte Böhmens und Mährens (vgl. Literaturverzeichnis) den Nachweis zu erbringen versucht, daß der Ursprung der großen Masse des Sudetendeutschtums nicht auf solche mittelalterliche Kolonisation zurückführte, sondern bereits vor der slawischen Zeit Böhmens zu suchen wäre. Wir können hier auf die Frage der Urgeschichte des Sudetendeutschtums nicht in vollem Umfange eingehen. Aber selbst wenn die tschechische Kolonisationstheorie zu Recht bestände, so würde damit doch über die Frage der heutigen politischen Abgrenzung nicht das mindeste entschieden sein. Mit Recht bemerkt M. H. Boehm dazu: "Wenn die Herren in Paris den nationalen Besitzstand von 1200 wiederherstellen wollten, dann hätte Wilson zunächst einmal abreisen dürfen, um die Vereinigten Staaten zugunsten der Indianer zu liquidieren."1

Das eine steht jedenfalls fest, daß bis etwa zum 6. Jahrhundert in Böhmen und Mähren germanische Stämme, die Markomannen und Quaden, saßen, und daß erst im Verlauf der Völkerwanderung das ursprünglich germanische Land von den Slawen besetzt wurde. Es ist nun zum mindesten sehr wahrscheinlich, daß im heutigen Siedlungsraum des Sudetendeutschtums Reste dieser germanischen Urbevölkerung wohnen geblieben sind. Die deutsche Einwanderung, die im Zusammenhange mit der großen Bewegung der ostdeutschen Kolonisation im Mittelalter vor sich ging, hat also sicherlich nicht, wie das die Tschechen behaupten, tschechische Bevölkerung von ihrem angestammten Boden verdrängt, sondern sie hat den Anschluß an die Reste der alten germanischen Bevölkerung gesucht. Daneben aber ist in großem Umfange, ähnlich wie in Ostdeutschland, bisher gänzlich unbewohntes Land durch die deutschen Zuwanderer besiedelt und nutzbar gemacht worden. Das gilt namentlich für die Randgebirge, die ja auch heute noch die Hauptsiedlungsgebiete der Sudetendeutschen bilden; der schweren Arbeit der Rodung und Bebauung dieser oft kargen Gebiete hatten sich die Tschechen, die auf den fruchtbaren Ackerbreiten der böhmischen Mitte saßen, nicht unterzogen.

Es ist namentlich das tschechische Herrscherhaus der Przemysliden gewesen, die, in richtiger Erkenntnis der Überlegenheit der deutschen Kultur, die deutsche Zuwanderung gefördert haben. Die Deutschen haben den Tschechen dafür kulturelle Anregungen mannigfacher Art gebracht, ganz besonders aber das deutsche [92] Städtewesen, das den Tschechen fremd war. Nicht zum wenigsten der deutschen Arbeit ist es zuzuschreiben, daß Böhmen unter der Herrschaft der Przemysliden einen ungeheuren Aufschwung nahm, so daß Ottokar II. sogar die deutsche Kaiserkrone anstreben konnte. Ottokars Niederlage durch Rudolf von Habsburg vereitelte freilich diesen Versuch; aber nachdem 1306 die Luxemburger dem ausgestorbenen Hause der Przemysliden gefolgt waren, wurde unter Karl IV. tatsächlich Prag die Residenz der deutschen Kaiser. In dieser Zeit entstand in Prag ein guter Teil jener Bauwerke, die der alten Stadt noch heute ihren herrlichen architektonischen Charakter geben. 1348 wurde die Karls-Universität in Prag begründet. Daß damit in Prag die erste deutsche Universität überhaupt entstand, beweist genugsam die Bedeutung, die das Deutschtum für die Entwicklung Böhmens, auf der anderen Seite aber auch Böhmen für die Entwicklung des Gesamtdeutschtums gehabt hat.

Diese Blüte Böhmens und die große Bedeutung, die im Rahmen des böhmischen Staatswesens dem Deutschtum zukam, wurde durch das erste große Aufflammen des tschechischen Nationalismus in den Hussitenkriegen schwer geschädigt. Diese Bewegung, die zunächst religiös-reformatorischen Charakter trug, gewann sehr bald eine vorwiegend nationale Tendenz, die auf Jahrhunderte hinaus das Tschechentum zum Herren im Lande, auch in den deutsch-besiedelten Gebieten, machte. Eine Zeit der Wirren brach an, die auch, nachdem Böhmen 1526 an die Habsburger gekommen war, kein Ende fand; der nationale Gegensatz, ebenso wie nach der Reformation der religiöse Gegensatz ließen das Land nicht zur Ruhe kommen. An den Religionskämpfen Böhmens entzündete sich die Fackel des furchtbaren Dreißigjährigen Krieges, dessen unheilvolle Bedeutung für die Geschichte des deutschen Volkes schwerlich überschätzt werden kann. Als in der Schlacht am Weißen Berge 1620 der Aufstand der böhmischen Stände gegen die Habsburgerherrschaft zusammenbrach, wurde mit harter Hand die Reformation beseitigt; die Güter der aufständischen Stände wurden an treu zur Monarchie haltende Adelsgeschlechter neu verteilt. Davon wurden aber keineswegs nur Tschechen betroffen, wie das von der tschechischen Propaganda behauptet wird, sondern ebenso auch Deutsche. Außerdem ist gerade der böhmische Hochadel, der zum Teil durch diese Güterverteilung seine böhmischen Besitzungen erwarb, in nationaler Hinsicht keineswegs uneingeschränkt dem Deutschtum zuzurechnen gewesen. Ein Teil des Hochadels sympathisierte weitgehend mit dem Tschechentum; und eine ganze Reihe von Angehörigen des Hochadels, die sich dem Deutschtum [93] zuzählten, haben die nationale Renaissance des tschechischen Volkes im 19. Jahrhundert in hohem Maße gefördert.

Das allerdings ist richtig, daß seit 1620 für das Deutschtum in den Sudetenländern wieder ein Aufstieg einsetzte. Das deutsche Element war ja in der Habsburgischen Monarchie zunächst einmal der eigentliche Träger des Staatsgedankens; das mußte natürlich auch seine Stellung und Bedeutung entscheidend beeinflussen. So verlor in den der Schlacht am Weißen Berge folgenden 200 Jahren das Tschechentum allmählich seine ehemals herrschende Stellung, ohne daß doch seitens der habsburgischen Regierung eine eigentliche Germanisierungspolitik betrieben worden wäre.

Wenn diesem Niedergange, der geradezu die nationale Zukunft des tschechischen Volkes in Frage zu stellen drohte, dann seit den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ein Aufstieg folgte, der in weniger als einem Jahrhundert das Tschechentum zum uneingeschränkten Herren Böhmens gemacht hat, so ist diese tschechische nationale Renaissance in ihren Anfängen nicht zum wenigsten auf deutsche Anregung und Unterstützung zurückzuführen. Aber dann ist es doch vor allem - neben der Führerbegabung eines Palacky, Jungmann, Masaryk - die in mancher Hinsicht bewundernswerte nationale Disziplin der Tschechen gewesen, die dieser Bewegung ihre Stoßkraft gegeben hat. Sie wurde unterstützt durch die Entwicklungen auf dem Gebiete der Staatsverwaltung; denn je mehr an die Stelle des alten Absolutismus demokratischere Regierungsformen traten, desto mehr mußte die zahlenmäßige Überlegenheit der Tschechen in die Wagschale fallen. So konnten sie, da ein Teil des böhmischen Feudaladels sich ihnen anschloß, bereits 1889 die Mehrheit im böhmischen Landtage gewinnen. Diese tschechische Renaissance trug in ihren Anfängen vorwiegend kulturellen Charakter; sobald sie aber politische Färbung annahm, geriet sie - wie sich im Sturmjahr 1848 sehr deutlich zeigte - sehr bald in deutschfeindliches Fahrwasser. Freilich blieben die tschechischen Bestrebungen zunächst noch auf legalem Boden, indem sie nur innerhalb der habsburgischen Monarchie dem Tschechentum stärkere Geltung zu erkämpfen suchten. Aber bald machte allslawisches Gemeinschaftsgefühl nicht mehr an den Staatsgrenzen halt, schaute hinüber zu der großen Vormacht des Slawentums, nach Rußland. Damit wurden bereits die Fundamente gelegt für den neuen Staat, der entstehen konnte in dem Augenblicke, da die Dynastie der Habsburger die Kraft verloren hatte, ihre auseinanderstrebenden Völker noch unter einem Szepter zusammenzuhalten.

[94] So waren es der Weltkrieg und der Zusammenbruch der Mittelmächte, die dem tschechischen Nationalismus einen so raschen und so vollständigen Erfolg brachten, wie wohl keiner seiner Führer ihn je erträumt hatte. Schon fast vom Anfang des Krieges an hat die tschechische Auslandspropaganda für die Zerstörung des österreichischen Staates gearbeitet.2 Masaryk, Benesch und Kramař sind die Führer dieser Bewegung gewesen; tschechische Legionen haben in Frankreich und in Rußland gegen die Mittelmächte gekämpft.

Das Ergebnis dieser tschechischen Politik war im November 1918 der tschechoslowakische Staat. Aber dieser Staat ist, wie wir oben schon festgestellt haben, kein tschechischer Nationalstaat, sondern ebenso wie die zugrundegegangene Habsburgermonarchie ein Nationalitätenstaat, in dem das staatsführende Volk der Tschechen nur durch die Fiktion einer "tschechoslowakischen" Nation überhaupt die zahlenmäßige Mehrheit gewann. Gegen ihren Willen sind die 3½ Millionen Sudetendeutschen diesem Staate einverleibt worden, zu dem sie nichts hinzog; der bewaffnete Widerstand, der hier und da in sudetendeutschen Gauen gegen die Vergewaltigung sich erhob, war in dem fürchterlichen Zusammenbruch dieser Tage zur Erfolglosigkeit verurteilt. Deutlich genug wurde der Wille der Bevölkerung, die im November 1918 die beiden Provinzen "Deutschböhmen" und "Sudetenland" bildete als Teile des deutsch-österreichischen Staates und damit des großdeutschen Reiches. Aber ein Selbstbestimmungsrecht gab es für die Sudetendeutschen nicht. Ohne ihre Mitwirkung ist die Verfassung des Staates zustandegekommen, in dem zu leben sie gezwungen wurden.

Von vornherein war damit die Politik der Sudetendeutschen vor die eine große und entscheidende Frage gestellt: Sollten sie sich an dem Leben dieses Staates beteiligen, [95] in den sie gezwungen waren, oder sollten sie in der Hoffnung auf eine mögliche spätere politische Neugestaltung in grundsätzlicher Opposition bleiben? Durch die Entscheidung über diese Frage, durch den Kampf zwischen den "Aktivisten", die für die Beteiligung am Staate eintraten, und den "Negativisten", die in Lodgman ihren bedeutendsten Führer hatten, ist leider von allem Anfang an eine politische Einheitsfront der Sudetendeutschen verhindert worden; dazu kommt, daß auch die sozialen Gegensätze, von denen noch zu reden sein wird, sich im politischen Leben durch die Absonderung der Sozialdemokratie entscheidend auswirken. So ist die politische Vertretung des Sudetendeutschtums im Abgeordnetenhaus und im Senat in nicht weniger als sechs Parteien zersplittert. Bei den Wahlen von 1929 ergab sich für das Abgeordnetenhaus eine Gesamtzahl von 66 deutschen Abgeordneten (unter insgesamt 300). Von diesen entfielen 21 auf die deutschen Sozialdemokraten, 16 auf den Bund der Landwirte, 11 auf die Christlich-soziale Partei, 7 auf die Nationalpartei, 8 auf die Nationalsozialisten und 3 auf die Gewerbepartei. Ferner befinden sich auch bei der Kommunistischen Partei, die keine Trennung der Nationalitäten kennt, 6 deutsche Abgeordnete. Den 27 deutschen Sozialisten stehen also 37 Angehörige der bürgerlichen Parteien und 8 Nationalsozialisten gegenüber; die negativistische Richtung vereinigt in der Nationalpartei und der nationalsozialistischen Partei 15 parlamentarische Vertreter.

Für die Einstellung des Sudetendeutschtums zum tschechoslowakischen Staate bedeutet das Jahr 1926 einen bedeutsamen Wendepunkt. In diesem Jahre haben sich 3 deutsche Parteien, der Bund der Landwirte, die Gewerbepartei und die Christlich-soziale Partei, zum ersten Male an der Regierung beteiligt und in das Kabinett Svehla die beiden Minister Dr. Spina (Ministerium der öffentlichen Arbeiten) und Dr. Mayr-Harting (Justizministerium) entsandt. Ende [96] 1929 wurde diese Koalition nach dem Ausscheiden der deutschen Christlich-sozialen durch Hinzuziehung der deutschen und der tschechischen Sozialdemokraten ergänzt.

Von der grundsätzlichen Stellung zu dem durch Verletzung des Selbstbestimmungsrechts entstandenen Staate abgesehen, ist der Haupteinwand der negativistischen Kreise gegen eine solche Beteiligung des Sudetendeutschtums an der Regierungsbildung der, daß die ganze Politik des tschechoslowakischen Staates bisher darauf ausgegangen ist, dem Sudetendeutschtum soviel wie möglich zu schaden und seinen Besitzstand in nationaler, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht soweit wie möglich zu schädigen. "Eine bessere Schweiz" wollte die Tschechoslowakei nach den hochtrabenden Worten ihrer Begründer hinsichtlich der Behandlung ihrer Minderheitsvölker werden; aber die Wirklichkeit sieht wesentlich anders aus. An einer Unzahl von Maßnahmen - die im Rahmen dieser kurzen Darstellung natürlich nicht im einzelnen besprochen werden können - läßt sich die grundsätzliche deutschfeindliche Richtung der Politik des neuen Staates auf das deutlichste nachweisen, die auch nach der Beteiligung deutscher Parteien an der Regierung nur in verhältnismäßig unwichtigen Punkten eine Änderung erfahren hat und auch durch mancherlei schöne Worte von offizieller und privater tschechischer Seite nicht aus der Welt geschafft werden kann. So sehen wir auf dem Gebiete der Politik eine völlige Hintansetzung des kulturell und wirtschaftlich höchstentwickelten Bevölkerungsteils, der in allen maßgebenden Stellen in der Staatsverwaltung und im Heerwesen nur in ganz unzureichender Weise vertreten ist; wir sehen weiterhin, daß dieser Staat mit seinem Viertel deutscher Bewohner nicht die durch seine geopolitische Lage gebotene Anlehnung an das Deutsche Reich sucht, sondern, mit Rückendeckung bei Frankreich, auch seine Außenpolitik deutschfeindlich eingestellt hat, was z. B. in der Handelsvertragspolitik der Tschechoslowakei - sehr [97] zum Schaden der eigenen Wirtschaft - deutlich hervortrat. Von den zum Teil sehr tief in den Besitzstand der Sudetendeutschen einschneidenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen wird noch besonders zu reden sein. Neben diesen ist das Gebiet der Kulturpolitik und besonders des Schulwesens der Hauptangriffspunkt der tschechischen Politik gewesen.

Die Sudetendeutschen hatten in der Vorkriegszeit ein vortrefflich ausgebautes Bildungswesen, das, auf einem breiten Fundament von Volksschulen aufbauend, in der deutschen Universität in Prag und in den beiden technischen Hochschulen in Prag und Brünn gipfelte und dessen Tiefenwirkung z. B. daran ermessen werden kann, daß es im Sudetendeutschtum praktisch keine Analphabeten gibt. Die tschechische Kulturpolitik hat diesem deutschen Schulwesen soviel wie möglich Abbruch getan. Die deutschen Hochschulen haben hart um ihren Bestand zu kämpfen, da die Heranziehung deutscher Gelehrter erschwert wird und die Mittel außerordentlich knapp zugemessen werden, während gleichzeitig die tschechischen Hochschulen weitgehend gefördert werden. Die Forderung der Deutschen auf Errichtung einer deutschen Handelshochschule, die in der hohen Entwicklung von Industrie und Handel im Sudetendeutschtum ihre Begründung findet, ist unberücksichtigt geblieben. Diese dauernde Benachteiligung der deutschen Hochschulen zusammen mit der chauvinistischen Haltung der tschechischen Bevölkerung Prags gegen die deutsche Studentenschaft hat im Sudetendeutschtum eine starke Strömung entstehen lassen, die eine Verlegung der beiden deutschen Hochschulen Prags ins deutsche Sprachgebiet fordert; dabei wird besonders an Reichenberg für die Universität und an Aussig für die Technische Hochschule gedacht. Zweifellos würde durch eine solche Hochschulverlegung die Ausbildung der sudetendeutschen Akademiker und die wissenschaftliche Arbeit der deutschen Hochschullehrer auf einen ruhigeren, national weniger umstrittenen Boden gestellt. Auf der anderen Seite [98] ist aber doch auch zu berücksichtigen, daß dadurch das politisch und kulturell so wichtige, heute durch die gewaltige zahlenmäßige Majorität der Tschechen stark gefährdete Prager Deutschtum seinen stärksten Rückhalt verlieren würde.

Während auf dem Gebiete des deutschen Hochschulwesens die antideutsche Einstellung des tschechischen Staates vorwiegend negativ, durch den Mangel der notwendigen Förderung zutage tritt, zeigt sich im Schulwesen eine sehr aktive Offensivpolitik, deren Auswirkungen die Verminderung der deutschen Schulen und Schulklassen und damit die Schwächung des kulturellen Lebens der Sudetendeutschen ist. Die Zahl der deutschen höheren Schulen in den Sudetenländern ging von 1920-1926 von 96 auf 88 zurück; in der gleichen Zeit wurden in Böhmen, Mähren und Schlesien insgesamt 300 deutsche Schulen (davon 136 in Mähren) aufgelöst. Auf der anderen Seite werden tschechische Schulen im rein deutschen Sprachgebiet auch dann errichtet, wenn nur eine ganz unbedeutende Zahl tschechischer Kinder vorhanden ist.

Während so auch in der staatlichen Handhabung des Schulwesens der Sudetendeutschen jener Geist der Deutschfeindlichkeit waltet, der die ganze Politik des tschechoslowakischen Staates charakterisiert, ist die private Bildungs- und Kulturpflege solchen Maßnahmen natürlich weniger zugänglich. Es ist bedeutend, was in dieser Richtung geleistet wird, und eine beträchtliche Zahl von Vereinen und Organisationen mannigfacher Art ist bemüht, den nationalen und kulturellen Besitzstand zu wahren und zu mehren. An erster Stelle steht dabei der "Deutsche Kulturverband" mit dem Sitz in Prag, dessen Hauptaufgabe die Förderung des deutschen Schulwesens ist. Deutsche Volkshochschulkurse sind entstanden; auch die Jugendbewegung hat im Sudetendeutschtum festen Boden gefaßt und ringt um die neuen Lebensformen, die dem Schicksal und den Notwendigkeiten dieses Grenzlandes angepaßt sind.

[99] Keineswegs unbeträchtlich ist der Beitrag, den auf dieser Grundlage das Sudetendeutschtum zum Kulturleben des deutschen Volkes in seiner Gesamtheit geliefert hat, und zwar vorwiegend in Dichtung und Wissenschaft, weniger in der bildenden Kunst und der Musik. Zweimal sind aus dem Sudetendeutschtum Dichter erstanden, die unter den größten des deutschen Volkes genannt werden: die kristallklare Prosa Adalbert Stifters, des Böhmerwäldlers, und die aus tiefster Tiefe des Seelischen schöpfende Lyrik des Pragers Rainer Maria Rilke gehören zum Edelsten, was in deutscher Sprache je geformt worden ist. Aber auch neben diesen beiden ganz Großen stehen viele, deren Namen wert sind genannt zu werden: so finden wir an Dichtern in der älteren Zeit den Südmährer Karl Anton Postl, der unter dem Namen Charles Sealsfield durch seine Romane und Novellen aus dem amerikanischen Leben bekanntgeworden ist, und die feine Novellistin Marie von Ebner-Eschenbach, in der Gegenwart Erwin Guido Kolbenheyer, der, in der Stille schaffend, im historisch-philosophischen Roman wie in der Lyrik Leistungen höchsten Ranges hervorgebracht hat, ferner die Romandichter Robert Hohlbaum, Max Brod, Franz Watzlik, K. H. Strobl, Rudolf Haas, Emil Hadina, den Lyriker Richard Schaukal und den Lyriker und Dramatiker Franz Werfel. In der bildenden Kunst sind die beiden berühmten Barockbaumeister Karl Ignaz Dienzenhofer und Balthasar Neumann, die Bildhauer Franz Metzner und Hugo Lederer, die Maler und Zeichner Alfred Kubin und Emil Orlik sudetendeutschem Boden erwachsen. Unter den zahlreichen sudetendeutschen Wissenschaftlern steht an erster Stelle der berühmte Begründer der Vererbungslehre Gregor Mendel; an in der Gegenwart bekannten sind zu nennen die Literarhistoriker Josef Nadler und August Sauer, der Historiker Dopsch, die Nationalökonomen Herkner und Julius Wolf. Die Allgemeine Deutsche Biographie nannte unter rund [100] 26 000 Persönlichkeiten 850 aus den Sudetenländern. Wahrlich kein kleiner Beitrag, den der größte grenzlanddeutsche Stamm zum gesamtdeutschen Geistesleben geliefert hat!

Für die wirtschaftliche und soziale Struktur des Sudetendeutschtums ist das starke Überwiegen der Industrie (einschließlich des Bergbaues) charakteristisch. Nach der Volkszählung von 1921 gestaltete sich die Verteilung der Berufstätigen auf die einzelnen Wirtschaftsabteilungen folgendermaßen (siehe die Tabelle auf S. 101 [Scriptorium merkt an: hier gleich nachfolgend eingefügt.]).

[101]
Wirtschafts-
abteilung
D e u t s c h e   i n Deutsche der
Sudetenländer
im ganzen
Böhmen Mähren Schlesien
  Grund-  
zahl
  in  
%
  Grund-  
zahl
  in  
%
  Grund-  
zahl
  in  
%
  Grund-  
zahl
  in  
%

Land- u.
  Forst-
  wirtschaft
263 434    26,4  96 590     38,1  34 135     29,9  394 159    28,8 
Industrie u.
  Gewerbe
519 971    52,0  100 262     39,5  53 336     46,8  673 569    49,2 
Handel u.
  Geldwesen
77 740    7,8  17 347     6,8  7 586     6,7  102 673    7,5 
Verkehr 43 358    4,3  8 792     3,5  4 626     4,1  56 776    4,2 
Staats- u.
  öffentl.
  Dienste,
  freie Berufe,
  Militär
51 350    5,1  18 914     7,4  7 964     7,0  78 228    5,7 
Häusliche
  Dienste u.
  wechselnde
  Lohnarbeit
44 228    4,4  11 925     4,7  6 347     5,5  62 500    4,6 

Summe der Berufstätigen 1 000 081    100  253 830     100  113 994     100  1 367 905    100 

Eine Betrachtung dieser Ziffern zeigt zunächst einmal, daß von den einzelnen Teilen des Sudetendeutschtums Böhmen am stärksten industrialisiert ist, da hier mehr als die Hälfte aller Berufstätigen der Industrie angehören. Vergleichen wir diese Ziffern mit den entsprechenden des Deutschen Reiches, so ergibt sich, daß die Industrie für das Sudetendeutschtum eine sehr viel größere Bedeutung hat als für das Reich; denn während im Sudetendeutschtum 49,2% aller Berufstätigen der Industrie angehörten, waren es im Reiche nach der Berufszählung von 1925 nur 41,4%. Von allen deutschen Ländern sind nur Sachsen und Thüringen, von den preußischen Provinzen nur Westfalen, Rheinland und die Stadt Berlin stärker industrialisiert. Handel und Verkehr dagegen sind im Sudetendeutschtum mit 11,7% der Berufstätigen wesentlich schwächer vertreten als im Reiche, wo nicht weniger als 16,5% in diesen Berufszweigen tätig sind.

Recht lehrreich für die Stellung des Deutschtums im tschechoslowakischen Staate ist auch ein Vergleich dieser Ziffern mit der Berufsgliederung der tschechischen Bevölkerung Böhmens, Mährens und Schlesiens. Bei dieser stehen Industrie und Gewerbe sowie Handel und Geldwesen beträchtlich zurück; größer als beim Deutschtum ist dagegen der Anteil von Landwirtschaft (36,6 gegen 28,8%), Verkehr (die Eisenbahnen!), Staatsdienst und freie Berufe (dabei dürfte der viel stärkere Anteil der Tschechen an der Staatsverwaltung [101=Tabelle] [102] ausschlaggebend sein), endlich beim Militär und bei der wechselnden Lohnarbeit und den häuslichen Diensten.

Dieser ungewöhnlich starke Anteil von Industrie und Gewerbe am beruflichen Aufbau des Sudetendeutschtums ist keineswegs ein Zufall, sondern hängt mit den natürlichen Gegebenheiten aufs engste zusammen.Wie wir schon gesehen haben, ist das deutsche Siedlungsgebiet zum großen Teil Gebirgs- und Gebirgsvorland; die weiten, fruchtbaren Ebenen Mittelböhmens sind größtenteils tschechisches Land. Während hier für die Landwirtschaft (und mit der Landwirtschaft eng zusammenhängende Gewerbezweige, wie z. B. die Zuckerindustrie) sehr günstige Voraussetzungen gegeben waren, zog die kargere Ackerkrume der deutschen Gebiete der landwirtschaftlichen Entwicklung von vornherein engere Grenzen. Zur Unterbringung der Bevölkerungsüberschüsse war daher hier schon in verhältnismäßig früher Zeit der Aufbau einer gewerblichen Produktion erforderlich. Diese aber wurde auch durch die Ausstattung des Landes mit Naturschätzen begünstigt: der Holzreichtum der Wälder, die Braunkohlenlager, das Vorkommen von Kaolinerde boten für eine Reihe der für Deutschböhmen wichtigen Industriezweige die natürliche Grundlage, die zahlreich vorhandenen Wasserkräfte förderten sie.

So ist es kein Wunder, wenn schon in verhältnismäßig früher Zeit die gewerbliche Produktion in Deutschböhmen einen hohen Stand erreicht hatte. Bereits der merkantilistische Schriftsteller F. W. von Hornigk weist in seinem 1684 erschienenen Werke "Österreich über alles, wann es nur will" auf die große Bedeutung Deutschböhmens - auch diesen Ausdruck finden wir bei ihm schon - für die gewerbliche Produktion der Habsburgermonarchie hin. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts sehen wir die Glas-, Wollen-und Baumwollindustrie in Blüte, nachdem schon im ausgehenden Mittelalter das Tuchmachergewerbe eine hohe Entwicklungsstufe erreicht hatte. Die deutschböhmische Textilindustrie [103] erhielt durch die Kontinentalsperre, die die Konkurrenz Englands ausschaltete, einen mächtigen Antrieb. Seither hat sich die industrielle Entwicklung stetig weiter entfaltet, so daß der Industrie des Sudetendeutschtums vor dem Krieg im Rahmen der österreichischen Wirtschaft eine ausschlaggebende Bedeutung zukam. Der Sekretär der Handels- und Gewerbekammer Reichenberg, Karl Kostka, kennzeichnete diese Rolle folgendermaßen:3 "Böhmen war bis 1914 das gewerbe- und industriereichste Kronland von ganz Österreich und damit eines der bemerkenswertesten Industriegebiete der ganzen Welt geworden. In Böhmen entfallen aber wiederum fast 47% der Arbeiterschaft auf die deutschen Bezirke, von den Heimarbeitern 45%. Deutschböhmen vereinigt zuletzt ein Achtel der gesamten Industrie- und Handelsbetriebe Österreichs (ohne Ungarn), ein Siebentel der gewerblich tätigen Personen und ein Fünftel der Heimarbeiterbetriebe. Mit seinen 125 900 gewerblichen und industriellen und Handelsbetrieben und seiner mehr als 600 000 Personen zählenden, im gewerblichen und industriellen Leben sowie in der Heimarbeit tätigen Bevölkerung ist Deutschböhmen, insbesondere wenn man die Größe und Leistungsfähigkeit seiner Betriebe ins Auge faßt, geradezu der Hauptsitz des wirtschaftlichen Lebens der ganzen ehemaligen, jetzt in Stücke zerrissenen Monarchie."

Weitaus an der Spitze aller sudetendeutschen Industriezweige steht die Textilindustrie. Von Asch im Egerlande angefangen, ziehen sich in fast ununterbrochener Kette durch Nord-, Nordost- und Ostböhmen sowie Schlesien textilindustrielle Betriebe aller Art, angefangen von Spinnerei und Weberei bis zu Fertigfabrikaten der verschiedensten Zweige. Die Baumwollspinnerei umfaßte mit 1,33 Millionen Spindeln mehr als ein Viertel der gesamten Baumwollspinnerei des [104] alten Österreich; sie ist ausgesprochene Großindustrie, die auch einige Riesenbetriebe mit mehr als 100 000 Spindeln aufweist, während sich in der Baumwollweberei neben zahlreichen Mittel- und Kleinbetrieben auch heute noch eine beschränkte Anzahl von Hauswebern findet. Wiederum eine ausgesprochene Großindustrie ist die Tuchindustrie und Wollwarenfabrikation, die ihren Hauptsitz in Reichenberg und seiner Umgebung hat. An weiteren Zweigen der Textilindustrie sind zu nennen die Flachs- und Leinenindustrie im östlichen Böhmen, die Wirk- und Strickwarenfabrikation, die sich besonders im Erzgebirge findet, die Stickerei, Spitzen- und Posamentenfabrikation im Erzgebirge und im Egerland.

Der zweitwichtigste deutsch-böhmische Industriezweig, der ebenso wie die böhmische Textilindustrie Weltruf und Weltbedeutung gewonnen hat, ist die Glaswarenindustrie, deren Hauptsitze die Bezirke Gabloz, Tannwald, Haida und Steinschönau sind. Sie beschäftigt etwa 50 000 Arbeiter, die zum großen Teil Heimarbeiter sind. Neben Massenartikeln - vor dem Kriege spielte z. B. die Herstellung von Glasringen für Indien eine große Rolle - werden hier Qualitäts- und Luxuserzeugnisse allerersten Ranges hergestellt. Das Vorkommen von Kaolinerde bildete die Grundlage für die Entwicklung einer keramischen Industrie, deren Hauptsitz der Karlsbader Bezirk ist.

Von erheblicher Bedeutung ist ferner die chemische Industrie, die mit mehreren Großbetrieben in Aussig vertreten ist. Der Aussiger Schichtkonzern hat in der letzten Zeit durch seine Einflußnahme in der reichsdeutschen Margarine- und Schokoladenfabrikation auch im Reiche große Beachtung gefunden.4

[105] Wenn wir schließlich noch die im Erzgebirge sitzende Musikinstrumenten-, Holz- und Schnitzwarenindustrie, die Papierfabrikation und die mannigfachen Betriebe der Metallverarbeitung, des Maschinen- und Apparatebaues erwähnen, so haben wir damit die wichtigsten Industriezweige aufgeführt, die für die wirtschaftliche Struktur des Sudetendeutschtums charakteristisch sind.

Neben der Industrie dürfen wir jedoch auch den Bergbau nicht vergessen. Zwar der Erzbergbau, dem das Erzgebirge seinen Namen verdankt, spielt heute nur noch eine geringe Rolle; an seine Stelle ist die Ausbeutung der Braunkohlenschätze getreten, denen heute ebenfalls erhebliche Bedeutung im Rahmen der sudetendeutschen Gesamtwirtschaft zukommt. Von den drei böhmischen Braunkohlerevieren steht an der Spitze das von Brüx-Dux-Teplitz-Bilin. Deutschböhmen lieferte vor dem Kriege etwa fünf Sechstel der gesamten österreichischen Braunkohleförderung im Gesamtwerte von 110 Millionen Kronen und beschäftigte in diesem Produktionszweige etwa 30 000 Arbeiter. Daß sich unter diesen zahlreiche Tschechen befinden, hat eine unerfreuliche nationalpolitische Bedeutung, von der noch zu reden sein wird.

Die große Entwicklung der bergbaulichen und industriellen Produktion hat dem Sudetendeutschtum die wirtschaftliche Grundlage geschaffen, die es für seinen Bestand braucht. Denn Deutschböhmen ist ein dichtbesiedeltes Land, und wenn seine Landwirtschaft auch auf hoher Entwicklungsstufe steht und höhere Erträge herauswirtschaftet als die tschechische, so vermag sie doch nicht allein das sudetendeutsche Volk zu ernähren. So ist Deutsch-Böhmen also auf den Export industrieller Erzeugnisse angewiesen, und manche seiner hervorragenden Industriezweige, wie die Textil- und die Glaswarenindustrie, haben sich zu ausgesprochenen Exportindustrien entwickelt. Ohne die Industriegebiete Deutsch-Böhmens wäre der tschechoslowakische Staat verhältnismäßig industriearm. [106] Das Sudetendeutschtum bildet daher einen wirtschaftlichen Machtfaktor, dessen Belange auch bei noch so deutschfeindlicher Einstellung der Politik nicht ohne weiteres beiseitegeschoben werden können. Schon 1904 wies der berühmte Nationalökonom Friedrich v. Wieser nach, daß der deutsche Anteil an der Steuerleistung in Böhmen verhältnismäßig viel höher sei als der der Tschechen.

Bedeutet so also der Industriereichtum und die daraus sich ergebende wirtschaftliche Bedeutung eine Verstärkung der Stellung des Sudetendeutschtums in seinem Kampf um Selbstbehauptung, so dürfen doch auf der anderen Seite die nationalpolitischen Nachteile nicht unterschätzt werden, die sich daraus ergeben. Industrialisierung in einem so großen Umfange, wie das Sudetendeutschtum sie erlebt hat, bedeutet die Schaffung sozialer Gegensätze, die in solcher Form die überwiegend agrarischen Gebiete des Grenz- und Auslanddeutschtums nicht kennen. Erstes Erfordernis des Grenzkampfs ist die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Volkstums; sie wird erschwert, ja oft gefährdet durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit, der das Sudetendeutschtum ebenso in zwei soziale Lager spaltet wie das Deutschtum des Reiches.

In der heutigen politischen und sozialen Struktur des Sudetendeutschtums treten diese sozialen Gegensätze sehr deutlich hervor, politisch durch den starken Anteil der sozialistischen Parteien, sozial durch die große Verbreitung der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung in der sudetendeutschen Arbeiterschaft. Wir sahen schon oben, daß von den insgesamt 72 deutschen Abgeordneten 21 auf die deutschen Sozialdemokraten, 6 auf die Kommunisten entfallen, so daß also etwa ein Drittel des sudetendeutschen Volkes seine politische Vertretung auf dem Boden des marxistischen Sozialismus sucht. Ähnlich ist die Struktur der sudetendeutschen Gewerkschaftsbewegung. Im Jahre 1927 waren 330 985 sudetendeutsche [107] Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, die sich auf die einzelnen Gewerkschaftsrichtungen folgendermaßen verteilten:

Sozialdemokratische Gewerkschaften   204 577
Nationale " 51 724
Christliche " 20 277
Gewerkschaften ohne Zentrale 54 407

Weitere 20 000 Sudetendeutsche dürften ferner in der kommunistischen Gewerkschaftsbewegung organisiert sein, die ebenso wie die kommunistische Partei entsprechend dem internationalen Programm des Kommunismus eine Scheidung der Nationalitäten nicht kennt. Es ergibt sich also, daß nahezu zwei Drittel der gewerkschaftlich organisierten Sudetendeutschen auf dem Boden des Sozialismus stehen.

Zu diesen die Struktur des Sudetendeutschtums stark beeinflussenden sozialen Gegensätzen tritt als weiterer Gefahrenpunkt der sudetendeutschen Wirtschaft die antideutsche Politik des tschechischen Staates.5 Dieser hat sich namentlich in den ersten Jahren nach seiner Entstehung so viel wie möglich bemüht, durch tschechische Einflußnahme bei deutschen Banken und Industrieunternehmungen, in der Frage der Aufwertung der österreichischen Kriegsanleihen, in der Handelspolitik der wirtschaftlichen Stellung des Sudetendeutschtums Abbruch zu tun. Die stärkste Gefahr für das Deutschtum liegt aber zweifellos in der Bodenreform.

Diese stellt sich zunächst als eine rein sozialpolitische Maßnahme dar, die gegen eine übergroße Vertretung des Großgrundbesitzes gerichtet ist; sie ist aber, wie fast in allen ost- und südosteuropäischen Staaten, in ihrer Handhabung ein [108] ausgesprochenes Mittel deutschfeindlicher Nationalpolitik.6 [Scriptorium merkt an: man vergleiche die entsprechenden Maßnahmen zur Enteignung der volksdeutschen Minderheit in Polen!] Das beweist schon die Tatsache, daß die betroffenen Großgrundbesitzer größtenteils deutscher Volkszugehörigkeit sind, wenn freilich auch ein Teil des böhmischen Hochadels national wenig zuverlässig ist. Viel schlimmer noch ist die Durchführung, die, wie auch von tschechischer Seite offen zugestanden worden ist, von dem Grundsatz ausging, daß nur Nationaltschechen Nutznießer der Bodenreform werden sollen. So werden tschechische Kolonisten in großer Zahl in früher rein deutsche Siedlungsgebiete verpflanzt. Und das ist das gefährlichste Mittel der antideutschen Politik des tschechoslowakischen Staates: tschechische Minderheiten zu schaffen im deutschen Siedlungsgebiet und damit den rein deutschen Charakter dieser Gebiete zu durchlöchern. Dazu soll die Bodenreform dienen, die weitestgehende Bevorzugung nationaltschechischer Beamter, die Verlegung tschechischer Garnisonen in deutsche Gebiete, u. a. m. Den zugewanderten Tschechen folgt sehr bald die tschechische Schule, auch wenn gar kein Bedarf für sie da ist, ebenso wie die tschechische Vereinsorganisation. Ein Hauptangriffspunkt sind dabei natürlich die deutschen Sprachinseln inmitten tschechischen Volksbodens; aber auch über diese hinaus sucht die tschechische Politik etwa schon vorhandene tschechische Minderheiten - meist kleinster Zahl - als Stützpunkte ihres still, aber zäh vor sich gehenden Angriffs zu gewinnen. Die wichtigste tschechische Minderheit dieser Art bilden die schon erwähnten tschechischen Arbeiter im Braunkohlengebiet von Brüx-Dux-Bilin; ihre Seßhaftmachung war eine un- [109] erfreuliche Nebenwirkung der Entwicklung des Braunkohlenbergbaues, der auf die Heranziehung großer Arbeitermassen angewiesen war. Diese Entwicklung beginnt in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Während z. B. im Bezirk Bilin 1880 von 22 000 Einwohnern nur 1500 Tschechen waren, standen 1921 12 000 Tschechen 23 000 Deutschen gegenüber. Im ganzen nordwestböhmischen Braunkohlenrevier ist der Bevölkerungsanteil der Tschechen von 8% im Jahre 1880 auf 34,5% 1921 gestiegen - ein Beispiel dafür, wie stark sich in kurzer Zeit die Bevölkerungszusammensetzung eines Gebietes durch Zuwanderung verändern kann.

Dieses Beispiel zeigt, wie groß für das Sudetendeutschtum die Gefahren sind, die sich aus einer planmäßigen Durchsetzung des deutschen Siedlungsgebietes mit tschechischen Minderheiten ergeben. Das Sudetendeutschtum sieht sich hier einer ganz ähnlichen Richtung der tschechischen Politik gegenüber, wie die Polen sie in Pommerellen betrieben haben; auch im Böhmerland wird der nationale Kampf letztlich ein Kampf um den Bestand des Volksbodens. Freilich können die Tschechen hier nicht mit den gleichen brutalen Mitteln vorgehen wie die Polen in Westpreußen; das geschlossene Sieldungsgebiet Sudetendeutschlands bietet denn doch einen Widerstand, dessen Stärke auch die tschechische Politik richtig einstellt. Aber die Gefahr bleibt bestehen, um so mehr, als dieser Kampf sich in der Stille und in einer Unzahl von Einzelmaßnahmen abspielt.

Um ihn zu bestehen, braucht das Sudetendeutschtum in erster Linie: Einheit. Wir haben in unserer Darstellung der Bedingungen, unter denen deutsches Volkstum in den Sudetenländern lebt, auf mancherlei Punkte hinweisen müssen, die diese Einheit stören. Da ist einmal die ungünstige geopolitische Lage des Sudetendeutschtums, das zwar überall mit dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet in Deutschland und Deutsch-Österreich zusammenhängt, innerhalb des tschechi- [110] schen Staates aber in mehrere mit dem Hauptgebiet in Nord- und Ostböhmen mangelhaft verbundene Einzelstücke zerfällt. Wir haben weiterhin Gegensätze politischer und sozialer Art kennengelernt: den Gegensatz von Kapital und Arbeit ebenso wie die Trennung der sudetendeutschen Politik in das "aktivistische" und das "negativistische" Lager.

Diese Gegensätze sind da; aber sie sind nicht unüberbrückbar. Es ist die große Aufgabe der heutigen Führer Sudetendeutschlands, über diese Gegensätze hinweg, welcher Art sie auch sein mögen, die große Einheitsfront des sudetendeutschen Volkes in allen den Fragen herzustellen, die über den Bestand des Volkstums und des Volksbodens entscheiden. Aber auch das Handeln des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes muß darauf eingestellt sein, daß die Lebensfragen von dreieinhalb Millionen deutscher Menschen in den Sudetenländern für die deutsche Zukunft nicht gleichgültig sind.

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1Die deutschen Grenzlande, S. 158. ...zurück...

2Vgl. dazu das lehrreiche Buch von Paul Molisch, Vom Kampf der Tschechen um ihren Staat (Wien 1929). ...zurück...

3"Deutschböhmens Handel und Industrie" (in: "Deutschböhmen," Jahrg. 5, 1918, der Zeitschrift Deutsche Kultur in der Welt), S. 29/30. ...zurück...

4Es ist ein Beweis für die geringe Kenntnis grenzlanddeutscher Dinge im Reiche, daß dieser bis heute rein deutsche Konzern in der Presse gewöhnlich als "tschechische" Firma bezeichnet wird. ...zurück...

5Vgl. dazu die ausgezeichnete Darstellung von Franz Arens, "Die nationalwirtschaftlichen Verluste des Sudetendeutschtums," in Archiv für Politik und Geschichte, Jahrg. 4, Heft 10/11; Jahrg. 5, Heft 1. ...zurück...

6"Nach zuverlässigen Schätzungen wurden bisher 435 000 Hektar landwirtschaftlichen Bodens enteignet, davon erhielten die deutschen und magyarischen Minderheiten, die mehr als ein Drittel der Bevölkerung zählen, rund 15 000 Hektar = 3%. Restgüter wurden 1292 ausgesetzt, davon bekamen die Deutschen kaum ein Dutzend." (Franz Jesser in Die grenz- und volkspolitischen Folgen des Friedensschlusses [1930], S. 372.) ...zurück...



Das Buch der deutschen Heimat, besonders die Kapitel "Sudeten" und "Oberschlesien."

Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches, besonders die Kapitel "Das Sudetendeutschtum und die Deutschen in der Slowakei" und "Das Hultschiner Ländchen."

Zehn Jahre Versailles, besonders Bd. 3, die Kapitel "Gegnerische Gebietsforderungen und ihre Vorgeschichte: Die Tschechen" und "Gebietsverlust durch erzwungene Abtretung oder Verselbständigung: Hultschin."

Das Versailler Diktat. Vorgeschichte, Vollständiger Vertragstext, Gegenvorschläge der deutschen Regierung


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Das Grenzlanddeutschtum
Mit besonderer Berücksichtigung seines Wirtschafts- und Soziallebens

Dr. Karl C. Thalheim