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VI. Schlußfolgerungen

Wir sind am Ende unserer Darstellung, soweit sie auf akten- und zahlenmäßigen Unterlagen beruht. Die Schlußfolgerungen, die im einzelnen daraus zu ziehen waren, sind an Ort und Stelle besprochen worden. Es bleibt übrig, zu prüfen, was sich für das Gesamtproblem der Wiederaufnahme einer aktiven deutschen Kolonialpolitik aus ihnen ergibt:

Am Anfang jeder Erörterung dieses Problems steht die Frage: Braucht Deutschland überseeische Kolonien?

Von dem nach unserer Ansicht wichtigsten Gesichtspunkt der Rohstoffversorgung des Mutterlandes, also vom Standpunkt des Verbrauchers aus betrachtet, zeigen die Zahlen, die in den vorstehenden Abschnitten mitgeteilt sind, zwingend, daß Deutschland unter allen Umständen koloniale Rohstoffe, und zwar in großen, wachsenden Mengen braucht. Sie zeigen aber außerdem, daß Deutschland zur Zeit in seiner Versorgung mit diesen Rohstoffen vollständig vom Auslande abhängig ist. Da die Verfügung über Baumwolle, Faserstoffe, Kautschuk, tropische Öle u. dgl. Lebensbedingungen der deutschen Volkswirtschaft berührt, liegt in einer unbeeinflußbaren Abhängigkeit eine Gefährdung wichtigster Wirtschaftsinteressen. Wo diese Abhängigkeit uns einem Lieferungsmonopol gegenüberstellt, macht sie uns auch rein spekulativer Ausnutzung der Machtstellung des Lieferanten gegenüber wehrlos. Gelänge es, unter Beteiligung der deutschen verbrauchenden Industrie innerhalb des Rahmens der deutschen Volkswirtschaft überseeische Rohstoffe in einer Menge hervorzubringen, die auf dem Weltmarkt ins Gewicht fiele, so würde die jetzige Abhängigkeit sich im Verhältnis zur fortschreitenden Erzeugung lockern, die Sicherung des Bedarfs würde in gleichem Maße steigen, die rein spekulative Preisbildung würde ebenso erschwert werden.

Die zweite Grundfrage ist: Bot unser überseeischer Besitz die Möglichkeit zur Erschließung solcher ergiebigen Rohstoffquellen?

[142] Die Entwicklungsreihen, die wir wiedergegeben haben, und die Beispiele, die wir über die wirtschaftliche Entfaltung gleichartiger fremder Produktionsgebiete angeführt haben, zeigen, daß diese Möglichkeit durchaus gegeben war. Gewiß konnte die deutsche Kolonialwirtschaft noch nicht mit zahlenmäßig gewaltigen Erträgen aufwarten. Gleichwohl ist es eine Irreführung, das Erreichte als unzulängliches Ergebnis von mehr als drei Jahrzehnten Kolonisierungstätigkeit auszugeben und damit die wirtschaftliche Nutzbarmachung unseres einstigen Überseebesitzes als ein aussichtsloses Unternehmen abzutun. In Wirklichkeit hat von jenen drei Jahrzehnten kaum mehr als eins- für die planmäßige Erschließung der deutschen Kolonien verwendet werden können, und in dieser Zeit hat sich der Wert ihres Außenhandels auf das Sechsfache, der Wert des deutschen Handels mit den Kolonien auf das Fünffache gesteigert. Und daß diese Entwicklungslinie erst den Anfang einer aufsteigenden Bahn darstellte, zeigen sogar die mitgeteilten Nachkriegszahlen der Mandatsberichte.

Eine dritte Hauptfrage ist endlich: Haben wir Deutsche ein Recht, uns für befähigt zu halten, erfolgreiche Kolonialwirtschaft zu betreiben?

Es ist klar, daß dies eine Frage von großer Bedeutung ist. Denn wäre sie zu verneinen – wie es nicht nur im Lager unserer Kriegsgegner, sondern leider auch im eigenen Lande geschehen ist –, so wäre die Wiederaufnahme einer aktiven Kolonialpolitik als Versuch mit untauglichen Mitteln zu verwerfen. Indessen berechtigt uns schon das Vorkriegsergebnis unserer Kolonialwirtschaft dazu, diese Frage zu bejahen. Noch mehr aber das Urteil, das im Verhalten unserer Wirtschaftsnachfolger liegt: Obwohl der uns im Versailler Vertrag aufgezwungene Verzicht auf unsere Kolonien mit unserer kolonisatorischen Unfähigkeit begründet worden war, ist den Mandataren des Völkerbundes schließlich doch nichts anderes übrig geblieben, als – nach enttäuschenden Versuchen, neue Wege zu gehen – auf die deutschen Erschließungsmethoden mehr und mehr zurückzugreifen. Die deutschen Forschungsinstitute und Versuchsanstalten haben sich als unentbehrlich erwiesen, die sanitären Maßnahmen wurden, wenn überhaupt, nach deutschem Vorbild wieder aufgenommen, die unter unserer Verwaltung erprobten Mittel zur Hebung der Produktivität werden wieder angewandt. Jeder neue Jahresbericht der Mandatsmächte läßt das deutlicher erkennen, und die unmittelbare Anerkennung unserer Leistungen auch aus dem [143] Munde früherer Gegner mehrt sich, wie wir an anderer Stelle an einigen Beispielen zeigten.

Die Not an kolonialen Rohstoffen, die Eignung unseres früheren Kolonialbesitzes zu ihrer Linderung, die Erprobtheit unserer Erschließungsmethoden begründen somit, rein sachlich gesehen, die Forderung nach Wiederaufnahme einer deutschen Kolonialwirtschaft. Gleichwohl müßte davon Abstand genommen werden, wenn Gründe von schwererem Gewicht als die von uns angeführten dagegen sprächen.

Es wird zunächst ganz allgemein eingewendet, die deutsche Politik vertrage nach Versailles keine Romantik mehr, und die deutsche Kolonialfrage sei keine Frage, die rein gefühlsmäßig zu entscheiden wäre. – Wir glauben gezeigt, zu haben, daß in den Erwägungen, die uns die Notwendigkeit deutsch-kolonialer Betätigung bejahen lassen, weder die Romantik noch das Gefühl eine Rolle spielt, noch auch die Absicht, etwa lediglich durch eine Art überseeischen Imperialismus um jeden Preis unsere Weltgeltung erneut zu dokumentieren. Die Überlegungen, die uns zu der Forderung nach Erneuerung unserer überseeischen Kulturtätigkeit führen, entspringen sehr nüchternen volkswirtschaftlichen Betrachtungen. Allerdings wollen wir mit ihrer Hilfe zu einer neuen Weltgeltung gelangen, aber auf dem Wege friedlicher Arbeit, friedlicher Zusammenarbeit mit den Mächten, die das gleiche Ziel bereits erreicht oder vor Augen haben.

Ein weiterer Einwand ist: Schon vor dem Kriege hätten die Kolonien eine schwere Etatbelastung dargestellt. Mit ihrem Wegfall sei auch ein "fauler Passivposten" aus unserer Bilanz ausgeschieden. Gegenwärtig sei eine Erweiterung unserer wirtschaftlichen Operationsbasis außerhalb der Grenzen unseres Landes mit der politischen und wirtschaftlichen Lage des machtlosen und blutleeren Deutschland vollends nicht zu vereinen. – Demgegenüber ist zunächst darauf hinzuweisen, daß der erste Teil dieser Behauptung sachlich falsch ist. Auf Seite 15 ist die Entwicklung der Finanzgebarung der deutschen überseeischen Produktionsgebiete – das heißt der Afrika- und Südseekolonien ohne Kiautschou – zahlenmäßig dargestellt. Sie hat verhältnismäßig schnell dahin geführt, daß der Etat des Reiches im wesentlichen nur mehr mit Ausgaben für den Unterhalt der Schutztruppe belastet blieb. Der Reichszuschuß war 1914 für alle Schutzgebiete zusammen auf 20,3 Millionen M veranschlagt, die Gesamtausgaben aller Kolonien für die Militärverwaltung auf 21,6 Millionen M. Dem Zuschuß standen gegenüber 58,1 Millionen M [144] eigener Einnahmen aus Steuern, Zöllen usw., ferner 12,3 Millionen M ordentlicher Einnahmen aus Ersparnissen früherer Rechnungsjahre und 60,2 Millionen M an außerordentlichen Einnahmen. Außer einem – allerdings kleinen – Teil der Schutztruppenbelastung trugen die Schutzgebiete also alle Ausgaben, auch die Lasten für die Verzinsung der Anleihen und die Finanzierung der Bahnbauten, selbst. Die Kosten der heimischen Zentralverwaltung waren vergleichsweise niedrig: für 1914 waren im ordentlichen Etat des Reichskolonialamts die fortdauernden Ausgaben auf 3,0, die einmaligen Ausgaben auf 3,8 Millionen M veranschlagt, denen 1,5 Millionen M an Einnahmen gegenüberstanden. – Wird weiter berücksichtigt, daß im letzten Friedensjahr rund 107½ Millionen M im Handel zwischen den Kolonien und dem Mutterlande umgesetzt wurden, daß von den rund 54½ Millionen M Ausfuhr ein Teil als steuerpflichtiger Verdienst im Lande blieb, daß von den rund 53 Millionen M Einfuhr dem Reich Zolleinnahmen erwuchsen, so zeigt sich die Unrichtigkeit der Berechnung, die zu dem eingangs zitierten Ergebnis kommt, auch wenn man den Kapitalwert der Kolonien als werbender Anlagen ganz beiseite läßt. Der oft gehörte Einwand, das verhältnismäßig günstige Aussehen unserer Kolonialetats sei im wesentlichen den unerwarteten Diamantfunden, also einer Art Zufallsgeschenk, zu verdanken, ist ebenfalls nicht richtig. Die vorstehend aufgezeigte günstige Gesamtfinanzgebarung gilt auch für jedes einzelne Schutzgebiet, außer vielleicht für Neu-Guinea und das Inselgebiet, die zusammen 1914 noch eines nicht für Militärzwecke bestimmten Reichszuschusses von 1,7 Millionen M bedurften, um ihren Etat im Gleichgewicht zu halten. Für Südwestafrika waren allerdings die Einnahmen aus den Diamantenfunden das finanzielle Rückgrat. Gleichwohl ist es irreführend, diese Vorkommen als eine Art Lotteriegewinn hinzustellen und sie aus der Bilanz auszuscheiden. Die Diamantenfunde bewiesen lediglich den Wert und die Bedeutung der Kolonie und deuteten auf eine geologische Beschaffenheit hin, die weitere Bodenschätze vermuten und in der Tat auch finden ließ. Rein finanzwirtschaftlich gesehen, ist es letzten Endes gleichgültig, ob solche Bodenschätze in Diamanten oder Kupferminen oder Petroleumquellen bestehen.

Wenn bei der Prüfung des Kolonialproblems, wie es heute sich darstellt, auf die wirtschaftlich und politisch schwache Stellung Deutschlands hingewiesen wird, die uns eine Beteiligung an kolonialwirtschaftlichen Unternehmungen im früheren Umfang verbiete, so ist dem folgendes entgegenzuhalten: Niemand kann diese schwache Stellung Deutschlands bestreiten, aber wir sehen [145] in ihr doch nicht den Beharrungszustand, sondern einen Übergangszustand, aus dem heraus ein Weg zu einem wiedererstarkten Deutschland führen soll. Wir erblicken gerade darin, daß wir uns ein Feld für aussichtsreiche überseeische Betätigung sichern, ein Mittel, diesen Weg abzukürzen, und halten es im Hinblick auf die Sicherung unserer Zukunft für verhängnisvoll, grundsätzlich auf einen Anteil an überseeischen Produktionsquellen zu verzichten. Daß wir sie nicht von heute auf morgen voll ausnützen können, ist richtig. Gewiß würde es lange Jahre schwerer Arbeit kosten, den überseeischen Teil unserer Produktionsbasis zu einem gewichtigen Aktivposten unserer Volkswirtschaft zu machen. Indessen ist jede Kolonialpolitik, die nicht auf Ausbeutung, sondern auf Erschließung ausgeht, Politik auf lange Sicht, ist Zukunftsarbeit – wie auch unsere Arbeit um Deutschland auf die Zukunft eingestellt ist.

Wenn weiter eingewendet wird, Deutschland könne schon deshalb kolonialen Besitz nicht erneut anstreben, weil es gar nicht in der Lage sei, ihn zu behaupten und sich gegen etwaige Eingriffe mit Waffengewalt zu wehren, so wird übersehen, daß diese Schwäche der überseeische, vom Mutterlande getrennte koloniale Besitz fast aller Kontinentalstaaten hat. Zudem hat die Erkenntnis der für alle europäischen Beteiligten furchtbaren Folgen des letzten Krieges der internationalen Politik unleugbar eine Richtung gegeben, die einer solchen tatsächlichen Schutzlosigkeit ihre Gefahren nehmen will. Wem das eine zu unsichere Gewähr scheint, der möge bedenken, daß jener Einwand für das Deutschland selbst, in dem wir leben und auf dessen Erstarkung wir hoffen, in erster Linie zutrifft. Auch Deutschland ist heute seines Waffenschutzes entkleidet. Trotzdem arbeiten wir an seinem Wiederaufbau und hoffen, dies Ziel zu erreichen.

Ein besonders gewichtiger Einwand gegen den Wiedereintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte mag zuletzt erörtert werden: Es wird darauf hingewiesen, daß die unbedingte Vorherrschaft der weißen Rasse den Völkern, die sich ihr bisher gebeugt hatten, nicht mehr unerschütterlich erscheine. Schon bahnten sich in einigen Teilen der Welt Auseinandersetzungen an, die die Rassen vielleicht in zwei Lager spalten würden. Und so sei zu befürchten, ein Deutschland, das in Übersee wieder Herrenrechte ausüben wolle, laufe Gefahr, in schwere weltpolitische Verwicklungen verstrickt zu werden. – In der Tat zeigt uns die Nachkriegszeit bereits Kämpfe, die aus solcher Gegensätzlichkeit entsprungen sind. [146] Der Weltkrieg hat den Samen dazu ausgestreut. Er hat seinen Flammenschein auch auf Afrika geworfen und dort Veränderungen hervorgerufen, die nicht lediglich wirtschaftlicher Art sind: Die Einstellung der eingeborenen Bevölkerung ist zweifelsohne eine andere geworden. Seitdem der Farbige Schulter an Schulter mit dem Weißen auf andere Weiße geschossen hat, ist ihm der Glaube an die absolute Überlegenheit der weißen Rasse zum mindesten vorübergehend verlorengegangen. Und wenn auch der Ruf "Afrika den Afrikanern" heute noch nicht allgemein erklingt, so ist doch in Nord- und Südafrika mit einer gewissen nationalistischen Einstellung der Farbigen zu rechnen. Man wird daher diesen Überlegungen ihre Bedeutung nicht absprechen können. Indessen sind jene Gebiete unserer unmittelbaren Interessensphäre entrückt. Für Äquatorialafrika sind die gleichen Voraussetzungen noch nicht gegeben. Seine Bevölkerung ist weder dicht, noch einheitlich, noch zivilisiert genug, um aus sich heraus zu selbständiger staatlicher oder wirtschaftlicher Entwicklung in modernem Sinne gelangen zu können. Hier bietet sich zweifellos den in der eigenen Entfaltungsmöglichkeit aus natürlichen Gründen gehemmten, auf weltwirtschaftliche Beziehungen angewiesenen Industriestaaten noch ein weites Feld für wirtschaftliche Betätigung. Allerdings wird für die Gestaltung der Zukunft viel auf die Form ankommen, in die die einzelnen europäischen Kolonialmächte ihre politische Stellung in Afrika kleiden und auf die Richtung, die sie in der Behandlung der Eingeborenen anschlagen.

Die sachlichen Gründe, die den Wiedereintritt Deutschlands in die Reihe der Kolonialmächte erfordern, können durch die erörterten Einwendungen sonach nicht erschüttert werden. Zu den politischen Forderungen, die sich daraus ergeben müssen, führt folgende Überlegung:

Der Artikel 119 des Versailler Vertrages, der den restlosen Verzicht Deutschlands auf seine Schutzgebiete erzwang, wurde begründet mit dem Komplex von Behauptungen, die wir unter dem Begriff der kolonialen Schuldlüge zusammenfassen. Die amtlichen Dokumente darüber haben wir im II. Abschnitt wiedergegeben und gewürdigt. Auf jenen Verzicht wurde das Mandatssystem aufgebaut. Es kann uns gleichgültig sein, aus welchen Gründen Herr Wilson die "moralische'' Seite der Angelegenheit in den Vordergrund rückte und sich gegen die Übereignung der deutschen Kolonien an die alliierten und assoziierten Hauptmächte erfolgreich wehrte. Tatsache ist, daß nach außen hin die Kolonien nicht als Kriegsbeute erklärt wurden, [147] sondern daß sie, bis auf das an Frankreich zu voller Souveränität zurückgegebene Neu-Kamerun und einige Teilstückchen von Ostafrika und Südwest, Beauftragten des Völkerbundes zu treuen Händen in Verwaltung gegeben wurden, weil – so ist es in der Note vom 16. Juni 1919 ausgeführt – Deutschland auf dem Gebiet der kolonialen Zivilisation versagt habe, weil seine Wirtschaftsmethoden nichts taugten, weil es die Kolonien als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den Handel der Erde verwendet habe, und weil die Kolonien wirtschaftlich für Deutschland von keiner Bedeutung seien.

Diese Begründung war schon falsch, als sie aufgestellt wurde. Aber sie konnte angesichts der geistigen Einstellung der Welt von 1919 eben aufgestellt werden. Heut ist jene Begründung auch vor der Welt als falsch erwiesen. Nachdem fast sieben Jahre voller Erfahrungen und Erkenntnisse aufklärend gewirkt haben, würde sie vor keinem Forum der Welt mehr ernsthaft vertreten werden können. Sie wird auch im Lager unserer Kriegsgegner heute nicht mehr vertreten. Daraus ergibt sich die politische Forderung nach Wiedergutmachung eines uns zugefügten Unrechts, und diese Forderung muß lauten:

Aufhebung einer auf falscher Begründung aufgebauten Regelung – freie Bahn der Wiederaufnahme kolonialwirtschaftlicher Betätigung für Deutschland!







Die Bedeutung kolonialer Eigenproduktion
für die deutsche Volkswirtschaft

Dr. Max Warnack