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II. 4. Polnische Assimilierungstendenzen

a) Allgemeines

Wenn mancherorts die eben geschilderten polnischen Verdrängungstendenzen nicht so krass in Erscheinung traten, so geschah das lediglich deswegen, weil die polnischen Behörden glaubten, mit einer baldigen Polonisierung der betreffenden Deutschtumsgruppe rechnen zu können. Da im Laufe der Jahrhunderte viel deutsches Blut im Polentum aufgegangen war, waren viele Polen von der Anziehungskraft ihrer Kultur so sehr überzeugt, daß sie ein Aufgehen der deutschen Bevölkerung als etwas selbstverständliches, als einen "natürlichen Entwicklungsprozess" ansahen. Wenn sie diesen Vorgang hätten ausreifen lassen und ihrerseits nur um ein gedeihliches Klima besorgt gewesen wären, indem sie den fremden Volksgruppen die Kultur des eigenen Volkes im möglichst günstigen Lichte hätten erscheinen lassen, dann hätte ihnen dieses Recht niemand bestreiten können. Sie hätten dann auch bestimmt [153] mehr Erfolge erzielen können. Denn der häufige, oft tägliche Umgang mit Angehörigen des Staatsvolkes, die kulturellen Ausstrahlungen desselben, der Gebrauch der Staatssprache, die mehr oder minder große Abgeschlossenheit, nicht aufzufallen oder anzuecken, bringen es schon mit sich, daß viele Angehörige einer fremden Volksgruppe im Staatsvolk von selber aufgehen bzw. aufgegangen sind, ohne daß ein Druck auf sie ausgeübt worden wäre - oder vielleicht gerade wegen des Fehlens eines solchen Druckes. Das hatte z. B. der polnische Vizeminister Piasecki in Bezug auf die Polen in den Vereinigten Staaten von Amerika selbst festgestellt.88

In Polen aber überließ man die Dinge nicht dem so oft zitierten "Naturprozess". Allem Anschein nach fühlte man sich seiner Sache doch nicht so sicher, als daß man auf ein Nachhelfen verzichtet hätte. Im Gegenteil, man wollte diesen Prozess wesentlich beschleunigen, ohne dabei nach Recht oder Unrecht zu fragen, um auf diese Weise den angestrebten Nationalstaat so früh wie möglich verwirklichen zu können. Das ist von polnischer Seite oft genug zugegeben worden.89 Aber diejenigen, die als Sachwalter der deutschen Volksgruppe diesen dem Minderheitenschutzvertrag widersprechenden Tendenzen entgegenzutreten wagten, wurden behandelt, als vergingen sie sich an einer geheiligten Ordnung. So glaubten weite polnische Kreise, das Deutschtum Mittelpolens sowie Westgaliziens zum großen Teil als assimilierungsreif ansehen zu können, da einige der eben skizzierten Formen der freiwilligen Assimilierung gegeben zu sein schienen. Die meisten der dortigen Deutschen, vor allem die in den Städten und außerhalb der geschlossenen deutschen Siedlungen in der Zerstreuung unter Polen lebten, beherrschten nämlich die polnische Sprache mehr oder minder gut, hatten womöglich einige polnische Umgangsformen oder Gebräuche angenommen, [154] konnten schon infolge der geographischen Lage ihrer engeren Heimat nicht an eine Vereinigung mit dem Mutterland denken, hatten sich schon manchmal in Not und Gefahr, z. B. während des polnisch-bolschewistischen Krieges 1920, als zuverlässige und opferbereite Bürger ihres Wohnstaates erwiesen, so daß in den Augen vieler Polen eine restlose Polonisierung dieser "polnischen Staatsbürger evangelischen Glaubens" nur eine Frage der Zeit sein konnte. Spätestens die jetzt im neuen Polen heranwachsende Generation müsste doch gute, 100%ige Polen abgeben. Daß diese Ansicht nicht oder nur z. T. zutraf, steht auf einem anderen Blatte. Aber die der polnischen Auffassung nach assimilierungsreiferen Deutschtumsbezirke wurden auf kulturellem Gebiet nicht etwa entgegenkommender behandelt. Im Gegenteil, man befürchtete, daß sich dieser angebahnten Entwicklung etwas entgegenstellen könnte, so daß gerade dort die polnischen Assimilierungstendenzen am unverhülltesten in Erscheinung traten. Damit nämlich der aufgezeigte Wunschtraum in Erfüllung ginge, mussten die Kinder der noch deutschsprachigen Eltern ohne Rücksicht auf die den nationalen Minderheiten zugesicherten Rechte nur noch polnische Schulen besuchen, durften Jugendlichen keinen Zusammenschluss unter Deutschen pflegen, durfte in der Kirche die alte Muttersprache nicht mehr gehegt werden, musste all das von der heranwachsenden Generation ferngehalten werden, was dazu angetan sein konnte, diesen Prozess zu verlangsamen.

Von diesem kulturpolitischen Programm ließen sich die polnischen Behörden leiten, und zwar nicht nur in den beiden bereits genannten deutschen Siedlungsgebieten, sondern auch in den restlichen, wenngleich man sich hier von vornherein auf eine längere Dauer dieses Prozesses gefasst machte. Diese polnischen Assimilierungstendenzen gefährdeten das Deutschtum, dessen Bestand durch den Minderheitenschutzvertrag [155] garantiert zu sein schien, noch mehr als die Verdrängungsmaßnahmen. "Verdrängte" Deutsche, die um ihre Scholle oder Existenz gebracht wurden, konnten sich womöglich an einer anderen Stelle oder in einem anderen Land eine neue gründen (z. B. die Grenzgänger in Oberschlesien). Außerdem gingen sie, umso mehr wenn sie ins Reich oder überhaupt ins deutsche Sprachgebiet abwanderten, ihrem Volke nicht verloren. Das enteignete Land konnte bei irgendwelchen Veränderungen leicht wieder an den ursprünglichen Besitzer zurückgegeben, der entlassene Arbeiter oder Angestellte wieder eingestellt werden. Dagegen waren völlig im Polentum aufgegangene Deutsche für ihr abgestammtes Volk für immer verloren und wurden oft zu schärfsten Gegnern desselben. Da die polnischen Umvolkungstendenzen z. T. mit den Verdrängungsmaßnahmen verquickt waren, wie z. B. die Entlassungen in Ostoberschlesien mit den Anmeldungen zur deutschen Schule, wurden sie schon und werden noch laufend in der Darstellung mitberücksichtigt. In diesem Kapitel wollen wir unser Hauptaugenmerk auf den Kampf um die Schule und um die Kirche richten.



b) Der Kampf um die Schule

Die Einschulung der deutschen Kinder

In allen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Staatsvolk einerseits und Minderheit oder Volksgruppe andererseits spielte die Schulfrage aus verständlichen Gründen eine besonders große Rolle. Wir wollen die Darlegung der polnischen Maßnahmen und Erfolge auf diesem Gebiet mit einigen Zahlenangaben aus der amtlichen polnischen Statistik beginnen. Danach gab es in ganz Polen öffentliche und private Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache:

      im Schuljahr 1929/30 768 mit 62000 Kindern;
      im Schuljahr 1934/35 490 mit 55700     "
      im Schuljahr 1936/37 428 mit 40700     "
      im Schuljahr 1937/38 394 mit 36300     "

[156] Wir gehen bewusst nicht vom Jahre 1919 oder 1922 aus, da damals in Westpolen wesentlich mehr Deutsche gelebt haben. Wir müssen aber erwähnen, daß in Mittelpolen im Jahre 1919 564 deutsche Volksschulen, in Wolhynien noch 1931/32 80, in Posen-Westpreußen 1924/25 557, in Ostoberschlesien 1927/28 84 deutsche Volksschulen bestanden hatten. Obwohl also schon in den ersten zehn Jahren des Versailler Polens die deutschen Schulen gewaltig zusammengeschmolzen waren, verminderte sich deren Anzahl von 1928 bis 1938 erneut, und zwar um die Hälfte. Polnischerseits ist dieser Rückgang gern mit der Abwanderung der Deutschen aus Polen erklärt worden,90 in voller Außerachtlassung der Tatsache, daß sowohl die Massenabwanderung Deutscher im Jahre 1926 zum Stillstand gekommen war, nicht aber der Rückgang der deutschen Schulen. Wir sind jedoch in der Lage, diesen Rückgang anhand der polnischen Statistik einwandfrei zu erklären, indem wir sämtliche Angaben zweier Jahrgänge aufgliedern und zusammenstellen. Vorausgeschickt muss werden, daß die staatlichen Schulen mit sogen. Deutscher Unterrichtssprache durchweg nur gemischtsprachige Schulen waren. In Mittelpolen wurde in den meisten dieser Schulen außer dem deutschen Sprachunterricht nur noch Religion in deutscher Sprache unterrichtet. Auch in Westpolen wurde in allen staatlichen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache mindestens Geschichte und Erdkunde in polnischer Sprache unterrichtet. Darüber hinaus gab es in verschiedenen Teilen Polens Schulen, die schon dem Namen nach beide Sprachen, deutsch und polnisch, als Unterrichtssprache führten. In diesen hatten die Kinder genau so wie in den mittelpolnischen als "deutsch" bezeichneten staatlichen Anstalten nur 4 Stunden in der Woche muttersprachlichen Unterricht. Wir bringen jetzt - wieder auf Grund amtlichen polnischen Materials - eine Zusammenstellung über die Einschulungen derjenigen deutschen Kinder in Polen, die überhaupt [157] einen deutschen Schulunterricht genossen, für das Schuljahr 1936/37 und 1937/38.

Schulgattung  Unterrichts- 
sprache
dt. Stdn. A n z a h l
1936/37 1937/38
 Schulen   Kinder   Schulen   Kinder 
Privat-
 gymnasium
deutsch 16-22 17     1000 15     900
Privat-
 volksschulen
deutsch 12-20 243     15500 234     15100
staatl. od.
 kommunale
 Volksschulen
"deutsch" 5-12 185     25200 160     21200
staatl.
 Volksschulen
poln. u. dt. 4 159     33900 203     36500
staatl.
 Volksschulen
polnisch 2 68     5600 78     8100

81200 81800

Diese rund 81800 sind aber bei weitem nicht alle deutschen Kinder in Polen. Im Jahre 1935/36 hatte Polen bei rund 34 Millionen Einwohnern 5100000 Kinder im schulpflichtigen Alter, das wären also 15% der Gesamtbevölkerung. Da die Kinderzahl des westpolnischen Deutschtums unter dem Landesdurchschnitt lag, können wir diesen Prozentsatz (das wären 150000 Schulkinder) für die Volksgruppe nicht übernehmen. Auf Grund vorliegender Kinderzahlen für Mittelpolen (50000), für Posen-Westpreußen (34000), für die Evangelischen Galiziens (4200) errechnen wir unter Berücksichtung der Geburtenziffern der einzelnen Siedlungsgebiete die Kinderzahl für die ganze Volksgruppe. Für die Wojewodschaft Schlesien ist mit 26400, für Wolhynien und Polesien mit 9200, für das ganze Deutschtum Galiziens mit 7400 Kindern zu rechnen.91 Die auf diese Weise ermittelte Zahl von 127000 deutschen schulpflichtigen Kindern bei [158] einer Gesamtbevölkerung von 1022000 Deutschen dürfte keinesfalls zu hoch sein, denn Türcke z. B. hat für das Schuljahr 1932/33 137150 deutsche Kinder in Polen angegeben.92

Aber schon, wenn wir von der als gesichert angesehenen Mindestzahl von 127000 ausgehen, ersehen wir, daß mindestens 36,6,% der deutschen schulpflichtigen Kinder in Polen allein auf Grund der polnischen amtlichen Angaben über den Deutschunterricht überhaupt keinen Unterricht in der Muttersprache genießen konnten bzw. durften. Darüber hinaus zeigt uns die Zusammenstellung, wohin die Schulkinder aus den deutschen oder aus den sogen. "Deutschen" Anstalten "abgewandert" sind: Nicht etwa ins Reich, wie es Winiewicz und andere Polen wahrhaben wollten, sondern gezwungenermaßen in die polnisch-deutschen oder in die rein polnischen Anstalten, bzw. ihre deutschen Schulen wurden in solche umgewandelt. Konnten 1936/37 noch 13% einen ausreichend deutschen Unterricht, 19,8% wenigstens einen mangelhaften und 31,1% einen vollkommen ungenügenden muttersprachlichen Unterricht genießen, so hatten ein Jahr später nur noch 12,6% einen ausreichenden, 16,7% einen mangelhaften, aber 35,1% einen vollkommen ungenügenden Deutschunterricht. Wieso konnte es zu diesem Rückgang des deutschen Schulwesens kommen?



Das öffentliche Schulwesen mit deutscher Unterrichtssprache

Gemäß Art. 9 des Minderheitenschutzvertrages war Polen verpflichtet, überall dort, wo "fremdsprachige polnische Staatsangehörige in beträchtlichem Verhältnis" wohnten, "angemessene Erleichterungen zu schaffen", damit deren Kinder "Unterricht in ihrer eigenen Sprache" genießen konnten. Galt dieser Artikel auch nur für das ehemals preußische Teilgebiet, so hatte die polnische Regierung schon sofort nach Auflösung der deutschen Landesschulverbände in Mittelpolen in der Verordnung vom 3. 3. 1919, welche die diesen Verbänden [159] angeschlossenen Schulen in das Eigentum der kommunalen Körperschaften überführte, die Beibehaltung der deutschen Unterrichtssprache in diesen Schulen für den Fall zugesagt, daß die Mehrheit der Eltern es fordern würde. Diese Zusage war sehr verklausuliert, u. a. mussten die entsprechenden schriftlichen Erklärungen ("Deklarationen") innerhalb von zwei Monaten eingereicht werden. Dank verschiedener Machenschaften, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann,93 wurde damals schon mit der Abschaffung der deutschen Unterrichtssprache in den mittelpolnischen, von den deutschen "Kolonisten" begründeten und errichteten deutschen Schulen begonnen und diese in wenigen Jahren erfolgreich durchgeführt.

Für Posen-Westpreußen wurde der zitierte Art. 9 durch Verordnung vom 18. 5. 1920 dahingehend ausgelegt, daß zur Eröffnung bzw. Erhaltung einer deutschen Schule 40 Kinder erforderlich seien. Sollte diese Zahl bei einer Schule zwei Jahre hindurch unterschritten werden, dann würde sie den deutschen Charakter verlieren. Diese Bestimmung wurde ins allgemeine Schulgesetz vom 17. 2. 1922 übernommen, das den Schulinspektoren u. a. das Entwerfen eines Schulnetzplanes auferlegte. Da in Posen-Westpreußen die deutschen öffentlichen Schulen von Schulsozietäten getragen wurden, wurden diese durch eine Gesetzesnovelle vom 25. 11. 1925 aufgehoben und deren Vermögen an die zur Unterhaltung der Schulen verpflichteten Stadt- und Landgemeinden übergeben, ähnlich wie bereits 1919 mit den deutschen privaten Volksschulen in Mittelpolen verfahren worden war. Nun konnten auch in den Westgebieten die "Schulbezirksgeometer" ans Werk gehen und ebenso wie schon vorher in den anderen Landesteilen die Schulbezirke so legen, daß möglichst viele deutschen Schulen verschwanden. Bestanden z. B. bisher im Dorf A. eine deutsche Schule mit 50 Kindern und im Dorf B. eine inzwischen polonisierte [160] mit 20 deutschen Kindern, dann wurde die Ortschaft C, von der bisher 15 Kinder die Schule von A. besuchten, der Schule in B. zugeschlagen, so daß weder in A noch in B. 40 deutsche Kinder vorhanden waren. Oft wurde auch die Zahl 40, die laut Gesetz für einen Schulbezirk galt, bei den Minderheiten schon von dem engeren Raum einer politischen Gemeinde gefordert. Mit dieser Schulbezirksgeometrie konnten schon viele deutsche Schulen kassiert werden.

Weitere Polonisierungsmöglichkeiten bot die durch ministerielle Verordnung vom 31. 8. 1926 eingeführte "Höherorganisierung" der Volksschulen, die eine Aufsaugung kleinerer deutscher Schulen durch polnische Schulkörper ermöglichte. Landschulen sollten nach Möglichkeit zusammengelegt werden, damit recht viel leistungsfähigere siebenklassige oder mindestens 2-4klassige Schulen auch auf dem flachen Land entstanden. Zu diesem Zwecke wurde dann die 1-, 2- oder 3klassige deutsche Schule mit einer polnischen zusammengelegt, die Leitung derselben übernahm ungeachtet des Dienstalters oder der Befähigung der polnische Lehrer, der dann bestrebt war, seine Eignung noch nachträglich durch baldige Angleichung der Unterrichtssprache in der deutschen Schulklasse, sei es auf einmal, sei es auf dem Umwege über deutsch-polnische oder polnisch-deutsche Unterrichtssprache, nachzuweisen.

Darüber hinaus wurden überall die sich zur deutschen Schule meldenden Kinder gesiebt. Den Trägern polnischer Namen wurde erklärt, daß sie Polen seien und ihre Kinder nicht in die deutsche Schule schicken durften. Die katholischen Deutschen wurden darauf aufmerksam gemacht, daß ihre Kinder nicht in die "evangelische" Schule gehörten. In den Kreisen Soldau (Pommerellen), Kempen, Schildberg und Ostrowo (Wojewodschaft Posen) wurden allerdings für die dortige gemischtsprachige, aber deutsch eingestellte evangelische [161] Bevölkerung besondere polnisch-evangelische Schulen und sogar polnisch-evangelische Seminare eingerichtet. Für die Beamten, Angestellten und sogar Arbeiter in staatlichen Diensten oder in manchen polnischen Firmen galt es als Selbstverständlichkeit, daß sie ihre Kinder in die polnische Schule zu schicken hatten.

Nun gab es in allen deutschen Siedlungsgebieten Polens Gegenden, in denen Deutsche in Stadt oder Land so geschlossen siedelten, daß keine Schulbezirksgeometrie, keine Höherorganisierung und kein Sieben der Kinder nach Namen, Glauben oder Beschäftigungsverhältnis der Eltern die Kinderzahl unter 40 drücken konnte. In diesen Fällen wurde auf die deutschen Lehrer ein entsprechender Druck ausgeübt. Es ist zu bedenken, daß das neue polnische Staatswesen aus drei Teilgebieten bestand, in denen auch für die Volksschullehrer verschiedene Ausbildungsvorschriften bestanden hatten, die jetzt vereinheitlicht werden sollten. Dazu beherrschten in den zwanziger Jahren längst nicht alle deutschen Lehrer die polnische Sprache so einwandfrei, als daß ein polnischer Schulinspektor nichts daran auszusetzen gehabt hätte. In den ersten Nachkriegsjahren waren ferner viele Hilfslehrer eingesetzt worden, die die staatliche Prüfung nachzuholen hatten. Allen denjenigen Lehrkräften, denen diese Prüfung oder eine polnische Sprachprüfung bevorstand, wurden Prüfungserleichterungen in Aussicht gestellt, falls sie der polnischen Sprache mehr Raum in ihrem Unterricht gewähren würden. In Mittelpolen kam hinzu, daß die ländliche Bevölkerung infolge Fehlens einer deutschen Intelligenzschicht keine geistigen Führer hatte. Die evangelische Pastorenschaft war damals noch zu 90% polnisch, eine politische Organisation war noch nicht ausgebaut, so daß die Eltern vielfach die ihnen zustehenden Rechte bezüglich der Unterrichtssprache nicht wahrzunehmen wussten. Der einzige, der ihnen dabei [162] helfen konnte, wäre der Lehrer gewesen. Nachdem aber die ersten Lehrer, die den Eltern ihrer Kinder bei dem Kampf um die Unterrichtssprache mannhaft beigestanden hatten, entweder strafversetzt oder gar entlassen wurden, bzw. die Prüfung trotz guter Leistungen nicht bestanden, ließen die anderen lieber die Hände davon. Wenn die Inspektoren von ihnen die Einführung der polnischen Unterrichtssprache, sei es auch nur mündlich, verlangten, dann kamen sie dieser unmissverständlichen, wenn auch ungerechtfertigten Aufforderungen nach, da für sie gerade in Mittelpolen so gut wie keine Ausweichmöglichkeiten bestand, und da ihnen keine Organisation Rückhalt oder Rückendeckung bot. In Westpolen bestand ja die Hoffnung und die Möglichkeit, gegebenenfalls im Privatschulwesen unterzukommen oder als verdrängter, früherer preußischer Lehrer wieder in den Schuldienst des Reiches übernommen zu werden. Für Mittelpolen kam letzteres nicht in Frage, und die dortigen 564 Privatschulen waren eben erst verstaatlicht worden, so daß von einem Neuaufbau eines Privatschulwesens noch keine Rede sein konnte. Übrigens wurden Ansätze hierzu, die Gründung eines Schulvereins, von vornherein unterbunden.

Aber auch die Lehrer, die sämtliche Prüfungen bestanden hatten und fest angestellt waren, mussten auf der Hut sein, denn das am 1. 1. 1932 für das ganze Staatsgebiet in Kraft getretene Lehrerdienstgesetz sah in Art. 18 vor, daß bei den Schulbehörden für jeden Lehrer ein Eignungsbogen zu führen sei. Falls ein Lehrer bei zwei nacheinander folgenden Beurteilungen ein "Ungenügend" erhalten hatte, dann konnte er "im Interesse des Dienstes" strafversetzt - bei deutschen Lehrern wurden dann rein slawische Gegenden vorgezogen - oder sogar entlassen werden. Das konnte aber auch einem guten Lehrer zustoßen, da viele Jahre hindurch noch kein amtlicher, für die deutschen Schulen zugeschnittener Lehrplan bestand [163] und keine deutschen Lehrbücher zugelassen waren. In den dreißiger Jahren war wohl beides vorhanden,94 aber der Deutschkunde war in keinem Fach irgendwelcher Platz eingeräumt, so daß ein deutschbewusster Lehrer, der deutschkundlichen Stoff behandelt hatte, unter Umständen mit dem staatlich geforderten Unterrichtsstoff zu kurz kam. Die polnischen Sprachkenntnisse der Kinder waren leicht zu bemängeln. Wenn der Inspektor es darauf abgesehen hatte, konnte er somit bei jedem deutschen Lehrer etwas beanstanden.

Wenn also die Schulbehörden von dem staatlichen Lehrer erwarteten, daß er Vermittler der neuen polnischen "Staatsideologie" sei, daß seine Lebensführung über jeglichen Verdacht einer "polenfeindlichen Gesinnung" erhaben sein müsse, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Unterricht so polnisch wie nur irgend möglich zu gestalten, deutschfeindliche Feiern mitzumachen, mit seinen deutschen Schulkindern deutschfeindliche Lieder, wie die Rota der Maria Konopnicka, deren 3. Strophe mit den Worten beginnt: "Nicht wird uns der Deutsche ins Gesicht speien", einzuüben und dergl. mehr. Schon wenn seine eigenen Kinder etwa mit deutschen Privatschülern verkehrten oder zu Hause deutsch sangen, wurde er denunziert. Den deutschen Lehrervereinen durfte er nicht beitreten, dagegen musste er Mitglied des polnischen Lehrerverbandes werden und sich für den berüchtigten "Deutschen Kultur- und Wirtschaftsbund" einsetzen. Wenn er an seinem Dienstorte keine Ortsgruppe dieser pseudodeutschen Organisation zuwege brachte oder wenn er die Gründung der Ortsgruppe einer Volkstumsorganisation nicht zu verhindern wusste, dann musste er mit nachteiligen Folgen im Dienste rechnen. Daß es unter diesen Umständen viele deutsche Lehrer in Polen trotzdem verstanden haben, auch im Staatsdienst ihr deutsches Herz zu bewahren, wird für immer ein Ehrenblatt in [164] der Geschichte der Volksgruppe sein. Die von den Schulbehörden betriebene oder befohlene Verdrängung des deutschen Unterrichts konnten aber auch sie nicht verhindern, da selbst die Interpellation und Vorsprachen deutscher Parlamentarier bei den Ministern, die Beschwerde beim Völkerbundrat und dessen Empfehlungen bzw. Auflagen keine Änderung in der polnischen Schulpolitik bewirken.

So kam es dazu, daß in allen deutschen Siedlungsgebieten Polens, vor allem aber in Mittelpolen, die Zahl der deutschen Schulen schon in den zwanziger Jahren dahinschmolz. Zuerst wurde die Zahl der polnischen Unterrichtsstunden vermehrt - bei den Visitationen in den Landschulen wurden die Kinder nur polnisch geprüft -, dann wurde in Mittelpolen und in Galizien im Jahre 1923 für Geschichte und Erdkunde die polnische Unterrichtssprache eingeführt, später auch für Rechnen; beim Gesangsunterricht wurden polnische Lieder eingeübt, beim Turnen polnische Kommandos gebraucht. So blieb die deutsche Sprache schließlich auf den deutschen Sprach- und den Religionsunterricht mit je 2 Wochenstunden beschränkt. Der Name der Schule "öffentliche Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache" blieb aber ungeachtet dessen vielfach bestehen. War die Polonisierung der Schule so weit fortgeschritten, dann war eine Änderung nicht mehr möglich. Später eingebrachten Forderungen der Eltern nach deutschem Unterricht wurde der noch deutsch gebliebene Name der Schule entgegengehalten oder aber der Einwand gemacht, für die Neuerrichtung einer deutschen Schule fehle es an Geld.

Zu diesen schon in den zwanziger Jahren erprobten und daher beibehaltenen Maßnahmen traten in der Berichtszeit noch neue hinzu. So wurden hier und da, z. B. in Lodz seit 1934 für die deutsche Schule form- und fristgerecht angemeldete deutsche Kinder "aus Platzmangel" polnischen Schulen zugewiesen. Dieser Platzmangel war ja nur als Folge der [165] systematischen Schließung deutscher Schulen oder Klassen eingetreten. Trotz großer Protestaktionen der Lodzer deutschen Öffentlichkeit steigerte sich die Zahl der zwangsweise polnischen Schulen zugeteilten deutschen Kinder von Jahr zu Jahr. Konnten im Jahre 1933 noch 5426 Lodzer deutsche Kinder die 12 Schulen mit "deutscher" Unterrichtssprache mit 105 Klassen besuchen, so wurden 1934 zunächst 171, 1935 schon 390, 1936 724 und 1938 gar 991 deutsche, für die deutsche Schule angemeldete Kinder in polnische Schulen eingewiesen, so daß im Schuljahr 1938/39 die mittlerweile auf 9 reduzierten deutschen öffentlichen Schulen mit 80 Klassen nur noch von 4184 Schülern besucht werden konnten.95 1923 aber hatten in Lodz 20 öffentliche deutsche Schulen mit 146 Klassen und 6300 Kindern bestanden, die Zahl der Lodzer Deutschen hatte inzwischen zugenommen.

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88Nation und Staat. Jg. XII, S. 658; Wien 1939. ...zurück...

89Lück, Kurt: Der Mythos vom Deutschen in der polnischen Volksüberlieferung und Literatur. S. 426; Leipzig 1943 (2. Aufl.). ...zurück...

90Winiewicz, Jozef: Mobilizacja sil niemieckich w Polsce. (Die Mobilisierung der deutschen Kräfte in Polen.) S. 175f; Warschau/Posen 1939. ...zurück...

91siehe Anmerkung 2, Seite 373. ...zurück...

92Türcke, Kurt Egon Frhr. von: Das Schulrecht der deutschen Volksgruppen in Ost- und Südosteuropa. 180ff; Berlin 1938. ...zurück...

93s. darüber August Utta: in Deutschtum im Aufbau. S. 147ff.;
Martin, Gottfried (Hrsg.): Brennende Wunden. Tatsachenberichte über die Notlage der evangelischen Deutschen in Polen. S. 55-60; Berlin 1931 (1. Aufl.). ...zurück...

94s. aber auch S. 167. ...zurück...

95Heike, Otto: in: Der Osten des Warthelandes. S. 110; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück...

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Die deutsche Volksgruppe in Polen 1934-1939