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III. Europa und die Anschlußfrage   (Forts.)

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Die Nachfolgestaaten und die Anschlußfrage
Dr. Eugen Ledebur-Wicheln (Krzemusch bei Teplitz)

Das Anschluß"verbot" • Die Tschechoslowakei • "Anschluß ist Krieg!" • Die tschechoslowakische Wirtschaft und die Anschlußfrage • Haltung der Sudetendeutschen • Ungarn • Polen • Der Revisionismus • Rumänien und Südslawien.

Von dem Augenblick, da der Widerstand der Zentralmächte auf den Schlachtfeldern zusammengebrochen war, ist der Gedanke eines engeren Zusammenfindens des mitteleuropäischen Deutschtums lebendig. Schon während der bangen Monate, in denen die Bauherren des neuen Europa über die Grenzen der jungen Staaten berieten, schon in dem Augenblick, als die Aufteilung Österreich-Ungarns durch die im Sinne gewollter Selbstbestimmung freigewordenen Nationen erfolgte, brachten, zu einem wehrlosen Torso zusammengeschrumpft, die österreichischen Erblande den Wunsch nach Anschluß an das Deutsche Reich in unanfechtbarer Form zum Ausdruck. Am 12. November 1918 hat die aus den ehemaligen Abgeordneten dieser Gebiete gebildete Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs einstimmig ein Gesetz beschlossen, dessen 2. Artikel lautet: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik."

Die Verträge von Versailles und St. Germain haben dem Willen der österreichischen Bevölkerung keine Rechnung getragen. Sie haben in der Fassung des Artikels 80 des Versailler und des Artikels 88 des St. Germainer Vertrages im Gegenteile jedem eigenmächtigen Versuch, eine engere Verbindung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, einen Riegel vorgeschoben, der nur mit Zustimmung des Völkerbundrates beseitigt werden kann.

Wenn auch eine Abänderung des durch die Friedensverträge geschaffenen Zustandes in diesem speziellen Fall unter leichteren Voraussetzungen möglich ist, als sie der einen "Beschluß der Vollversammlung" fordernde Artikel 19 des Völkerbundstatuts im allgemeinen vorsieht, so können Beschlüsse des Völkerbundrates in der Regel doch nur dann wirksam werden, wenn sie einstimmig gefaßt sind, und diese formelle Voraussetzung bildet ein unter den heutigen Verhältnissen kaum zu überwindendes Hindernis.

Die leitenden Gedanken, denen diese den freiheitlichen Axiomen der offiziellen Friedensziele widersprechende Vorsichtsmaßregel entsprang, haben, insofern sie in der politischen und psychologischen Einstellung der führenden Großmächte und deren Vertreter bei der Friedenskonferenz wurzeln, an anderer Stelle dieses Buches ent- [173] sprechende Würdigung gefunden. Aber die Großmächte – Frankreich vielleicht ausgenommen – ließen sich bei Entscheidung der österreichischen Frage nicht ausschließlich von den eigenen Interessen leiten; man kann vielmehr sagen, daß sie, was die endgültige Fassung der bezüglichen Artikel der Versailler und St. Germainer Verträge betrifft, durch die von den Vertretern einzelner Nachfolgestaaten geäußerten Befürchtungen und Wünsche ausschlaggebend beeinflußt wurden. Anderseits befinden sich auch diese, in der außenpolitischen Einflußsphäre Frankreichs stehenden, Nachfolgestaaten dem österreichisch-deutschen Problem gegenüber in einer gewissen Abhängigkeit.

Die Frage der weiteren Entwicklung des österreichischen Rumpfstaates ist während der letzten zehn Jahre im Vordergrunde des Interesses aller Nachfolgestaaten gestanden. Dieses Interesse ist aber in den einzelnen Staaten verschieden. Während Rumänien, Jugoslawien und Polen das Anschlußproblem mehr theoretisch, das heißt mehr vom Gesichtspunkte der Gefahr einer Durchbrechung der durch die Verträge geschaffenen Neuordnung und deren Rückwirkung auf die allgemeine Lage Mitteleuropas betrachten, sind Ungarn und die Tschechoslowakei, wenn auch in verschiedener Weise, so doch beide in weit stärkerem Maß an dem Anschluß und seinen Folgen interessiert.

Ganz besonders gilt dies von der letztgenannten Republik. Schon die bloße Möglichkeit gewisser grundsätzlicher Annäherungen der beiden deutschen Staaten hat hier in den letzten Jahren die Gemüter stark beschäftigt.

Kurz nach Durchführung der Staatentrennung überwog im Verhältnis der tschechoslowakischen Republik zu Österreich die Befürchtung habsburgischer Restaurationsmöglichkeiten alle anderen Gesichtspunkte; in diesem Augenblicke wäre selbst der Anschluß Österreichs an Deutschland im Sinne einer Versicherung gegen monarchische Wiederherstellungsversuche als das kleinere Übel erträglich gewesen, während wieder in Frankreich oder wenigstens in einflußreichen Kreisen der französischen Politik die Furcht vor einer allzu raschen Erstarkung Deutschlands stärker war als die Sorge um die Staatsform der Nachfolgestaaten.

Schon im Jahre 1920 wurde mit dem damaligen österreichischen Außenminister der sogenannte Rennersche Vertrag geschlossen, von dem Herr Dr. Beneš anläßlich einer Debatte im Parlament selbst sagte, [174] daß er "gegen jedes Bestreben, eine Restauration der Habsburger herbeizuführen, gerichtet sei".

Als mit dem Tode Kaiser Karls diese Gefahr gebannt schien, hat sich die tschechoslowakische Politik gegenüber Österreich geändert. Der im Dezember 1921 perfekt gewordene österreichisch-tschechoslowakische Freundschaftsvertrag ist tschechoslowakischerseits durch das deutliche Bestreben gekennzeichnet, Österreich politisch und wirtschaftlich für das Vertragssystem der Tschechoslowakei zu gewinnen und bezüglich der künftigen Staatsform sowie der Grenzen Österreichs weitmöglichste Garantie zu erhalten. Allerdings sind die bezüglichen Artikel 1, 2 und 4 des Prager Vertrages mehr in deklarativer als in rechtlich bindender Form gefaßt.

Auch seither hat Minister Dr. Beneš keine Gelegenheit versäumt, um mit unzweideutiger Klarheit zum Ausdruck zu bringen, daß er als verantwortlicher Leiter der tschechoslowakischen Außenpolitik den Anschlußgedanken grundsätzlich ablehne und jeden Versuch, diesen Gedanken zu verwirklichen, als einen direkten Eingriff in die Lebensinteressen der Republik betrachte. Die von ihm wiederholt gebrauchte Redewendung, "der Anschluß bedeutet Krieg", ist, wenn sie auch im Mund eines Mannes, der an der Spitze der Schiedsgerichtskommission steht und der zu den treuesten Hütern der Rechte und der Autorität des Völkerbundes zählt, nicht so bitter ernst genommen werden kann, zu einem europäischen Schlagworte geworden. Tatsächlich hegt das tschechoslowakische Außenministerium in seiner gegenwärtigen Einstellung gegen jede wie immer geartete Vereinigung oder Annäherung der beiden deutschen Staaten schwerwiegende politische und wirtschaftliche Bedenken, die teils gefühlsmäßig, teils aus innerer Überzeugung von der gesamten tschechischen Öffentlichkeit geteilt werden.

Der offizielle Standpunkt der tschechischen Regierungskreise läßt sich etwa in folgendem zusammenfassen:

Schon heute wird die tschechoslowakische Republik längs der wirtschaftlich und strategisch wichtigsten Gebiete des Landes in einem weiten Bogen von Deutschland umschlossen. Wenn der Unterschied zwischen der österreichischen und deutschen Grenze fallen sollte, müßte man fast von einer Umklammerung sprechen, die machtpolitisch nicht tragbar wäre, insolange die französische Verbindung nach dem europäischen Osten und das Gebilde der Kleinen Entente die Grundlagen der tschechischen Außenpolitik bilden.

[175] Auch in handelspolitischer Beziehung wäre es bedenklich, mit etwa 40% des gesamten Außenhandels sowie mit einem bedeutenden Teil der Warendurchfuhr von einem so geschlossenen Wirtschaftsgebiet abhängig zu sein. Ein handelspolitisches Übergewicht Deutschlands würde nach Ansicht der tschechoslowakischen Regierung auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit aller anderen europäischen Staaten wesentlich erschweren.

Die tschechoslowakische Außenpolitik hat sich demnach während der letzten Jahre in der Rolle eines Hüters der staatlichen Selbständigkeit Österreichs bewegt, und sie war – über verschiedene Beweise nachbarlichen Wohlwollens hinaus – bemüht, Österreich wirtschaftlich und politisch für den Kreis der Kleinen Entente zu gewinnen.

Die Presse des tschechoslowakischen Außenministeriums weist darauf hin, daß sich die wirtschaftlichen Verhältnisse Österreichs seit der ersten Hilfeleistung des Völkerbundes zunehmend gebessert haben; sie registriert das Anwachsen der österreichischen Produktion und betont, daß die unter ungünstigen Verhältnissen arbeitenden industriellen Betriebe Österreichs, insbesondere die Nachkriegsindustrien, einer zollfreien Konkurrenz Deutschlands binnen kurzem erliegen müßten.

Nach der Ansicht des Prager Außenministeriums können die idealen Ziele europäisch-wirtschaftlicher Organisationen vorläufig nur im Weg einer handelspolitischen Zusammenfassung beziehungsweise Annäherung jener Staaten gefördert werden, die durch eine solche Einigung in den Stand versetzt würden, die eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten weiter zu entwickeln, ohne das Gleichgewicht der wirtschaftlichen Kräfte gegenüber den benachbarten Staaten zu stören. In diesem Sinne verlangt das wirtschaftliche Interesse Österreichs und Ungarns eine engere Zusammenarbeit mit den Staaten der Kleinen Entente. Eine derartig wirtschaftlich durchorganisierte Einheit würde die rationelle Erzeugung und Verteilung der Güter innerhalb des von ihr umfaßten Raumes ermöglichen; sie könnte aber auch den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nicht gefährlich werden, da eine wirtschaftliche Rationalisierung innerhalb der kleineren Nachfolgestaaten manche, heute nach außen strebenden Kräfte in sich binden und die Konkurrenz, der Deutschland heute eben von Seiten dieser Staaten auf den internationalen Märkten begegnet, mildern würde.

[176] Diese Gesichtspunkte sind zum geistigen Rüstzeug aller tschechischen Parteien geworden, die in dieser Frage, ohne Rücksicht auf den Wechsel persönlicher Sympathien, der Politik des Außenministers unbedingte Gefolgschaft leisten. Und da die Gesamtheit der tschechischen Bevölkerung nicht nur parteimäßig erfaßt, sondern auch ausgesprochen national orientiert ist, werden die geschilderten logischen Erwägungen in den breitesten Kreisen noch durch die gefühlsmäßige Ablehnung jeder deutschen Verstärkungsmöglichkeit gesteigert.

Auch was die wirtschaftliche Seite der Anschlußfrage betrifft, stehen wir einer fast einmütigen Zurückweisung der tschechischen Industrie- und Finanzwelt gegenüber. Die geäußerten Befürchtungen gehen vor allem dahin, daß im Fall eines österreichischen Anschlusses an Deutschland die tschechoslowakische Industrie durch die deutsche Konkurrenz vom österreichischen Markt endgültig verdrängt werden könnte; insbesondere gilt dies für die heimische Seidenindustrie, für die das heutige Österreich infolge des noch bestehenden "Seidenveredlungsverkehrs" ein zolltechnisch bevorzugtes Absatzgebiet bildet. Die international kartellierten Betriebsgruppen fürchten ferner im Fall einer Verwirklichung des Anschlusses eine weitere Verstärkung der deutschen Positionen und damit eine Zurückdrängung des eigenen Einflusses innerhalb der großen Kartelle.

Die Landwirtschaft ist an der Anschlußfrage unmittelbar weniger interessiert, da der Export an landwirtschaftlichen Produkten aus der Tschechoslowakei nach Deutschland wie nach Österreich gering ist. Insofern sich auch die tschechischen Agrarier bei verschiedenen Gelegenheiten gegen den Anschluß aussprachen und führende Männer der tschechischen Agrarpartei andere, auf eine Ablenkung Österreichs von Deutschland hinzielende, politische Kombinationen auf mitteleuropäischem Boden zu fördern bemüht waren, handelt es sich mehr um allgemein politische als um wirtschaftlich nüchterne Erwägungen. Das gleiche gilt von dem in Prag bestehenden tschechoslowakischen "Komitee für mitteleuropäische wirtschaftliche Zusammenarbeit", dessen nationale Führung bisher stets die Einbeziehung Deutschlands in den Gebietkomplex Mitteleuropas abgelehnt hat.

Die vielseitige nationale Gliederung des tschechoslowakischen Staates bringt es mit sich, daß auch von einer national verschiedenen Einstellung der öffentlichen Meinung wie der wirtschaftlichen Überzeugung gesprochen werden muß.

[177] Während das Vorhergesagte nur von der tschechischen und höchstens von einem Teile der slowakischen Nation und deren politischen und berufsmäßigen Organisationen gilt, muß hervorgehoben werden, daß die logische und gefühlsmäßige Beurteilung der österreichischen Anschlußfrage in den deutschen Teilen des Staates und im Kreise der rund 25% der Gesamtbevölkerung ausmachenden Sudetendeutschen in wesentlichen Punkten eine andere ist. Freilich ist auch dieses Urteil nicht unbefangen. Das Interesse an der Erfüllung stammverwandter Wünsche steigert auch hier das Ergebnis logischer Erwägungen, die dahin gehen, daß eine wirtschaftliche Zusammenfassung mitteleuropäischer Staaten ohne die Hinzuziehung Deutschlands mit seiner beispiellosen Organisationsfähigkeit unmöglich sei. Deutschland ist der größte Lieferant und der größte Abnehmer fast aller Nachfolgestaaten. Deutschland verfügt unter allen mitteleuropäischen Staaten allein über ein so vielseitiges und starkes Wirtschaftssystem, daß es die nötige Sanierung, das heißt die Normalisierung der in einzelnen Belangen aus ihrem natürlichen Rahmen herausgewachsenen österreichischen Wirtschaft durchzuführen vermag, ohne selbst wesentlich Schaden zu nehmen.

Nach Auffassung maßgebender industrieller Wirtschaftspolitiker würde eine engere Verbindung zwischen Deutschland und Österreich einen willkommenen Schritt auf dem Wege zu mitteleuropäischer Wirtschaftseinigung bedeuten, denn ein so großes, planmäßig durchrationalisiertes Wirtschaftsgebiet, wie es das österreichisch-deutsche sein könnte, müßte eine starke Anziehungskraft auf die benachbarten Staaten ausüben, um so mehr, als diese Anziehungskraft in der Richtung naturgegebener Vorbedingungen liegt.

Auch die sudetendeutsche Landwirtschaft steht dem Anschlußgedanken nicht unsympathisch gegenüber, obwohl sie sich dessen bewußt ist, daß gewisse Zweige der landwirtschaftlichen Ausfuhr – wie z. B. der Export von Zucker und Schlachtvieh –, die heute nach Österreich zu noch bestehen, eine weitere Abschwächung erfahren dürften, wenn Österreich an die größere Produktionsbasis des Deutschen Reiches angeschlossen würde. Anderseits ist man der Ansicht, daß im Falle, als sich Wien zum südostdeutschen Handelszentrum ausbilden sollte, eine größere Aufnahmefähigkeit dieses Gebietes erwartet werden kann. Die geistigen Führer der sudetendeutschen Landwirtschaft erblicken eine Hauptursache der landwirtschaftlichen Krise in den übertriebenen Autarkiebestrebungen der mitteleuropäischen [178] Kleinstaaten, die zu den heutigen Absatzstörungen geführt haben, und sie sind der Ansicht, daß diese Störungen nur auf dem Wege eines vernünftigen Ausgleiches zwischen Erzeugung und Bedarf im Rahmen breiterer, eine gleichartige wirtschaftliche Struktur aufweisender Länderkomplexe beseitigt oder wenigstens gemildert werden könnte. In diesem Sinne würde sie als Keimzelle weiter gehender Einigungen ein möglichst enges wirtschaftspolitisches Übereinkommen zwischen Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei begrüßen und glaubt, in den Anschlußbestrebungen ein diese Bindung förderndes Moment erblicken zu sollen.

Ähnliche, national abgetönte Verschiedenheiten zwischen politischer und praktischer Einstellung zu dem Anschlußproblem sind auch in den anderen Nachfolgestaaten bemerkbar; nur treten diese dort weniger hervor, da einerseits die bloße Tatsache des Anschlusses die lebendigen Interessen dieser Staaten weniger berührt, anderseits die mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten aus stammverwandtem Empfinden sympathisierenden Volksgruppen dort zahlenmäßig schwächer sind als in der tschechoslowakischen Republik.

Was Ungarn betrifft, so steht dessen offizielle Außenpolitik der österreichischen Anschlußfrage gegenüber auf dem Standpunkt individueller Desinteressiertheit, bei grundsätzlichem Festhalten an dem Selbstbestimmungsrechte der Völker. In der Meinung national-magyarischer Kreise wird das Für und Wider eines österreichischen Anschlusses nach den jeweiligen Vermutungen über die künftige Entwicklung der Weltlage politisch und wirtschaftlich verschieden beurteilt. Während alle jene, denen die endgültige Lostrennung von Österreich als die einzige Aktivpost des unglücklichen Krieges erscheint, in der engeren Verbindung Österreichs mit Deutschland eine dauernde Sicherung dieser Errungenschaft erblicken und vielleicht auch von einem stärkeren Deutschland ein sympathisches Verständnis für die ungarische Integritätspolitik oder gar die Förderung einer wohlwollenden Revision der Burgenlandfrage erhoffen, fürchten andere von einem bis an die Grenzen Ungarns erweiterten Deutschland die Möglichkeit einer stärkeren Einflußnahme auf die ungarische Politik, die keinesfalls willkommen wäre.

Von den im heutigen Ungarn ansässigen fremdnationalen Volksgruppen kann man wohl nur bei den Deutschen ein gewisses Interesse für die Anschlußfrage voraussetzen; ein Interesse, das aus dem [179] instinktiven Gefühl entspringt, daß jede Erweiterung und Befestigung gesamtdeutscher Geschlossenheit auf die innerstaatliche Stellung und das Selbstvertrauen aller Auslanddeutschen einen günstigen Einfluß zu üben vermag.

Das wirtschaftliche Moment der Anschlußfrage wird in Ungarn, dem Charakter des Landes entsprechend, rein agrarpolitisch beurteilt. Bisher war Österreich ein guter Abnehmer für Getreide, Schlachtvieh und Wein; das heutige Deutschland hat sich, was die genannten Produkte betrifft, Ungarn gegenüber so gut wie abgeschlossen. Es wird vielfach die Befürchtung ausgesprochen, daß ein wirtschaftlich an Deutschland angeschlossenes Österreich in der Folge auch ganz in den Bereich der westlichen Versorgung hineingezogen werden könnte, es wäre denn, daß bezüglich einer preiswerten Aufnahme der Überschüsse der ungarischen Landwirtschaft sowie bezüglich der Erhaltung der lebensfähigen Zweige der ungarischen Industrie mit einem vergrößerten Deutschland befriedigende handelspolitische Abmachungen getroffen werden könnten.

In Polen liegen die Verhältnisse ähnlich wie in Ungarn. Auch in Polen kann man nicht von einer aus unmittelbar sachlichem Interesse für oder wider den Anschluß eingestellten Außenpolitik sprechen. Deutschland mit seinen 60 Millionen Einwohnern und seiner auf manchen Gebieten seit dem Kriege noch gesteigerten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat als westlicher Nachbar für Polen ohnehin eine so große Bedeutung, daß der Zuwachs von ein paar tausend Quadratkilometer mit 6½ Millionen Menschen an der schon heute bestehenden Lage kaum etwas zu ändern vermag.

Das Interesse Polens an der Anschlußfrage ist weniger ein praktisches, als ein grundsätzliches, da Polen begreiflicherweise zu den zähesten Verfechtern der durch die Friedensverträge geschaffenen territorialen Verhältnisse gehört und jede, wo immer platzgreifende Abänderung dieser Verhältnisse als eine Erschütterung der sogenannten Nachkriegsstabilität betrachtet, aus der gegebenenfalls weitere, für Polen unangenehmere Folgen gezogen werden könnten.

Mit Rücksicht auf die genannten Erwägungen sowie die enge Verbindung zwischen polnischer und französischer Außenpolitik kann man wohl sagen, daß auch die polnische Diplomatie dem Anschlusse solange ablehnend gegenüberstehen wird, als Frankreich diesen nicht duldet.

[180] Allerdings gibt es in Polen auch maßgebende Personen, die eine andere Meinung vertreten und diese auch öffentlich dahin ausgesprochen haben, daß die durch einen Anschluß Österreichs eintretende Gebietserweiterung Deutschland von dem Problem seiner Ostgrenze ablenken würde, ja daß Polen vielleicht sogar, wenn es den deutsch-österreichischen Anschlußgedanken im richtigen Augenblicke diplomatisch unterstützt, von Deutschland weitere Sicherungen erhalten könnte.

In wirtschaftlicher Beziehung kann Polen von einer eventuellen Verwirklichung des deutsch-österreichischen Anschlusses kaum nennenswerte Änderungen des heute bestehenden deutsch-polnischen Warenverkehrs erwarten; es wäre denn, daß polnisches Holz und gewisse polnische Industrieprodukte auf einzelnen deutschen Plätzen durch die zollfrei verfrachtete österreichische Ware verdrängt werden könnten. Anderseits könnte man wieder annehmen, daß ein vergrößertes Deutschland einen erweiterten und daher günstigeren Markt für polnische Agrarprodukte zu bieten in der Lage wäre.

Die starke deutsche Minderheit in Polen steht auf dem früher geschilderten Standpunkt der anderen deutschen Volksgruppen, mit dem einzigen Unterschied, daß die erst durch die Friedensverträge von Deutschland abgetrennte deutsche Bevölkerung Polens und Schlesiens naturgemäß in noch viel stärkerem Maße mit dem alten Mutterlande fühlt.

In Rumänien und Jugoslawien kann von einem wirtschaftlichen Interesse an der österreichischen Anschlußfrage kaum gesprochen werden; die Bevölkerung nimmt, bis auf die verhältnismäßig kleinen deutschen Volksgruppen dieser Länder, daher der Anschlußfrage gegenüber einen mehr oder minder gleichgültigen Standpunkt ein.

Für die Außenpolitik beider Staaten hat die Anschlußfrage lediglich die Bedeutung eines, gegebenenfalls für wichtigere Zwecke auszunützenden, Faktors. Deshalb haben es sowohl Rumänien wie Jugoslawien bisher, trotz des intimen Verhältnisses zu Frankreich und trotz der Bindung der Kleinen Entente, vermieden, sich offiziell zu dem Anschlußproblem zu äußern.

Nach verschiedenen Zeitungsstimmen zu urteilen, würde man den Anschluß Österreichs in Jugoslawien weder als ein europäisches Unglück noch als einen besonderen Nachteil für die jugoslawischen Interessen betrachten, wobei die – allerdings nirgend ausgespro- [181] chene – Ansicht mitwirken mag, daß ein gestärkter deutscher Nachbar den heute bestehenden italienischen Druck vielleicht zu lindern imstande wäre.

In Rumänien wieder wäre die Unterstützung durch ein mächtigeres Deutschland in Hinkunft zur dauernden Sicherung Bessarabiens erwünscht.

Da die wirtschaftlichen Interessen, die Rumänien wie Jugoslawien Deutschland gegenüber haben, sich im Wege handelspolitischer Verständigung unabhängig von der schließlichen Lösung der Anschlußfrage regeln lassen, kann man in diesem Punkte wohl trotz der Einheitlichkeit der äußeren Kundgebungen von einem inneren Interessenkonflikt der Kleinen Entente sprechen.

Wenn man die Argumente, welche die geschilderte Stellungnahme der Nachfolgestaaten zu dem Anschlußproblem begründen, sachlich überprüft, so kommt man zu dem Ergebnis, daß es sich immer noch um die Folgeerscheinungen jener, von den alliierten Mächten schon vor dem Krieg inaugurierten, während des Krieges verkündeten und in den Friedensverträgen geübten Politik handelt, die jedes Anwachsen Deutschlands – in welcher Richtung immer – zu hemmen bestrebt ist. Es ist die Sorge um das eigene politische und wirtschaftliche Gedeihen, die den starken Nachbar fürchtet und die kein nationales Übergewicht in Mitteleuropa zu sehen wünscht, dessen Unterstützung sie nicht sicher ist.

Diese politische Logik ist begreiflich, wenn man an die Erlebnisse der letzten 15 Jahre zurückdenkt und wenn man sich vor Augen hält, wie wenig gefestigt und in Traditionen verankert der neustaatliche Aufbau Mitteleuropas den schwierigsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen gegenübersteht, die man jemals gekannt. Aber gerade deshalb müßte jede zusammenfassende Regung unterstützt und sollten innere Widersprüche nach Möglichkeit vermieden werden, wie solche zwischen der sich auch in den Nachfolgestaaten immer mehr durchsetzenden Erkenntnis von der Notwendigkeit eines mitteleuropäischen Wirtschaftsausgleiches auf breitester Grundlage und der grundsätzlichen Hemmung der natürlichsten Verbindungen zweifellos bestehen.

Der österreichische Anschluß müßte demnach auch in den Nachfolgestaaten von dessen Freunden wie von dessen Gegnern weniger vom nationalen oder kleinstaatlichen Standpunkt als aus dem brei- [182] teren Gedankenkreis gesamteuropäischer Sicherheit und gesamteuropäischer Entwicklung heraus betrachtet werden.

In diesem Sinne muß man die Frage stellen, ob ein um die österreichischen Erblande vergrößerter deutscher Staatenbund oder Bundesstaat an sich ein Moment der Unruhe bilden und als Streiterreger im Kreise der mitteleuropäischen Staaten betrachtet werden könnte. Man kann darüber Zweifel hegen, ob der Anschluß Österreichs an Deutschland die innerpolitische Lage dieser Staaten zum Schaden beider nicht noch mehr komplizieren würde; aber es wird wohl niemand behaupten wollen, daß das mit anderen Sorgen allzu sehr belastete Deutschland durch einen eventuellen Anschluß Österreichs veranlaßt werden könnte, eine aggressive, die benachbarten Staaten gefährdende Politik zu führen. Mit viel größerem Rechte wird man sagen können, daß je mehr in sich geschlossen und befriedet und auf je breiterer Grundlage das deutsche Volk im eigenen Staate seine Arbeitskraft zu entfalten vermag, um so mehr in ihm ein Grundstein mitteleuropäischer Ordnung erblickt werden kann, den zu erschüttern oder zu untergraben eine größere Gefahr bedeutet, als ihn zu befestigen. Denn die beunruhigende Atmosphäre, welche die ewig um ihre Sicherheit besorgte Kleinstaaterei mit wechselnden Bündnissen und steigenden Rüstungen in der europäischen Außenpolitik verbreitet, kann nur dann gemildert werden, wenn den kleineren Staaten eine, den naturgegebenen Grundlagen entsprechende, Anlehnung an größere Verwaltungs- und Wirtschaftseinheiten offen steht.

Und was schließlich die Anschlußfrage im Gesichtsfeld der mutmaßlichen weiteren Entwicklung betrifft, so müssen wir angesichts der Tatsache, daß das Streben nach politischer Verständigung und wirtschaftlicher Zusammenfassung auf europäischem Boden in immer stärkerem Maße die öffentliche Meinung beherrscht, uns darüber klar werden, daß das Grundübel der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in dem chaotischen Wirrwarr der landwirtschaftlichen Urproduktion liegt, die keinen rentablen Absatz findet. Erzeuger und Verbraucher sind im gleichen Maß unbefriedigt; der erstere arbeitet mit Verlust, der letztere überzahlt die Ware. Aus dieser Erkenntnis sind die Bestrebungen entsprungen, die die östlichen Agrarstaaten dazu veranlaßt haben, die Ausfuhr ihrer landwirtschaftlichen Überschüsse gemein- [183] sam zu regeln. Um diese Organisation wirksam zu machen, bedarf es anderseits einheitlicher Absatzgebiete, die diese Überschüsse restlos aufzunehmen imstande sind. Zusammenfassung gleichartiger Interessen und wirtschaftliche Angleichung werden um so wirksamer, auf je breitere Grundlagen sie gestellt sind, während die zunehmende Kompliziertheit staatlicher und kultureller Verwaltung Dezentralisation erfordert. Gesteigerte Selbstverwaltung im Rahmen größerer Einheiten zeigt die Richtung an, in welcher technischer und wissenschaftlicher Fortschritt die weitere europäische Entwicklung weisen.

Unter diesen Umständen erscheint es fraglich, ob es möglich sein wird, den Anschlußgedanken, der eine aus tausend Jahren deutscher Geschichte herausgewachsene Gleichheit sozialer und kultureller Verhältnisse zum Ausdrucke bringt, auf die Dauer aus politischen Gründen hintanzuhalten; um so mehr, als bei den nichtdeutschen Nationen Mitteleuropas eine fortschreitende Angleichung an deutsche Lebensformen bemerkbar wird, ein Prozeß, der jeden Versuch einer überstaatlichen Verständigung auf mitteleuropäischem Boden zur Anlehnung an die durch das europäische Deutschtum verkörperte Achse zwingt.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller