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V. Die volkspolitischen Auswirkungen im Sudetendeutschtum

2. Sudetendeutsche Elendsbilder

Im Herbst 1935 unternahmen Parlamentarier der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins mit Pressevertretern des In- und Auslandes eine Fahrt durch das sudetendeutsche Grenzgebiet. Erschütternd sind die Berichte der Presseleute, die zu einer furchtbaren Anklage werden für ein Herrschaftssystem, das sich der Welt als ein System der Menschlichkeit und seine Demokratie als die Krönung der Schöpfung preist, da sie angeblich die Lebensrechte der Menschen schütze. Man kann diese Berichte nicht als Produkt einer "Greuelpropaganda" gegen die Tschechoslowaken hinstellen. Sie sind der tschechischen Pressezensur vorgelegen, bevor sie ihren Weg in die Öffentlichkeit genommen haben. Im folgenden ihr Wortlaut:



Brot ist Feiertagsgericht

Von Teplitz aus ging die Fahrt. Hauptleitungsmitglied Ing. Rümmer, die Abgeordneten Kreisleiter Dr. Zippelius, Köhler, Liebl und Nemetz, sowie Senator Enhuber nahmen daran teil; eine Reihe von Vertretern der In- und Auslandspresse hatte sich angeschlossen. Zunächst ging es nach Turn. Von seinen 17.000 Einwohnern sind 4.000 arbeitslos. Immer klarer wurde es dort allen, [318] die in der Gemeindestube wirken, daß die charitative Fürsorge gegen die steigende Not nichts nütze, daß der Arbeitslosigkeit nur durch Arbeitsbeschaffung gesteuert werden könne. Projekte sind ausgearbeitet worden, wenig ist geschehen, für vieles fehlt Geld.

Und eindrucksvoll war in einer stillgelegten Fabrik die Tafel "Achtung! Einsturzgefahr!", die erste Grabinschrift des gewaltigen Industriefriedhofes, der in den zwei Tagen Fahrt durch Nordwestböhmen zu schauen war.

Dann ging es nach Graupen. Das stillgelegte Zinnbergwerk, eine stillgelegte Strumpfwarenfabrik, Häuser in dieser alten Bergstadt, die seit Jahren nicht hergerichtet werden konnten, darniederliegender Handel, darniederliegende Bautätigkeit: Worte stehen hier, aber in der Stadt unter dem Mückenberge beginnt das Elendland der Berge mit ihren Erzen, die gehoben werden könnten, wenn... Aus Voitsdorf nur ein Bild aus dem Gemeindehause: Ein Kochtopf steht am Herde, das Nahrungsmittel: Kornkaffee, lichter als der russische Tee und daneben eine Frau, herz- und magenleidend, unterernährt und blutarm, die Kinder ohne richtige Kleidung. Brot ist Feiertagsgericht.

Über Berg und Tal geht es bis nach Zinnwald. Kein Bergbau mehr, kein Grenzverkehr über den Steinen, die mitten durch die Stadt als Grenzmale gesetzt sind, darniederliegende Hausindustrie. Es wird geschildert, wie der Mittelstand, den man sich doch mit gehobenem Ein- und Auskommen vorstellt, dort lebt. Morgens Kornkaffee und Brot, mittags Kartoffeln mit Margarine oder Topfen, abends wie morgens. Denn Mittelstand ist dort, wer noch dreimal täglich essen kann, und wer noch Brot hat. Im Erzgebirge haben eben die Worte einen anderen Sinn erhalten. Durch Eichwald mit seinen freundlichen Villen führt der Weg nach Kosten. Wieder nur
Braunkohlentagbau im Brüxer Revier.

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      Braunkohlentagbau im Brüxer Revier.
einige Bilder. Da stehen ausrangierte Eisenbahnwagen als Dauerwohnungen. Dort steht ein Mann mit nacktem Oberkörper in einem "Handschacht", er bricht unter Lebensgefahr, als bewußter Gesetzesübertreter, in einem aufgelassenen Bergbau Kohle.

In Dux arbeiten von den 22 bestehenden Schächten nur noch zwei. In der Glas-, Porzellan- und Textilindustrie, im Baugewerbe sieht es nicht besser aus, Handel und Gewerbe liegen völlig darnieder. Da ist ein ehemaliges Russenlager - Notbaracken aus Kriegsmaterial erbaut - heute noch besiedelt. Dort weitet sich durch Bergbau verwüstetes Land, hier wieder die Ruine einer Glashütte. Über eine Straße, die immer wieder in die Tiefe zu versinken droht, an Sumpf und Ödland vorbei geht es nach Ladung. Von Delogierung, von Exekutionen - wie überall wird dort gesprochen, von Feierschichten und Einkommen ohne Auskommen und wieder von Arbeitsmenschen ohne Arbeit, ohne Arbeit.

[319] In Wiese ist längerer Aufenthalt. Die Brüxer Staatspolizei prüfte eingehend die Fahrer durchs Notland auf Herz und Nieren, Nam' und Art. Ferngespräche werden geführt, Inspektor Syrovatka nimmt seinen Dienst sehr, sehr ernst. Denn kommen einige Leute zusammen, so ist das eine Versammlung. Nach dem Paragraphengestrüpp. Und das muß untersucht und beamtshandelt werden. Die Aktenziffern steigen vom Polizeidistrikt bis ins Innenministerium herein: die bürokratische Maschinerie hat wieder Arbeit und Daseinszweck erhalten.

In Oberleutensdorf ist wieder Aufenthalt. Ein Polizist, der sich noch nicht im klaren ist, ob er von der Stadt oder vom Staate in Zukunft erhalten werden wird, hat strengen Auftrag vom amtierenden Vizebürgermeister: Er darf die Volksvertreter und Zeitungsleute nicht ins Asyl der Obdachlosen lassen. Scharen
Arbeitslose kinderreiche Familie.

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      Arbeitslose kinderreiche Familie! Wer es nicht selbst erlebt hat, kennt den ungeheuren Schmerz der Eltern nicht, die den Hunger ihrer Kinder nicht stillen können. Tausendfach ist es heute im Sudetenland zu hören: Mutter ich habe Hunger!
von Kindern und eine kleine Volksversammlung von Hausbewohnern dieses niedrigen einstöckigen Hauses lassen auf eine chinesische Bevölkerungsdichte schließen.

[320] Katharinaberg im Gebirge droben ist das Endziel der ersten Tagfahrt. Lichter blitzen durch die Nacht, die die Not verbirgt. Freundlich und sauber - wie überall in den Bergen - grüßen am Morgen die Häuser von Berg und Tal. Und doch verbirgt sich hinter der peinlichen Sauberkeit das Gespenst der Erwerbslosigkeit und des Hungers. Der Arzt erzählt: Nach fünf Wochen versiegt die Muttermilch und dann muß künstlich ernährt werden: mit Kornkaffee und gemahlenen Semmelbröseln. Milch ist Luxus. Und doch gingen von Katharinaberg Spielwaren in alle Welt. Freudenbringende Geschenke für Kinder, während im Orte ihrer Erzeugung Kinder zugrunde gehen müssen.

Brandau, Kallich, Natschung, Kienhaid und Sebastiansberg sind die nächsten Stationen dieser Passionsfahrt für Menschen, in denen noch Herzen schlagen. Die nahe Grenze mit ihren Mauern ist es, die der Not dieser Gegend ihr besonderes Gepräge verleiht: Kein Sachsengang mehr, kein Fremdenverkehr, keine Möglichkeit, nach harter Arbeit einiges Kleinholz über die Grenze zu bringen und so ein paar Pfennige zu verdienen. Und so kommt es, daß beispielsweise Kienhaid seinem Namen bald wieder Ehre machen wird, denn die sieben Kronen Lichtgeld sind unerschwinglich geworden und der Kienspan ist schon fallweise wieder in sein Recht getreten. Wenn die lichtlose Zeit des Winters vor der Tür steht, grünt auf den spärlichen Feldern noch der Hafer. Die Hausindustrie da und dort, die einst vorhandene Eisenindustrie, die Holzdrechslerei, die Spitzenklöppelei, alles gibt keinen Verdienst mehr und so kommt es, daß in einem dieser Orte der einzige Fleischhauer des Ortes einen Tagesumsatz von Fleisch in der Höhe von kaum einem halben Kilo hat. Über Neudorf geht es nach Sonnenberg. Von Kienhaid angefangen bis zum letztgenannten Dorf lindert die Torfstecherei noch hin und wieder die Not. Denn in Sebastiansberg ist ein Torfwerk in städtischem Besitz und dies teilt die Arbeit auf die vorhandenen Arbeiter auf. Viel bleibt keinem. Wir sahen einen 76-jährigen Mann, seine Füße von Gicht verkrümmt, der dort den Torfspaten handhaben muß, weil er und seine Frau von den 80 Heller Alltagsrente nicht leben können. Und weil er als "glücklicher" Hausbesitzer vierhundert Kronen Haussteuern vorgeschrieben erhalten hat. In Sonnenberg und Neudorf liegt es ebenfalls im argen. Hier konnte man die Bettstatt eines alten Mannes sehen: Holzspäne als Nachtlager, dort eingefallene Häuser im Gemeindebesitz und da wieder eine altbekannte Klage: einst gingen 250 Leute als Musiker in die weite Welt bis nach Ägypten. Nun sind die Grenzen geschlossen. Was sollen wir tun?

Über Komotau geht es zum zweiten Male ins Tal hernieder nach Görkau. Diese einstmals reichste Stadt des Landes Böhmen mit ihrem 2000 Hektar umfassenden Waldbesitz hat heute einen Regierungskommissär, weil die kata- [321] strophale Wirtschaftslage die Finanzen der Stadt zerrüttet hat. Da steht zum Beispiel ein Textilunternehmen. Ein Hebeldruck würde genügen, um tausende Spindeln wieder surren zu lassen, aber ein so mächtiger Arm ist nicht vorhanden.

Und so kommt es, daß - wie allerorts - die Arbeitslosenziffern Alltag geworden sind, daß auch in dieser freundlichen Stadt die Einkünfte der Gemeinde in ihrer absteigenden Tendenz zum Notmaßstab ihrer Bewohner geworden sind. Über Niedergeorgenthal und Kopitz geht es nach Brüx. In der erstgenannten Gemeinde konnte der Gemüsebau einen Teil des Bergbauödlandes zurückgewinnen. Aber mächtig ist die Konkurrenz von Vsetat. Grau in ihrer Einförmigkeit muten die Arbeiterkasernen von Kopitz an.

29.000 Einwohner zählt Brüx. Und wie heute der Großteil leben muß, das sollen einige Beispiele zeigen. Da wurde die Glasfabrik mit ihren 900 Arbeitern vor 6 Jahren stillgelegt. Auch dieses "stillgelegt" ist eine abgegriffene Wortmünze. Was es aber heißt, wenn z. B. ein Schacht nicht mehr arbeitet, der eine Arbeiterzahl ernährte, die größer war als mehrere Bauerndörfer zusammengenommen, der wird erst begreifen, wie furchtbar ernst der Inhalt dieses Wortes geworden ist. Da ist eine Grube in Brüx, die nur die Hälfte ihrer früheren Belegschaft kurz beschäftigt, da eine Schleiferei, die früher achtzig, heute 8 Arbeiter beschäftigt. So kommt es, daß ausgesprochene Elendsbilder auch hier in ihrer Alltäglichkeit nicht mehr wirken können. Da ist eine 65-jährige Frau. Sie erhält eine Rente von 60 Kronen und genau soviel betragen Mietzins und Raumabgabe.

Essen ist offenbar verboten. Da lebt ein Arbeitsloser mit 5 Kindern. Er selbst brauchte ja nicht zu verhungern, denn er bezieht sein Essen aus der Arbeitslosenküche. Aber woher er die 106 Kronen Wohnungsaufwand bestreiten soll, das ist ein Fragezeichen. Ein weiteres Fragezeichen ist die Bekleidung. Diese zwei Beispiele von vielen mögen genügen.

In Bilin ist das Ende einer Fahrt durch Nacht und Grauen erreicht. Und wer dort mit den Leuten spricht, wer sich von Vertretern aller schaffenden Stände erzählen läßt, der wird ein Bild der Zusammenhänge der Arbeit gewinnen können. Das Großgewerbe der Schuherzeugung hat sich so ausgewirkt: einst zählte die Genossenschaft der Schuhmacher in der Stadt 50 Meister, von denen keiner mit weniger als 2 Gesellen und Lehrjungen arbeitete; heute sind noch 14 Meister da, kein Geselle und ein Lehrjunge. Weil Handel und Wandel darniederliegen, ging der Bierausstoß von 7300 Hektolitern in den 42 Gaststätten der engeren Stadt auf 4.323 zurück.

Dem Gewerbe geht es so schlecht, weil der Arbeiter kein Geld hat und der Landwirt muß klagen und Schulden machen, weil die Stadtbevölkerung seiner [322] Hände Arbeit nicht abnehmen kann. Es ist eine Kette ohne Anfang und Ende, die in Bilin, wie an allen Orten, die hier nicht genannt wurden, ihre drückende Last auf die Schultern einer Gemeinschaft des Leidens und der Not gelegt hat.

In Bilin endete die Fahrt. Was sie gezeigt hat, das wurde versucht mit ärmlichen Worten zu schildern. Die Worte versagen aber, um all das ausdrücken zu können, was ein heißes Herz bei diesem Schauen und Hören fühlen muß.118



Ausgehungert zu Skeletten. Ausgehungert zu Skeletten

Ein Tag in der Elendswohnung von Frühbuß, Sauersack, Trinksaifen, Hirschenstand und wie sie alle heißen, die von der Welt und ihren Menschen vergessenen, in tiefster Armut verlorenen Gemeinden am Kamme des Erzgebirges, oberhalb von Karlsbad: ein Tag, der die furchtbarsten Eindrücke mitgibt, die sich in Menschenseelen prägen können; denn dort oben stirbt still, in [323] dumpfer Verzweiflung und nicht mehr fähig, sich gegen erbarmungsloses Schicksal zu wehren, ein Volk. Es geht zugrunde in unsagbarem Elend, wenige Stunden entfernt von den Zentren internationalen Wohllebens, mitten im mittelsten Mitteleuropa, zermalmt und geopfert von der Unerbittlichkeit wirtschaftlicher Wahnsinnspolitik, die dort am ärgsten trifft, wo schon vorher die Lebensnotdurft karg bemessen war und nun auf ein Nichts zusammengeschmolzen ist. Die Bilder, die sich in diesem trostlosen Verfalle dem erschauernden Besucher bieten, kann er mit Worten kaum beschreiben, geschweige denn, daß er wiedergeben kann, was dort an Ort und Stelle Herz und Seele zusammenschnürt, daß man schreien möchte ob der Maßlosigkeit solch menschenunwürdigen Daseins.

Und solche Bilder sind nicht vereinzelt. Sie kehren wieder in jedem Dorf, sie sind zum Gradmesser geworden für die Not der Menschen im rauhen Gebirge.

Wir kamen aus der Niederung der Eger um Karlsbad herauf zu den Volksgenossen und hatten schon Wanderstunden durch Not und Elend hinter uns. Aber was Not und Elend im Bereiche der Städte! Das alles versinkt und zählt nicht vor dem, wie dort oben Menschen von gleichem Fleisch und Blut wie wir, verkommen in dumpfen Löchern, behaftet von allen bösen Elendskrankheiten, ausgehungert zu Skeletten und nur noch einem Erbarmen entgegensiechen: dem Tode...

Die Zentren des Elends in diesem Elendszentrum der deutschen Randgebiete sind begreiflicherweise die Gemeindehäuser. Aber dabei ist es doch nicht so, daß in diesen Hütten des Jammers sich das ganze traurige Schicksal der Ortschaften verfängt. Nein, überall am Wege begegnet man gleichen, ja noch schlimmeren herzzerreißenden Furchtbarkeiten. Die Not frißt sich in jeder Hütte, in jeder Familie fest, und glücklich ist, wer noch wenigstens hie und da ein paar Kronen verdient. Denn nicht vielleicht eine große Minderheit, sondern die große Mehrheit aller Arbeitsfähigen dieser Gemeinden ist ohne Beschäftigung. Die Unterstützung nach dem Genter System genießt so gut wie niemand - in ganz Sauersack sind es noch zwei ehemalige Waldarbeiter - die Czechkarte ist Trumpf, und auch die nur dort, wo keine "Heimarbeit" geleistet wird. Diese Heimarbeit, die in ganz guten Fällen so viel einbringt, als eine Czechkarte ausmacht, in den allermeisten Fällen aber nicht annähernd so viel.



Gemeindehäuser als Massenquartiere

"Lasciate ogni speranza" - laßt alle Hoffnung fahren, die Ihr hier eintretet. Denn ihr kommt zu Stätten, an denen die Hoffnungslosigkeit vielköpfiger Familien zu einem Haufen entsetzlichster Daseinsnot geballt ist, Ihr [324] tretet in baufällige Hütten, deren schier zahllose Bewohner im schreiendsten Verhältnis zu den wenigen dumpfen Räumen stehen, und aus den hungerzermürbten Gesichtern glühen Euch aus rotgeränderten Augen die hektischen Zeichen schleichender Krankheiten entgegen.

Da ist Trinksaifen: 40 Personen beherbergt das Gemeindehaus, darunter 16 Kinder. Der "schönste" Raum des Hauses ist 18 Quadratmeter groß. Hier hausen neun Personen mit vier Kindern. Gegenüber wohnt auf einem Raume von sage und schreibe 10 Quadratmetern der ehemalige Maschinenschlosser Daniel Baumann mit Frau und vier Kindern. Diesen sechs Menschen steht ein einziges "Bett" zur Verfügung, ein rohes Gestell, ein paar Lumpen darüber. Dann ist noch ein Steinhaufen in dem Raume: der Ofen. Und ein paar Möbel, die als solche kaum erkenntlich sind. Und sonst nichts. Die Frau lächelt, ja wirklich, sie lächelt, als wir eintreten. Aber es ist ein unsagbar müdes Lächeln. Und der Mann erzählt stockend, wie er und die Seinen leben. Nein, um Gotteswillen, wer wollte da von leben sprechen! Und dann von den Kindern: Eines ist im Vorjahre, sieben Monate alt, gestorben. Ärztlicher Befund: Unterernährung.

Grausame Maske der Zivilisation: man verhungert heute nicht mehr, man stirbt an Unterernährung. Der Mann schrie nicht anklagend: "Mein Kind ist verhungert, verhungert an der verdorrten Brust der Frau, die nichts geben konnte, weil sie selbst nichts zu essen hatte!" Nein, der Mann erzählt stockend, ohne innere und äußere Erregung, dumpf vor sich hin: "Mein Kind ist gestorben an Unterernährung..." Diesen Tod sterben dort oben im Erzgebirge die Säuglinge, denn die Kindersterblichkeit ist hoch, furchtbar hoch. Und die Welt steht noch und in irgendeiner Statistik liest man im nächsten Jahre ein paar kleine Ziffern über die Kindersterblichkeit, die u. a. eine gewisse Unterernährung zur Voraussetzung hatte....

Unter dem Dache des Trinksaifer Gemeindehauses wohnt die andere Hälfte der Ausgestoßenen. Da gibt ein Raum von 16 Quadratmetern Quartier für 11 Personen. Am Fenster sitzt ein junges Mädchen beim Klöppeln. Jawohl, sie klöppelt noch, aber sie hat keine Hoffnung, für ihr kleines Kunstwerk einen Käufer zu finden. Und wenn, dann muß sie mit dem Erlöse den Zwirn bezahlen und dann bleibt ihr sonst nichts. Aber sie klöppelt, sie arbeitet. Bis die Dämmerung die Augen schmerzen macht. Licht? Da muß etwas Besonderes vorfallen, daß man solchen Luxus treibt. Vielleicht, daß heute oder morgen abends der Greis stirbt, der dort zwischen dem Reisig am Ofen auf ein paar Lumpen liegt, leise vor sich hinröchelnd, und uns keine Beachtung schenkt, weil er seit Wochen und Monaten so liegt, an der gleichen Stelle, tot und doch noch die Funktionen eines sogenannten Lebens in sich. Ja, vielleicht [325] muß man heute nacht sein mit bartüberwucherter, grauer Haut überzogenes Skelett über die steilen Stufen hinabtragen, und da braucht man dann den Kerzenstumpf. Zum Totenhandwerk, aber nicht zum Leben.119



Notstandswohnung im Gemeindearrest

Die Bergstadt Frühbuß zählt bei 1400 Einwohnern über 500 Arbeitslose. Das heißt, fast kein arbeitsfähiger Mann hat Beschäftigung. Denn auf 1400 Personen kommen dort oben viele, viele Kinder. Das Gemeindehaus gleicht in allen seinen fürchterlichen
Das ''Wurzelmütterchen'' aus dem Böhmerwald.

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      Das "Wurzelmütterchen"
aus dem Böhmerwald.
Einzelheiten dem von Trinksaifen. Nur ist es noch kleiner. Und "nur" 20 Personen leben in ihm, darunter 12 Kinder. Da steht in einer der "Wohnungen" ein Topf auf dem Herde. Und wieder dieses Lächeln der Frau: "Heut gibt's einmal was anderes, nicht Kaffee. Heute haben wir Reis. Reis in Wasser gekocht. Und dann etwas Salz dran. Das ist eine gute Abwechslung."

Und ein Greis kehrt heim vom Walde. Er zittert am ganzen Körper, denn seine 75 Jahre tragen ein Riesenbündel Reisig. Aber nicht nur wegen der Last zittert er; denn noch steckt ihm die Angst in den dürren Knochen, daß ihn ein Waldaufseher hätte erwischen können und dann wäre es wieder so gekommen wie immer, wenn man einem solchen in die Hände läuft: entweder Geldstrafe oder Arrest. Wer kann dort oben wohl eine Geldstrafe erlegen? Bleibt also nur das andere.

Denn das ist so: Früher, als der Wald dem Grafen gehörte, da durfte man sich Reisig holen, so viel man wollte. Das ist nun anders, seit die Grenzwälder verstaatlicht sind. Da ist das alles Holzdiebstahl und man fackelt nicht mit den "Dieben". Früher, da gab es in Frühbuß einmal 150 Stück Vieh, denn man durfte seine Kuh auf die Gründe des Grafen zur Weide treiben. Heute sind noch 50 Kühe da für die ganze Gemeinde. Man darf ja nimmer abweiden, seit die Gründe dem Staate gehören und woher sollte man wohl sonst das Futter nehmen?

Und dann ist in Frühbuß auch ein Bürgermeisteramt: ein einstöckiges Haus, es beherbergt das Gemeindeamt, die Post und einen Teil der Schule. Es ist eine Mädchenklasse und 32 kleine Münder rufen uns ein singendes "Grüß Gott" zu bei unserem Eintreten. Ach wo, das ist ein Schulpalast, wie man sie sonst kennt in deutschen Gebieten, dort oben gibt es keine tschechischen Schulkinder und man wird sich hüten, solche dorthin zu verpflanzen in dieses Elend. Aber der Katechet sagt uns, daß die Kinder willig sind und ganz gut lernen, aber halt Rücksicht muß man nehmen, denn sie sind alle körperlich sehr schwach. [326] Und die Diphterie reißt jedes Jahr ein paar heraus aus den Klassen. Aber der Winter bringt ein Gutes: da bekommen die Kinder jedes täglich einen Viertelliter Milch und ein Stück Brot von der Schule. Da brauchen dann die Eltern nichts oder fast nichts mehr dazuzugeben...

Ja, und noch etwas gibt es in diesem Hause, das Post- und Gemeindeamt und Schule gleichzeitig ist: den Gemeindearrest. Das ist ein dunkles, dumpfes Gewölbe und es dient nicht seiner ursprünglichen Bestimmung, sondern dort wohnt der arbeitslose Bergmann Hermann Schindler, der vor einigen Monaten mit seiner Frau und seinen sieben Kindern - das achte ist auf dem Wege - in seine Heimatgemeinde abgeschoben wurde. Da steht denn für alle neun Menschen ein einziges Bett in dem Raume, von dessen Wänden das Wasser rinnt, es steht in der Ecke und nimmt wie zum Hohne auch noch ein beträchtliches Stück des Fußbodens weg, der das Bett für die anderen ist, die auf dem hadernbedeckten Gestell keinen Platz finden können...

[327] So ist es in Frühbuß und so geht dort das Leben seinen erbärmlichen Gang, bis es einmündet in einen frühen, erdarbten und doch gefürchteten Tod, denn noch immer sind es Menschen, die dieses Leben fristen, Menschen sogar, die eines stärker haben als Millionen andere: das Heimatgefühl, die Verbundenheit mit ihrem ach so kargen Boden. Sie kommen zurück, wenn sie eine Zeitlang in der Welt waren; sogar, wenn sie es dort besser hatten als daheim. Sie können nichts für diese Tragik; ihre Wurzeln bleiben dort oben haften und holen sie heim, wenn die Sehnsucht übermächtig wird. Und sie sterben lieber mit der Heimat, als daß sie sie verrieten. Sie können nicht dafür, das ist Schicksal und höhere Macht und darum muß es wohl so sein, auch wenn sich die Vernunft gegen diesen Gedanken sträuben mag.120



Verklungene Geigen

Stadt Schönbach, das ist ein kleines Nest zwischen Erzgebirge und Egerland eingereiht in die einstmals so fröhlich klingende Kette der Musikstädte von Graslitz diesseits bis Markneukirchen jenseits der Grenze und seine emsige Bevölkerung war heiter in den kleinen Werkstuben, wo der Vater mit den Söhnen Bögen machte und Geigenböden leimte und Saiten spannte. Wenn dann der Abend kam, da wußte man, daß des Tages Arbeit ihren kleinen Segen gebracht, hatte, man legte die Geigenteile hin und nahm die fertige Geige von der Wand, um die Feierstunden in Musik zu verwandeln mit dem Nachbarn, der das Cello spielte wie ein Künstler.

Sie alle bauten in ihren kleinen, sauberen Häuschen an den Instrumenten, die dann im Betrieb den letzten Schmiß bekamen und von dort hinausgingen in alle Welt. Denn die Schönbacher Geigen waren gefragt. Heute sind sie es nicht mehr. Die Grenze ist nahe und über sie hinaus darf ja nichts mehr. Nicht mehr die Instrumente, nicht mehr die Menschen, die drüben im Vogtlande gleiche Arbeit hatten ehedem. Die Fröhlichkeit ist stumm geworden mit der Arbeit und die Musik ist ausgezogen aus den Häuschen von Schönbach. Denn die Not ist eine schlechte Partnerin für Hausmusik; sie zerstört mit ihrem schrillen Mißtone jede Melodie.

Sie hängen ihre Armut und ihr dürftiges Dasein nicht an die große Glocke, die Schönbacher. Aber sie müssen ihre Geigen unter den Arm nehmen und in fremde Städte gehen als Straßenmusikanten. Ein paar Almosen noch bringen ihnen die Geigen, die ihnen früher festen Verdienst gaben. Überall könnt ihr sie treffen, die Bettler aus Schönbach; es sind scheue Bettler, die sich ihrer Armut schämen, für die sie doch nicht können. Denn sie haben ja noch ihre geschickten Hände, aber niemand ist, der dieser Hände Werk kaufen würde.

[328] O doch, es wird noch gekauft in Schönbach. Hie und da findet doch noch ein "Interessent" zu den Erzeugern. Aber die Preise diktiert er. Und er gibt für eine Geige, eine fertige, saubere, klingende Geige, in der sich die Liebe und die Sorgfalt von Generationen verfangen hat, heute noch ganze 16 Kronen. Nein, es ist kein Druckfehler: sechzehn Kronen.

In diesen sechzehn Kronen stecken das Material, die Arbeit, die Steuern, die Existenz; aus diesen sechzehn Kronen schreit die Qual einer gemarterten Menschheit, diese sechzehn Kronen sind eine furchtbare Anklage gegen ein Wirtschaftssystem, das über Leichen geht.

Ja, die Steuern.... In Schönbach regiert der Exekutor. Die städtische Amtstafel quillt über von Edikten. Schönbach ist die Stadt der Schuldner. Womit sollen sie zahlen?

So spielt sich in dem weltfernen Städtchen, das einst trotz seiner Weltenferne die Welt erklingen ließ, eine erschütternde Tragödie ab, die ein tödliches Ende nehmen muß, wenn nicht schnell, sehr schnell durchgreifende Hilfe wird. Man hört wenig davon, weil nicht riesige organisierte Arbeitermassen, nicht riesige Fabrikkomplexe davon betroffen sind. Es sind zumeist kleine Betriebe, allermeist sogar ganz kleine Werkstätten, die in Heimarbeit für die größeren Unternehmungen arbeiteten. So kommt es auch, daß der Großteil der Notleidenden gar keine Unterstützung empfängt, denn früher galten diese Instrumentenmacher als Gewerbetreibende und den sozialen Vorschriften nach gelten sie noch heute als solche. Und gerade darum empfinden die Schönbacher die Not so schwer, weil zu ihrem Elend auch noch dieser Hohn kommt.

Müde und traurig hängen die Schönbacher Geigen an den Wänden und selten einmal greift jemand nach ihnen. Manchmal aber springt mit leisem Klang eine Saite. Aber das ist kein fröhlicher Geigenton mehr...121



Im Schatten der Weltstadt

Es ist ja kaum der Rede wert: "Nur" 192 Erwachsene und 153 Kinder hausen in dieser Klausur der Not. Und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sind noch welche darunter, die in Verdienst stehen, deren Wohnräume noch die nackte Fratze des Elends nicht tragen, weil die Menschen in ihnen alle Kräfte anstrengen, über Wasser zu bleiben auch in der äußeren Haltung.

Denn Fischern ist der Vorort der Weltkurstadt Karlsbad und in allen lebt noch die Erinnerung an die gute Zeit, da Handel und Gewerbe blühten und aus dem Neste jenseits der Eger eine aufblühende Gemeinde schufen. So blühend, daß die rote Fischerner Stadtverwaltung nur mehr in Millionen dachte und nach Wiener rotem Muster mammutartig zu bauen anfing. So [329] kam es, daß zu den plötzlich hereinbrechenden sozialen Lasten noch ein ungeheurer Schulden- und Zinsendienst stieß, der die Gemeinde sehr schnell außerstand setzte, wirkungsvolle Hilfe für ihre Arbeitslosen zu schaffen.

So sieht die Gebarung der 12.000 Einwohner zählenden Stadt Fischern aus: Bei einem Darlehensstande von 23,702.000 Kc sind 6,597.000 Kc Buchschulden und 8,265.000 Kc Verzugszinsen offen. Der laufende Zinsendienst für die Darlehen frißt 1,692.000 Kc jährlich; mit 31. Dezember 1934 war man damit um 1,794.000 Kc im Rückstande.

Aber dafür steht auch weit draußen vor der Stadt ein Prachtbau, das Ledigenheim. Ja wirklich, es steht ledig, denn niemand darf drinnen wohnen, weil das die Stadt noch mehr belasten würde, als wenn sie es unbewohnt erhält. Sein Bau kostete 2,986.000 Kc, seine Inneneinrichtung 894.000 Kc. Es enthält 104 Schlafstellen, so daß der Aufwand für eine einzige Schlafstelle die Kleinigkeit von 8595 Kc ausmachte. Wie herrlich hätten die Ledigen dort wohnen können...

Nun, das ging nicht. Und so leben sie denn in den Notbaracken von Altfischern, in denen man Schlafstellen finden kann, die nicht 8500 Kronen wert sind, aber vielleicht, wenn es hoch kommt, 8.50 Kronen. Ein Tausendstel der Lebenshaltung, die man in Aussicht stellte, kann die Gemeinde gerade noch gewähren...

Da sind wir nun in dieser Vorstadt der Delogierten, die sich in den erbärmlichen Buden drängen müssen, weil die Not, die Armut sie aus ihren früheren Wohnungen drängten. Man weiß nicht, was drückender ist in dieser Barackenstadt: die körperliche oder die seelische Not, der leibliche oder der sittliche Verfall. Ein Labyrinth von sonnenleeren Gängen führt zu Verschlagen, hinter denen vielköpfige Familien hausen. Und bittere Ironie grinst die Aufschrift, die einer dieser Familienväter seiner Türe gab: "Villa Eigenheim".

Ja, es sind Eigenheime. Denn wer wollte den Leuten diese Heime streitig machen! Diese paar Geviertmeter, auf denen sich das ganze vielfältige und doch so eintönige Leben abspielt, die immer und immer benützt werden, weil nur zu viele ihrer Bewohner nicht mehr vor die Türe gehen können, da es ihnen an den notwendigsten Bekleidungsstücken mangelt. Vor den Nachbarn in den "Gassen" ihrer Elendsstadt brauchen sie sich nicht schämen, da ist einer wie der andere. Aber in die wimmelnden Hauptstraßen der Kurstadt können sie nicht, da faßt sie der Polizist.

Aber Mädchen und Frauen wohnen dort, die kommen doch hinüber. Wenn die Lichtreklamen verlöschen, wenn die Stadt in den Schlaf gesunken ist, da gehen sie an ihre Plätze. Denn sie haben Kinder zu Hause, die wollen zu essen haben. Und während diese in der stickigen, ungesunden Luft der Baracken ihren [330] unschuldigen Schlaf schlafen, verkaufen ihre Mütter den armen Leib, um Brot für den nächsten Tag zu schaffen.

Jede einzelne Behausung beherbergt ihre eigene kleine Elendsgeschichte. Klein, gemessen an dem großen Leben, das nahe vorrüberrauscht. Aber zu fürchterlicher Größe erwachsend, wenn man sie nimmt als das, was sie ist: die Geschichte eines Menschen, einer Familie im zwanzigsten Jahrhundert, im Zeitalter der Humanität. Da sinkt alles Gerede von Menschenrecht und Menschenwürde zu einer bitterbösen, giftigen Lüge zusammen, denn in den dunklen, dumpfen Wohnlöchern von Altfischern höhnt aus allen Ecken die grausame, nackte Wahrheit, während die Lüge des Jahrhunderts draußen vor der Stadt prahlt mit dem leerstehenden Prunkbau des Ledigenheimes.

Da habt ihr ein paar solcher Schicksale: Der Steinschleifer Josef Melcher hat eine Frau und sieben Kinder. Und ein Kasperltheater. Weil er dieses Kasperltheater hat, mit dem er im Sommer ein paar Kreuzer verdient, ist er Unternehmer und daher ausgeschlossen von der "Wohltat" der Czechkarten. Also hat er jetzt, um die letzte Not für ein paar Tage noch zu bannen, das Bettzeug von den beiden Betten - zwei Betten für neun Personen! - verkauft. Nun sind die nackten, morschen Bretter Matratze und Unterbett. Und ein paar Tücher das Zudeck. Und doch, und doch: Man will nicht ganz untergehen, man hält den Raum peinlich sauber, man stellt ein paar Herbstblumen auf das Fensterbrett. Und ein Bild hängt an der Wand, das ist unverkäuflich. Es zeigt Vater Melcher als Feldwebel...

Die Hedwig H. lebt dort mit drei Kindern. Ihr Mann ist fortgegangen, seit langem verschollen für sie. Sie bezieht keinerlei Unterstützung. Wovon sie und ihre Kinder leben? Die Frage treibt ihr die Tränen in die Augen. Sie kann es nicht sagen vor ihren Kindern. Aber ihr Blick, ihr verzweifelter Blick sagt es uns...

Man könnte ihn beliebig fortsetzen, diesen traurigen Reigen. Aber genug an dem. Die Wohnbaracken von Fischern sind eine furchtbare Anklage. Nicht zuletzt gegen ein System, das auf dem Hügel, der hinter den Baracken steil ansteigt, ein Haus errichtete, das als sozialistisches Jugend- und Arbeiterheim gedacht war. Und von dessen Rückwand jetzt eine große Tafel einlädt zum -Tanztee. Weil es sich als sozialistisches Jugendheim nicht rentierte.122



Der Hundeschlächter von Rothau

Landschaftlich wunderschön gelegen, mitten in dem romantischen Durcheinander des Erzgebirges breitet sich freundlich und sauber der etwa 3000 Einwohner zählende Ort Rothau aus. Vor wenigen Jahren noch herrschte frohes, [331] lautes Arbeitsgetriebe darin, heute geht man durch den Ort wie durch einen Friedhof um Allerseelen. Stille ringsum. Und trifft man jemand, ist es, als ob all die Stille ringsum noch stiller würde: solch ein tiefer Ernst liegt in seinen grauen, harmvollen Zügen. Man wird selber ganz ernst und still, so merkwürdig bedrückt, so eng, man fühlt in jeder Faser: es ist etwas Besonderes hier, etwas ganz Großes an Daseinslast.

Und wenn man dann erzählen hört, glaubt man die große Last, versteht sie und hat keine anderen Wunsch mehr als helfen, helfen zu können.

Als am 15. Juli 1931 um 6 Uhr morgens das letztemal die Pfeifsignale des Eisenwerkes Martinshütte-Neubau durch Rothau gellten, war das ein Lostag von geradezu verheerender Bedeutung für den ganzen Ort. Insbesondere für die entlassenen 1700 Arbeiter und deren Familien.

Eisenwerk Rothau-Neudek.

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      Im Eisenwerk Rothau-Neudek (Erzgebirge) wurden bis zur Verlegung ins tschechische Gebiet über 1600 Arbeiter beschäftigt. Bekanntlich strebt der tschechische Staat die Verlegung der kriegswirtschaftlichen Betriebe ins tschechische Sprachgebiet an.


Eisenwerk Rothau-Neudek.

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      So sieht es heute im stillgelegten Eisenwerk von Rothau-Neudek aus. Zerbrochene Fenster, leere Fabriksäle, im Orte hungernde Menschen.
Das Gespenst der Arbeitslosigkeit suchte nun auch sie heim.

Arbeitslosigkeit heißt immer Verdienstlosigkeit. Aber noch war das keine gar so große Furcht. Jedenfalls nichts Hoffnungsloses. Wenn die Arbeiter auch keine der hohen Abfertigungen, wie sie die Beamten erhielten, bekamen, so hatten sie doch Aussicht auf Unterstützung aus ihren Organisationen; einige auch auf eine kleine Rente. Außerdem hatte man in guten Jahren verdient und wie grundbescheiden der Erzgebirgler ist, weiß man in aller Welt. Es war Kleidung angeschafft und wohl auch Geld zurückgelegt worden. Schließlich vertrauten die Entlassenen darauf, daß für sie doch eines Tages, irgendeine andere Verdienstmöglichkeit sich ergeben würde. Man konnte doch eine solche Masse von Arbeitern nicht unnütz und sinnlos herumlungern lassen. Alle waren sie willig und bereit zu jeder Arbeit, sofern sie ehrlich das notwendige tägliche Brot brachte.

Die Zeit verstrich: Wochen wurden Monate, Monate Jahre. Aus der Verdienstlosigkeit wurde Not. Was zuzusetzen, war zugesetzt, so daß man endlich vor dem absoluten Nichts stand. Die sich in besserer Zeit ein Häuschen gebaut, verschuldeten völlig. Auf siebenundachtzig solcher Häuser lasten zum Beispiel zweieinhalb Millionen Schulden. Alle könnten sie längst versteigert werden - wer kauft? Wer kann kaufen?

Aus der Not wurde Elend. Ein Elend, so bitter, so groß, daß es unfaßbar wird, daß es schaudern macht. Und dieses Elend ist es, was das einst so rege, arbeitsleben-erfüllte Rothau traurig wie einen Friedhof um Allerseelen macht.

Hilflos muß die Gemeinde zusehen, wie ihre Bürger verkommen. Ihre eigene Lage ist traurig und trostlos, denn sie hat kaum noch Einnahmen, fast nur Schulden, deren Zinsendienst sie nicht einmal zu bestreiten vermag.

Vierhundertdreißig Ausgesteuerte gibt es im Ort und die Zuteilung der staatlichen Lebensmittel erfolgt ganz beschränkt, vollkommen unzureichend. Inzwischen ist doch auch eine neue Generation herangewachsen. Und diese ist von [332] den Arbeitsfähigen am übelsten daran. Auch sie hat den Drang und den heißen Willen zur Arbeit, zum Verdienst, aber die Möglichkeit, sich zu betätigen, ist ihr auch mit der Stillegung der Eisenwerke genommen. Burschen in den schönsten Jugendjahren müssen ein Dasein ohne Sinn und Weg und Ziel verlungern, müssen als Zaungäste sich an einen Tisch setzen, um hungrig wieder davon aufzustehen - wozu? Selten genug, daß eine Lebensmittelzuteilung an sie erfolgen kann. Sie würden wenigstens im Haushalt so gern helfen und zupacken, aber was ist denn in einem Haushalt zu tun, wo alle nichts zu tun haben?

Die paar Kartoffeln, die von Mahlzeit zu Mahlzeit weggehen dürfen, sind bald gewaschen und zugestellt. Außerdem sind ja Frauen genug dafür da: alles ist arbeitslos. Dieses fürchterliche Zuviel aller Ecken und Enden!

In Ober-Rothau stehen sogar drei Eisenbahnwaggons nebeneinander, dessen mittlerer eine siebenköpfige Familie beherbergt. Entsetzlich verbrauchte, stickige Luft steht in diesen ängstlich wegen Wärmeverlust nie gelüfteten Wagen, an denen, arg vom Regen abgewaschen, noch das Zeichen CSD mit einer Nummer zu erkennen ist. Weiß Gott, in welchen Gegenden diese Waggons bis zur völligen Unbrauchbarkeit verkehrt sind, um nun hier verzweifelten Menschen armselige Zuflucht zu gewähren.

In einem hat der Hundeschlächter von Rothau seine Fleischbank aufgeschlagen. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Aus geflicktem Drahtgitter zieht sich ein Zwinger um den Wagen, darin hausen die Hunde, solange sie noch am Leben sind. Sie haben nicht viel Zeit, sich an diese Umgebung zu gewöhnen, zwei, drei Stunden, fünf - wenn es lange währt. Denn die Nachfrage ist groß, und dem Hundeschlächter fehlen auch die Mittel, das Schlachtvieh zu füttern. Da muß er sich beeilen, ehe es magerer wird. Man soll sich den Hundeschlächter von Rothau nicht als halbkannibalischen Unmenschen vorstellen. Sein Gewerbe ist zwar nichts für zartbesaitete Seelen, und sein Gewerbe steht mit den herkömmlichen Vorstellungen über den Tierschutz auch einigermaßen in Konflikt. Aber - - "Ich gebe das Fleisch zum Selbstkostenpreis", sagt der Hundeschlächter. "Ich will nichts daran verdienen, ich betreibe dieses Gewerbe nur, weil die Leute hier so elend daran sind." Und es ist wohl so, daß man auch diesem Manne nicht an der Wiege gesungen hat, er würde in Rothau Hundeschlächter werden, und daß der Entschluß eines Kämpfers und das große Mitleid eines guten Menschen dazu gehört haben mögen, als er jenseits aller Bürgerlichkeit dieses Handwerk ergriff, um menschliche Not zu lindern.

Und dieses ist die Not in Rothau: daß die Schulkinder auf der Straße zusammenbrechen, weil sie tagelang keinen Bissen in den Mund bekommen und weil ein warmes Mittagessen für sie ein Traum aus dem Märchen ist. Und daß [333] sie barfuß durch den Schnee waten und kleine, faltige Greisengesichter durch das Leben tragen. Und daß sie doch noch etwas besser daran sind als die Alten, die für die Kinder sich die letzte Brotkrume sparen und für die Kinder sich beim Hundeschlächter in Schlangen anstellen.



Dokumente der Not

Von sudetendeutscher Seite sind bei den Arbeitslosen in Graslitz über ihre Lage Erhebungen gepflogen worden. Die Protokolle, von denen im folgenden einige wiedergegeben sind, wurden der Prager Regierung überreicht:

Name: A.... R.......             Beruf: Blechinstrumentenmacher
Wohnort: Graslitz
Seit wann sind Sie arbeitslos: 1932
Was für Beschäftigung hat die Frau: Betteln
Anzahl und Alter der Kinder: 4, 6, 12, 20, 2 l und 22 Jahre
Was verdienen die Kinder:       /
Wie viele davon sind arbeitslos: 2 sind in Stellung
Was für Unterstützung haben die Kinder: 1 Czechkarte und 1 Brot
Was für Wohnräume benutzen Sie: Stube und Kammer
Was zahlen Sie Miete: keine
Welches Einkommen hat die Familie wöchentlich: 30 Kc - 6 Personen.
Alle 6 Personen sind unterernährt.

      Als Familienvater von sechs Kindern im Alter von 4, 6, 12, 20, 21 und 22 Jahren habe ich schon sehr viel Hunger mit meinen Kindern gelitten. Bei Auflösung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei wurde auch etwas später unsere deutsche Gewerkschaft aufgelöst. Von da an begann für mich und meine Familie und so viele andere deutsche Gewerkschaftler der Leidensweg.
      Nach der Auflösung habe ich wochenlang mit meiner Familie gehungert; wiedergeben kann ich das nicht, da es einem Nichthungernden unglaubwürdig erscheint. Nach einigen Monaten waren wir alle unterernährt. Tagelang hatten wir nichts zu essen. Wir mußten, ob wir wollten oder nicht, zum Bettelstabe greifen, denn sonst wären wir ganz verhungert; und seit dem Jahre 1933 sind wir Bettler und sind nun auf hilfsbereite Menschen angewiesen. Ich bekomme wöchentlich 30 Kc und 3 Brote für 6 Personen zu Tisch. 2 Kinder im Alter von 21 und 22 mußten die Heimat schon verlassen, damit es ihnen doch etwas besser geht als uns zu Hause. Ich und meine Frau müssen bei Sturm und Regen, bei Kälte und Schneewetter von Haus zu Haus gehen, damit unsere Kinder nicht verhungern. Durch die große Not, die wir zu erdulden haben, ist meine Frau jetzt länger krank, als daß sie mitsorgen könnte für die Kinder. Wie wir leben, das soll Ihnen meine Speisekarte von der vorigen Woche sagen:
[334]       Montag: Wassersuppe und Kartoffel
            Dienstag: Reissuppe und Kartoffel
            Mittwoch: Graupensuppe und Kartoffel
            Donnerstag: Kartoffelklöße mit gerösteten Zwiebeln
            Freitag: Wassersuppe und Kartoffel
            Samstag: Kartoffelplätze
            Sonntag: Reissuppe und Kartoffel mit gerösteten Zwiebeln.
      Nebenbei sei bemerkt, daß es nur Kartoffel gibt, wenn wir irgendwelche von den Bauern oder von einer Aktion bekommen; sonst gibt es nur Suppe. Fleisch kennen wir schon jahrelang nicht mehr; höchstem, wenn uns hilfsbereite Menschen einmal eine Freude bereiten. Für die Czechkarten (30,— Kc) kaufen wir uns Freitag ein: 1 kg Zucker, ½ kg Rindsfett, 50 kg Kohle und etwas Reis, Graupen - denn wir müssen uns alles genau einteilen, um jeden Tag etwas zu haben. Das Frühstück und Nachtmahl, wie es so heißt, besteht aus Kaffee und Kartoffeln. Den Kaffee kann nicht jeder Mensch trinken ohne Milch. Milch bekommen die Kinder jetzt in der Schule öfters. Unterernährt ist die ganze Familie. Vor Weihnachten haben wir aus der "Winterhilfe", die vom Staate bewilligt wurde, 10 kg Mehl, 2 kg Butter, 3 kg Malz und 50 kg Kohlen bekommen. Daß wir dieses Jahr etwas bekommen haben, danken wir jenen Menschen, die sich für die Hungernden eingesetzt haben.
      Vom Bunde der Deutschen wurde nun die Volkshilfe ins Leben gerufen. Diese Volkshilfe hätten wir schon früher gebraucht, dann wären wir heute nicht so stark unterernährt. Wir sind schon immer glücklich wenn es heißt, nächste Woche bekommen wir wieder von der Volkshilfe. Sieben Tage leben wir wieder als Menschen. Wenn wir auch dann früh und abends nichts zu essen haben, so können wir uns doch wenigstens täglich einmal satt essen. Wenn wir nicht auch gute Menschen in den Reihen unseres sudetendeutschen Volkes hätten, wären wir schon längst verhungert. So schlecht wie es uns einmal ergangen ist, geht es uns, glaube ich, nicht mehr. Denn es haben sich schon jetzt Menschen gefunden, die keine Ruhe mehr geben, bis wir doch endlich einmal zu unserem Recht kommen. Wenn das, was unser Volk erdulden muß, recht ist, dann will ich lieber sterben, damit ich und meine Familie von der schrecklichen Qual befreit sind. Es herrscht ein Zustand, der dringend Abhilfe benötigt.
gez. A.... R.......



Beim Betreten der Wohnung, wo acht Personen hausen, liegt ein 10 Monate altes Kind in der Wiege; blaß und schmal ist sein Gesichtchen. Auf den ersten Blick sieht man, daß es in dieser Familie sehr große Not gibt. Zwei Betten, ein altes Ruhebett, ein Tisch und eine alte Kommode ist das ganze Mobiliar. Es läßt sich auch nicht mehr unterbringen, der Raum mit 25 qm ist viel zu klein für diese Familie. Bei voller Beschäftigung und 60-stündiger Arbeitszeit verdienen Frau, Mann und drei Kinder höchstens noch 130 Kc; jedoch gibt es sehr wenig Arbeit. Alles ist im Preise so gedrückt, daß kein Auskommen mehr ist. Seit dem Jahre 1928 wurden bei manchen Artikeln bis 60% abgebrochen. Die Kinder sind größer geworden und der Verdienst immer geringer.

[335]      "Ich trage nicht die Schuld, wenn mir meine Kinder verhungern, denn ich bin bereit, um jeden Preis zu arbeiten. Frühmorgens, wenn wir erwachen, sehen wir uns gegenseitig an. Ich und meine Frau ratschlagen, wo wir heute wieder etwas zu essen bekommen werden. Die Kinder werden zur Schule geweckt. "Haben wir kein Brot?", sagt der kleine Helmut, "gib mir doch ein bißchen schwarzen Kaffee, in der Schule bekomme ich ja heute Milch." Die Kinder gehen eines nach dem anderen und die Eltern sitzen zu Hause und haben nichts zu nagen und nichts zu beißen. Die Frau oder der Mann geht auf die Gemeinde. Versucht dort, ob er etwas bekommen kann. Er bekommt von dem Gemeindevertreter, ein heute von Marxisten oder Zentrumsleuten besetzter Posten, die Antwort: "Heute haben wir nichts". "Ich habe doch schon seit zwei Tagen kein Brot im Hause." "Ich kann nicht helfen", gibt dieser marxistische Gemeindevertreter, der auch einmal bitterste Not im Hause hatte, als er noch nicht bei der Partei war, zur Antwort. Und so geht der Mann ein Haus weiter zur Jugendfürsorge. Dort bekommt er die Antwort, daß er eine Bestätigung von der Gemeinde haben müsse, dann könne er ihm etwas ausfolgen.
      Herzzerreißende Szenen spielen sich in einem Tage auf dem Bürgermeisteramt ab. Jedoch: "Von welcher Partei bist Du? Wenn du von Henlein bist, dann verrecke!", denkt dieser marxistische Menschenfreund. Unser Volk hat ein sehr schweres Dasein. Wer sein Deutschtum hochhält, hat schwer zu kämpfen. Gegen Mittag kehrt der Mann heim. Die Frau erwartet ihn schon. Von weitem sieht sie, daß der Mann nichts nach Haus gebracht hat. Die Frau bricht in Tränen aus, der Mann geht in der Stube umher in Gedanken versunken. Und wieder kommen die Kinder; und der Tisch ist leer.
      Sind das noch menschenwürdige Zustände? Vom Kaufmann bekommen wir nichts mehr auf Kredit, da wir durch die ganzen Jahre hindurch schon mehrere hundert Kronen schulden. Es will nicht anders werden. Jeder Tag ist eine Qual für uns. Und so ergeht es dem sudetendeutschen Volk. Immer das gleiche: unterernährt, halbverhungert. Wie soll das noch enden? Das alles bekommt man zu sehen und zu hören, wenn man die Wohnung eines Arbeitslosen im sudetendeutschen Gebiet besucht."

Unterschrift des Arbeitslosen:       V.... E.......



Name: B.........Sch......
Beruf: Binder
Wohnort: Graslitz.
      "Als Faßbinder habe ich in Falkenau 15 Jahre lang gearbeitet; durch die Krise habe ich meinen Arbeitsplatz verloren. Bin Familienvater von 8 Kindern; für sechs habe ich noch zu sorgen. Drei davon sind schon viele Jahre arbeitslos. Bis zum April 1935 habe ich noch wöchentlich einen Lohn von 130 Kc nach Hause gebracht. Seit Ende April 1935 bekomme ich die Czechkarte (nach dem früheren Fürsorgeminister "Czech" benannt), welche jedem Arbeitslosen den Ruin bringt. In der Familie sind wir bereits alle unterernährt. Wöchentlich bekommen wir 5 Czechkarten zu 10 Kc und 5 Brote Unterstützung. Davon müssen wir monatlich 80 Kc Miete zahlen. Die ganze Woche haben wir nichts anderes als Kaffee und Kartoffeln; Milch kommt selten ins Haus, Fleisch sehen wir nur bei den Fleischern, wir selbst können uns [336] Monate hindurch keines kaufen. In bezug auf Kleidung sind wir so heruntergekommen, daß wir uns nur noch in fremden Kleidern in der Öffentlichkeit zeigen können. Sechs Jahre konnten wir uns weder Hemd noch Hose kaufen; unsere Bettüberzüge sind nur noch Hadern. Da es mit dem Lohn, den ich vor 1935 nach Hause brachte, kaum gereicht hat, unseren Hunger zu stillen, so sind wir jetzt alle unterernährt, und nur noch Haut und Knochen tragen uns der Menschheit zur Schau. Mein Zustand ist ganz trostlos. Betteln kann ich nicht gehen, lieber will ich verhungern. Ich scheue keine Arbeit, nur kann ich nirgends welche finden, womit ich wenigstens unseren Hunger etwas dämpfen könnte.
      Was wissen denn jene Menschen, die keinen Hunger haben, in welchem Zustand wir leben? Im Kriege habe ich sehr viel mitgemacht; jedoch kein Vergleich zu dem heutigen Zustande in meiner Familie. Was soll der Mensch schon mit diesen 10 Kc anfangen? Wir sind 8 Personen zum Essen im Alter von 9, 12, 14, 25, 29, 54 und 56 und haben 50 Kc und 5 Brote die Woche. Von diesen gehen noch wöchentlich 20.— Kc für Miete ab; somit bleiben uns 30 Kc und 2 Brote. Für uns große Familie reicht es nicht einmal für einen Tag aus, und doch müssen wir uns eine Woche lang damit hinfristen. Wohnung haben wir: Zimmer und Küche, welche wir doch erhalten wollen. Lieber nichts zu essen, nur nicht auf die Straße gesetzt werden mit meinem Hab und Gut. Denn alles andere haben wir schon längst verloren. Wie lange soll dieses Elend noch auf uns sudetendeutschen Menschen lasten?"
12. II. 36.       gez. B.......Sch.....



      "F. E., geb. am 16. III. 1898 in Graslitz, dahin zuständig, verheiratet und einen Knaben im Alter von 12 Jahren.
      Bin seit 1930 - also volle 5 Jahre - arbeitslos; auch meine Frau hat nie eine Beschäftigung finden können. Der Vater meiner Frau, ............, im Alter von 70 Jahren ist die längste Zeit bei mir. Habe ständig nur zwei Lebensmittelkarten. Davon sollen vier Personen leben und der Mietzins für eine Stube im Betrage von 80 Kc aufgebracht werden!
      Nirgends ist eine Beschäftigung zu finden, trotzdem ich mich vor der gewöhnlichsten Arbeit nicht scheue. Auch bin ich als 18-jähriger zum Frontdienst ausgehoben worden und habe seitdem ein schweres Herzleiden und somit öfter Anfälle. Wir müssen Tag für Tag das bißchen Leben in bitterster Not verbringen - und der Mietzins ist überhaupt nicht mehr zu beschaffen. Wir sind schon unterernährt im höchsten Grade und jeder Tag bringt neue Sorgen. In Kleider und Wäsche sind wir heruntergekommen wie ein Hund. Wenn nicht bald von irgendeiner Seite Hilfe geschaffen wird, so ist dies traurige bißchen Leben zwecklos."

Graslitz, am 10. II. 36.       gez. F. E............, Graslitz.



12 Menschen auf 22 Quadratmetern

Zu Beginn des Jahres 1936 erstatteten die Abgeordneten der Sudetendeutschen Partei in- und ausländischen Pressevertretern einen Bericht über ihre Fahrt durch das sudetendeutsche Elendsgebiet:

[337]      "Abg. Wollner verwies auf die Not im westlichen Erzgebirge, wo zum Beispiel in Trinksaifen 80% der Bevölkerung arbeitslos und 40 Personen im fünfzimmrigen Armenhaus untergebracht sind, wo der Gemeindearrest als Notwohnung bezogen werden mußte, oder in Frühbuß, wo eine Arbeitslosenfamilie in der Totenkammer auf Streu und Stroh haust. Ein Graslitzer Kaufmann schenkte einem Bauer verdorbenes Kraut zum Düngen seiner Felder. Arbeitslose lasen es vom Acker auf und kochten daraus für sich und ihre Familie Mittagessen. Die letzten noch beschäftigten Heimarbeiter klöppeln für 5 bis 7 Kc (50 bis 70 Pfg.) von früh bis spät in die Nacht, um dann mehr als 3 Kc (30 Pfg.) für das Material zu bezahlen.
      Abg. Zippelius sprach von den trostlosen Verhältnissen um Graupen und schilderte die Not der Menschen, die nur noch Schatten menschlicher Wesen sind. Ein Bursche im Alter von 18 Jahren wog nur 26 Kilogramm! Fünf bis sechs Wochen alte Kinder können von der Mutter nicht ernährt werden, weil der ausgemergelte Körper einfach dazu nicht mehr imstande ist. Ärztliche Hilfe liegt zu weit. Die Gemeinden haben kaum einige Kronen mehr im Vermögen. Ein 78jähriger Mann und seine 76jährige Frau sollen von 80 Hellern (8 Pfg.) täglicher Unterstützung leben. Des Mannes Glieder sind rheumatisch verkrüppelt und trotzdem schleppt er sich täglich zwei Stunden lang einen Zehnminutenweg, um im Torfstich noch einige Heller zu verdienen. In Elendswohnungen hausen zwölf Menschen in einem Raum von 20 Quadratmetern.
      Abg. Hollube, der sich besonders mit dem Elend im Gablonzer Gebiet befaßte, verwies darauf, daß im tschechischen Gebiet mit Millionenbeträgen Investitionen durchgeführt werden, während im deutschen Gebiet ein Betrieb nach dem andern stillgelegt wird. Die tschechoslowakischen Konsulate im Ausland verweisen anfragende Kunden nur an tschechische Firmen. Bei einer vom tschechoslowakischen Staat beschickten internationalen Ausstellung war auf einer ausgehängten Karte das Gablonzer Glasindustriegebiet als Wald eingezeichnet! Die wenigen noch beschäftigten Heimarbeiter verdienen im Tag bei zwölfstündiger Arbeit 5.35 Kc (54 Pfg.), von denen sie jedoch mehr als 3 Kronen (30 Pfg.) für elektrische Kraft zahlen müssen. Sie nutzen ihr letztes Handwerkzeug ab, ohne sich wieder neues anschaffen zu können. Die tschechische Glasindustrie wird demgegenüber mit allen Mitteln geschützt und gefördert. Seitdem die Wälder verstaatlicht sind, dürfen die Arbeitslosen nicht einmal mehr Klaubholz sammeln, das sie vor dem Erfrieren schützen könnte. In der Ortschaft Weißbach ist der Hungertyphus eingezogen. Um einem Typhuskranken nach Monaten wenigstens ein Stückchen Fleisch zu verschaffen, schlachtete ein Nachbar seine Hauskatze! Welche Verzweiflungsgedanken müssen da auch den einfachsten Arbeiter erfassen, wenn er hört, daß die Tschechoslowakei mit 70 bis 80 000 Waggons Vorrat an Brotgetreide in die neue Ernte geht. Alle Staatsaufträge gehen ins tschechische Gebiet. Eine Fabrik, die sogar nach Amerika Tuch für Militärzwecke liefert, hat noch keinen Meter für die tschechoslowakische Armee in Auftrag bekommen.
      Abg. Knorre sprach von der trostlosen Lage der in Nordmähren und Schlesien heimischen Textil-, Stein- und Möbelindustrie und sagte, daß es auf der einen Seite nur mehr Konkurse auf einem großen Industriefried- [338] hofe und auf der anderen Seite die Masse der Arbeitslosen gebe. Besonders schlimm liegen die Verhältnisse in dem Gebiet um Friedberg, Saubsdorf und Setzdorf, wo die im Betrieb befindlichen Fabriken bloß noch von neugegründeten tschechischen Unternehmen repräsentiert werden, während die sudetendeutschen bodenständigen Betriebe schon seit Jahren stilliegen. 700 Waggons verarbeitetes Material wurden in einer einzigen Sommersaison aus diesem Gebiet ausgeführt; nicht ein einziger von ihnen kam von einem deutschen Unternehmen, aus einem deutschen Betrieb. - Schikanen um jede einzelne Brotkarte! Ein einfacher anonymer Zettel genügt, um Menschen um jede Unterstützung zu bringen. Die Gewerkschaften sind Exerzierfelder der Marxisten geworden, mit dem reformbedürftigen Genter System toben sie sich darin aus. Zur Not, zum Terror, zu den zahllosen Denunziationen gesellt sich noch die Unmoral, die Demoralisierung der Jugend, die arbeitslos in dieses Elend hineinwächst.
      Abg. Hodina schildert besonders eingehend die Auswirkung der Not auf den Gesundheitszustand der Kinder. Sie sind körperlich und seelisch so zerrüttet, daß der Lehrer es meist nicht wagt, sie zu prüfen, weil sie in der Bank haltlos zusammensacken. Unbegreiflich ist es in diesem Zusammenhang, wenn beispielsweise das Finanzministerium die Bereitwilligkeit der Monopolgesellschaft einfach ablehnt, 1000 Waggon Gerste, und zwar um 40 Kc (4 RM) je Meterzentner, an die Notstandsgebiete billiger abzugeben.
      Die Abgeordneten der SDP Jobst und Wagner gaben nach der Versammlung dem Berichterstatter der SPB folgenden Lagebericht über den Böhmerwald: Der Böhmerwald ist seit Jahren Notstandsgebiet. Die Notlage ist zum Großteil durch die Einschränkung in der Holzschlägerei bedingt. Am meisten leiden die Arbeiter unter der Regierungsverordnung, wonach nur jene Arbeitslosen bei Notstandsarbeiten eingesetzt werden dürfen, die entweder nach dem Genter System unterstützt werden, oder von der Lebensmittelaktion erfaßt sind. Da die Arbeiter zum Teil bei schwerster Arbeit im Walde nur 10 Kc täglich verdienen, ist es aber nicht möglich, Beiträge für eine Gewerkschaft aufzubringen. Die Arbeitslosigkeit ist aber auch dadurch bedingt, daß ein Großteil der heute arbeitslosen Bevölkerung in früheren Zeiten als Saisonarbeiter sowohl im Inland als auch im benachbarten Bayern und Österreich beschäftigt war. Die völlig unzureichende staatliche Fürsorge führt zu Wilddiebstahl und Schmugglerwesen, also zum Verbrechen. Dazu kommt die Verbitterung, daß man für die ohnehin so spärliche Arbeitsgelegenheit, wie Schotterschlagen usw., noch tschechische Arbeiter in dieses Gebiet entsendet.
      In den "Südböhmischen Holz- und Möbelwerken" in Wallern waren früher 80 Arbeiter beschäftigt. Heute dagegen nur noch 14 und zwar bei einem Stundenlohn von 1.50 bis 1.80 Kc (15 bis 18 Pfennig!). In den zahlreich vorhandenen Drechsler- und Tischlerwerkstätten dasselbe Bild. Dort, wo früher 10 bis 15 Gehilfen arbeiteten, sind es heute kaum 2 bis 3 oder überhaupt keiner. Die beiden Ziegeleien gaben noch im Vorjahre 60 bis 70 Arbeitern eine Beschäftigung, die jedoch heute infolge Auftragsmangels zu den Arbeitslosen zählen. In Wallern und Umgebung gab es stets 250 bis 300 beschäftigte Maurer, die einen Stundenlohn von 3.50 bis 3.80 Kc [339] (35 bis 38 Pfg.) nach Hause brachten. Heute stehen kaum 50 Maurer bei einem Stundenlohn von 2.— bis 2.80 Kc (20 bis 28 Pfg.) in Beschäftigung. In jedem Landwirtschaftsbetriebe waren früher 3 - 5 Dienstboten beschäftigt, heute höchstens 1 bis 2. Es ist in denselben bestimmt nicht weniger Arbeit vorhanden, die Landwirte bringen jedoch die Lohnbeträge nicht mehr auf, obgleich ein landwirtschaftlicher Arbeiter heute außer Kost höchstens 5 - 10 Kc (50 Pfg. bis 1.— RM) täglich erhält. Holzhauer verdienen im Akkord bestenfalls 12.— bis 16.— Kc (1.20 bis 1.60 RM).
      Die Lage in Ostböhmen schilderte nach der Versammlung der Abg. der SDP Hubert Birke einem Vertreter der SPB wie folgt: Die Bezirke Braunau und Weckelsdorf, einst blühende Bezirke, sind heute mit mehr als 6000 Arbeitslosen ausgesprochene Notstandsgebiete. Mit dem Zusammenbruch der Fabriken wurde auch der Handelsstand, das Gewerbe und die Bauernschaft im Trautenauer und Arnauer Industriegebiet in schwere Verschuldung gestürzt."

Es gibt keinen tschechischen Abgeordneten, der aus seinem Wahlkreis, sofern er nicht auch sudetendeutsches Gebiet umfaßt, auch nur annähernd ähnliches berichten könnte, denn sonst hätte er es bereits getan. Gerade in diesem Schweigen liegt ja eine Bestätigung für die Richtigkeit und Berechtigung der deutschen Klage!

Diese lebendigen Schilderungen sudetendeutscher Not bedürfen keiner Ergänzung. Sie sind ein getreuer Spiegel der herrschenden Zustände. Und die gleiche Tragödie spricht aus der folgenden nüchternen Denkschrift.

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118Rundschau, Prag, 8. September 1935. ...zurück...

119Die Zeit, Prag, 22. 10. 1935. ...zurück...

120Die Zeit, Prag, 23. 10. 1935. ...zurück...

121Die Zeit, Prag, 12. 11. 1935. ...zurück...

122Die Zeit, Prag, 25. 10. 1935. ...zurück...

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200 000 Sudetendeutsche zuviel!
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gegen 3,5 Millionen Sudetendeutsche
und seine volkspolitischen Auswirkungen.
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