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Bd. 1: B. Der Kampf um die Revision

II. Die deutsche Volksbewegung
um die Revision des Versailler Vertrags

Dr. Wilhelm Ziegler
Oberregierungsrat

Die Revisionsbewegung ist eigentlich so alt wie der Versailler Vertrag selbst. Daß sie es ist, ist die Schuld der Sieger und nicht der Besiegten. Denn, obwohl durch den jähen Zusammenbruch von einer niederschmetternden Betäubung befallen, hat das deutsche Volk vom ersten Augenblick an das instinktive Gefühl für die Unaufrichtigkeit und den Treubruch dieses Vertrages immer besessen und nie verloren. Nur zähneknirrschend erfolgte auch die Kapitulation der Weimarer Nationalversammlung vor der gepanzerten Faust der Gegner. Daß diese innere Aufbäumung aber die Form der Revisionsbewegung annahm, das war, ist und bleibt die Schuld der Sieger und ihres Übermutes. Darum, weil sich diese Sieger in der Stunde der Vergeltung nicht - nach uraltem Siegerrecht, oder besser Siegerbrauch - damit begnügten, sich am Besitz, an den materiellen Gütern des Besiegten schadlos zu halten, sondern ihm auch noch das Brandmal der moralischen Ächtung auf die Stirn drückten und kleinlich Rache an der Ehre des Unterlegenen nahmen.

Zwei Zumutungen des Versailler Vertrags sind es gewesen, die dem deutschen Volke vom ersten Augenblick an als Akt der Gemeinheit und nicht nur des Siegerrechts nach uraltem geschichtlichen Brauch vorgekommen sind, und die infolgedessen vom ersten Augenblick an, an seinem Ehrgefühl gezerrt und gezehrt haben: die Forderung auf Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher in Art. 227-230 und die Forderung der Unterzeichnung des sogenannten Kriegsschuldbekenntnisses in Artikel 231. Es ist symbolisch, daß der beispiellose Kampf um die Unterzeichnung, der unser Volk bis in die tiefsten Tiefen aufgewühlt und fast in zwei Hälften zerspalten hat, zum Schluß sich gerade auf die Verweigerung der Unterschrift unter diese beiden demütigenden Zumutungen zugespitzt hat, und daß, beinahe noch eine Minute vor zwölf, die Unterzeichnung dieses überwältigendsten Friedensdiktats der Weltgeschichte mit Enteignungen und Zukunftshypotheken materieller Art in größtem Ausmaß an der Verweigerung der Unterschrift unter [186] diese beiden ehrenrührigen, rein moralischen Tributleistungen an den Übermut der Sieger gescheitert wäre. Das war der bitterste Tag, ein Canossa-Gang im wahrsten Sinn des Wortes, der unsern Unterhändlern und Unterzeichnern zugemutet wurde, der Gang durch dieses kaudinische Joch, die Reverenz vor dem Geßlerhut der Fronvögte! So war es fast die List der Idee der Geschichte, daß von hier aus die Revisionsbewegung ihren Ausgang nehmen sollte und mußte. Es gibt von Max Weber das paradoxe, aber fast seherische Wort, das er in Versailles als Mitglied der Friedensdelegation sprach: "Seien wir doch froh, daß wir diesen Schmachparagraphen 231 in dem Friedensvertrag haben, der von Deutschland das Eingeständnis der Schuld verlangt. Das ermöglicht uns zu gegebener Stunde die Wiederaufnahme des Verfahrens zu fordern."

War es Betäubung oder Narkose, also ein Zustand seelischer Depression, daß das deutsche Volk sich nach dem Zusammenbruch schließlich doch unter dieses Joch beugte? Oder war es die nüchterne Einsicht in die erdrückende Übermacht der waffenstarrenden Kreisfront, von der es eingezingelt war? Die Einsicht in die militärische, wirtschaftliche und moralische Einkreisung und Isolierung der deutschen Festung? Erst am 12. Juli 1919 wurde die Blockade aufgehoben, nicht etwa schon am Tage nach der Unterzeichnung des Versailler Diktates, sondern erst volle 14 Tage später! So erdrückend war die Übermacht der Sieger und darum so brutal, fast zynisch ihre Willkür. Aber nicht lange sollte diese Fügsamkeit anhalten. Es ist und bleibt bedeutsam, auch ein Ehrenzeugnis für die innere Widerstandsfähigkeit des deutschen Volkes, daß schon im frühesten Augenblick, im Moment der Ratifikation des Versailler Vertrages (10. Januar 1920), als die Gegner am 3. Februar 1920 die Liste der sogenannten deutschen Kriegsverbrecher zur Auslieferung überreichten, der moralische Widerstandswille entflammte. Der Führer der deutschen Friedensdelegation, Freiherr von Lersner, war Mann und natürliches Organ der deutschen Volksstimmung in einer Person, als er die Annahme dieser Note am gleichen Tage verweigerte. In diesem Punkt stand ganz Deutschland hinter ihm, unnachgiebig, eine geschlossene Mauer. Wie ein Lauffeuer hat damals die Entrüstung und Empörung sich über unser ganzes Land und Volk fortgepflanzt, trotz der elenden Wirtschafts- und Ernährungslage. Und es bleibt denkwürdig, daß vor dieser unwiderstehlichen Entschlossenheit auch der Übermut und die Übermacht der Gegner schließlich den Rückzug hat antreten müssen. Denn der Erfolg war, daß auf der Konferenz in Spa (Juli 1920) die alliierten Mächte sich schließlich mit einer Aburteilung der sogenannten Kriegsverbrecher vor dem deutschen Reichsgericht abfanden. Das ist und bleibt das erste Aufflammen und der erste Erfolg der Revisions- [187] bewegung im deutschen Volke — einer Bewegung so spontan und elementar, mitten aus dem tiefsten Kern der Volksseele heraus, wie sie nur überhaupt sein kann. Und so ist sie auch geblieben bis auf den heutigen Tag. Meist sicher mehr unbequem und störend für die Politik der deutschen Regierung, die - ob sie wollte oder nicht - die Bahn der Verständigung, des Kompromisses, ja des partiellen Verzichts um höherer Ziele willen gehen mußte, die infolgedessen immer hinter den Wünschen und Erwartungen der Volksstimmung zurückbleiben mußte. Aber gerade dieser Abstand zwischen Volksbewegung und offizieller Politik ist der untrügliche Beweis für ihre Echtheit, die Blutprobe auf ihre Reinheit und Urwüchsigkeit.

An den Abstimmungskämpfen hat sie sich zunächst emporgerankt, aus ihnen neuen Atem gezogen. Aber ihre Bahn war ihr vorgezeichnet durch die innere Logik, die Geschichte des Versailler Diktates selbst. Denn sie mußte eines Tages einmünden in die Aufrollung der Kriegsschuldfrage, der zweiten Ehrenkränkung und Demütigung neben der Auslieferungsforderung der sogenannten Kriegsverbrecher. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieser Augenblick eintreten würde. Eintreten mußte er. Es geschah nach Jahresfrist.

Schon die aufrüttelnden Aufklärungskämpfe, die den Abstimmungen in Schleswig und in Ost- und Westpreußen vorangingen, hatten die moralischen Kräfte und das Selbstvertrauen des Volkes erheblich gekräftigt. Noch mehr aber das glänzende Ergebnis in der südlichen Zone von Schleswig (14. März 1920) und der überwältigende Sieg in Ost- und Westpreußen (11. Juli 1920). Die Herausziehung der Abstimmungsberechtigten aus dem Reich in ihre Heimat und ihre Rückkehr unter ihre Lebensgenossen durchpulste das Volk mit neuem, nationalem Selbstbehauptungswillen, mindestens so sehr wie der Stolz selbst über diese Siege mit geistigen Waffen. Auch diese Bewegung hatte bereits zu einer festen Organisation geführt in der Gestalt des "Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum" unter der hauptsächlichen geistigen Führung von Dr. K. C. v. Loesch. Schon im Juni 1919 unter dem unmittelbaren Eindruck der Versailler Nachrichten über die bevorstehenden Abstimmungsproben war diese Gründung zustande gekommen. In den Vorarbeiten für die Abstimmungskämpfe im Norden und Osten trat er zum erstenmal in Aktion. Eine weit- und tiefgehende Aufklärung des Volkes und der Abstimmungsberechtigten, die Sammlung der Abstimmungsberechtigten, der Hin- und Rücktransport in ihre Heimatgemeinde war seine erste Hauptaufgabe. Vor allem aber die Aufbringung der beträchtlichen Geldmittel für die Abstimmungszwecke aus dem Volk selbst heraus war eine der schwersten Aufgaben dieser Zeit Sie wurde, dank einer glänzenden Opferwilligkeit aller Stände, klar gelöst. Gerade die allseitige Opferwilligkeit für diese Grenzspenden und ihr [188] schöner Lohn war als Beitrag des Volkes im Reich zu der Kampfarbeit der Abstimmungsberechtigten in den Grenzzonen selbst die glücklichste Ergänzung. Zum zweitenmal ward hier das Volk in der Anspannung für einen geistigen Kampf um seine Selbstbehauptung aufgerüttelt. Der Erfolg selbst machte es noch sicherer. Und so trat es in das Jahr 1921 schon erheblich gefestigter und seiner Haltung bewußter ein, in das Jahr, das die erste Krise in der Reparationsfrage bringen sollte. Dieses wurde darum auch das Geburtsjahr der großen Volksbewegung wider die Schuldlüge des Artikels 231 und für die Rehabilitation des deutschen Namens und der deutschen Ehre vor der Welt.

Den Anstoß hat ohne Zweifel die immer schärfer werdende Zuspitzung der Reparationspolitik der Gegner gegeben. Im Januar 1921 war die Pariser Konferenz der alliierten Ministerpräsidenten mit den Pariser Beschlüssen, die zum erstenmal genaue Ziffern über die Reparationsansprüche der Gegner herausbrachte. Damals wurde die phantastische Zahl von 226 Milliarden Goldmark aufgestellt, die dann in London auf 132 Milliarden festgesetzt wurde. Vielleicht wäre dieser wahnsinnige Tanz von Milliardenziffern weniger aufreizend an den Köpfen des deutschen Volkes vorübergezogen, wenn nicht immer wieder von der gegnerischen Seite die Reparationsverpflichtungen mit der Kriegsschuldanklage verquickt worden wären. Zwar durchaus konsequent auf der Linie des Artikels 231, des Einleitungsartikels zu dem Teil VIII des Versailler Vertrages "Wiedergutmachungen", aber keineswegs taktvoll, geschweige denn weise. Damit aber wurde das Ehrgefühl des Unterlegenen geradezu aufgekitzelt, ja gereizt. Klassisch kam diese Propagandathese der Siegermächte auf den Londoner Verhandlungen des Jahres 1921 zum Ausdruck, als der englische Premierminister Lloyd George am 3. März den deutschen Außenminister Dr. Simons barsch und diktatorisch anherrschte:

      "Für die Alliierten ist die deutsche Verantwortung für den Krieg grundlegend. Sie ist die Basis, auf der der Bau des Vertrages von Versailles errichtet worden ist, und wenn dieses Eingeständnis abgelehnt oder aufgegeben wird, ist der Vertrag zerstört... Wir wünschen daher, ein für allemal es ganz klar zu machen, daß die deutsche Verantwortung für den Krieg von den Alliierten als eine cause jugée behandelt werden muß."

Ja, alsbald danach brachte die amerikanische Antwortnote auf die Anrufung Amerikas als Vermittler in der Reparationsfrage dem deutschen Volke mahnend zum Bewußtsein, daß diese Überzeugung sich nicht nur auf Europa, sondern auch auf die neue Welt erstreckte. Denn in dieser amerikanischen Note vom 29. März erklärte die amerikanische Regierung ausdrücklich:

      "Die amerikanische Regierung hält ebenso wie die alliierten Regierungen [189] Deutschland für den Krieg verantwortlich und daher moralisch für verpflichtet, Reparationen so weit wie möglich zu leisten."

Das waren zwei Keulenschläge, die auch das gleichgültigste Volk hätten aus seinem Schlaf aufjagen müssen. Unter diesen moralischen Bezichtigungen durch die maßgebendsten Vertreter der beiden größten Weltmächte ist die eigentliche Revisionsbewegung gegen die Kriegsschuldlüge des Versailler Vertrags entstanden. Sie ist die Folge einer Kampagne der Beschimpfung. Gerade daher aber empfing sie ihren spontanen und ausgesprochen demokratischen Charakter, den Charakter der Volksbewegung.

Es war im Frühjahr 1921, als sich an allen Ecken und Enden Bestrebungen und Kräfte regten, den geistigen Kampf gegen diese schwerste Beschimpfung des deutschen Namens - die systematische Verleumdungspropaganda mit Hilfe der Kriegsschuldlüge - aufzunehmen. Es war eine ausgesprochene moralische Aufwallung, ein Gewissenskampf. Das Volk fühlte, daß ihm nunmehr nichts anderes übrig blieb, als unter dem Druck der Gegner von der Defensive zur Offensive überzugehen. "Die moralische Offensive, Deutschlands Kampf um sein Recht", so lautete der Titel einer Flugschrift des Prinzen Max von Baden vom Juli 1921, in der er die Ziele dieser Volksbewegung umriß. Und auf dem Moralischen lag von Anfang an der Akzent dieser Bewegung, auch wenn es ihr zunächst noch an der richtigen Verstandesklarheit gebrach. Denn zunächst war es mehr ein dunkles Tasten, ein Konglomerat von Einzelbestrebungen. Da waren die verschiedensten Organisationen, die zum Teil schon unmittelbar unter dem niederschmetternden Eindruck der Versailler Friedensbedingungen entstanden waren. Da war der Volksbund "Rettet die Ehre" unter Dompastor D. Hartwig mit seiner Pressekorrespondenz (Dr. Walther Heide), in München der "Deutsche Kampfbund gegen die Kriegsschuldlüge", in Breslau der "Deutsche Volksbund Revision von Versailles", in Düsseldorf der "Bund für Volksaufklärung über Friedensvertrag und Kriegsvergehen", in Berlin die "Arbeitsgemeinschaft für vaterländische Aufklärung" unter dem verdienten Prof. Dr. Görcke. Dazu hatten andere bestehende Organisationen, wie z. B. die "Liga zum Schutze der deutschen Kultur" auch bereits diese Aufgabe aufgegriffen. Auch die Schrift Friedrich Stampfers, des Chefredakteurs des Vorwärts, Von Versailles - zum Frieden! vom Januar 1920 verdient in diesem Zusammenhang als Dokument des Revisionswillens Erwähnung, um so mehr als er an die Spitze seiner Betrachtungen den Art. 231 stellt mit der Quintessenz: "Die Revision von Versailles durch die friedliche Macht des Geistes wird bei dem Artikel 231 beginnen." So regten sich überall Einzelkräfte, es fehlte aber das wichtigste, der ausreichende Überblick und die einheitliche Leitung. Am klarsten war vielleicht die [190] geistige Klarheit vorwärts gediehen in der sogenannten "Heidelberger Vereinigung", an deren Spitze Männer wie der letzte Reichskanzler des Kaiserreichs, Prinz Max von Baden, der Graf Max Montgelas, u. a. standen. Diese "Heidelberger Vereinigung (Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts)" war bereits von dem Prinzen Max zusammen mit Professor Max Weber im Februar 1919 gegründet worden mit der Absicht, die moralische Position Deutschlands für die Friedensverhandlungen zu stärken. Es sind zum Teil dieselben Personen, die auch in der Gutachter-Kommission gesessen haben, die das Gegengutachten vom 27. Mai 1919 über die Verantwortlichkeit am Kriege abgab. Denn außer Max Weber und dem Grafen Max Montgelas gehörten dieser Gutachter-Kommission bekanntlich noch die Professoren Hans Delbrück und Mendelssohn Bartholdy an. Diese Heidelberger Vereinigung ragte schon durch die Person ihrer Führer über die meisten anderen Gründungen hinaus. Sie hat infolgedessen auch ihren etwas aristokratischen Charakter behalten. Von ihr aber gingen wohl die ersten entscheidenden Schritte aus, den moralischen Kampf um die Schuldfrage mit dem Ausland aufzunehmen. So hat die Heidelberger Vereinigung am 1. März 1921 in den Foreign Affairs, der Zeitschrift E. D. Morels, die Herausforderung zu einer Disputation mit alliierten und neutralen Gelehrten veröffentlicht. Schon vorher hatte Professor Hans Delbrück den amerikanischen Juristen Beck zu einem Disput herausgefordert - ohne Erfolg. Also überall hoffnungsvolle, spontan gewachsene Ansätze, aber noch keine Bewegung nach einheitlichem Plan.

So kam es, daß im März 1921 in Berlin zum ersten Male verschiedene Männer zusammentraten, um diese überall hervorbrechende Bewegung in eine einheitliche und feste Bahn zu leiten. Es waren hauptsächlich Professor Ernst Jäckh, Freiherr von Lersner, Professor Philipp Stein und Dr. jur. Ernst Reichenheim. Aus den Beratungen dieses Kreises erfolgte die Gründung des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände", der als Kopfstelle für die Zusammenfassung der Volksbewegung gegen die Kriegsschuldlüge im besondern und die Ungerechtigkeiten des Versailler Diktates im allgemeinen gedacht war und dies bis auf den heutigen Tag geblieben ist.

Von vornherein hat der größte Teil der Einrichtungen und Bestrebungen, die hier und dort sich ähnliche Ziele gesteckt hatten, sich freiwillig unter die Führung des "Arbeitsausschusses Deutscher Verbände" gestellt. Die meisten Verbände waren selbst an der Gründung beteiligt. Den Rest der wenigen Übriggebliebenen hat der "Arbeitsausschuß" später durch seine praktische Arbeit von der Notwendigkeit seiner Führungsstellung überzeugt. Seine Aufgabe wurde ihm von vornherein dadurch erleichtert, daß er nur als Kopfstelle und nicht als eigene ausgebaute Organisation gedacht war. Und dies [191] ist er bis zum heutigen Tag geblieben. Er hat sich immer als Mittel zum Zweck und nie als Selbstzweck gefühlt. Oft ist er hinter der Arbeit anderer zurückgetreten, aber er hat es verstanden, auch die Verbindung zu allen Organisationen und Kräften des freien Volkslebens anzuknüpfen und festzuhalten, die ausschließlich oder teilweise, unmittelbar oder mittelbar an dem Werk der Revision des Artikels 231 sich beteiligt haben. Das waren ebensosehr die mannigfachen Einzelinstitute zur Bekämpfung der Kriegsschuldlüge wie die großen Wirtschafts- und Kulturverbände des deutschen Volkslebens, die Industrie-Verbände ebenso wie die Gewerkschaften, die wissenschaftlichen Vereine ebenso wie die studentischen Korporationen. Ihnen allen Hilfsstellung zu leisten durch Beratung und Zusammenführung der sonst zersplitterten Einzelbestrebungen, das war das eigentliche Ziel, das die Gründer des "Arbeitsausschuß deutscher Verbände" im Auge hatten. Das andre und zweite Ziel war dies, das Material, das die wissenschaftliche Forschung zur Aufhellung der Kriegsschuldfrage geliefert hatte und weiter liefern würde, in tägliche Münze umzusetzen und so, direkt und indirekt, ins Volk hineinzutragen.

An die Spitze dieser Bewegung wurde von ihren Gründern berufen Freiherr von Lersner, der ehemalige Präsident der Friedensdelegation in Versailles. Mit der Leitung der eigentlichen Arbeit wurde alsbald der Geheime Regierungsrat Dr. jur. von Vietsch betraut. Er hat wohl die eigentlichen Fundamente für die Arbeit und das Gebäude des Arbeitsausschuß deutscher Verbände gelegt. Ein Werk, zu dem der leider zu früh Verstorbene durch reiche Weltkenntnis, große Klugheit, vor allem aber den Charme seiner feinen und fesselnden Persönlichkeit besonders berufen war.

Fast zu gleicher Zeit war getrennt von dem "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" aus den Bemühungen wissenschaftlicher Kreise heraus die "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" ins Leben gerufen worden. Ihre Aufgabe war die wissenschaftliche Durchforschung des täglich sich erweiternden Gebietes der Ursachen des Weltkrieges. Ihre Leitung übernahm der Schweizer Historiker Dr. Ernst Sauerbeck, der schon im Jahr 1918 ein bemerkenswertes Werk über Die Großmachtpolitik der letzten zehn Friedensjahre im Licht der belgischen Diplomatie herausgegeben hatte, das scharfsinnigen Verstand und glänzende Beherrschung der Aktenkunde verriet. Die Persönlichkeit dieses Schweizer Fachmannes bürgte von vornherein für die Objektivität dieser wissenschaftlichen Zentralstelle.

"Überparteilich" sollte diese ganze Arbeit geleistet werden - ein nur negativ, aber nicht positiv zu umschreibender Begriff, ein sprachkritisches Neutrum! Trotzdem war man sich klar, daß mit der Innehaltung der "Überparteilichkeit" die ganze Bewegung stehe und [192] falle. Man kann und mag viel über "Überparteilichkeit" philosophieren. Wir meinen, daß allein die Praxis die Antwort darauf zu geben vermag, ob eine Arbeit wirklich "überparteilich" ist oder nicht. Hier versagt alle Theorie, hier entscheidet wirklich und allein der Erfolg! Und ich glaube, daß diese Arbeit des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" wie die der "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" wirklich die Bahn der "Überparteilichkeit" innegehalten hat.

So begann allmählich die ursprünglich ungeordnet aus dem Erdboden gewachsene Bewegung Ordnung und System anzunehmen. Die Einzelkräfte begannen sich gegenseitig in die Hände zu arbeiten. Die ersten Schienen waren gelegt. Aber schon damit war allen Beteiligten klar, daß hier eine Arbeit auf lange Sicht aufgenommen wurde. Denn zu massiv und hoch war die chinesische Mauer der Verleumdung, die die geistige Blockade rings um Deutschland aufgerichtet hatte, zu mächtig der Apparat der gegnerischen Propaganda und zu unübersehbar, ja täglich lawinenartig wachsend der Tatsachenstoff, der aus den Memoiren, Aktenpublikationen und Dokumentenveröffentlichungen hervorquoll. Aber ebenso fest war die Entschlossenheit, diesen Kampf gegen die moralischen Grundlagen des Versailler Vertrags nicht ruhen zu lassen vor einem glücklichen Ende.

Klar war von vornherein als eine der Hauptaufgaben die baldige Durchführung der Öffnung der deutschen Archive, zu der bereits am 3. August 1919 der damalige Außenminister Hermann Müller den Auftrag erteilt hatte. Denn niemand war fester von der Bedeutung dieser Öffnung für die deutsche Sache durchdrungen im Gefühl und in der Überzeugung unserer guten deutschen Sache als die Männer, die diese Volksbewegung an ihre Spitze gestellt hatte. Und es hat kaum länger als ein Jahr gedauert, bis die erste Serie der großen Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes unter dem Gesamttitel Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914 in Gestalt von 6 stattlichen Bänden der Öffentlichkeit Deutschlands und der Welt vorgelegt werden konnte. Kein Geringerer als Walther Rathenau, der damalige deutsche Außenminister, hat am 13. Juni 1922 unter Mitwirkung von Vertretern aller großen Parteien im großen Saal der "Deutschen Gesellschaft 1914" auf der ersten größeren Kundgebung des "Arbeitsausschuß deutscher Verbände" diese Aktenbände der Öffentlichkeit übergeben mit den denkwürdigen Schlußsätzen:

      "Der Weg der Wahrheit ist lang. Er ist um so länger, als ein Mangel an europäischem Interesse die Fragen, die uns Lebensfragen sind, als gelöst, das Urteil der Geschichte als gesprochen anzusehen sich gewöhnt hat. Ein Urteil kann nur gesprochen werden von einem vollgültigen Tribunal. Unser Suchen [193] und Werben um Wahrheit aber wird nicht ruhen, bis im Namen der Geschichte ein befugtes Tribunal seinen Spruch gefällt hat."

Als einen Kampf um die Wahrheit hat Rathenau in diesen Worten den Kampf in der Kriegsschuldfrage bezeichnet - genau wie einst Emile Zola in der Dreyfuß-Affäre sein prophetisches "La vérité est en marche, rien ne l'arrêtera!" herausschleuderte. Auch diesmal ließ die Wahrheit sich nicht aufhalten. Auch die deutschen Wissenschaftler griffen nunmehr immer kräftiger in diesen geistigen Kampf für die deutsche Sache ein. Den Namen von Hans Delbrück haben wir bereits genannt. An seine Person heftet sich auch das Verdienst, seitens der deutschen Wissenschaft von Anfang an diese Aufgabe erkannt und ständig verfolgt zu haben. Er war auch der erste gewesen, der den Gedanken der wissenschaftlichen Disputation aufgegriffen hatte, er hat in der Deutsch-Englischen Schulddiskussion mit dem Londoner Geschichtsprofessor Headlam-Morley auch als erster (im Jahre 1921) eine literarische Kontroverse ausgefochten. - Neben ihn traten in erster Linie die Herausgeber der Großen Aktenpublikation, Dr. Friedrich Thimme, Dr. Johannes Lepsius und Professor Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, sodann Graf Max Montgelas, der ehemalige kommandierende General, der bereits im Sommer 1919 mit dem Professor Dr. Walter Schücking die Dokumente zum Kriegsausbruch herausgegeben hatte. Auch eine "Französisch-Deutsche Diskussion über die Kriegsursachen" war von Hermann Lutz und Graf Montgelas mit dem französischen Historiker Ernest Renauld durchgeführt worden (1922). Von diesen beiden deutschen Wortführern widmete sich insbesondere der Münchener Schriftsteller Hermann Lutz der wissenschaftlichen Korrespondenz mit englischen Kreisen. Diese Wissenschaftler schufen sich in der Monatsschrift Die Kriegsschuldfrage unter Alfred von Wegerer, dem Nachfolger Sauerbecks in der Leitung der "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen", das wissenschaftliche Organ, das im Juli 1923 ins Leben trat und sich einen geachteten Namen in der Wissenschaft der ganzen Welt als Aufklärungsorgan über die Kriegsschuldfrage erworben hat.

Parallel damit lief die Weiterführung der Volksaufklärungsarbeit unter Führung des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände". Schon im November des Jahres 1921 bildete sich in Anlehnung an den Arbeitsausschuß eine Vereinigung zur Aufklärung der deutschen Frauen, der "Deutsche Frauenausschuß zur Bekämpfung der Schuldlüge", unter Führung der Reichstagsabgeordneten Clara Mende. Es war nicht immer leicht, die Überparteilichkeit, die feste Marschroute der ganzen Arbeit des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände", innezuhalten und bei allen Strömungen durchzusetzen. Denn es wäre nicht Deutschland gewesen, dem diese Arbeit galt und in dem sie sich ab- [194] spielte, wenn nicht das innerpolitische Interesse gelegentlich über die außenpolitische Solidarität triumphiert hätte. Eine der stärksten und eindrucksvollsten Erfolge der überparteilichen Arbeit des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" und zugleich ein Zeugnis für diese Überparteilichkeit war die Kundgebung sämtlicher deutschen Spitzengewerkschaften gegen die Kriegsschuldlüge im deutschen Reichstag am 11. Dezember 1922. In dieser Veranstaltung wurde von sämtlichen deutschen Spitzengewerkschaften (Allgemeiner deutscher Gewerkschaftsbund, Deutscher Gewerkschaftsbund, Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände, Allgemeiner freier Angestelltenbund, Allgemeiner deutscher Beamtenbund, Deutscher Beamtenbund) folgende Entschließung einstimmig angenommen:

      "Die am 11. Dezember 1922 im Deutschen Reichstagsgebäude versammelten Vertreter der gesamten deutschen Gewerkschaften erklären einmütig, daß sie den tiefsten Grund des immer mehr um sich greifenden deutschen Elends in dem auf der Alleinschuld Deutschlands am Weltkriege aufgebauten Versailler Diktate erblicken.
      Sie rufen das ganze deutsche Volk zum einmütigen Protest gegen dieses Diktat auf und sie werden nicht ablassen, der ganzen Welt gegenüber immer wieder das Recht des deutschen Volkes auf ein menschenwürdiges Dasein zu vertreten.
      Sie fordern, daß der Vertrag von Versailles mit seinen unerfüllbaren Forderungen und seinen die Existenz des ganzen deutschen Volkes bedrohenden Lasten einer Revision unterzogen wird, durch die Deutschland die Lebensmöglichkeiten wiedergegeben werden.
      Insbesondere verlangen sie eine Verminderung der Reparationslasten auf ein erträgliches Maß, wie sie sich andererseits nach wie vor bereit erklären, am Wiederaufbau Europas nach Kräften mitzuwirken. Sie wenden sich mit Entschiedenheit gegen die unhaltbare Lüge von der deutschen Urheberschaft am Kriege und erwarten, daß die Geheimarchive aller am Kriege beteiligt gewesenen Staaten ebenso der Welt geöffnet werden, wie die Akten des deutschen Auswärtigen Amtes.
      Von der deutschen Regierung erwarten die Gewerkschaften, daß sie im Interesse des Volkes ihre Politik ganz in der vorgezeichneten Richtung orientiert.
      Den Volksgenossen im besetzten Rhein- und abgeschnürten Saargebiet, die unter fremder Bedrückung schmachten, geben die gesamten deutschen Gewerkschaften die Versicherung unverbrüchlicher Liebe und Treue ab."

Wie das erste Wetterleuchten des Ruhrkampfes wirkt, heute gesehen, diese Kundgebung. Mitten unter dem Eindruck und der Gewalt dieses Ereignisses aber stand schon die eindrucksvolle Feier der drei Kirchen am 28. und 29. Juli 1923 in der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, die das französische Vorgehen am Rhein und Ruhr verurteilte; dabei erhob Bischof Dr. Christian Schreiber von Meißen die nachstehenden Forderungen an die Glaubensgenossen der ganzen Welt:

[195] "1. Die Völker müssen sich in ihren Beziehungen zueinander leiten lassen vom Geist der ausgleichenden Gerechtigkeit, der Wahrheit und der edlen Menschlichkeit, unter Anerkennung des Rechts auch der besiegten Völker auf gedeihliche Entwicklung, unter Abweisung von Gewaltherrschaft, Ausbeutung und Knechtung einzelner Völker, unter Aufrichtung der Menschenliebe und sozialen Gemeinschaft unter den Völkern.
      2. Der Vertrag von Versailles ist ehestens einer Revision zu unterziehen, denn er verstößt gegen die eben erwähnten sittlichen Forderungen. Er ist insbesondere ungerecht, verhängnisvoll und unsittlich:
      a) Ungerecht, weil er auf der ungerechten Voraussetzung beruht, daß Deutschland allein für den Krieg und die Kriegsschäden verantwortlich sei; ferner, weil er dem deutschen Volk Lasten auferlegt, die es nach dem klaren Ausweis der Tatsachen nicht tragen kann, wenn es nicht der Versklavung und Vernichtung anheimfallen soll, zum Schaden der Alliierten selber. Da beim Abschluß des Versailler Vertrages die deutsche Regierung und die deutsche Volksvertretung nur unter diesen Vorbehalten und nur unter unüberwindlichem äußeren Zwang den Vertrag unterschrieben hat, kann aus dieser Unterschrift kein Grund für die Aufrechterhaltung des Vertrages entnommen werden.
      b) Verhängnisvoll, weil er in sich trägt die Keime zu Haß, Zwietracht und neuen kriegerischen Verwicklungen, die Europa und die ganze Welt in ein Chaos stürzen müssen.
      c) Unsittlich, weil er an Ruhr, Rhein und Saar zu Maßnahmen und Zuständen geführt hat, die jeder ausgleichenden Gerechtigkeit und Menschlichkeit hohnsprechen und die schwersten wirtschaftlichen, sozialen, sittlichen und religiösen Schädigungen für die betroffene Bevölkerung herbeigeführt haben."

Die beiden Manifeste sind sozusagen der Abschluß der ersten Phase der Gesamtarbeit, der Aufrüttelung des Volkes und der Bildung einer Einheitsfront in Sachen der Kriegsschuldfrage. Aber alsbald sollte diese ganze Bewegung überschattet werden von dem Erlebnis des Ruhrkampfs.

Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte dieses geistigen Abwehrkampfes, der durch den Ruhreinmarsch und die Ruhrbesetzung entfesselt wurde, im einzelnen zu schildern. Aber im ganzen gehört diese Ära des passiven Widerstandes durchaus in die gleiche Linie wie der bisher geschilderte Spezialkampf. Er ist eigentlich der große Höhepunkt der deutschen Volksbewegung wider den Versailler Vertrag, ihr erster starker Akkord. In ihm offenbarte sich auch wuchtig ihr Charakter als Volksbewegung im eigentlichsten Sinn des Wortes: Aus dem Volk, mit dem Volk und durch das Volk. Eine Bewegung lediglich mit den Waffen des Geistes und der Sittlichkeit, der Logik und der Ethik. Der Ruhrkampf hat zunächst, das ist historisch unbestreitbar, mit einer Niederlage geendet. Aber der geistige Kampf war nicht vergeblich. Denn von diesen Tagen des Ruhrkampfes an datiert der immer merkbarer werdende Umschwung in der geistigen Haltung der Welt zu Deutschland. Nicht als ob eine Revolution der öffentlichen Meinung der Welt damit gemeint sei. Wohl aber ein [196] Prozeß allmählichen Umdenkens. Denn noch immer wird auch die öffentliche Meinung vielmehr von den Interessen gelenkt und geleitet, als der Idealismus meist ahnt. Zum andern aber gehört auch zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung viel mehr Arbeit, als der Bürger sich meist einbildet. Die Mauern von Jericho sind wohl durch Posaunenstöße zu Fall gebracht worden, aber dies wird im Alten Testament, das uns darüber berichtet, ausdrücklich als ein Wunder Gottes bezeichnet. Im täglichen Leben aber fallen Mauern, auch geistige Mauern, namentlich von der Höhe der um Deutschland im Weltkrieg aufgerichteten, nur durch langwierige, mühsame, aber auch entschlossene Arbeit. So war der Ruhrkampf das erste große Signal an die Welt. Aber die Arbeit begann nun erst recht.

Die Stabilisierung der Währung und die Annahme des Dawesplans hatte dem deutschen Volke endlich wieder festen Boden für seine Existenzerhaltung unter die Füße gegeben. Der Dawesplan selbst aber hatte zugleich auch die Entpolitisierung der Reparationsfrage gebracht. Und so ergab sich als geistiges Ziel der Revisionsbewegung immer klarer die Loslösung von Reparations- und Kriegsschuldfrage, aber zugleich auch die Arbeit auf beiden Gebieten zur Widerlegung der Kriegsschuldlüge und zur Aufklärung der Welt über die Rechtsgrundlagen der Reparationsfrage sowie die wirkliche Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, im Sinne der wirtschaftlichen Vernunft.

Auch die Regierung hatte unter dem Druck der Volksbewegung und der öffentlichen Meinung schon vorher des öfteren Gelegenheit genommen, Einspruch gegen die Bezichtigung der Schuld am Kriege zu erheben. Das Zeugnis von Walther Rathenau haben wir bereits erwähnt. Ihm war am 30. September des gleichen Jahres (1922) der damalige Reichskanzler Dr. Wirth durch eine Kundgebung vor ausländischen Journalisten gefolgt. Auch sein Nachfolger, Dr. Cuno, und der darauffolgende Reichskanzler, Dr. Stresemann, haben im Jahre 1923 Gelegenheiten benutzt, die Kriegsschuldlüge ausdrücklich und entschieden zurückzuweisen. Mit betonter Bestimmtheit geschah es, durch den Mund eines deutschen Reichskanzlers, als Dr. Stresemann in einer öffentlichen Kundgebung am 25. Oktober 1923 das erlösende Wort sprach: "Ich weise die Kriegsschuldlüge mit aller Entschiedenheit zurück." Auch der höchste Repräsentant des Reiches, der Reichspräsident Friedrich Ebert, gab dieser Volksstimmung Ausdruck, als er am 3. August 1924, anläßlich der Toten-Gedenkfeier vor dem deutschen Reichstag vor einer vielhunderttausendköpfigen Menschenmenge feierlich erklärte: "Im August 1914 ist das deutsche Volk nur zur Verteidigung der bedrohten Grenzen seines Vaterlandes in den Krieg gezogen."

So war es nur natürlich, daß nach Annahme des Dawesplans im Londoner Abkommen der Reichskanzler Dr. Marx, namens der [197] Reichsregierung, am 29. August 1924 amtlich eine Kundgebung durch die Presse veröffentlichte, in der es unter anderm hieß:

      "Der Reichstag hat mit den heute gefaßten Beschlüssen sein Siegel unter die Londoner Vereinbarungen gesetzt. Damit ist eine Entscheidung getroffen, die für das Schicksal des deutschen Volkes auf Jahre hinaus von maßgebender Bedeutung sein wird. Der Reichsregierung ist es ein Bedürfnis, allen Mitgliedern des Reichstages, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben, ihren Dank auszusprechen. Alle Beteiligten haben schwere Bedenken überwinden und vielfach sogar persönliche Überzeugungen zurückstellen müssen, um zur Annahme der Londoner Vereinbarungen zu gelangen. So schwer der Entschluß auch jedem einzelnen geworden sein mag, so mußte er doch gefaßt werden, wenn unserem Vaterlande der Weg in eine bessere Zukunft eröffnet werden sollte.
      Die Reichsregierung kann und will aber diesen bedeutsamen Augenblick, in dem sie in Durchführung des Versailler Vertrages schwere Verpflichtungen auf sich nimmt, nicht vorübergehen lassen, ohne in der Kriegsschuldfrage, die seit 1919 mit schwerem Drucke auf der Seele des deutschen Volkes lastet, klar und unzweideutig ihren Standpunkt darzulegen.
      Die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, widerspricht den Tatsachen der Geschichte. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Feststellung nicht anerkennt. Es ist eine gerechte Forderung des deutschen Volkes, von der Bürde dieser falschen Anklage befreit zu werden. Solange das nicht geschehen ist, und solange ein Mitglied der Völkergemeinschaft zum Verbrecher an der Menschheit gestempelt wird, kann die wahre Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern nicht vollendet werden.
      Die Reichsregierung wird Anlaß nehmen, die Erklärung den fremden Regierungen zur Kenntnis zu bringen."

Zwar hat diese Kundgebung einen geharnischten Gegenprotest der französischen Regierung hervorgerufen, so daß die Notifikation dieser Note erst durch die Verbalnote vom 26. Sept. 1925 erfolgte. Aber deutlich war damit zum Ausdruck gebracht, daß das deutsche Volk als solches nicht mehr willens war, diesen Ruf als Friedensbrecher und Kriegsschuldiger auf sich sitzen zu lassen. Aber gerade das entrüstete Echo auf der Gegenseite zeigte auch, daß noch ein großes Stück Aufklärungsarbeit auf diesem Gebiet zu leisten war.

Hier aber war ein Feld, wo die deutsche Gründlichkeit wirklich einmal sich betätigen konnte. Ein gescheiter Engländer, der englische Lektor an der Universität München, Wells, hat schon im Jahre 1923 in einem Aufsatz in der Keynesschen Zeitschrift Der Wiederaufbau prophezeit, daß die deutsche Gründlichkeit nicht eher von der Durchforschung der Kriegsschuldfrage nachlassen würde, nachdem sie ihr durch den Versailler Vertrag aufgezwungen worden sei, als bis alle Zusammenhänge wirklich aufgehellt sein würden. Er hat recht behalten. Auf rein wissenschaftlichem Gebiet erschien alsbald eine Flut von Monographien und Spezialuntersuchungen, zum Teil auch von leichter Traktätchenware. Es hat erst länger gedauert, [198] bis wirklich eine kritische Zusammenfassung des Standes der Forschung in einem handlichen Werke vorlag. Den ersten Versuch machte wohl das im Auftrag des "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" von dem Verfasser dieses Beitrages herausgegebene Sammelwerk Deutschland und die Schuldfrage (1923). Ihm folgte als erstes wissenschaftliches Kompendium der Leitfaden zur Kriegsschuldfrage des Grafen Max Montgelas (1923) und schließlich die kurze Broschüre von Hans Delbrück Der Stand der Kriegsschuldfrage (1924), die in knappster Form und komprimiertester Zusammendrängung die Resultate der Forschung zusammenfaßte, bis dann Erich Brandenburg in seinem Werk Von Bismarck zum Weltkriege (1924) zum ersten Male auf Grund der Akten des Auswärtigen Amtes eine authentische und erschöpfende Darstellung der gesamten deutschen Vorkriegspolitik gab. Eine besondere Phase der internationalen Vorkriegspolitik untersuchte Friedrich Stieve, der insbesondere auf Grund des Briefwechsels Iswolskis die Fäden zwischen Paris und Petersburg in den Jahren 1911-1914 scharfsinnig bloßlegte in dem Werk Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis (1925). So wurde nach und nach auf breitester Front die wissenschaftliche Offensive zur Revision des Schuldspruchs von Versailles eröffnet. Vor allem die fortschreitende Erweiterung der Großen Aktenpublikation förderte immer neues Entlastungsmaterial für Deutschlands Sache zutage. Und als schließlich im Jahre 1927 die stattliche Serie von 40 Bänden als Abschluß des großen Werkes Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914 vorlag, da konnten die Herausgeber dieses Monumentalwerkes und mit ihnen die deutsche Wissenschaft auf eine großartige wissenschaftliche und moralische Leistung zurückblicken. Immer mehr hatte sich die Arbeit auf die Schultern von Friedrich Thimme konzentriert, nachdem Johannes Lepsius schon nach der ersten Serie verschieden war. An seinen Namen knüpft sich in der Hauptsache das Verdienst dieser Riesenarbeit.

Nun aber kam es ebenso sehr auf die Ausmünzung dieser wissenschaftlichen Funde für die eigentliche Volksaufklärungsarbeiten. Zunächst hat auf diesem Gebiet sich der Oberst a. D. Bernhard Schwertfeger besonders verdient gemacht, vor allem durch seinen Wegweiser durch das große Aktenwerk der deutschen Regierung in fünf Teilen, der unmittelbar anschließend an den großen Bruder unter dem Titel Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes 1871 bis 1914 nacheinander erschien. Vor kurzem auch noch durch die einbändige Zusammenfassung des Riesenwerkes in seiner zusammenfassenden Darstellung Der Weltkrieg der Dokumente (1928). Neben ihm steht ebenbürtig die wissenschaftliche Aufklärungsarbeit von Friedrich Stieve, aus dessen Feder insbesondere das beste populäre [199] Handbuch zur Vorgeschichte des Weltkriegs Deutschland und Europa 1890-1914 stammt. Systematisch wurde diese wissenschaftliche Forschungsarbeit in dem Institut der "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" immer weiter vorgetrieben. An die Stelle von Ernst Sauerbeck war Alfred von Wegerer getreten, und um das Institut selbst hatte sich durch die Initiative und unter dem Vorsitze des früheren Gesandten Exz. Raschdau ein freier Kreis von wissenschaftlichen freien Mitarbeitern gebildet, die "Gesellschaft für Erforschung der Kriegsursachen". Auf Raschdau folgte später als Vorsitzender der ehemalige Diplomat und Reichsminister a. D. Rosen, an dessen Stelle vor kurzem Reichskanzler a. D. Dr. Marx getreten ist. Hier wird insbesondere der wissenschaftliche Vortrag mit anschließender Aussprache - die kontradiktorische Klärung - gepflegt. Auch die Arbeit des Untersuchungsausschusses des Reichstags zur Vorgeschichte des Weltkrieges unter Leitung von Dr. Eugen Fischer gehört in diesen Zusammenhang. Er hat der Öffentlichkeit insbesondere im Jahre 1921 das grundlegende Weißbuch über die Militärischen Rüstungen und Mobilmachungen geschenkt. Sein Schlußgutachten steht jetzt nach jahrelanger Vorarbeit unmittelbar vor dem Abschluß.

Aus all diesen Quellen floß dem "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" Anregung und Antrieb, Stoff und Geist für seine Aufklärungsarbeit zu. Er hat sie rege genutzt. Noch im Jahre des Ruhrkampfes (1923) war an die Stelle von Dr. v. Vietsch als geschäftsführendes Vorstandsmitglied sein Mitarbeiter Hans Draeger getreten. Als Präsident trat im Jahre 1925 an die Spitze der Reichstagsabgeordnete Gouverneur z. D. Dr. Heinrich Schnee. Unter ihrer beider Leitung steht die Arbeit heute noch. Das Mitteilungsblatt Der Weg zur Freiheit wurde immer mehr zum volkstümlichen Informationsblatt über alle mit dem Versailler Diktat zusammenhängenden Fragen ausgebaut. Presse und Organisationen bedienten sich immer mehr der stofflichen Orientierung durch den Arbeitsausschuß. Vorträge wurden immer von neuem erbeten und vermittelt. Und alle die zahlreichen Einzelorganisationen, die sich mit der Erörterung der Kriegsschuldfrage befaßten, hielten weiterhin engste Fühlung mit dem Arbeitsausschuß. Insbesondere die alljährlichen Zusammenkünfte (Stuttgart, Goslar, Heidelberg) waren die festen Treffpunkte für alle Persönlichkeiten des deutschen Volkes, die sich der Revisionsbewegung um den Versailler Vertrag widmeten. Nicht als ob diese Bewegung im "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" monopolisiert sei. Jede Teilorganisation hatte durchaus ihr freies Bewegungsfeld. So sei z. B. an die großen Kriegsschuldprotestbewegungen des Deutschen Reichskriegerbundes "Kyffhäuser" während des Frühjahrs 1929 erinnert. Aber wohl alle diese Einzelbestrebungen haben sich - etwas [200] wirklich seltenes in Deutschland! - einheitlich in die große Volksbewegung unter dem "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" eingeordnet.

Immer tiefer ist auf diese Weise die Erkenntnis von der Bedeutung der Kriegsschuldfrage und ihrer mannigfachen Verästelung und Ausstrahlung auf die sonstigen Fragen der Politik in alle Schichten des deutschen Volkes hineingedrungen. Die Polemik über die Kriegsschuldfrage ist im großen und ganzen aus der parteipolitischen Agitation verschwunden. Dafür ist die Ablehnung der Versailler Schuldthese in fast alle Parteiaufrufe oder -programme übergegangen. Sie gehört zum einheitlichen Bestand des Gedankengutes aller Parteien, mögen sie in der Frage der Differenzierung des Schuldanteils auch voneinander abweichen.

Als Unterlage für den Geschichtsunterricht in den Schulen hat insbesondere der schon erwähnte Abriß von Friedrich Stieve Deutschland und Europa 1890-1914 wertvolle Dienste geleistet. Aber auch die pädagogische Geschichtsliteratur selbst hat heute, durchaus sachlich, auch diesen Abschnitt der deutschen Geschichte mit in ihren Darstellungskreis zum großen Teil einbezogen - im Unterschied von der früheren Lehrweise, die fast überall im Unterricht den Vorhang hinter dem Jahr der Reichsgründung (1871) fallen ließ. In diesem Fall ergänzte sich die moderne pädagogische Lehrauffassung glücklich mit dem moralischen Bedürfnis der Aufklärung über ein Deutschland zugefügtes Unrecht. In diesem Zusammenhang sei als charakteristisch für diesen Zeitgeist die Geschichte des deutschen Volkes vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart des bekannten Schulmannes, Oberstudiendirektor Dr. Fritz Wuessing, erwähnt, die sich ausführlich mit der "Kriegsschuldfrage" auseinandersetzt und gerade in Lehrerkreisen weite Verbreitung gefunden hat. Wie überhaupt die Berufsorganisation der deutschen Lehrerschaft, der "Deutsche Lehrerverein", an der sachlichen Aufklärung über die Kriegsschuldfrage immer reges Interesse genommen hat, in gleicher Weise wie der Verband deutscher Geschichtslehrer und der deutsche Philologenverband, der noch im März 1929 auf seiner Vorstandssitzung "an alle seine Mitglieder die dringende Bitte richtete, bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Kräften im Kampf gegen die Schuldlüge mitzukämpfen". Ebenso haben auch die deutschen Hochschulen immer mehr die Untersuchung der Kriegsursachen in ihre Vorlesungspläne eingereiht. Vor allem der unermeßliche Tatsachen- und Dokumentenstoff, den die große Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes vor der Wissenschaft ausschüttete, hat Anlaß und Gegenstand zu einer Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten und Dissertationen geliefert. Auch die studentische Jugend selbst widmete sich der Erörterung des Problems. Studentische Kundgebungen am 28. Juni jedes [201] Jahres bürgerten sich ein. In diesen Zusammenhang gehört auch die Entschließung, die der Verband der Deutschen Hochschulen auf dem 6. deutschen Hochschultag im März 1929 faßte.

Dafür, daß auch in den breiten Schichten der Bevölkerung, insbesondere in der Arbeiterschaft das Interesse für diesen moralischen Komplex der Kriegsschuldfrage ständig rege geblieben ist, sei hier als wichtigstes Beispiel die Broschüre des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Adolf Biedermann Eine offene Wunde aus dem Jahr 1928 erwähnt, zu der der damalige Reichstagsabgeordnete und jetzige Reichsinnenminister Severing ein Vorwort schrieb. Diese Broschüre hat sehr starken Absatz gefunden - ein konkretes Zeugnis für den ideellen Anklang in den Kreisen ihrer Leserschaft.

Ihren monumentalen Abschluß fand diese Periode der inneren Volksbewegung zur Revision des Versailler Schuldspruches in der feierlichen Erklärung des Reichspräsidenten von Hindenburg bei der Einweihung des Tannenbergdenkmals in Hohenstein am 18. September 1927:

      "Die Anklage, daß Deutschland schuld sei an diesem größten aller Kriege, weisen wir, weist das deutsche Volk in allen seinen Schichten einmütig zurück! Nicht Neid, Haß oder Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das äußerste, mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen, und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. Deutschland ist jederzeit bereit, dies vor unparteiischen Richtern nachzuweisen."

Es ist selbstverständlich, daß dieses lodernde Feuer einer tiefinnerlichen Volksbewegung direkt und indirekt auf das Ausland ausgestrahlt hat. Ganz unwillkürlich haben natürlich Bestrebungen eingesetzt, die ehrliche Überzeugung von der guten deutschen Sache auch in das Ausland, vor allem die Kreise, die guten Willens sind, hineinzutragen. Vor allem die Verbindung mit den wissenschaftlichen Kreisen des Auslandes ergab sich als selbstverständlich. Auf diesem Gebiet hat vor allem die "Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen" durch das geistige Instrument ihrer Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage entscheidende Pionierarbeit geleistet. Der Aufklärungsarbeit im populären Sinn widmete sich der "Arbeitsausschuß Deutscher Verbände" als solcher, darin auch unterstützt vor allem durch den Aufklärungsausschuß der Handelskammer Hamburg, der sich hauptsächlich bemüht hat, in den mittel- und südamerikanischen Staaten, im nahen Osten (Türkei), wie in Ostasien (China, Japan) sachpolitische Aufklärung über die deutsche Politik und Wirtschaft in weiterem Sinne zu schaffen.

[202] Die hundertfachen Verzweigungen und Verästelungen, durch die sonst die Aufklärung über diese Fragen in die verschiedenen Volkskreise des Auslands hineingeströmt sein mag, entziehen sich natürlich einer genaueren Kenntnis. Sie haben sicher ebensosehr an dem allmählichen Durchbruch der Einsicht im Ausland mitgeholfen wie die erwähnten organisierten Bestrebungen. Jedenfalls kann festgestellt werden, daß diese Volksbewegung zur Revision des Versailler Diktats und insbesondere des Kriegsschuldverdiktes in dem Artikel 231 starkes Echo im Ausland erzielt hat. Zunächst hat der große prinzipielle Schritt der Öffnung der deutschen Archive in Form der Herausgabe der großen Aktenpublikation des Auswärtigen Amtes den Damm der Widerstände im Ausland gegen die Öffnung der fremden Archive durchbrochen. Dem Entschluß der britischen Regierung vom November 1924 zur Öffnung ihrer Archive ist 1926 der Beschluß der amerikanischen und der italienischen und 1927 der gleiche der französischen Regierung gefolgt. Heute liegen immerhin schon mehrere Bände des britischen Aktenwerks, ein Band des amerikanischen Aktenwerks vor, und der erste französische Band steht dicht vor dem Erscheinen. Man wird naturgemäß erst das Vorliegen größerer Partien dieser Publikationen abwarten müssen, bevor man ein Urteil über ihren historischen Wahrheitscharakter abgeben kann. Aber als psychologisches Faktum, als publizistische Tatsache sind diese Öffnungen der fremden Archive ohne Zweifel schon Fortschritte, selbst wenn sie nur Konzessionen an die öffentliche Meinung sein sollten. Und diese Tatsachen sind ohne Zweifel Ergebnisse, vielleicht sogar Früchte dieser skizzierten ernsten und entschlossenen deutschen Volksbewegung. Ähnlich hat sich allmählich ohne Zweifel auch eine gewisse Umlagerung der Auffassungen und Werturteile in den Kreisen der ausländischen Fachleute und Historiker vollzogen. Von der bekannten Senatsrede des amerikanischen Senators Owen an über die Publikationen der amerikanischen Historiker Barnes, Sidney B. Fay, zu den Werken der Engländer E. D. Morel, Beazley, Gooch, Headlam-Morley, dem grundlegenden Buch des holländischen Historikers Japikse über Bismarcks Friedenspolitik zu den Büchern der Franzosen Renouvin, Fabre-Luce, Margueritte, des Italieners Barbagallo und schließlich zu dem großen Sammelwerk des Norwegers Harris Aall. Wohl sind sie verschieden in den Abstufungen der Überzeugung, in den Spielarten der Betrachtung, aber doch alle einig in der Kritik an dem Schuldspruch, wie er im Artikel 231 seinen Niederschlag gefunden hat. Die Fundamente dieses Schuldspruchs in der Psychologie der Völker sind tatsächlich im Wanken. Das läßt sich wohl sagen, bei aller Distanz zu derartigen summarischen Werturteilen über so labile und atmosphärische Gebilde wie die Volksmeinung, wenn man überhaupt an eine Volksseele glaubt.

[203] Und wenn wir heute auf die zehn Jahre Geschichte des Versailler Diktates zurückblicken, dann kann bei aller Trauer und Empörung über die mancherlei Demütigungen und Enttäuschungen, die uns damals und seitdem bereitet worden sind, doch ein gewisses Gefühl der Genugtuung und des Stolzes ruhig sich einstellen. Ein Gefühl der Genugtuung und des Stolzes darüber, daß das deutsche Volk den Sinn für Würde und den Charakter keineswegs verloren hat, daß hier eine elementare Volksbewegung spontan hervorgebrochen ist, daß diese Volksbewegung ihren überparteilichen Charakter - im Gegensatz zu hunderten anderer betrüblicher Erfahrungen - dieses Mal klar bewahrt hat, daß diese Volksbewegung sich nicht hat unterdrücken lassen, sondern tapfer mit den Waffen des Geistes und der Moral weiter gekämpft hat, und daß diese Volksbewegung schöne Früchte getragen hat. Vielleicht ist diese Volksbewegung einer der seltenen exakten Beweise - wenigstens in Deutschland - für die Möglichkeit und Produktivität einer ehrlich gemeinten und richtig geleiteten Aufklärungsarbeit. Vielleicht, andere werden sagen: sicher. Sicher ist jedenfalls das eine, daß diese schönen Erfolge unmöglich gewesen wären, wenn nicht die innere Empörung, die ehrliche Aufwallung, das gute Gewissen und der männliche Stolz eines ganzen Volkes hinter dieser Bewegung gestanden hätte. Sie war wohl organisiert, aber nicht gemacht. Sie kam aus den Tiefen der Volksseele. Dieser moralische Fundus hat bisher über ihr Schicksal entschieden und wird auch weiterhin darüber entscheiden.

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger