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[Bd. 9 S. 119]

4. Kapitel: Verschärfung der Beziehungen zwischen Italien und Abessinien. Beseitigung der Militärfesseln des Versailler Vertrages.

1.

Während England und Frankreich in der seit 1919 genügend bekannten Weise der Kabinettspolitik eine Übereinstimmung in der Frage der deutschen Gleichberechtigung zu erreichen versuchten, traten in Europa im Laufe von kaum zwei Monaten Ereignisse ein, deren urwüchsiger und elementarer Gewalt gegenüber alle Regierungskünste versagten.

Das erste dieser Ereignisse war die Abstimmung im Saargebiet, die mit einem vollen deutschen Siege endete. Die Folge davon war, daß der Völkerbund die Rückgabe des Saargebietes an das Reich bestimmte. Am 1. März 1935 wurde diese feierlich vollzogen. Damit war eine Quelle ständiger Unruhe und Unsicherheit in Europa aus der Welt geschafft.

  Italien und Abessinien  

Das zweite Ereignis war die Zuspitzung der Beziehungen zwischen Italien und Abessinien. Dieser Vorgang hatte wachsende Spannungen zwischen England und Italien im Mittelmeerraum und in Nordafrika zur Folge. Das Ansehen des Völkerbundes, der in dieser Angelegenheit völlig versagte, erhielt einen neuen empfindlichen Stoß zu den zahlreichen Prestigeverlusten der Vergangenheit.

Das dritte Ereignis war die mutige Tat des Führers, wodurch dieser die ungerechten und einseitigen Militärfesseln, die dem Reiche durch den Vertrag von Versailles auferlegt worden waren, zerriß und die Gleichberechtigung Deutschlands verwirklichte.

Über die Abstimmung und Rückgliederung des Saargebietes ist im 1. Bande der "Errichtung des deutschen Führerreiches" Seite 358 ff. berichtet worden. Wir wenden uns deswegen sogleich dem italisch-abessinischen Konflikte zu.

[120] Italien war, wie oben gesagt wurde, einst bei der Verteilung der Kolonien zu kurz gekommen. Jetzt wollte Mussolini diesen Mangel ausgleichen. Die einzige Möglichkeit kolonialer Ausdehnung in Afrika bot das unabhängige äthiopische Kaiserreich, Abessinien. Im Jahre 1906 hatten England, Frankreich und Italien einen Vertrag unterzeichnet, der die Unabhängigkeit Abessiniens verbürgte, aber das Land in drei Interessensphären teilte; er wurde 1925 erneuert, als Abessinien in den Völkerbund eintrat. Das Verhältnis zwischen Italien und Abessinien war aber schon jahrzehntelang recht gespannt; 1934 kam der Zündstoff zur Explosion. Einerseits hatten die italisch-französischen Kolonialverhandlungen den Kolonialwillen Italiens sehr ermutigt, anderseits alarmierte die Nachricht, daß Abessinien mit Japan einen Konzessions- und Emigrantenvertrag abgeschlossen habe, die Völker Europas. Der Negus in Addis-Abeba stellte nämlich einem japanischen Syndikat in Abessinien riesige Flächen für Baumwollkulturen zur Verfügung und gestattete, daß hier japanische Arbeiter beschäftigt werden sollten. Damit war das Signal zur friedlichen Durchdringung Abessiniens durch Japan gegeben, und wenn die Völker Europas nicht aufpaßten, war Abessinien eines Tages plötzlich eine japanische Kolonie.

Japan vor den Toren Europas! Das war der Eindruck in England, das Aden zu verlieren hatte, in Frankreich, das um Djibuti bangte, und in Italien, dessen Aussicht auf ein ostafrikanisches Kolonialreich bedroht wurde. Die japanische Durchdringung Abessiniens ging also sozusagen alle drei europäischen Kolonialmächte in gleicher Weise an, und zwar um so mehr, als im Laufe des Herbstes bekannt wurde, daß der Negus an Stelle der bisherigen belgischen in Zukunft japanische Militärinstrukteure zu verwenden gedachte.

Ende August verbreitete sich in der politischen Öffentlichkeit Europas die Meinung, England und Frankreich wollten Italiens Politik der friedlichen Durchdringung Abessiniens freie Hand lassen, England erhoffe hiervon eine Zurückdrängung Japans aus Afrika, Frankreich erhoffe ein Nachlassen des italischen Druckes zum Tschadsee. Im Herbst, Mitte November, kam es in Ostafrika zu ersten Zusammenstößen: in Gondar wurde das [121] italische Konsulat von abessinischen Eingeborenen überfallen, kurz darauf, am 5. Dezember, fand ein erstes ernstes Gefecht bei Ual-Ual statt, als eine italische Truppenabteilung mit der abessinisch-britischen Vermessungskommission zusammenstieß und behauptete, diese befinde sich auf italischem Gebiete. Abessinien schob die Schuld auf Italien und erhob Einspruch beim Völkerbund, Mitte Dezember. Jedoch die mehrfachen abessinischen Proteste blieben ohne Erfolg. In der italischen Presse wies man auf die Gefahr des wachsenden militärischen Einflusses Japans in Abessinien hin, während in England sich das Gerücht verbreitete, es bestehe zwischen England, Frankreich und Italien ein Geheimabkommen über die Drittelung Abessiniens in wirtschaftliche und politische Einflußsphären. In Abessinien aber stieg die Erregung gegen Italien seit Anfang 1935 immer höher, weil man glaubte, Italien habe von Frankreich gegen Zugeständnisse in Europa freie Hand erhalten, das Protektorat über Abessinien aufzurichten.

Der Negus von Abessinien, Haili Selassie, hatte im Dezember 1934 und Januar 1935 verschiedene Male vor dem Völkerbunde in Genf gegen das Vorgehen Mussolinis und gegen tägliche Grenzverletzungen durch italische Truppen Einspruch erhoben. Beide Staaten waren Mitglieder des Völkerbundes. Dieser aber zog es vor, einer Entscheidung auszuweichen. Am 19. Januar 1935 vertagte man in Genf nach bewährtem Beispiel die Behandlung des Streitfalles, nachdem beide Staaten sich dem Rate gegenüber verpflichtet hatten, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Lage erneut erschweren könnten, und den Zwischenfall von Ual-Ual, vom 5. Dezember 1934, gemäß dem italisch-abessinischen Vertrag vom Jahre 1928 schiedsrichterlich zu erledigen.

Jedoch die Tatsachen waren stärker als der gute Wille. Zwei Tage vor der Genfer Vereinbarung hatte ein aufständischer Nomadenstamm Abessiniens in Französisch-Somaliland einen französischen Regierungsbeamten, 16 eingeborene Soldaten und 94 Eingeborene ermordet. Dieses Ereignis zeigte offenkundig, daß der Negus nicht in der Lage war, in seinem Reiche Ordnung zu halten und die Interessen der Europäer zu schützen. Der Vorfall wurde in Rom bekannt, [122] und Mussolini entschloß sich, unbeschwert durch die Genfer Vereinbarung, in Abessinien Ordnung zu schaffen.

Ein Zurück gab es für den Duce nun nicht mehr. Mit gesammelter Kraft konzentrierte er sich jetzt auf Ostafrika. Am 24. Januar nahm er eine umfassende Regierungsumbildung vor. Er selbst war Minister des Äußeren und des Inneren, des Heeres und der Flotte, der Luftwaffe, der Kolonien und der Korporationen. Neben ihm, dem siebenfachen Minister, gab es noch sechs Minister für Finanz, Justiz, öffentliche Arbeiten, Landwirtschaft, Erziehung und Verkehr, die sämtlich ausgewechselt wurden. Die neue Regierung bedeutete eine Sammlung aller Kräfte des Landes auf die bevorstehende Auseinandersetzung.

Die Schwierigkeiten des Vorhabens lagen für Italien allerdings weniger in den militärischen Verhältnissen Abessiniens, als vielmehr in den geographischen und klimatischen. Das Land hatte zehn Millionen Einwohner auf 1 120 400 Quadratkilometer, wovon immerhin zwei Millionen aufgeboten werden konnten. Aber es verfügte nur über eine halbe Million Gewehre, 250 Maschinengewehre, 180 Kanonen, fünf oder sechs Tanks und etwa zehn Flugzeuge. Hinderlich waren die gebirgige Dürre des Landes, die spärliche Besiedelung, die fehlenden Verkehrswege, sowie die Unannehmlichkeiten der Regenzeit und der durch das Klima bedingten Krankheiten. Nicht der Kampf mit den Waffen, sondern der Kampf mit den tausend unsichtbaren höheren Gewalten war auf Abessiniens Erde das gefährliche.

Aber die immer umfangreicher werdenden Gefechte in den Grenzgebieten Ostafrikas ließen dem Duce keine andere Möglichkeit als die des bewaffneten Eingreifens. Entweder spielte der Negus ein unaufrichtiges Spiel, oder seine Regierung war in der Tat nur ein Scheinregiment, denn während er Genf mit Hilferufen bestürmte, überfielen seine Krieger in den Grenzgebieten der italischen Kolonien die Soldaten Italiens und töteten sie. Mussolini sah sich genötigt, in der zweiten Februarwoche zwei Divisionen, 25 000 Mann, zu mobilisieren, in erster Linie Spezialtruppen, Flieger, Tanks, leichte Artillerie, Sanitäter, weniger Infanterie. Der Negus seinerseits zog [123] 30 000 gut bewaffnete Leute an den Grenzen zusammen. In Rom war man überzeugt, daß man tatkräftig die Kolonien verteidigen müsse.

Hinderlich war da wieder das Verhalten der anderen Großmächte. Auf Grund des Abkommens von 1906 war Mussolini genötigt, in London und Paris das Einverständnis zu seinem Vorgehen zu erlangen. Während er selbst immer noch Sühne für Ual-Ual forderte, mußte er zu seinem Ärger feststellen, daß Frankreich nichts wegen des Überfalls vom 18. Januar zu unternehmen gewillt war und England entschieden für eine friedliche Beilegung des Konfliktes eintrat. Es verlangte vom Duce Mäßigung und riet dringend, sofort und unmittelbar mit dem Negus zu verhandeln. Auf den ersten Blick machte Englands Haltung im Abessinienkonflikt während des Frühjahrs einen unentschlossenen, ja schwachen Eindruck. Es mahnte, drohte, griff auch wohl selbst auf beiden Seiten ein, führte aber seine Vermittlung nicht energisch durch. Man möchte, wie Echo de Paris, von einer "wohlwollenden Neutralität Englands gegenüber Italien" sprechen, die wohl darin ihren Grund hatte, daß ein großer Teil des englischen Volkes es gern gesehen hätte, wenn Italien den japanischen Einfluß in Afrika und am Roten Meere zurückgedrängt hätte. Frankreich zeigte sich über Englands Haltung befriedigt, Japan ließ durch seinen Botschafter Fujimura in Rom erklären, daß es sich entschieden jeder Besetzung Abessiniens durch eine fremde Macht widersetzen werde, denn es habe in Abessinien starke wirtschaftliche Interessen, und allgemein war man der Ansicht, daß Japan den Abessiniern das Rückgrat stärke. Diese äußeren Hemmungen wirkten im Obersten Kriegsrat nach, der am 12. Februar unter Mussolinis Vorsitz in Rom tagte. Hier wurden vier Sühneforderungen aufgestellt, die mit Rücksicht auf die anderen Mächte, vor allem auf England, noch nicht in der Form eines Ultimatums nach Addis Abeba geschickt werden sollten: Abessinien sollte Entschädigungen für den entstandenen Sachschaden leisten, sich entschuldigen, der italischen Flagge in Addis Abeba die Ehre bezeugen und die Achtung der Grenzen feierlich verbürgen. Die Forderungen, durch welche Italien, wie es den Engländern erklärte, sich Abessinien gegenüber nur das Recht vorbehalten [124] wollte, spätere Schadensersatzansprüche zu stellen, waren maßvoll und konnten von Abessinien, wenn es guten Willens war und vor allem die Möglichkeit zum guten Willen besaß, erfüllt werden. Aber gerade das bezweifelte Mussolini, er glaubte nicht, daß der Negus in der Lage sei, eine wirksame Kontrolle über die Grenzstämme auszuüben. Für alle Fälle übertrug er dem General Rudolpho Graciani, dem Bezwinger der lybischen Revolte, das Oberkommando der Abessinienexpedition. Der traf Anfang März in Italisch-Somaliland ein.

Die abessinisch-italischen Verhandlungen über die Bildung neutraler Zonen schleppten sich in Rom von Tag zu Tage hin, während draußen in Afrika die Zusammenstöße immer häufiger und heftiger wurden. Als am 14. Februar mit der Verschiffung der beiden mobilisierten Divisionen begonnen wurde, erklärte Mussolini, daß dies noch keine Massentransporte seien; sollten solche aber in nächster Zeit erfolgen, dann hätten sie nur den Auftrag, die italischen Grenzposten gegen abessinische Angriffe zu verstärken. Die Drohung gegen Abessinien war zugleich eine Beschwichtigung für England. Die abessinische Regierung erklärte demgegenüber in Rom, daß die Sicherheit von Italisch-Somaliland durch Abessinien nicht bedroht worden sei; die Mobilmachung von zwei italischen Divisionen sei durch keine militärische Maßnahme Abessiniens gerechtfertigt; die Nachricht von dieser Mobilmachung sei nicht geeignet, die Atmosphäre des Vertrauens für eine befriedigende Fortführung der Verhandlungen über die Bildung einer Vergleichs- und Schiedskommission zur Lösung der italisch-abessinischen Streitfrage zu erhalten. Abessinien trug unverkennbare Ablehnung gegen weitere Verhandlungen zur Schau. Der Negus betonte in privaten Gesprächen, daß er gern bereit sei, die Verantwortlichkeiten festzustellen und eine neutrale Zone einzurichten, er lasse sich aber nicht durch militärische Vorbeugungsmaßnahmen zwingen.

Faschistische Miliz marschbereit nach Abessinien.
[Bd. 9 S. 144b]      Faschistische Miliz
marschbereit nach Abessinien.
(Vor dem Bahnhof in Rom.)

Photo Scherl.
Mussolini gab keine Antwort auf die abessinische Erklärung. Am 16. Februar beschloß der Große Faschistische Rat, Milizbataillone nach Ostafrika zu senden und nötigenfalls weitere Milizabteilungen aufzubieten. Er dehnte die Militärdienstpflicht vom 18. bis zum 55. Lebensjahre aus, wodurch Italien [125] in der Lage war, über die stattliche Zahl von sieben bis acht Millionen wehrfähiger Männer zu verfügen. Indem der Große Faschistische Rat Mussolini ermächtigte, alle erforderlichen militärischen Vorkehrungen zu treffen, erteilte er ihm die Blankovollmacht, den Konflikt mit Abessinien bis zu Ende auszutragen. Vier Tage später hielt es der Oberste Rat für Landesverteidigung für nötig, auf seiner zwölften Jahrestagung der Nation zu sagen, daß er in den ersten zwölf Jahren seines Bestehens seine Aufgabe gelöst habe, die darin bestehe, rechtzeitig die unerläßlich notwendigen Mittel bereitzustellen, damit eine etwaige kriegerische Aktion sich unter Voraussetzungen entfalten könne, die den Sieg ermöglichten. Er verkündete dem Volke, daß es seinen Bemühungen gelungen sei, Italien in der Versorgung mit Lebensmitteln – außer Fleisch –, Brennstoffen, Schmierölen und Erzen unabhängig vom Auslande zu machen. Während die Diplomaten in Addis Abeba verhandelten und sich abwechselnd mit Vorwürfen überhäuften, zog der Duce seine Soldaten zusammen und schickte sie übers Meer. Allein in der ersten Hälfte des Februar meldeten sich 70 000 Schwarzhemden, die in die nach Afrika abgehenden Kampftruppen eingereiht werden wollten. Tag für Tag liefen aus den Häfen Italiens, vor allem aus Neapel und Messina, von der begeisterten Menschenmenge umjubelt und festlich geschmückt, die großen Transportdampfer aus, die, in respektvoller Entfernung von englischen Kriegsschiffen begleitet, ihren Weg durch den Suezkanal und das Rote Meer nahmen, um in Erythräa zu landen. Bis Ende Februar waren etwa 50 000 Mann nach Ostafrika abgeschickt. Der Transport von Neapel bis Massaua dauerte zehn Tage. General Graciani selbst schiffte sich am 12. Februar in Messina ein.

Ein für Ostafrika bestimmter Transport verläßt den Hafen von Genua.
[Bd. 9 S. 161]      Ein für Ostafrika bestimmter Transport verläßt den Hafen von Genua.      Photo Scherl.

Indessen schien es, als sollte die von England geförderte und von Frankreich unterstützte friedliche Beilegung des Konflikts wieder erfolgreich fortschreiten. Die Tage vom 16. bis 20. Februar zeigten die Tendenz einer offenbaren politischen Entspannung; schiedsrichterliche Grenzkommissionen sollten gebildet werden, deren Aufgabe die Festsetzung einer neutralen Zone zur Verhinderung von ferneren Zwischenfällen sein sollte. Damit trat der Konflikt aus der Phase der direkten diplo- [126] matischen Verhandlungen beider Staaten, die, wie wir sahen, erfolglos geblieben waren, in das Stadium der schiedsrichterlichen Behandlung. Aber schon am 21. Februar kamen die Verhandlungen in Addis Abeba über die Beilegung des Grenzkonfliktes zum Stillstand. Italien erhob Einspruch, daß in die abessinische Grenzkommission militärische Mitglieder ausländischer Gesandtschaften aufgenommen wurden, und der Negus setzte seine Verteidigungsmaßnahmen systematisch fort unter Hinweis auf die ständigen Truppentransporte Italiens. Die Engländer zürnten deswegen Mussolini. Dieser beschränke sich nicht mehr auf Wiedergutmachung, sondern wolle die Gelegenheit benutzen, um die seit langem begehrten Vorteile für den italischen Handel in Abessinien zu gewinnen. Falls seine "Vorbeugungs-" und "Verteidigungs"maßnahmen die Gefahr eines Kriegsausbruches in sich schlössen, würde Großbritannien Italien gegenüber energisch vorgehen, um diese noch in letzter Minute abzuwenden.

Gegen Ende Februar waren die italisch-abessinischen Verhandlungen, die auf Großbritanniens Drängen hin wieder aufgenommen worden waren, abermals auf dem toten Punkt angelangt. Am 27. Februar erklärte der abessinische Geschäftsträger in Rom feierlich:

      "Als Vertreter meines kaiserlichen Herrn Haili Selassie schwöre ich bei meiner Ehre und bei der Ehre meiner Nation, daß die Regierung von Abessinien niemals daran gedacht hat und niemals daran denkt, die beiden benachbarten italischen Kolonien Somali und Erythräa mit den Waffen anzugreifen."

Italien könne sich seine Truppenverschiffungen sparen. Mussolini entgegnete, daß die Tatsachen das Gegenteil bewiesen, Abessiniens Friedensbeteuerungen hätten erst Wert, wenn sie durch das tatsächliche Verhalten bestätigt würden. Der Duce erhöhte das Tempo der Truppentransporte.

Wieder legte sich England ins Mittel, wieder begann das Spiel der Verhandlungen. Am 4. März teilte Mussolini den Engländern mit, daß zwischen Italien und Abessinien ein Abkommen geschlossen sei über die Errichtung einer neutralen Zone bei Ual-Ual, um neue Scharmützel zu vermeiden. Der Negus war bereit, die Entschädigung für den entstandenen [127] Schaden zu zahlen, wollte sich auch jeder unparteiischen Prüfung der Angelegenheit unterziehen, wenn er auch keine Verantwortung für die Zwischenfälle bei Ual-Ual übernehmen konnte; aber er lehnte eine Grenzrevision bei Italisch-Somaliland ab. Auf diese Gebietsfragen spitzte sich schließlich die ganze Angelegenheit zu. Drei Tage später sprach Kaiser Haili Selassie den Wunsch aus, auf friedlichem Wege die Gebiete zu behalten, die ihm gehören, und die wieder zu erlangen, auf die er nach den früher mit Italien abgeschlossenen Verträgen Anspruch habe. Er forderte darüber eine schiedsrichterliche Entscheidung. Jedoch Italien lehnte diese ab.

Am 13. März stand fest, daß die Verhandlungen über die neutrale Zone und die Schadensersatzforderungen Italiens ergebnislos geblieben waren. Abessinien überhäufte Italien mit Vorwürfen und weigerte sich, die Forderungen Italiens weiter zu erörtern, wenn es vorher keine unparteiische Untersuchung gebe. Der abessinische Kaiser verlangte von Italien eine eindeutige Antwort, ob es bereit sei, den Streit schiedsrichterlicher Entscheidung zu unterbreiten, wie es in der italisch-abessinischen Vereinbarung vorgesehen sei. Eine Einigung kam nicht zustande. Mussolini bezweifelte nach wie vor, daß der Negus soviel Macht besitze, um für die Zustände seiner Grenzgebiete rechtsverbindliche Verträge zu unterzeichnen. So teilte denn am 17. März Haili Selassie dem Völkerbunde mit, daß die Verhandlungen mit Rom gescheitert seien, und bat um seine Vermittlung, um vollständige Untersuchung und Prüfung der Angelegenheit: Die italische Regierung sei nie auf wirkliche Verhandlungen eingegangen und habe vor Untersuchung des Streitfalles Wiedergutmachung verlangt; die militärischen Maßnahmen Italiens ständen im schärfsten Widerspruch zu dem Vertrag von 1928 und zum Genfer Abkommen vom 19. Januar 1935. Augenblicklich könne schon ein örtlicher Zwischenfall als Vorwand für eine militärische Aktion dienen. In seinem Lande ordnete der Negus erhöhte Wachsamkeit der Gouverneure, aber noch nicht Mobilisierung an. Alle Versuche Italiens, direkt weiterzuverhandeln, wurden von Abessinien jetzt unter Hinweis auf den Völkerbund zurückgewiesen.

[128] 2.

Die Engländer hofften, daß das in London vorgeschlagene Luftlocarno die Politik der großen Mächte, die zu erstarren drohte, neu beleben möchte. Es war ein Ansatzpunkt, von dem aus weitere Erfolge sich erzielen lassen würden. Mit allen Fasern ihres Herzens wünschten sie, daß Deutschland diesem Plane zustimmen würde, denn das würde in jeder Weise ein wertvoller Fortschritt zur Beruhigung Europas sein. Um den 8., 9. Februar herum, als Simon zu kurzem Besuch nach Paris gefahren war, tauchte in englischen Regierungskreisen der Gedanke auf, Simon könne auch Berlin besuchen und dort verhandeln auf einer Grundlage, die am besten folgendes enthielte: einen zehnjährigen Frieden auf der Grundlage des Statusquo, ein Rüstungsabkommen und eine vorher anerkannte Gleichberechtigung Deutschlands. Das war so ziemlich alles, was Deutschland forderte: Beseitigung des Versailler Vertrages als Verhandlungsgrundlage. Sei man erst so weit, dann gebe es Ruhe in Europa, und Großbritannien wünschte nichts sehnlicher als dies. Es litt selbst an starken inneren Verstimmungen. Die Reform der indischen Verfassung machte ihm zu schaffen. Sir Samuel Hoare, Staatssekretär für Indien, erklärte am 6. Februar 1935, die britische Regierung stehe fest zu dem Versprechen, das in der Präambel von 1919 gegeben sei, und zu der Auslegung durch den Vizekönig in Indien 1929, wonach das natürliche Ergebnis des Fortschrittes Indiens die Erzielung der Dominionstellung ist. Zwar die Konservativen waren einer Änderung der Verfassung für Indien abgeneigt. Die Festigkeit der Regierung – der Konservative Baldwin sagte am 11. Februar, das Kabinett sei entschlossen, keine wesentlichen Veränderungen seiner Verfassungsvorschläge für Indien zuzulassen – führte dazu, daß das Unterhaus an diesem Tage mit 404 gegen 113 Stimmen den Änderungsvorschlag der arbeiterparteilichen Opposition ablehnte und den Indienvorschlag der Regierung in zweiter Lesung annahm, obwohl er den Konservativen sehr unsympathisch war. (Übrigens waren auch die indischen Maharadschas gegen die neue Verfassung, da sie von ihr die Beförderung nationaler oder gar bol- [129] schewistischer Unruhen befürchteten.) – Der zweite innerpolitische Gefahrenpunkt war der Streit um die Arbeitslosenunterstützung. Die Regierung wurde heftig von der Arbeiterpartei angegriffen, ein Abgeordneter bezeichnete sogar in der Hitze des Gefechtes die Mitglieder des englischen Königshauses als "Parasiten". Woher sollte die Regierung die Mittel nehmen, um die weitgehenden Wünsche der Arbeiterpartei zu erfüllen? Allein diese beiden Fragen, Indien und Arbeitslosenunterstützung, führte Mitte Februar 1935 eine Krise für die Regierung MacDonald-Baldwin herauf.

Hinzu kam die traurige Erkenntnis, daß die britische Regierung nun nach dem Zusammenbruch aller Abrüstungsverhandlungen sehen mußte, wie sie im Vertrauen auf einen Erfolg der Abrüstungskonferenz ihre eigenen Rüstungen verhältnismäßig vernachlässigt hatte. Jetzt galt es, im Eiltempo das Versäumte nachzuholen. Anfang März legte die Regierung den Heereshaushalt für 1935 vor: er betrug 124,2 Millionen Pfund Sterling und war um 10,5 Millionen Pfund Sterling größer als im Vorjahr. Das war die höchste Summe, die England seit 1922 für Rüstungszwecke ausgab! Die Territorialarmee sollte von 149 500 auf 152 200 verstärkt werden. Kriegsminister Lord Hailsham bemerkte hierzu in seiner Denkschrift:

      "Wenn die Armee in die Lage versetzt werden soll, ihre Verteidigungsaufgaben zu erfüllen, dann werden noch beträchtliche Ausgaben und viel Arbeit erforderlich sein, um sie auf den modernen Stand der Leistungsfähigkeit zu bringen. Nach dem Willen der Regierung ist die Zeit gekommen, wo Maßnahmen ergriffen werden sollen, um unsere militärischen Vorbereitungen mehr der Jetztzeit anzupassen. Daher sind bei diesen Voranschlägen Vorkehrungen für Materialausgaben und für eine zahlenmäßige Vermehrung aller Teile eines Programms enthalten, dessen Durchführung sich notwendigerweise auf eine Reihe von Jahren erstrecken wird."

Diese Heeresvermehrung war psychologisch eine Ungeheuerlichkeit in einem Zeitpunkte, da die breiten Massen des Volkes auf die Abrüstung hofften. Die Regierung mußte sich Mühe geben, eine Propaganda zu treiben, die das Volk von der Notwendigkeit überzeugte. So hören wir am 7. März Eden in [130] Swindon über die englische Wehrpolitik sprechen: sie bedeute kein Abweichen von der Politik des Völkerbundes, aber die Regierung müsse die nackte Wirklichkeit in Betracht ziehen; in den letzten Jahren sei Europa von einer wachsenden Nervosität erfüllt worden; um dieser Nervosität zu begegnen, bemühe sich die britische Regierung im Augenblick, eine europäische Regelung zustande zu bringen mit dem Ziele, daß alle Länder aktive Mitglieder des Völkerbundes werden; die Wissenschaft und Technik haben Englands geographische Abgeschlossenheit herabgemindert, so daß die Folgen europäischer Ereignisse sich unmittelbarer als bisher auf England auswirken könnten; der politische Ausblick Englands habe sich den veränderten Umständen noch nicht angepaßt; die wachsende Beunruhigung der Welt zwinge auch Großbritannien zur Vermehrung seiner Rüstung.

  Britisches Weißbuch  

Die Regierung Großbritanniens glaubte sogar, zur Begründung ihrer Wehrpolitik Anfang März dem Unterhaus ein besonderes "Weißbuch" vorlegen zu müssen. Die englische Aufrüstung wurde hier vor allem begründet mit dem Hinweis auf die deutsche Wiederaufrüstung und den kriegerischen Geist, der in der deutschen Jugend herrsche. Das Weißbuch, das Hitlers Friedenswillen zugab, bezweifelte aber indirekt, ob dieser Friedenswille des Führers stark genug sei, sich gegen die öffentliche Meinung, gegen den kriegerischen Geist insbesondere der Jugend zu behaupten. Deswegen müsse England gerüstet und gewappnet sein. Dieses Weißbuch war letzten Endes die logische Folge jener Hinwendung zu Frankreich, welche die Regierung Großbritanniens infolge der Londoner Besprechungen von Anfang Februar vorgenommen hatte. Politisch gesehen war es ein Vorstoß der französischen Partei in London, deren Stützpunkt das Kriegsministerium war. Auf das englische Volk hatte diese Beweisführung allerdings nicht die beabsichtigte Wirkung. Sie erschien ihm rückständig und unklug, insbesondere, da Volk und Regierung keinen sehnlicheren Wunsch hatten als den, daß das Reich in den Völkerbund zurückkehren möge. Eine Erfüllung dieses Wunsches hätte in Großbritannien größte Freude ausgelöst.

  Gedanken britischer Staatsmänner  

Der sonst gar nicht deutschfreundliche Garvin, Herausgeber [131] des englischen Wochenblattes Observer, gab Anfang Februar 1935 dem englischen business mit folgenden Worten Ausdruck: Der Vertrag von Versailles ist tot. In seinem Rahmen sind erfolgreiche Verhandlungen mit Deutschland nicht möglich. Das Dritte Reich Hitlers kann nur auf der Grundlage absoluter Gleichberechtigung dazu veranlaßt werden, sich zuerst an konstruktiven Besprechungen und später an einem Kollektivsystem zu beteiligen. Deutschland hat sich selbst gewaltsam befreit, wer wollte es jetzt mit Fesseln aus Papier knebeln? Entweder kehrt es freiwillig in den Völkerbund zurück oder überhaupt nicht. Nicht bedingte, sondern absolute Gleichberechtigung Deutschlands ist als Vorbedingung für Verhandlungen mit Berlin über ein neues System der allgemeinen Stabilität und Sicherheit nötig. Die zweite Voraussetzung ist dann eine fest begrenzte und für eine mäßig lange Reihe von Jahren geltende Verständigung, vielleicht ein zehnjähriger Friede. Wir glauben, sagt Garvin, wenn Hitler sein Wort gäbe, er würde es halten! Der Friede ist gesichert, wenn Deutschland mit den anderen Mächten eine gegenseitige Garantie des territorialen Statusquo auf die Dauer von zehn, sieben oder gar fünf Jahren abschließen würde.

Grob ausgedrückt war es etwa dies: Deutschland kann machen was es will, wenn es nur zuverlässig den Frieden Europas schützt und nicht stört. Für die Regierung, die diese Idee ins Reich der Tatsachen übersetzen mußte, hieß das: von dem geplanten Luftlocarno aus einen Weg zu finden, der das Reich wieder in den Völkerbund führt, demgegenüber sinkt die Frage, ob Deutschland jetzt aufrüstet oder aufrüsten darf, zur Bedeutungslosigkeit herab, denn die endgültige Entscheidung über die allgemeine Zulässigkeit von Rüstungen wird die Zukunft bringen.

Am 7. Februar 1935 sagte MacDonald in einer Rede zu Luton, Grafschaft Bedfort, das englisch-französische Luftabkommen sei die wirksamste Vorbeugung gegen einen Angriff, die je von der internationalen Diplomatie geschaffen sei. Von den Verhandlungen mit Frankreich und Deutschland hoffte er, "das Ergebnis wird sein, daß Deutschland von neuem im Völkerbund erscheinen wird mit dem 'Ehrenkranz', auf den [132] es Anspruch erhebt". Dort könnten dann Deutschland und Frankreich ruhig miteinander sprechen. Am folgenden Tage führte Außenminister Simon vor der englischen Handelskammer in Paris aus:

      "In Anwesenheit von Ministerpräsident Flandin darf ich sagen, daß das von uns in der vergangenen Woche in London vollbrachte Werk gegen kein Land gerichtet ist. Unsere Absicht ist nicht, zu einem beschränkten Abkommen zu gelangen, sondern wir suchen im Gegenteil durch die Anregung eines Planes, der als die Grundlage einer freien und gleichen Aussprache zwischen allen interessierten Nationen dienen kann, für den Frieden und das Wohlergehen aller zu arbeiten und das Friedensgebäude auf festere Grundlagen zu stellen."

Man verschloß nicht die Augen vor den Schwächen des Völkerbundes, aber man glaubte, daß die über das Luftlocarno in Gang kommenden Verhandlungen auch das Schiffchen des Völkerbundes wieder flott machen würden. Das war etwa der Sinn der Rede, die Eden am 15. Februar 1935 vor der Versammlung der englischen Völkerbundsvereinigung in Rugby hielt: Der Völkerbund sei nicht vollkommen, er befinde sich in einem Zustande der Entwicklung, aber er sei stärker als vor sechs Monaten; die Vorstellung eines kollektiven Friedenssystems habe zweifellos Fuß gefaßt; England sei entschlossen, diese Gelegenheit zu benutzen, um eine internationale Ordnung auszubauen und es würde sich freuen, wenn andere Länder den Glauben Englands an diese Körperschaft teilen würden; solange die Mitgliederliste des Völkerbundes nicht vollständig sei, werde der Völkerbund nicht in der Lage sein, diejenigen Ergebnisse zu erzielen, die sonst erzielt werden könnten.

Schatzkanzler Neville Chamberlain sagte auf einer Kundgebung am 22. Februar in Bradford: Es sei der Angelpunkt der Politik der englischen Regierung, den Völkerbund zu stärken, da er das einzige Mittel sei, um den Frieden und die internationale Zusammenarbeit zu erreichen; deshalb sei es das Ziel Großbritanniens, Deutschlands Rückkehr in den Völkerbund zu bewirken.

Im Unterhaus arbeitete Simon am 11. März das Ziel Englands in folgenden Worten heraus:

      "Die Politik der britischen Regierung ist unveränderlich auf eine Mitgliedschaft beim Völ- [133] kerbund gegründet. Jeder Staat in Europa außer einem ist Mitglied des Völkerbundes, und wir tun alles, eine politische Grundlage zu schaffen, auf der dieser Staat sich wieder wirksam der Arbeit des Völkerbundes anschließen kann. Weit davon entfernt, zu der Lage zurückzukehren, die vorherrschte, bevor der konsultative Grundsatz geschaffen wurde, ist es das Hauptziel der Verhandlungen, mit denen wir uns befassen und in denen der Lordsiegelbewahrer Eden und ich uns in Bälde auf unsere Reise begeben, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Deutschland in den Völkerbund zurückkehren kann."

Daß auch die große Mehrheit des englischen Volkes für den Völkerbund war, ergab eine im Frühjahr 1935 von der englischen Völkerbundsliga veranstaltete Umfrage. (Vgl. Einleitung Seite 9.)

  Das Reich  

3.

Nirgends fanden Englands Bemühungen um einen wahren Frieden wärmeren Widerhall als in Deutschland. Wenn das Reich nach gewonnener Erkenntnis der Unfruchtbarkeit der Abrüstungsverhandlungen in einmütiger Geschlossenheit von Führer und Volk bereits seit Monaten seine Sorge dem Aufbau der Wehrmacht widmete, wenn wir alle bereits seit dem Frühjahr 1934 Groschen um Groschen, Mark um Mark mit Freuden hingaben, damit der Führer in der Lage war, gemäß der von ihm geforderten Gleichberechtigung das deutsche Heer der Kriegsmacht der anderen anzugleichen, so geschah das genau aus demselben Grunde, den MacDonald für Großbritannien geltend machte: Damit nicht Deutschland eines Tages unfähig sein sollte, seine Beiträge zur allgemeinen Sicherheit zu leisten. Das Reich war bereit, diese Aufgabe zu erfüllen im Rahmen der Freiheit und der Ehre. Seit der französisch-sowjetrussischen Verbindung war die Notwendigkeit hierzu dringend, geradezu eine europäische Verpflichtung geworden.

[134] Wenn der Führer im Januar 1935 dem Engländer Ward Price erklärte, daß Deutschland von sich aus nie den Frieden brechen werde, aber daß der, der Deutschland angreife, in Disteln und Dornen greife, dann führte er diesen Gedanken auf der Münchener Parteigründungsfeier vom 24. Februar 1935 in einer klaren und entschlossenen Weise weiter aus. "Das muß die Welt wissen", sagte er:

      "Unser Ja bleibt Ja und unser Nein bleibt Nein! Wir sind gewillt zu jeder Zusammenarbeit, soweit sie sich mit der Ehre einer freien und unabhängigen Nation verträgt. Wir sind entschlossen, uns restlos auf eigene Füße zu stellen, wenn die Welt von uns Unwürdiges fordert. Als unehrenhaft empfinden wir jeden Versuch, unser Recht anders zu bemessen als die Rechte anderer Völker. Auch die andere Welt wird umlernen müssen. Sie wird die 14 Jahre deutscher Geschichte vor uns aus ihrem Gedächtnis nehmen und an Stelle dessen einsetzen müssen die Erinnerung an eine 1000jährige Geschichte vordem, und sie wird dann wissen, daß dieses Volk wohl 14 Jahre ehrlos war durch eine ehrlose Führung, aber 1000 Jahre vordem stark und tapfer und ehrlich gewesen ist. Und sie kann überzeugt sein, daß das Deutschland, das heute lebt, identisch ist mit dem ewigen Deutschland. Der schmachvolle Interimszustand ist vorbei! Die Nation ist einig in dem Bestreben nach Frieden und entschlossen in der Verteidigung der deutschen Freiheit. Wir wollen nichts anderes als anständig unter anderen Völkern leben. Wir wollen keines Volkes Freiheit bedrohen. Wir sagen aber jedem, daß, wer dem deutschen Volk die Freiheit nehmen will, dies mit Gewalt tun muß, und daß gegen Gewalt wir uns Mann um Mann zur Wehr setzen werden! Niemals werde ich oder wird eine Regierung nach mir, die aus dem Geist unserer Bewegung stammt, die Unterschrift der Nation setzen unter ein Dokument, das den freiwilligen Verzicht auf die Ehre und Gleichberechtigung Deutschlands bedeutet. Demgegenüber kann die Welt aber auch überzeugt sein, daß, wenn wir etwas unterschreiben, wir es dann auch halten. Was wir glauben, aus Prinzipien der Ehre oder des Vermögens nicht halten zu können, werden wir nie unterzeichnen. Was wir einmal unterzeichnet haben, werden wir blind und treu erfüllen."

[135] Getreu diesen Grundsätzen war der Führer sofort bereit gewesen, die Londoner Anregungen eines Luftpaktes aufzugreifen und weiterzuverfolgen. Am Nachmittage des 13. Februar hatte Neurath bereits dem englischen Botschafter Sir Eric Phipps und dem französischen Botschafter François-Poncet die Meinung der Reichsregierung übermittelt. (Vgl. Anlage 9.)

Die deutsche Antwort, höflich, folgerichtig, klar und bestimmt, erhebt nur eine Frage, die für Deutschland ebenso wie für England brennendste, zum Kernpunkt aller internationalen Verhandlungen: die Befriedung des Luftraumes. Völkerbund und Ostpakt treten völlig in den Hintergrund, wie in London sachlich, in Paris mit Groll festgestellt wurde. Zum erstenmal ist amtlich von den deutschen Luftstreitkräften die Rede, jedoch nicht als Kriegswaffe, sondern als Schreckmittel für Friedensbrecher. Mit Entschlossenheit beharrt der Führer auf der Ablehnung aller unfruchtbaren Massenverhandlungen und Konferenzmethoden, weist er wieder den Weg der Einzelbesprechungen von Mann zu Mann. Der tiefere Sinn der deutschen Haltung beruht aber darin, daß durch die unbedingte Zustimmung zum Luftpakt, der bekanntlich auf englische Initiative zurückging, wieder die durch die Londoner Besprechungen französisch beeinflußten Beziehungen Großbritanniens zu Deutschland richtiggestellt werden sollten. Betonung des Luftpaktes – Ignorierung des Ostpaktes, das ließ erkennen, daß Deutschland einen Ausbau seines Friedenssystems gemeinsam mit England, nicht aber mit Rußland beabsichtigte. Und so war es folgerichtig, daß das Reich die britische Regierung um vertrauensvolle Vermittlung in dieser Sache bat.

Die Franzosen dagegen fühlten sich unter dem starken Drucke Sowjetrußlands unbehaglich. Stürmisch drängten die Sowjets zum Abschluß des Ostpaktes. Jedes Mittel war ihnen recht. Sie versorgten die französische Regierung mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Tatarennachrichten über die deutsche Aufrüstung, wie Archambaud am 12. März im Heeresausschuß der Kammer selbst zugab. Laval mußte am 13. Februar dem Sowjetbotschafter versichern und versprechen, daß die französische Regierung mit dem Reiche keine Sonderverhandlungen aufnehmen werde, solange nicht der Ostpakt ab- [136] geschlossen sei. Mit Argwohn und Unmut verfolgten daher die Franzosen die Bemühungen Englands um den Luftpakt.

  Britische Pläne  

Der bereits um den 8., 9. Februar herum aufgetauchte Gedanke eines englischen Staatsbesuches in Berlin nahm festere Formen in London an. Auch die Franzosen gaben sich den Anschein, als seien sie einverstanden, hätten aber zunächst gern erst einmal eine gemeinsame englisch-französische Antwort auf das deutsche Memorandum zum Londoner Kommuniqué, vielleicht in der Form eines Fragebogens an Hitler, erteilt, aber hierauf gingen die Engländer nicht ein. Jedenfalls versuchten die Franzosen, die ganze Angelegenheit zu verschleppen. Im französischen Ministerrat des 19. Februar meinte Laval, daß mit einer beschleunigten Entwicklung der Verhandlungen nicht zu rechnen sei. Die allgemeine Richtung der französischen Politik war, England zwar freie Hand für die Behandlung der deutschen Antwort zu lassen, aber darauf zu dringen, wie es Rußland wünschte, daß die englisch-französische Erklärung vom 3. Februar ein unteilbares Ganzes bilde. Damit war tatsächlich England gebunden. Um den politischen Druck zu verstärken, stieß die französische Rüstungsindustrie an der Pariser Börse das englische Geld in Massen ab, wodurch ein bedenkliches Absinken der Pfundwährung, fast bis auf Zweidrittel ihres Wertes, herbeigeführt wurde.

In der Tat, am 20. Februar hatte die britische Regierung bereits folgende ganz von Frankreich beeinflußte Meinung: Das Hauptziel der englisch-französischen Vorschläge sei die allgemeine Befriedung Europas, die Erreichung dieses Zieles hänge von der erfolgreichen Behandlung folgender vier Fragen ab:

1. von der Stabilisierung der politischen Lage in Osteuropa – also Ostpakt!

2. von der Sicherung Österreichs – also Donaupakt!

3. von der Stärkung des Völkerbundsgedankens und

4. von der Rückkehr Deutschlands auf den Platz, den einzunehmen es berechtigt sei. Sollten die Verhandlungen hierüber erfolgreich weitergehen, dann müsse das Reich erst seinen Standpunkt zu den Sicherheitsfragen des Londoner Kommuniqués klarlegen, diese Klarstellung sei dann die Voraussetzung für den Abschluß einer Luftkonvention.

Die Sache war in Paris geschickt gemacht: Deutschland legt Wert auf den Luft- [137] pakt? Gut – aber Voraussetzung ist Erfüllung der französisch-russischen Wünsche, zu deren Sprachrohr sich wieder einmal Außenminister Simon machte, hatte doch der französische Handelsminister Marchandeau am 8. Februar diesem bei seinem Besuch in Paris öffentlich bestätigt, daß er den besonderen Dank der französischen Regierung verdiene, weil er unermüdlich für Aufrechterhaltung und Vertiefung des englisch-französischen Einvernehmens arbeite.

Lord Snowden läßt uns einen Blick hinter die Kulissen tun, wenn er in diesen Februartagen in einer Abhandlung "Gerechtigkeit für Deutschland" schrieb:

      "Die französische Politik strebt eine schwer gerüstete englisch-französische militärische Allianz an. Tatsächlich wird in den Reden der französischen Minister bereits angenommen, daß eine solche Verständigung bereits besteht und daß Frankreich im Falle eines Krieges mit Deutschland auf die britische Unterstützung rechnen kann. Wenn diese Politik weiter Erfolg hat, könnte England in einen Krieg verwickelt werden, der mit englischen Interessen gar nichts zu tun hat."

Die englische Öffentlichkeit hatte keinerlei Verständnis für eine solche Haltung der britischen Regierung. Die Times forderten energisch den britischen Besuch in Berlin, man müsse den Eindruck beseitigen, daß hinter dem neuen englisch-französischen Plane (vom 3. Februar) irgendwelche dunklen Absichten zu suchen seien, die in Deutschland den Eindruck fernerer Ausschaltung erwecken könnten. Lord Snowden wies in dem obenerwähnten Artikel auf Deutschlands freundschaftliche Gefühle gegenüber England hin und schloß mit diesen Sätzen:

      "England hält den Schlüssel der Situation in seiner Hand. Es muß seine Politik ändern, es muß Deutschland die Hand zur Freundschaft reichen. England muß den guten Willen zeigen, die Anlässe der Beschwerden Deutschlands zu beseitigen. Wenn England eine sympathische Haltung gegenüber Deutschland bekunden wird, wenn es sich loslöst von jener deutschfeindlichen Politik, die heute die europäischen Angelegenheiten beherrscht, ist der Friede gesichert."

Nachdem Frankreich den Eindruck gewonnen hatte, daß Simon in Berlin die französischen Forderungen hinreichend vertreten werde, stand der Reise des Engländers nichts mehr im [138] Wege. Downingstreet, das jetzt den anderen Gedanken, deutsche Minister nach London einzuladen, fallen ließ, versprach sich viel vom Berliner Staatsbesuch, man erwartete eigene Anregungen und Gegenvorschläge der Reichsregierung zu den einzelnen Punkten. Wenn auch Laval auf den Fragebogen verzichtet hatte, so war es doch gewiß sein Wunsch, wenn man aus England vernahm, das Reich solle zuvor seine Bereitschaft zur Verhandlung über alle Punkte des Londoner Kommuniqués erklären, denn der Luftpakt allein lohne die Reise nicht, da grundsätzlich alle fünf Mächte hierin bereits übereinstimmten.

  Russische Ansichten  

England hatte auch Sowjetrußlands Meinung über das London-Kommuniqué eingefordert. Litwinow ließ am 21. Februar durch Maiski (London) und Potemkin (Paris) den Westmächten mitteilen, daß nach sowjetrussischer Meinung die Sicherheit in Europa nur durch den Abschluß aller im Londoner Kommuniqué erwähnten Abkommen erreicht werden könne; die vorgeschlagenen regionalen Beistandspakte würden, wie Litwinow bemerkt, durch die größten europäischen Mächte Sowjetrußland(!), Frankreich, England und Italien, die 365 Millionen Menschen oder 70% der europäischen Gesamtbevölkerung umfaßten, unterstützt. Auch lud Litwinow Sir John Simon nach Moskau ein, eine Einladung, die wegen des "schlechten Eindrucks", den ihre Befolgung machen könne, in der englischen Öffentlichkeit mit geteilten Gefühlen aufgenommen wurde. Laval jedoch wünschte sehr energisch, daß Simon die beiden "befreundeten" Mächte in Moskau und Warschau besuchen möchte.

Die russische Meinung wurde von Botschafter Maiski in einer Rede vor der englischen Völkerbundsliga vom 20. Februar in aller Kürze dahin formuliert, daß eine Nichtverwirklichung des Ostpaktes den Weg zu einem neuen Weltkrieg bereite und daß ein Luftpakt der Westmächte ohne das Bestehen eines Ostpaktes bedeutungslos wäre. Weiterhin erklärte Litwinow den Westmächten, daß eine Abrüstung gegenwärtig unmöglich sei und daß die Kriegsgefahr nur durch den Ostpakt gebannt werden könne.

Man sieht, sie waren in Paris und Moskau mit allen Kräften bemüht, die neue Gemeinsamkeit der Politik zwischen London [139] und Berlin, deren sinnfälliger Ausdruck der Luftpakt war, durch die Zweckmäßigkeiten der französisch-russischen Politik, deren sinnfälliger Ausdruck der Ostpakt war, zu verdrängen. In dem Gegensatz Luftpakt–Ostpakt konzentrierte sich im Frühjahr 1935 der große Umformungsprozeß der gesamteuropäischen Politik, der durch den Zusammenbruch der Abrüstungskonferenz eingeleitet worden war. –

Die Tage vom 22. bis 26. Februar wurden von deutsch-englischen Besprechungen in Berlin ausgefüllt. Das Ergebnis war die Erklärung Neuraths, das Reich sei einverstanden, daß die in Aussicht genommenen deutsch-englischen Besprechungen sich auf alle im Kommuniqué des 3. Februar angedeuteten Punkte im einzelnen wie in der Gesamtheit erstrecken sollten; Deutschland betonte hierbei seine schon oft bekundete Bereitschaft, mit allen seinen Nachbarn Nichtangriffspakte abzuschließen, lehnte aber nach wie vor gegenseitige Unterstützungspakte ab. Indem das Reich über den Inhalt seines Memorandums vom 13. Februar jetzt hinausging, erfüllte es nicht eine bloße Geste des Entgegenkommens, sondern bewies seinen ernsten guten Willen, im Interesse einer wirklichen Befriedung Europas alle Hindernisse beiseite zu räumen, die sich irgendwo zeigten, denn es kam ihm nicht auf das Einzelschicksal, sondern auf das Schicksal des ganzen an. –

Der ursprüngliche deutsche Plan eines deutschen Staatsbesuches in London wurde nun auch in Berlin beiseite geschoben, und am 26. Februar lud die Reichsregierung den englischen Außenminister in aller Form ein, nach Berlin zu kommen; damit wurde der Wunsch der englischen Öffentlichkeit erfüllt.

In London befriedigten die Berliner Verhandlungen, obwohl Sir Simon die Schwierigkeit kannte, die ihm bevorstand: Deutschland wolle Nichtangriffspakte mit seinen Nachbarn, Sowjetrußland fordere das System gegenseitiger Unterstützung, Englands Aufgabe sei es nun, so meinte man im britischen Kabinett, Vorschläge für einen Plan internationaler Bindungen zu machen, der allgemein angenommen werden könne. Es wurde beschlossen, daß Simon, von Eden und wahrscheinlich auch von Sir Robert Vansittart begleitet, am 6. März in Berlin [140] eintreffen und dort drei Tage bleiben sollte; ob die Engländer dann nach Moskau und Warschau weiterreisen würden, das stand allerdings noch nicht fest. Für diese Ausdehnung der Europareise seines Außenministers hatte das britische Volk wenig Sinn.

Einer französischen Einladung folgend weilte Sir Simon am 27. Februar in Paris, um mit Monsieur Laval zu frühstücken. In Paris hieß es, es sei "kein amtlicher Besuch", in London wurde ausdrücklich erklärt, daß Frankreich keineswegs versucht habe, Simon irgendwelche einengenden Richtlinien für seine Berliner Reise zu geben. Eine starke Strömung in Volk und Regierung Englands, zu der auch der Luftfahrtminister Lord Londonderry, der Freund Ribbentrops, gehörte, mißbilligte entschieden jede Verschleppung des Luftpaktes durch andere Erwägungen, wie z. B. den Nordostpakt.

Es ist wohl nicht anzunehmen, daß Laval und Simon ein gelehrtes Zwiegespräch über die Schlacht von Waterloo gehalten haben. Es muß bemerkt werden, daß Laval am Vortage, am 26. Februar, sich mit dem Sowjetbotschafter Potemkin sehr eingehend über die Aussichten des Ostpaktes unterhalten hat. Der Gegenstand der Gespräche zwischen Laval und Simon muß sich daher auf folgenden Gebieten bewegt haben: Das Londoner Kommuniqué ist ein unteilbares Ganzes; Deutschlands Widerstand gegen den Ostpakt muß gebrochen werden, kommt der Ostpakt nicht zustande, dann schließen Frankreich und Sowjetrußland einen Beistandspakt; der englische Staatsbesuch in Moskau, vielleicht auch in Prag ist unbedingt notwendig. Simon seinerseits hat Laval und Flandin versichert, daß auch seine Regierung an der Unteilbarkeit der Londoner Vorschläge festhalte, ferner, daß er nicht als Unterhändler, sondern nur als Informator nach Berlin fahre, um die Auffassung der Reichsregierung kennen zu lernen. Es war interessant, daß unmittelbar nach der Abreise Simons am 28. Februar Laval sich wiederum zu Potemkin begab und ihm seine Gespräche mit Simon mitteilte: er versicherte, der Ostpakt werde auf keinen Fall vernachlässigt werden; sollten sich Deutschland und Polen weiter sträuben, dann werde man den Ostpakt ohne die beiden schaffen und ihnen ein [141] fertiges Abkommen unterbreiten. In London anderseits wurde nach Simons Rückkehr die Reise nach Moskau und Warschau als "höchstwahrscheinlich" bezeichnet. Die Pariser Zusammenkunft diente also wieder einmal der Gleichrichtung der englischen und französischen Politik!

Daß die Verbindung der britischen Regierung mit den Franzosen sich nicht ganz mit der Auffassung des englischen Volkes deckte, ließ sich wiederum aus verschiedenen Presseäußerungen erkennen. Daily Mail glaubte anfangs März sicher sagen zu können, daß im Mittelpunkt der Berliner Verhandlungen der Luftpakt stehen würde; falls Hitler wünsche, daß Deutschlands Gleichheit in der Luft anerkannt würde, werde Sir Simon wahrscheinlich sofort beistimmen. Garvin schrieb am 3. März im Observer, hinsichtlich der Auf- oder Abrüstung müsse Deutschlands absolute Gleichberechtigung unter den Großmächten als eine moralische Voraussetzung ein für allemal anerkannt werden, und zwar so uneingeschränkt, als habe es nie einen Weltkrieg und nie einen Frieden von Versailles gegeben.

  Entrüstung über Weißbuch  

Am 4. März teilte Sir Eric Phipps dem Außenminister Neurath mit, daß am Abend des 7. März Sir John Simon und Eden in Berlin eintreffen würden. In diesem Augenblick platzte in London eine Mine der französischen Partei, die im britischen Kriegsministerium ihren Stützpunkt hatte. Es war das Weißbuch der Regierung, das die Rüstungsvermehrung Großbritanniens mit dem Hinweis auf die deutsche Gefahr begründet (vgl. Anlage 10), das die "ungesetzliche deutsche Aufrüstung" als Vorwand für die eigene Aufrüstung nahm. MacDonald und Simon billigten diesen unfairen Versuch, das Volk gegen Deutschland umzustimmen. Da wenige Tage später Frankreich dasselbe Manöver machte, ist anzunehmen, daß es sich um einen gemeinsamen Schritt handelte, der ebenfalls in den Besprechungen des 27. Februar festgelegt worden war. Vielleicht erhoffte Laval davon auch die außenpolitische Wirkung, daß eine hierdurch herbeigeführte Verstimmung Deutschlands die Atmosphäre der Berliner Besprechungen trüben, den Engländerbesuch unter Umständen ganz vereiteln könne. Es fiel auf, daß gleichzeitig mit dem Erscheinen des Weißbuches der Kurs des Pfundes stieg, ein Vorgang, der in wirklich zwingender [142] Weise erkennen ließ, daß es sich auch hier um die von Frankreich gewünschte Gleichschaltung der britischen und französischen Politik handelte.

  Unterhausdebatte  

Das Gegenteil des beabsichtigten Zweckes geschah. Beim größten Teile des englischen Volkes erregte das Weißbuch nicht nur Erstaunen, sondern Unwillen. Vertreter aller Parteien hielten es für Unsinn, jetzt, als die englisch-deutschen Verhandlungen bevorstanden, dieses Dokument zu veröffentlichen. Der Pressedienst der englischen Arbeiterpartei bezeichnete es als einen Betrug an der Sache des Friedens. Aus den Kreisen der Liberalen und Arbeiterpartei war der Widerspruch besonders heftig. Lord Snowden bezeichnete das Weißbuch als "das tragischste Dokument seit dem Kriege", der Vorwurf, daß Deutschland für die erhöhten Rüstungen verantwortlich sei, sei fürchterlich, zumal er vor der geplanten Berliner Reise Simons erhoben werde. Lansbury fragte, ob Simon wirklich glaube, daß es für freundschaftliche Verhandlungen förderlich sei, ein so unfreundliches Dokument zu veröffentlichen, er fragte, ob Simon das Weißbuch nicht bis nach Abhaltung der Besprechungen zurückziehen möchte? Die Arbeiterpartei beschloß, am kommenden Montag im Unterhaus einen Tadelsantrag gegen die Regierung einzubringen. Ein Teil der Arbeiterpartei erwartete, daß Henderson nun sein Amt als Präsident der Abrüstungskonferenz niederlegen würde. Er tat es aber nicht, weil er meinte, daß ein solcher Schritt von den Gegnern der Abrüstung als eine Bestätigung ihrer Ansicht angesehen werden würde, daß die Abrüstungsversuche nutzlos und zum Fehlschlag verurteilt seien. Der Führer der liberalen Unterhausgruppe, Sir Herbert Samuel, meldete eine Entschließung gegen das Weißbuch an, die folgendermaßen lautete:

      "Das Unterhaus bedauert tief, daß die Art und Weise, in der die britische Regierung die Verhandlungen mit anderen Ländern geführt hat, nicht zu größerer Sicherheit für die Erhaltung des Friedens, sondern zu der Forderung nach einer erheblichen Mehrausgabe für Rüstungen geführt hat."

Infolge der Saarfeiern des 1. März hatte sich der Führer Adolf Hitler eine starke Erkältung zugezogen, die ihn nötigte, den englischen Außenminister zu bitten, seinen Besuch auf einen [143] späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dieser Umstand schwächte zwar die unmittelbare internationale Wirkung des Weißbuches etwas ab, aber der innere Streit darum in England wurde dadurch nicht beendet. In der Unterhaussitzung des 11. März stießen die beiden Fronten heftig aufeinander. Major Attlee begründete den Tadelsantrag der Arbeiterpartei: Das Weißbuch sei ein ebenso bemerkenswertes wie beklagenswertes Dokument; er sei sich im Augenblick nicht sicher, ob der im Weißbuch enthaltene Hinweis auf die deutsche Wiederaufrüstung und den kriegerischen Geist in Deutschland berechtigt sei oder nicht, aber es sei merkwürdig, daß der Außenminister in Deutschland freundschaftliche Besprechungen führen solle und daß gleichzeitig ein solches Dokument veröffentlicht werde, das notwendig in Deutschland Anstoß erregen müsse; die Arbeiterpartei sei gegen das heutige System in Deutschland, aber es sei nur fair zu sagen, daß es auch andere Länder gebe, die ihre Jugend nach militärischen Grundsätzen erzögen; Abrüstung müsse eine Angelegenheit sein, die alle Länder gleichmäßig angehe. Das Weißbuch kennzeichne einen völligen Wechsel in der Politik, es werfe England in die Vorkriegsatmosphäre, in ein System von Bündnissen und Rivalitäten und in ein Rüstungswettrennen zurück; aber die Arbeiterpartei sei nicht gewillt, die alten Methoden mitzumachen, und er glaube, daß die junge Generation der ganzen Welt diese Politik der alten Männer zurückweisen werde. Der Sprecher der liberalen Opposition, Sir Herbert Samuel, nannte das Weißbuch ein bedauernswertes Dokument, auf das Deutschland viel antworten könne; ein plumperes Stück Diplomatie als das britische Weißbuch sei bisher nicht zu verzeichnen gewesen.

Der Präsident des Staatsrates, Baldwin, erwiderte für die Regierung. Er gab einen Überblick über die Entwicklung der letzten Monate, die gewissermaßen ihren Angelpunkt im Londoner Kommuniqué gefunden habe, wies dann darauf hin, daß der Besuch Simons in Berlin Ende März stattfinden werde, und suchte die Wirkung des Weißbuches abzuschwächen, indem er sich dagegen verwahrte, daß man nur auf Deutschlands Aufrüstung hingewiesen habe, auch in Rußland, Italien, Japan, USA wären die Rüstungen sehr erhöht worden. Baldwin [144] schloß:

      "Wenn das englische Volk die Vorschläge des Weißbuches durchführt, dann wird es nicht nur nicht gegen den Frieden arbeiten, sondern in Zukunft den Frieden sichern. Ein Land, das nicht gewillt ist, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, wird niemals Macht in dieser Welt haben, weder moralische, noch materielle Macht."

Der Konservative Sir Austen Chamberlain sagte: Das kollektive System müsse unter allen Umständen gefördert werden, aber niemand dürfe glauben, daß durch eine Vielheit von Pakten ein Krieg verhindert werden könne, wenn irgend eine Nation gute Aussichten auf Erfolg dabei sehe; es gebe nur ein Mittel, einen solchen Krieg zu verhindern, nämlich dem mutmaßlichen Angreifer klar zu machen, er werde einer Streitmacht gegenüberstehen, die so überwältigend sei, daß sie von vornherein jede Aussicht auf einen Sieg nehme. Der konservative Abgeordnete Brigadegeneral Spears ergänzte hierzu: Deutschland stelle im Monat 300 Feldgeschütze her, diese Zahl sei neuerdings auf 500 gestiegen, während die führende englische Rüstungsindustrie das ganze Jahr nur 400 Feldgeschütze herstellen könne; angesichts der Schnelligkeit, mit der Deutschland wieder aufrüste, herrsche in ganz Europa größte Beunruhigung.

Der Außenminister Sir John Simon beschloß die Aussprache. Er stellte den Völkerbund in den Mittelpunkt der britischen Politik; über das augenblickliche Problem äußerte er sich so:

      "Wir waren alle froh, festzustellen, daß die deutsche Regierung ihren willigen und freundschaftlichen Geist begrüßte. Nichts, was hier gesagt worden ist, und ich hoffe nichts, was anderswo gesagt worden ist, hat diese Lage in geringstem Maße eingeschränkt. In diesem Geiste bereiten Eden und ich uns vor, unsere Reise nach fremden Hauptstädten zu unternehmen, und solange vorausgesetzt wird, daß diese Reisen in diesem Geiste unternommen werden, wird eine freimütige und offenherzige Darlegung der Besorgnisse, die wir für die Zukunft empfinden, keinen Schaden anrichten. Wir streben danach, im Geiste des Realismus die politische Grundlage zu erzielen, auf der derartige Besorgnisse behoben werden können und auf der die [145] europäische Sicherheit gestärkt werden kann – darunter ein Ostpakt oder irgend ein Gegenstück davon – und auf der unsere Hoffnungen auf eine allgemeine Beschränkung der Rüstungen gerechtfertigt werden können. Wir trachten danach, dies in gleichberechtigter Verhandlung mit allen in Betracht kommenden Staaten zu tun."

Es gelang der Regierung, die Opposition schachmatt zu setzen. Mit 244 gegen 79 Stimmen lehnte das Unterhaus kurz vor Mitternacht den Mißtrauensantrag der Arbeiterpartei ab. MacDonald, der infolge Krankheit an der Parlamentssitzung nicht hatte teilnehmen können, mochte empfunden haben, daß es ein Pyrrhussieg der Regierung war. Es zog eine neue Zeit herauf, für die seine politischen Methoden, die im Schatten von Versailles herangereift waren, nicht mehr paßten. Er war abgespannt und amtsmüde, er sehnte sich nach Ruhe; er dachte, das Amt des Premierministers, das er innehatte, an Baldwin abzutreten und dessen Funktion als Präsident des Geheimen Staatsrats zu übernehmen. Der Sturm um das Weißbuch hatte ihm hart zugesetzt. Am 13. März sah er sich genötigt, "angesichts der falschen Auslegung des Weißbuches" auf folgende drei Punkte nochmals ausdrücklich hinzuweisen:

1. Die britische Regierung hegt nicht den geringsten Zweifel, daß der Einfluß Englands zugunsten des Friedens riesig geschwächt werden würde, wenn England bei der augenblicklichen Weltlage versuchen würde, eine Politik einseitiger Abrüstung bis zu einem Punkte zu verfolgen, wo England als verhältnismäßig wehrlos und unfähig angesehen werden würde, seine Beiträge zur kollektiven Sicherheit zu leisten.

2. Die tatsächliche Erhöhung der Voranschläge beschränkt sich auf die Vergrößerung der britischen Luftstreitkräfte, die im Juli und November letzten Jahres dem Parlament mitgeteilt worden sind.

3. In der Haltung der Regierung gegenüber dem Völkerbund ist keine Änderung eingetreten.

MacDonald hatte als ehrlicher Pazifist seit vielen Jahren bis zu diesem Tage seine Haut für Frankreichs Interesse zu Markte getragen. Die durch Hitlers Auftreten begründete neue Ära in Europa ließ ihn die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen erkennen, tiefe Enttäuschung erfüllte ihn. Der Erfolg des [146] Weißbuches zeigte ihm, wie tief in England die Meinung des Volkes und sein Wille bereits revolutioniert worden war, seitdem die Politik des Reiches in den festen Händen des Führers ruhte. Auch das Volk Großbritanniens wurde sehend. Der Glaube an die Solidarität der europäischen Kulturvölker auf der zuverlässigen Grundlage der nationalen Ehre setzte sich auch im englischen Volke immer kräftiger durch.

  Haltung des Reiches  

4.

Das Londoner Kommuniqué lud Deutschland zur Teilnahme am Luftpakt ein. Damit war das Reich von den Westmächten als gleichberechtigte Luftmacht anerkannt worden. In der deutschen Antwort von Mitte Februar ist zum ersten Male von den Deutschen Luftstreitkräften die Rede. Am 9. März teilte der Führer den auswärtigen Mächten mit, daß die Reichsregierung die neue deutsche Luftwaffe aufbaue.

Joachim von Ribbentrop.
[Bd. 9 S. 48b]
Joachim von Ribbentrop.
Photo Scherl.
Der Freund Lord Rothermeres, Ward Price, hatte am folgenden Tage eine Unterredung mit Joachim von Ribbentrop, dem Beauftragten des Führers für Abrüstungsfragen, der Ende 1934 in London die deutsch-englische Verständigung vorbereitet hatte. Ribbentrop erklärte dem Engländer, niemand in Deutschland verstehe den Teil des Weißbuches, der sich mit Deutschland beschäftige, erst recht verstehe niemand den Termin der Veröffentlichung am Vorabend des britischen Besuches in Berlin; nicht Entrüstung, vielmehr bittere Enttäuschung habe das Weißbuch hervorgerufen. In seinem aufrichtigen Wunsche nach Versöhnung mit Frankreich und nach Frieden habe Deutschland Großbritannien als Garantiemacht des Locarnopaktes um seine Vermittlung gebeten; auch den Engländern könne nicht entgangen sein, wie herzlich dieser neue Kurs in Deutschland begrüßt worden sei; auf diese hoffnungsfrohe Stimmung habe dies Weißbuch abkühlend gewirkt wie ein Wintersturm auf den Vorfrühling. Vor allem, so sagte Ribbentrop, zweierlei habe man in Deutschland nicht verstanden. [147] Erstens, daß das Weißbuch versuche, Deutschland in den Augen des englischen Volkes für die britische Aufrüstung verantwortlich zu machen. Deutschland habe doch den Beweis seines Abrüstungswillens erbracht, seine gesamte Flotte zerstört oder ausgeliefert, 56 000 Geschütze vernichtet, desgleichen 9 Millionen Gewehre, 275 000 Maschinengewehre, 39 Millionen Granaten zerstört und sämtliche Flugzeuge vernichtet. Dieses abgerüstete Deutschland habe Jahr für Jahr auf die Einlösung des Abrüstungsversprechens der anderen Staaten gewartet, der Führer sei so weit gegangen, zu erklären, daß Deutschland bereit sei, auch das letzte MG abzuschaffen, wenn die anderen Nationen dasselbe täten! Erst als alles vergeblich geblieben sei, habe der Führer die notwendigen Maßnahmen zur Wiederherstellung der notwendigen Verteidigungsmacht des Reiches ergriffen. Zweitens aber empfinde man in Deutschland es als ganz unmögliches Verfahren, zwischen Wille und Absicht des Führers und der Tendenz der öffentlichen Meinung und insbesondere der Jugend einen Zwiespalt herstellen zu wollen. Entweder man glaubt dem Führer, oder man glaubt ihm nicht!

Ward Price warf hier ein, ob der alte militaristisch-aggressive Geist, den die Welt früher der Junkerkaste zuschob, nicht in der deutschen Reichswehr noch vorhanden sei. Damit zog der Engländer wieder einen internationalen Ladenhüter aus der Zeit der freimaurerischen Lügenpolitik ans Tageslicht. Wir anständigen Deutschen wissen, daß es niemals im deutschen Heere einen militaristisch-aggressiven Geist oder eine Junkerkaste gegeben hat, genau so wenig, wie man im Namen der historischen Wahrheit von einem preußischen Imperialismus sprechen darf.

Ribbentrop erwiderte dem Engländer, es gebe heute in Deutschland keine Kaste mehr, die Deutschen seien ein Volksstaat, und die Armee sei ein ausgezeichnetes Instrument für die Landesverteidigung und bestehe aus einer hervorragenden Gemeinschaft von Offizieren und Soldaten, sie kennen keinen aggressiven Imperialismus:

      "Eine starke Armee ist der natürliche Bestandteil jeder großen Nation und hat gar nichts mit kriegerischen Absichten zu tun. England glaubt z. B. zur Verteidigung seines Reiches eine sehr starke Flotte zu benötigen. [148] Wir Deutschen haben dafür volles Verständnis und niemandem von uns fällt es ein, England deshalb kriegerische Intentionen zu unterschieben."

Schließlich äußerte der Engländer seine Meinung, daß ihm die deutsche Reaktion auf das britische Weißbuch etwas zu übertrieben erscheine. Darauf entgegnete Ribbentrop:

      "Es ist möglich, daß wir vielleicht etwas sensitiv sind, allein dies ist nur die natürliche Folge unseres 15jährigen Kampfes der Selbstbehauptung gegen den Geist der Vernichtung von Versailles. Kürzlich schienen die Ereignisse zu beweisen, daß dieser Geist von Versailles ausgelöscht sei. Aber nein, plötzlich erscheint er wieder und sein Sprecher ist – Großbritannien. Das heutige Deutschland und besonders der Führer wünschen aus tiefinnerster Aufrichtigkeit gute Beziehungen zu Großbritannien, kann man da von zu großer Empfindlichkeit sprechen, wenn man Äußerungen aus dem Lande eines mit Freude erwarteten und geschätzten Gastes zwei Tage vor dem Besuch ernst nimmt?"

Ribbentrops Ausführungen schlossen mit dem Hinweis, daß hinter dem Führer und Kanzler die gesamte Nation einmütig und geschlossen stehe. Er sei der Garant der Beständigkeit in der inneren und äußeren Politik. Nur ein völlig gleichberechtigter und freier Staat könne ein wirklicher Partner in vertrauensvollen Beratungen sein und zu freien Vereinbarungen mit anderen souveränen Staaten gelangen.

Unmittelbar nach der Unterredung mit Ribbentrop begab sich Ward Price zum General der Flieger, Göring. Dieser erklärte ihm folgendes:

      "Im Ausbau unserer nationalen Sicherheit mußte, wie wir mehrfach der Welt erklärt haben, auch für die Sicherheit in der Luft Sorge getragen werden. Ich habe mich hierbei auf das notwendigste Maß beschränkt. Die Richtlinie meines Handelns war nicht Schaffung einer die anderen Völker bedrohenden Angriffswaffe, sondern nur die Errichtung einer militärischen Luftfahrt, stark genug, Angriffe auf Deutschland jederzeit abzuwehren. Durch die englische Regierung ist Deutschland u. a. aufgefordert worden, einem Luftpakt beizutreten, einem Pakt, der zum Inhalt hat, gemeinsam gegen einen den Frieden [149] störenden Angreifer zur Luft vorzugehen. Nachdem die deutsche Regierung die Bereitwilligkeit der Hilfe ausgesprochen hatte, war es notwendig, nun eine klare Trennung innerhalb der deutschen Luftfahrt durchzuführen, nämlich in der Richtung: Welches sind die Luftstreitkräfte, die zur Verfügung gestellt werden können? Aus dieser Lage heraus wurde die Bestimmung getroffen, wer innerhalb der deutschen Fliegerei künftig zu den Luftstreitkräften gehört und wer in Zukunft bei der zivilen Luftfahrt, bzw. dem Luftsport zu verbleiben hat. Es war notwendig, auch äußerlich diese Abgrenzung kenntlich zu machen dadurch, daß die Angehörigen der deutschen Luftstreitkräfte Soldaten im Sinne des Gesetzes wurden, ihre Führer also Offiziere. Es handelt sich aber hierbei nur um einen Teil der bisher in der allgemeinen deutschen Luftfahrt tätigen Personen. Der Unterschied zwischen unseren Luftstreitkräften und der zivilen Luftfahrt geht deshalb in Zukunft klar und deutlich aus der Verschiedenheit der Rangabzeichen sowie aus der Dienstgradbezeichnung hervor. Ich fasse zusammen: Unsere Bereitwilligkeit zum effektiven Schutze des Weltfriedens, unsere Zusage, dem Bedrängten zu Hilfe zu eilen, machte die Heraushebung der militärischen Luftfahrt notwendig, wenn unsere Zusage nicht leere Phrase bleiben sollte."

Göring traf ferner die Feststellung, daß die Luftwaffe ein integrierender Bestandteil jeder Sicherheit sein müsse und ohne Luftwaffe auch Armee und Marine, mögen sie noch so stark sein, ohne Nutzen seien. –

Diese beiden deutschen Staatsmänner haben in ihren Ausführungen sozusagen den geistigen Extrakt der politischen Entwicklung des Winters 1934/31 (Anfang November 1934 bis Anfang März 1935) gegeben. Die drei Männer, in deren Hände der Führer in jenen 130 Tagen das Schicksal Deutschlands gelegt hatte, waren Ribbentrop, Göring und Blomberg, der Reichswehrminister. Ribbentrop insbesondere hatte die Aufgabe, die internationale Politik geistig vorzubereiten auf die Entschlossenheit des Reiches, sich nicht länger in der Gewährung seiner Gleichberechtigung vertrösten zu lassen. Ribbentrop ging nach London, um die britische Regierung von der gerechten deutschen Forderung zu überzeugen. [150] Zahlreiche Engländer des öffentlichen Lebens kamen nach Berlin, um sich von dem ehrlichen Friedenswillen des Führers zu überzeugen. Diese vorurteilslosen Männer führten einen Propagandafeldzug zugunsten des Reiches im englischen Volke durch, der die Friedensliebe Hitlers und darum seine gerechte Forderung nach militärischer Gleichberechtigung ins helle Licht rückte. Männer des Parlaments und der Presse unterstützten wirksam die diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen London und Berlin. Der Schwerpunkt dieser Tätigkeit lag in den Monaten November, Dezember und Januar, sie vollzog sich vor dem Hintergrunde der Saarabstimmung, welche die weltgeschichtliche Größe und Würde des Reiches offenbarte.

Der zweite Abschnitt dieser Entwicklung umfaßt die Zeit von Anfang Februar bis Anfang März, von der Londoner Konferenz bis zum Weißbuch. Dieser Zeitabschnitt stand unverkennbar im Zeichen wieder vordrängenden französischen, durch Rußland verstärkten Einflusses. Jedoch der Führer ließ die vorher errungenen Positionen nicht wieder fahren, der bei den Systemregierungen übliche Umfall blieb aus. Den Systemleuten fehlte das politische Genie, dessen erste Voraussetzungen der feste und unerschütterliche Wille der Führer und die gesammelte Kraft des Volkes, beide auf ein großes Ziel gerichtet, sind. Nur der mit hellem Auge besitzt die Kunst, den Stand der Sonne zu kennen, wenn Wolken sie verhüllen. So konnte der Führer Adolf Hitler, als französische Wolken vor die Sonne der deutsch-britischen Verständigung traten, doch sofort das aus dem ihm Gebotenen herausgreifen, was seinem Ziele am nächsten kam. Den Nordostpakt, diese einseitig russisch-französische Angelegenheit, konnte er vor seiner Nation nicht verantworten, wohl aber erkannte er den Wert des Luftpaktes! Das den Vorschlag des Luftpaktes enthaltende Londoner Kommuniqué vom 3. Februar 1935, das ihm in aller Form mitgeteilt wurde, war ein vollgültiges völkerrechtliches Dokument. Die Einbeziehung Deutschlands hatte lediglich Sinn unter der Voraussetzung der Anerkennung Deutschlands als Luftmacht. Die Überreichung des Kommuniqués erkannte das Reich also automatisch als Luftmacht an, und damit hatten England und Frankreich de facto jene Versailler Bestimmungen, welche dem Reiche die [151] Luftwaffe verboten, außer Kraft gesetzt! Auf Grund dieser Tatsache begann General Göring unverzüglich den für Deutschland notwendigen Auf- und Ausbau der Luftwaffe. Ohne daß dem von der Gegenseite widersprochen wurde, sprach die Reichsregierung in ihrer Antwort vom 13. Februar von den deutschen Luftstreitkräften. Damit war also grundsätzlich das Versailler Diktat in seinen das Verbot der Luftwaffe für Deutschland betreffenden Artikeln durchbrochen.*

Die Zunahme des französischen und russischen Einflusses in London strebte dem Gipfelpunkte zu, den das englische Weißbuch bildet. Dieses Weißbuch ist ein Abirren Englands von der seit November 1934 eingeschlagenen geraden Linie gewesen. Die britische Regierung war wieder in den Versailler Bannkreis geraten und hatte sich so in einem circulus vitiosus verfangen. Dies fühlte ein großer Teil des englischen Volkes selbst, und darum sparte dieser Teil nicht mit Vorwürfen gegen die Regierung. Am bittersten jedoch fühlten sich in Deutschland die Männer enttäuscht, die seit Wochen in London auf das Zusammengehen Deutschlands und Englands auf geradem Wege hingearbeitet hatten.

Es war der Sinn der Worte Ribbentrops, diese deutsche Enttäuschung zu begründen. Aber die deutsche Regierung dachte nicht daran, sich von Großbritannien verleiten zu lassen, nun auch den krummen Pfad der Schwäche gegenüber Frankreich und Rußland mitzuwandeln. Ganz im Gegenteil! Mochte England augenblicklich, rückwärts blickend, vorübergehend vom graden Wege abweichen, das Reich war entschlossen, den geraden Weg, der seit November über das Londoner Kommuniqué hinüber in eine neue politische Zukunft führen sollte, unbeirrt weiterzugehen. Gerade in diesen ersten Märztagen, etwa vom 4. bis zum 15. März, hing das Schicksal Europas an einem Faden. Die großen Mächte standen am Scheidewege: auf Deutschlands Festigkeit kam es an, welchen Weg Europa gehen würde. Ein kurzes Schwanken des Führers hätte für unseren gesamten Erdteil die beginnende Vorherrschaft Sowjetrußlands, der Weltrevolution, bedeutet. Der Richtpunkt des Reiches auf dem [152] Wege der festen Entschlüsse war die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März. Doch bevor wir sie näher betrachten, müssen wir die internationale Lage der zehn vorhergehenden Tage verfolgen.

Verschiebung
  des englischen Besuches  

5.

Die Erkältung des Führers hatte diesen, wie wir sahen, veranlaßt, den englischen Außenminister Simon zu bitten, seinen Besuch in Berlin zu verschieben. Gleichzeitig erschien das englische Weißbuch, das den ersten Eindruck erweckte, als sollte der Draht zwischen London und Berlin wieder abreißen. Einige Tage der Spannung folgten: was wird Hitler tun? fragte man sich. Am 10. März jedoch empfing der deutsche Außenminister Freiherr von Neurath den englischen Botschafter Sir Phipps und teilte ihm mit, daß der Führer vierzehn Tage in Bayern zur Erholung verweilen wolle. Nach seiner Rückkehr, Ende März, stehe dem englischen Besuche nichts mehr im Wege. In England wirkte die Begegnung zwischen Neurath und Phipps wie eine Erlösung, die Presse sprach von einer merklichen Verbesserung der internationalen Atmosphäre. Garvin schrieb im Observer, vom Berliner Besuch des englischen Außenministers hänge mehr denn je zuvor ab; man müsse wünschen, daß die Besprechungen im "ursprünglich beabsichtigten Geiste" durchgeführt würden, obwohl man zugeben müsse, daß der Angriff des englischen Weißbuches gegen Deutschland unklug gewesen sei. Es war ein Zeichen von der Stabilität der öffentlichen Meinung Großbritanniens, daß gerade jetzt entschiedener denn zuvor die Verständigung mit Deutschland gefordert wurde. "Verbrennt das englische Weißbuch!" forderte Sunday Dispatch, und Colin Brooks meinte, England solle die ganze Versailler Politik fallen lassen und reinen Tisch in Europa machen. Simon sollte den Führer nach Deutschlands Beschwerden und nationalen Notwendigkeiten befragen, ja Brooks ging so weit anzuregen, daß Simon die Rückgabe der von Deutschland abgetrennten Gebiete vorschlagen solle!

[153] Sir Phipps teilte dem Reichsaußenminister als neuen Termin für Simons Besuch den 25. und 26. März mit, und Neurath erklärte, daß dem Führer diese Tage genehm seien.

Das Reich hatte fair gehandelt. Dadurch wurde das Schiff der britischen Politik, das durch die Ereignisse der letzten Wochen auf dem französischen Sande ziemlich fest saß, wieder flott. Auch Sir John Simon wußte, daß es dem Führer zu danken war, wenn Großbritannien sein Ziel weiter verfolgen konnte. Am Abend des 15. März hielt er in Swansea eine große Rede, in der er den Frieden als "das größte der britischen Interessen" bezeichnete; deshalb sei Großbritannien treuer Anhänger des Völkerbundes, der allerdings in drei Punkten die Hoffnungen nicht erfüllt habe: er sei nicht umfassend, seine Leistungen hätten enttäuscht, in der Abrüstungsfrage habe er versagt. Es bestehe kein Zweifel, daß nach Deutschlands erzwungener Abrüstung vereinbarte Rüstungsherabsetzungen in anderen großen Staaten beabsichtigt waren. Statt dessen hätten gewisse Staaten, z. B. Japan, USA, Sowjetrußland, Deutschland – Frankreich nannte er nicht – aufgerüstet. Es sei ein Punkt erreicht, wo einseitige Abrüstung nicht weitergeführt werden könne. Er täusche sich nicht in den Schwierigkeiten seiner Besuche auf dem Kontinent, aber auch der kleinste Erfolg werde neue Möglichkeiten für die Abrüstung erschließen, und diese würde den Völkerbund und das kollektive Friedenssystem stärken; jedenfalls seien die drei bevorstehenden Besuche (– Berlin, Moskau, Warschau  –) ausnahmslos wichtig und die britische Regierung begrüße aufrichtig die Gelegenheit, die so in drei großen Hauptstädten Europas geboten werde, um das internationale Einvernehmen zu fördern; das sei die Hauptsorge der Regierung.

6.

Diejenigen, die aus dem Vorfall des Weißbuches und der Verschiebung des Berliner Besuches neue Hoffnung schöpften, [154] waren die Anhänger des Ostpaktes, Frankreich und vornehmlich Rußland. Mit Gift und Galle hatte die Iswestija die Vorbereitungen Simons für seine Reise nach Berlin verfolgt und sie geradezu eine Unanständigkeit gegenüber Frankreich genannt. England dürfe nicht vergessen, daß es Frankreich gegenüber Verpflichtungen hinsichtlich des Ostpaktes übernommen habe; Simons Taktik aber, Deutschlands Wünsche von den Augen abzulesen, vergrößere nur die Spannung in Osteuropa; Englands Haltung könne schlechte Folgen haben. (Anfang März.)

Als dann der Plan plötzlich geändert wurde und man in Moskau sah, daß sich die britische Regierung in ihren Entschlüssen von niemandem beeinflussen ließ, wurden die Russen in London geschäftig. Der bolschewistische Botschafter Maiski gab am 9. März Sir Robert Vansittart zu verstehen, daß die Regierung in Moskau es begrüßen würde, wenn Eden so bald wie möglich, vielleicht schon am 13. oder 14. März (Sunday Times), nach Moskau kommen würde. Dafür allerdings zeigte die englische Regierung wenig Neigung. Ein Besuch Moskaus vor der Berliner Reise hätte in Deutschland als Brüskierung aufgefaßt werden können; dieser neuen Gefahr wollte sich die englische Regierung nach der Geschichte mit dem Weißbuch nicht aussetzen.

Für die Russen hing von Englands Verhalten sehr viel ab. Die baltischen Staaten, Estland, Lettland, Litauen, trafen keine Anstalten, dem Ostpakt irgendwie näherzukommen, da sie das nicht unrichtige Empfinden hatten, daß sie durch diesen Pakt in die Einflußsphäre der Sowjetunion gedrängt würden. Polen und Deutschland lehnten den Ostpakt überhaupt ab. Würde Eden nun nach Moskau kommen, so könnte dieser Besuch zu einer gewaltigen moralischen Unterstützung der Ostpaktidee werden, um so mehr, wenn er vor dem Berliner Besuch stattfinden würde.

Ein von einer zentralen, gewiß in der französischen Regierung sitzenden Stelle aus geleiteter großangelegter und einmütiger Feldzug der französischen Presse unterstützte die russischen Bemühungen. Hier wurde besonders aus den Äußerungen Görings zu Ward Price ein Verstoß Deutschlands gegen den [155] Versailler Vertrag und ein Widerspruch zum Londoner Kommuniqué vom 3. Februar 1935 konstruiert. Die Franzosen suchten damit zu beweisen, daß das Verhalten Deutschlands den Ostpakt jetzt erst recht herausfordern und daß Eden sich unverzüglich nach Moskau begeben müsse. Jedoch die französischen Überredungskünste waren ebenso erfolglos wie die russischen Anbiederungsversuche; das englische Kabinett beschloß, daß Simon und Eden am 25. und 26. März in Berlin verweilen sollten, daß Simon von Berlin nach London zurückkehren, Eden aber nach Moskau weiterreisen sollte, wo er vom 28. März bis 1. April mit Stalin verhandeln solle; auf seiner Rückreise sollte Eden in Warschau einen Besuch abstatten. –

7.

Die Nachrichten-Agentur Havas brachte am 14. März eine Nachricht aus London, die folgendes enthielt: Man habe guten Grund zu der Annahme, daß Sir John Simon und Eden beauftragt würden, dem Reichskanzler persönlich zur Kenntnis zu bringen, daß das Londoner Kabinett das Sicherheitssystem im Westen wie im Osten Deutschlands als voneinander unlösbar betrachte; jede Anregung, die Sicherheit in Osteuropa unabhängig von Frankreich zu organisieren, würde daher in London als nicht den Erfordernissen der Lage entsprechend angesehen; die Sicherheit sei im übrigen nur durch gegenseitigen Beistand zu erreichen. Wenn diese Ansicht in Berlin gebilligt würde, würden die englischen Besucher alle Freiheit haben, um mit den deutschen Unterhändlern über eine Anerkennung der deutschen Aufrüstung zu verhandeln, die der Genugtuung entsprechen würde, die sie auf dem Gebiete der Sicherheit erreichen werden. Diese Anerkennung dürfe jedoch nicht so weit gehen, Deutschland die gleichen Streitkräfte wie Sowjetrußland zuzugestehen. Im übrigen bedaure man in gutunterrichteten Londoner Kreisen, daß Deutschland vor dem Besuch der englischen Minister [156] in Berlin zur Militarisierung der Zivilflieger schreite, die eine sehr deutliche Verletzung des Teiles V des Versailler Vertrages darstelle. In London glaube man, daß einer Verhandlung zur Schaffung eines neuen vertraglichen Sicherheitssystems nicht eine Maßnahme hätte vorausgehen dürfen, die einer einseitigen Kündigung des früheren diplomatischen Werkzeuges gleichkäme. Man wisse noch nicht, ob deswegen ein diplomatischer Protest erfolgen werde oder ob Sir John Simon die Angelegenheit selbst in Berlin behandeln werde. Jedenfalls sei aber sicher, daß sie nicht mit Stillschweigen übergangen werde.

Dieser Havasbericht aus der Mitte der französischen Partei in London, als deren Basis, wie gesagt, gewisse militärische Kreise betrachtet werden müssen, sollte dazu dienen, die von der französischen Regierung geplante Einführung der zweijährigen Dienstzeit als internationale Notwendigkeit zu begründen.

  Verlängerung der Dienstzeit  
in Frankreich

Bereits im Herbst trug sich die Regierung mit dem Gedanken der Dienstzeitverlängerung. Doch verhinderte damals der Regierungswechsel seine parlamentarische Behandlung. Flandin hoffte vielleicht, daß ihm irgendwelche Umstände zu Hilfe kommen würden, den Widerstand der Opposition gegen das Regierungsvorhaben zu vermindern. So kam es, daß er die Erörterung der Dienstzeitverlängerung, die bereits im April 1935 in Kraft treten sollte, gewissermaßen bis auf den letzten Augenblick, bis auf den März 1935 verschob. Es zeigte sich aber, daß die inneren Spannungen unvermindert weiterbestanden.

Marschall Pétain, der am 1. März in der Revue des Deux Mondes einen öffentlichen Vorstoß für die zweijährige Dienstzeit gemacht hatte, äußerte am 8. März einem Vertreter des Matin gegenüber:

      "Die Verlängerung der Militärdienstzeit ist unbedingt erforderlich und dringend, denn es handelt sich nicht um eine theoretische, sondern um eine praktische Frage. In Anbetracht der intensiven Wiederaufrüstung Deutschlands und der Gefahr eines überraschenden Angriffs, wie sollen wir die Nichtverletzung unserer Grenzen sichern? Das benachbarte Heer besteht aus 600 000 Mann, die sofort verfügbar sind."

Bei der Eröffnung der Messe von Lyon am 10. März hielt [157] Ministerpräsident Flandin eine Rede, worin er erklärte, die Aufrüstung Deutschlands, die die Unterzeichner des Versailler Vertrages machtlos gewesen seien zu verhindern, habe für Frankreich den Eintritt in die rekrutenmageren Jahre (1936 bis 1940) viel gefährlicher gestaltet; von Deutschlands gutem Willen werde es abhängen, ob der große europäische Friede auf einer unbestreitbaren Grundlage der Gleichberechtigung verwirklicht werde; inzwischen halte Frankreich seine Landesverteidigung aufrecht. Unter Hinweis auf die Bedrohung des europäischen Friedens durch Deutschlands "Aufrüstung" beschäftigte sich seit Anfang März der französische Ministerrat energisch mit der Heraufsetzung der militärischen Dienstzeit. Nach den Angaben des Französischen Generalstabs sollte die Zahl der jährlich Einberufenen, die bis jetzt 230 000 betragen habe, in den Jahren 1936–1940 auf einen jährlichen Durchschnitt von 118 000 absinken infolge der durch die Kriegsjahre bedingten Geburtenausfälle. Zwei Maßnahmen sollten ausgleichend wirken: die Herabsetzung des dienstpflichtigen Alters von 21 auf 20 Jahre und die Verlängerung der Dienstzeit in der Weise, daß die im April 1935 Eingezogenen 18 Monate, dagegen die vom Oktober 1935 an Eingezogenen zwei Jahre dienen sollten. Flandin vertrat im Ministerrat am 12. März die Dienstzeitverlängerung; er wies darauf hin, daß es sich in keiner Weise um die Erhöhung der unter den Fahnen stehenden Effektivstärken handele, sondern nur darum, die Verringerung des Kontingents durch eine vorübergehende (bis 1940 währende) Verlängerung der Dienstzeit auszugleichen. Es scheint, daß im Ministerrat infolge des radikalsozialistischen Widerspruchs keine Übereinstimmung über diese Frage erzielt wurde. In der Öffentlichkeit nahmen die Marxisten aller Richtungen scharf Stellung gegen die Absicht Flandins. Auch die Sitzung des Heeresausschusses der französischen Kammer, der am 13. März diese Frage behandelte, verlief sehr stürmisch. Da die Aussicht, die Dienstzeitverlängerung auf dem üblichen parlamentarischen Wege durchzuführen, sehr gering war, beschloß Flandin, sie auf Grund Artikels 40 des Rekrutierungsgesetzes zu verordnen; später wollte die Regierung dann ein entsprechendes Gesetz vorlegen. Flandin [158] hoffte, bis Ende des Sommers einen Überblick über die internationale Lage im allgemeinen und über die Entwicklung der Paktverhandlungen sowie über die Aussichten einer Wiederaufnahme der Arbeiten der Abrüstungskonferenz im besonderen zu gewinnen. Dann sollten Kammer und Senat unter Berücksichtigung dieser Entwicklung über den Antrag der Regierung auf gesetzmäßige Verlängerung der Dienstzeit auf zwei Jahre befinden. Jetzt sollte vorerst eine parlamentarische Aussprache vermieden werden.

Am 15. März gab Flandin vor der Kammer eine Erklärung zu seinem Vorhaben ab. In seiner Begründung sagte er unter anderem:

      "Als nach dem Abgange Deutschlands von Genf die Aufrüstung dieser großen benachbarten Macht in verschiedener Form und im weiten Ausmaß trotz der Bestimmungen des Teiles V des Vertrages von Versailles fortgesetzt wurde, in dem Augenblick, wo die Effektiven in der deutschen Armee erheblich erhöht sind durch einseitigen Beschluß, dem die französische Regierung ihre Zustimmung ebensowenig gibt wie die englische, kann Frankreich es ohne Gefahr für die Landesverteidigung nicht zulassen, daß die Effektiven seiner Armee geringer werden, als durch das Gesetz vom 31. März 1928 vorgesehen war, also zu einer Zeit, als die deutsche Aufrüstung offiziell in den von dem Friedensvertrag bestimmten Grenzen geblieben war. Den kasernierten und sofort verfügbaren 480 000 Mann in Deutschland, zu denen zahlreiche vormilitärische oder militärähnliche Abteilungen hinzutreten, die vom Effektivkomité in Genf als unvereinbar mit einer gerechten Beschränkung der Rüstungen erklärt worden sind, können wir zu Beginn des Jahres 1935 nur 278 000 Mann entgegenstellen, die jederzeit auf dem Boden des Mutterlandes verfügbar sind. Nach den allen bekannten Plänen wird Deutschland 1936 über wenigstens 600 000 Mann verfügen, und wir werden gleichzeitig infolge des Beginnes des rekrutenarmen Zeitabschnittes und unter der Voraussetzung, daß unsere Hoffnungen auf die Einstellung von Kapitulanten z. T. in Erfüllung gehen, und unter Berücksichtigung der durch die Ausgleichsmaßnahmen erzielten jährlichen Erhöhung auf 208 000 Mann sinken. Ein derartiger Unterschied ist unzulässig, selbst wenn man zu diesen 208 000 Mann die 72 000 der im Mutter- [159] lande stehenden, aber als Reserve für unsere Überseestreitkräfte zum Schutze und zur Verteidigung unseres großen Reiches bestimmten mobilen Streitkräfte zählt.
      Frankreich bleibt der Politik der Festigung des Friedens und der Organisierung der internationalen Sicherheit treu und will seine friedfertigen Absichten in keiner Weise einem Zweifel aussetzen. Die Regierung stellt aber, ebenso wie es die englische Regierung in ihrem kürzlich veröffentlichten amtlichen Schriftstück getan hat, fest, daß noch ein weiter Weg zurückzulegen ist, bis man eine absolute Sicherheit findet, ohne hinter sich die Mittel haben zu müssen, um sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Sie wird den Umstand nicht aus dem Auge verlieren, daß noch entsprechende Verteidigungsmittel nötig sind, um die Sicherheit zu gewährleisten und um es Frankreich zu ermöglichen, in vollem Umfange in der Welt an der Aufrechterhaltung des Friedens mitzuarbeiten. Unter diesen Bedingungen hat die Regierung beschlossen, die Rekruten, die im April und Oktober dieses Jahres eingezogen wurden, länger unter den Fahnen zu behalten. Der Beschluß findet Anwendung bis einschließlich 1939. Die zeitliche Indienststellung wird für die Rekruten, die im April 1936 zwölf Monate gedient haben, weitere sechs Monate betragen, und für die späteren Klassen auf weitere zwölf Monate ausgedehnt werden. Außerdem hat der Kriegsminister einen Gesetzvorschlag eingebracht, der ihn ermächtigt, das augenblickliche militärdienstpflichtige Alter allmählich bis auf 20 Jahre herabzusetzen und die getrennte Einziehung der Rekruten – April und Oktober – zu beseitigen. Das Gesetz sieht weiter eine Erhöhung der Zahl der Berufssoldaten vor. –
      Die Regierung hat niemals die Lösung der Frage der Effektivbestände mit den sehr viel weitergehenden Fragen der Landesverteidigung verwechselt und wird sie auch nicht verwechseln. Sie betont aber, daß der Schutz der Grenzbefestigungen und des Landes gegen den Einfall ein Mindestmaß von Effektivbeständen erfordert. Sie appelliert an die vaterländische Mitarbeit des Parlamentes, das noch niemals die Landesverteidigung im Stich gelassen hat, um Frankreich die Mittel für seine Sicherheit zu geben. Sie erklärt noch einmal den friedlichen Willen eines in einem Jahrhundert viermal überfallenen Lan- [160] des(!!!) und ist sich bewußt, der Repräsentant eines Landes zu sein, das seine Rüstungen nur in dem Maße aufrecht erhält, wie sie für die Verteidigung des Friedens, die Aufrechterhaltung der Sicherheit und die Entmutigung des Angriffs notwendig sind."

Ein harmloses Blockhaus als französische Festung am Rhein.
[Bd. 9 S. 144a]      Ein harmloses Blockhaus
als französische Festung am Rhein.
      Photo Scherl.

Französischer Brückenkopf amOberrhein.
[Bd. 9 S. 144a]      Französischer Brückenkopf
am Oberrhein.
      Photo Scherl.
Die Rechte und die Mitte nahm Flandins Rede mit Beifall auf, die Linke aber verharrte, bis weit in die Reihen der Radikalsozialisten hinein, in eisigem Schweigen. Der jüdische Marxistenführer Leon Blum warf dann der Regierung Zweideutigkeit vor, die Regierung möge ihre Absichten gleich offen bekennen und die zweijährige Dienstzeit nicht als vorübergehende Ausnahme, sondern sofort als Gesetz einführen. Das Ziel der Regierung sei die Einführung der zweijährigen Dienstzeit und die Bildung eines Berufsheeres. Sieben Milliarden Franken seien für Befestigungen ausgegeben worden, um Effektiven zu sparen. Warum ändere man jetzt die Politik? Das Jahreskontingent von 1935 sei völlig normal. Frankreich verfüge im Mutterlande einschließlich der in Frankreich garnisonierenden Kolonialtruppen nicht über 278 000, sondern über annähernd 500 000 Mann. Das reiche aus, um die Festungen zu besetzen und die Verteidigung zu organisieren. Aber gewisse militärische Kreise hätten das Interesse, ein Berufsheer zu schaffen. Frankreich verfüge über größere Streitkräfte, als die tatsächliche Verteidigung erfordere. Man bereite eine Angriffsstrategie vor. Gegen die Gefahr eines Angriffs könne Frankreich keine Sicherheit im Wettrüsten finden. Dazu brauche man mehr als zwei Dienstjahre. Die Marxisten glaubten nicht, daß eine Gewaltlösung nötig sei. Die wahre Sicherheit sei die, die den Krieg verhindere. Weshalb trage die Regierung nicht den Fortschritten der Sicherheitsorganisation – Sowjetrußlands Eintritt in den Völkerbund, römisches Abkommen usw. – Rechnung? Man zwinge Deutschland, ein Abrüstungsabkommen zu unterzeichnen. Sei man heute wieder so weit wie 1913, habe sich nichts geändert in den 22 Jahren?

Der nationalsozialistische Abgeordnete Oberst Fabry erwiderte Blum als Vertreter der Militärkommission der Kammer, die ganze Debatte sei überflüssig, wenn das Deutschland von heute noch dasselbe wäre wie das von 1928, als Frankreich sich [161] die Militärgesetzgebung schuf. Kein Kriegsminister könne verantworten, daß der Mobilmachungsplan in Frage gestellt würde. – Im Redekampf für und gegen die Forderung der Regierung kamen auch die beiden Radikalsozialisten Herriot und Daladier, von denen der erste als Minister für, der zweite gegen die Regierung sprach, zu Wort.

Eine scharfe Auseinandersetzung innerhalb der radikalsozialistischen Partei unmittelbar vor der Kammersitzung hatte ergeben, daß die Fraktion mit 27 gegen 12 Stimmen für Herriot eintrat, der für den Fall, daß die Fraktion gegen ihn stimme, seine Ämter als Minister und Parteivorsitzender zur Verfügung stellte.

Bei der Schlußabstimmung in der Kammer mußte Flandin zwischen rechts und links hindurchsteuern. Die sozialistischen und radikalsozialistischen Anträge wurden mit 389 gegen 190 Stimmen abgelehnt. Flandins zweiter Erfolg war dann, daß der Antrag der rechtsstehenden Abgeordneten und des Obersten Fabry, die Regierung solle sofort eine Gesetzesvorlage über die zweijährige Dienstzeit einbringen, mit 530 gegen 44 Stimmen abgelehnt wurde. Darauf wurde der Vertrauensantrag des linksradikalen Abgeordneten Laurent Zynar mit 354 gegen 210 Stimmen angenommen. Flandin war glücklich zwischen links und rechts durchgekommen.

Damit hatte Frankreich den tatsächlichen Beweis erbracht, daß die Abrüstung ein Phantom war, für welches die Regierung der dritten Republik keinerlei Verständnis, geschweige denn Sympathie hatte. Welche Gedanken die militärischen Kreise, die die Politik Frankreichs leiteten, beherrschten, dafür eine Äußerung, die General Niessel am 14. März 1935 im Paris Soir tat:

      "Paris liegt der Grenze näher als Berlin, aber das Rheinland hat genug große Städte und Industriezentren, an lohnenden Zielen wird es uns nicht fehlen." (Nach Soldatenbund, Berlin 5. 6. 36.)

[162] 8.

Die Havas-Meldung und die Flandin-Rede riefen den deutschen Widerspruch hervor. Das deutsche Nachrichtenbüro stellte die in beiden enthaltenen französischen Vorwürfe richtig. Es brachte damit die Meinung zum Ausdruck, die die Reichsregierung bereits oft genug den Franzosen mitgeteilt hatte. (Vgl. Anlage 11.)

  Wiedergewinnung  
der Wehrhoheit

Jetzt handelte der Führer. Englands Kriegsministerium rüstete auf und machte Deutschland dafür verantwortlich, daß es das tat. Frankreichs Regierung war im Begriff, die zweijährige Dienstzeit einzuführen, um seinen hohen Rüstungsstand zu erhalten. Rußland war ein bis an die Zähne bewaffneter Staat; es war der Verbündete Frankreichs und der Todfeind Deutschlands. Es schürte in Paris durch unerschöpfliche Tatarennachrichten über Deutschlands Aufrüstung. Rings um Deutschland erhob sich ein waffenstarrender feindlicher Wall, der mit Flugzeugen aus der Luft und mit Kanonen auf der Erde in der Lage war, Deutschland in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, und der genau so tat, als hätte man nie auch nur eine Minute von und über Abrüstung gesprochen.

Ein deutscher Staatsmann durfte nicht zulassen, nachdem alle ehrlichen Versuche und Angebote einer Abrüstung fehlgeschlagen waren, daß das deutsche Volk allein wehrlos inmitten hochgerüsteter Staaten bleiben müsse.

      "Ein ungerüstetes Land ist inmitten einer hochgerüsteten Welt eine stete Aufforderung zum Krieg. Nicht das bewaffnete, sondern das unbewaffnete Deutschland hat Europa beunruhigt. Durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht wurde jene Balance wieder hergestellt, die notwendig ist, um zu fruchtbaren Diskussionen über die großen ungelösten Probleme der Weltpolitik zu kommen."

So schrieb Reichspropagandaminister Goebbels am 18. März (Klarheit und Logik). Anderseits verhehlte sich der Führer nicht, daß die Unkenntnis der anderen Staaten über Deutschlands Aufrüstung eine stete Quelle der Beunruhigung war. Diese Unruhe war nicht etwa auf die Tatsache der Aufrüstung Deutschlands an sich zurückzuführen, sondern auf die vielen Entstellungen und Übertretungen, die von übelwollen- [163] den, deutschfeindlichen Elementen, vor allem in Moskau, verbreitet wurden und infolge eben der in der Welt herrschenden Unkenntnis nur zu leicht auf empfänglichen Boden fielen. Die Welt spürte das Bedürfnis, über den deutschen Rüstungsstand, über dessen Erhöhung sie keinerlei Zweifel hegte, Klarheit zu erhalten, sie sollte nun wissen, woran sie war. Propagandaminister Goebbels erklärte in seinem oben erwähnten Aufsatz, daß amtliche und nichtamtliche Stellen des Auslandes oft genug beklagt hätten, daß ohne uneingeschränkte Kenntnis der Absichten Deutschlands eine Konsolidierung des Friedens ausgeschlossen erscheine. Mehr als einmal sei von diesen Stellen der Wunsch ausgesprochen worden, Deutschland möge der Geheimniskrämerei ein Ende machen und klipp und klar dartun, wohin es steuere, was es wolle und welche Pläne es habe. Der Führer fühlte sich auch aus diesem Grunde verpflichtet, offen und rückhaltlos die deutschen Absichten klarzulegen, weil ein solcher Schritt in Wahrheit ein Element der Beruhigung für Europa sein würde. – Schließlich war sich der Führer darüber klar, daß, nachdem Rußland mit seiner Waffenmacht in den Völkerbund aufgenommen worden war, der Versailler Vertrag von selbst in bezug auf die Militärklauseln gefallen war; denn zur Zeit seiner Entstehung war an die große Militärmacht im Osten noch nicht zu denken. Er ging deshalb den von ihm eingeschlagenen Weg bis zu Ende. Am Nachmittag des 15. März, zur gleichen Stunde, da Flandin vor der Kammer seine Rede hielt, unterbrach er seinen Krankheitsurlaub, den er in Bayern verbrachte, kehrte nach Berlin zurück und hatte noch am gleichen Abend Besprechungen mit seinen Ministern. Ein Ministerrat, der am Mittag des 16. März, einem Sonnabend, zusammentrat, beschloß das neue Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht, das in zwei wesentlichen Paragraphen bestimmt:

1. Der Dienst in der Wehrmacht erfolgt auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht.

2. Das deutsche Friedensheer, einschließlich der überführten Truppenpolizeien, gliedert sich in zwölf Korpskommandos und sechsunddreißig Divisionen.

Eine Proklamation an das deutsche Volk (siehe Anlage 12) legte die Gründe der Regierung dar.

Dieses Ereignis löste in Deutschland hellen Jubel aus. Der [164] würdige Hintergrund der Wiederverkündung der allgemeinen Wehrpflicht war das Heldengedenken, das am Sonntag, dem 17. März, in der Mittagsstunde gefeiert wurde durch einen mit einer Gedenkrede des Reichskriegsministers von Blomberg ausgefüllten Staatsakt in der Berliner Staatsoper und anschließender Ehrung der alten Fahnen im Lustgarten durch Verleihung des noch vom Generalfeldmarschall von Hindenburg für Frontkämpfer und Kriegsteilnehmer gestifteten Ehrenkreuzes. Viele Tausende von Spenden und freiwilligen Meldungen begeisterter Deutscher gingen in den nächsten Wochen beim Reichswehrministerium ein.

Heldengedenkfeier des 17. März 1935 in Berlin.
[Bd. 9 S. 240a]      Heldengedenkfeier des 17. März 1935 in Berlin:
Der Führer verleit den Fahnen der alten Armee das Ehrenkreuz.
      Photo Scherl.

Heldengedenkfeier des 17. März 1935 in Berlin.
[Bd. 9 S. 240b]    Heldengedenkfeier des 17. März 1935 in Berlin: Der Vorbeimarsch am Führer.    Photo Scherl.

Die Schande der Wehrlosigkeit, die in Versailles dem Reiche zugefügt worden war, war damit getilgt. Nach der zwei Monate zuvor durchgeführten siegreichen Saarabstimmung war das Ereignis des 16. März 1935 wohl einer der erfolgreichsten und schwersten Stöße, den das neue Reich nach kaum zweijährigem Bestehen dem auf Versailles aufgebauten Lügensystem zugefügt hat. Die durch die fast dreijährige Genfer Abrüstungsposse – die Abrüstungskonferenz war am 3. Februar 1932 eröffnet worden – mit Zündstoff hochgeschwängerte Atmosphäre Europas war mit einem Schlage bereinigt worden. Die Völker Europas hatten die Entwicklung kommen sehen, die Regierungen aber waren erschrocken, weil sie nicht daran geglaubt hatten, und wußten nicht, wie sie sich jetzt verhalten sollten. Sie waren jahrelang gewohnt gewesen, mit zaghaften und feigen Regierungsmännern in Deutschland zu verhandeln, jetzt aber standen sie dem Führer gegenüber, der über alle zweifelnden Bedenken die mutige Tat stellte. Er durfte es, weil das Volk nicht mehr von Parteien zerrissen wurde, sondern einmütig seinem Willen folgte. Zwei Jahre hindurch hatte das Volk willig seine Opfer gebracht. Es hatte Woche für Woche, Mann für Mann, Groschen um Groschen gespendet, nicht, um Wohlleben zu erringen, sondern um den Mitarbeitern des Führers die Mittel zu geben, mit denen in fieberhaft ununterbrochener Arbeit bei Tag und Nacht die neuen und weiten Kasernen geschaffen wurden, in die, wenn die Stunde gekommen war, die Söhne der Nation als Träger von Ehre und Freiheit, als Schützer von Frieden und Sicherheit einziehen sollten.

[165] Diese Stunde war jetzt gekommen.

Es war unvermeidlich, daß der Führer von ausländischen Pressevertretern befragt wurde. So empfing er am Abend des 17. März nach seiner Rückkehr nach München den Vertreter der Daily Mail, Ward Price. Dieser legte Adolf Hitler drei Fragen vor:

  • ob Deutschland auch in Zukunft genau so bereit sei, mit England und Frankreich zu verhandeln, wie er dies in seiner Note vom 13. Februar zum Ausdruck gebracht habe,
  • ob sich Deutschland nach wie vor an die territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages gebunden halte, und
  • welchen Eindruck der Schritt des 16. März auf das deutsche Volk gemacht habe.

In diesen drei Fragen war alles enthalten, was das englische Volk an der Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit interessierte.

Auf die erste Frage antwortete der Führer, die Herstellung der deutschen Wehrhoheit sei ein Akt der Wiederherstellung der verletzten Souveränität eines großen Staates. Anzunehmen, daß ein souverän gewordener Staat weniger geneigt sei zu einer Verhandlung, als ein nicht souveräner, würde absurd sein. Gerade weil das Reich ein souveräner Staat sei, sei es auch bereit, mit anderen souveränen Staaten zu verhandeln.

Auf die zweite Frage erwiderte der Führer, durch den Akt der Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit sei der Versailler Vertrag nur in jenen Punkten berührt, die durch die Verweigerung der analogen Abrüstungsverpflichtungen der anderen Staaten tatsächlich ohnehin schon längst ihre Rechtskraft verloren haben.** Die deutsche Regierung sei sich klar darüber, daß man eine Revision territorialer Bestimmungen internationaler Verträge nie durch einseitige Maßnahmen hervorrufen könne.

Auf die dritte Frage schließlich entgegnete Adolf Hitler, das deutsche Volk empfinde den Akt vom 16. März überhaupt nicht so sehr als einen militärischen, sondern vielmehr als einen moralischen. Nicht das Gefühl des Hasses gegen eine andere Nation erfülle das deutsche Volk, sondern vielmehr das [166] Gefühl des Glückes, daß das eigene Volk nun wieder frei sei. Es handle sich nicht um Krieg oder Frieden, und darum sei es möglich gewesen, in der Proklamation der Wehrhoheit laut und deutlich für den Frieden zu plädieren, und die deutsche Mitarbeit an der Sicherung des Friedens zur Verfügung zu stellen. "Denn das deutsche Volk will keinen Krieg, sondern es will ausschließlich das gleiche Recht aller anderen. Das ist alles."

Generalfeldmarschall Werner von Blomberg.
[Bd. 9 S. 48b]
Generalfeldmarschall
Werner von Blomberg.

Photo Scherl.
Die innerdeutsche Seite der wiedererlangten Wehrhoheit
beleuchtete der Reichskriegsminister, Generaloberst von Blomberg, in einer Abhandlung, die der Völkische Beobachter am 19. März brachte. Er sagt darin zunächst, es sei falsch, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für ein Ereignis zu halten, das in erster Linie die Wehrmacht und ihre Interessen berühre. Sie berühre die Ehre der ganzen Nation. Es habe sich gezeigt, daß zwischen dem kleinen Berufsheer und dem deutschen Volke eine Kluft gewesen sei, die daher kam, daß die heranwachsende junge Generation vom Wehrdienst, der vornehmsten und männlichsten Aufgabe aller Angehörigen des Volkes, ausgeschlossen gewesen sei:

      "Der Übergang von dem im Waffenhandwerk vollendet ausgebildeten Berufskämpfer (nämlich nach den Versailler Vorschriften! D. Verf.) zum Soldaten der alle umfassenden Wehrpflicht (nach dem Gesetz vom 16. März) entspricht so dem innersten Wesen des deutschen Menschen, der sich stets als der geborene Verteidiger seines Volkes und Landes gefühlt hat."

Die Trennung zwischen Berufsheer und Volk habe einen auf die Dauer unerträglichen Zustand geschaffen. Das deutsche Heer sei kein Erobererheer, Deutschland gebe im Waffendienst seiner wehrfähigen Mannschaft nur das Mittel zur Verteidigung seiner Grenzen und seines Lebensraumes. Hinzu komme, daß das deutsche Volk in der Wehrpflicht stets die durch nichts zu ersetzende Schule der Nation gesehen habe, die Schule der Disziplin, der Kameradschaft und der praktischen Volksgemeinschaft, in der der Charakter der jungen Generation geformt wurde. Die Auswirkungen dieser Erziehung habe sich in allen Berufen und Lebensaltern befruchtend fortgesetzt, und ihr Fehlen in den Jahren nach dem Zusammenbruch habe Deutschland bitter erfahren müssen. Die Jugend des vergangenen Zeitalters habe an [167] einer inneren Zerrissenheit gekrankt, die sie zum großen Teil für die gemeinsamen Aufgaben des Volkes verloren gehen ließ. Die kommende Generation werde in der Wehrmacht eine Pflegestätte nationalsozialistischen Geistes und echter Volksgemeinschaft finden. Die Wehrmacht sehe den Sinn der Tradition, die sie als verpflichtendes Erbe trage, im Geiste der gleichen Pflichterfüllung. Die Dienstpflicht werde keine Privilegien mehr kennen; nicht höhere Bildung, sondern Charakter und Leistung würden Weg und Wert des Einzelnen bestimmen. Blomberg schloß:

      "So steht die deutsche Wehrmacht heute an einem entscheidungsvollen Einschnitt ihrer Entwicklung. Der mannhafte Entschluß des Führers hat die Bahn freigemacht zu der wahren Erfüllung des Wortes, das noch die Unterschrift des verehrten Generalfeldmarschall-Reichspräsidenten trägt: 'Der Dienst in der Wehrmacht ist Ehrendienst am deutschen Volk.' Das höchste Gut des Staates, die junge waffenfähige Mannschaft, wird wieder durch ihre Schule der Wehrhaftigkeit gehen. Ich weiß, daß sich die Wehrmacht des in sie gesetzten Vertrauens weiter würdig erweisen wird, getreu ihrem Eide, der sie an Adolf Hitler, den Schöpfer und Führer des neuen Deutschlands, auf Leben und Tod bindet."

So hatte das Reich nun das erhalten, was ihm zu seiner Vollendung noch fehlte: Zum Lebensherzen, das die NSDAP mit all ihren Gliederungen, der SA und der DAF vor allem, bildet, und zum zuverlässigen Knochengerüst des Beamtentums kam jetzt der starke Arm der Wehr; es konnte von nun an keinen Deutschen mehr geben, der außerhalb einer dieser drei Gemeinschaften stand. Insofern wurde der 16. März 1935 zum Schlußstein des Schöpferwerkes der Totalität von Führer und Volk im Reiche.


*Teil V, Dritter Abschnitt: Luftstreitkräfte, Artikel 198-202. ...zurück...

**Es handelt sich um Teil V, Artikel 159-179, Landstreitkräfte, mit den Untertiteln: Sollstärken und Stäbe der deutschen Armeen; Bewaffnung, Munition und Material; Rekrutierung und militärische Ausbildung. ...zurück...



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra