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[Bd. 2 S. 32]
10. Kapitel: Der Streit um Wiedergutmachung und Entwaffnung.

Wiedergutmachung und Entwaffnung waren die beiden Handhaben des Versailler Vertrages, durch welche Frankreich hoffte, Deutschland wirtschaftlich und militärisch derart schwach zu machen für alle Zeiten, daß es an eine Erhebung und, daraus folgend, eine Bedrohung Frankreichs nicht mehr denken konnte. Durch die Vereinbarungen in Boulogne war Frankreich in die Lage versetzt worden, seinen Forderungen schärferen Nachdruck zu verleihen.

Deutschland hatte seit Ende Juni 1920 eine bürgerliche Regierung. In ihr war durch die Minister der Deutschen Volkspartei das industrielle Kapital vertreten. Es war an sich erklärlich, daß die Besitzenden wenig geneigt waren, Tribute zu zahlen. Da sie aber die durch den Versailler Vertrag gegebenen Notwendigkeiten nicht aus der Welt schaffen konnten, erklärten sie sich zu Wiedergutmachungen bereit, jedoch nur in dem Umfange, als dies die deutsche Wirtschaft vertrüge. Ihr Verantwortungsgefühl gegenüber dem deutschen Volke und seiner Wirtschaft war zu groß, als daß sie unbedenklich auf feindliche Forderungen eingegangen wären, deren Unerfüllbarkeit sie ehrlicherweise erkennen mußten. In der Entwaffnungsforderung andererseits sahen sie eine schwere Gefahr für die Zukunft des deutschen Staates und der deutschen Wirtschaft, und es war verständlich, daß man die Ordnungsmacht des Staates nicht verringern wollte, solange die bolschewistische Gefahr akut war. – In der Regierung, an deren Spitze Fehrenbach vom Zentrum stand, fehlten zum ersten Male die Sozialdemokraten, da sie aus prinzipiellen Gründen nicht mit der Deutschen Volkspartei zusammenarbeiten wollten.

Fehrenbach, Reichskanzler.
[Bd. 2 S. 192a]
Fehrenbach, Reichskanzler.
Photo Scherl.

  Die Deutschen in Spa  

Vom 5.–16. Juli 1920 tagte in Spa die Konferenz der Alliierten, zu welcher zum ersten Male auch deutsche Vertreter eingeladen wurden. Es erschienen außer anderen [33] Ministern auch der Reichskanzler Fehrenbach und der Außenminister Dr. Simons. Trotzdem kam es zu keinen Verhandlungen zwischen den Parteien, sondern die Zusammenkunft endete mit einem Diktat, da jeder deutsche Widerspruch mit der Drohung der Ruhrbesetzung zum Schweigen gebracht wurde. In der Entwaffnungsfrage kam zunächst ein Abkommen zustande, worin die Fristen für die Waffenablieferung und die Verminderung der Heeresstärke um drei bis sechs Monate verlängert wurden. Auch erklärten sich die Alliierten einverstanden, eine bessere Organisation der Reichswehr zuzulassen und zu genehmigen, daß die Ordnung im Ruhrgebiet durch militärische Machtmittel aufrechterhalten werden dürfe. Die Drohung mit der Ruhrbesetzung erkannten die Deutschen nicht an, sondern nahmen sie nur "zur Kenntnis".

Schwieriger waren die Verhandlungen über die Kohlenlieferungen. Durch die Gebietsabtretungen des Versailler Vertrages verlor Deutschland in Lothringen, Saargebiet und möglicherweise in Oberschlesien 28,3 Prozent seiner Steinkohlenförderung oder etwa 49 Millionen Tonnen Jahresförderung. Dazu mußten jährlich noch zehn Jahre hindurch 42 Millionen Tonnen Kohle an Frankreich, Belgien, Italien und Luxemburg geliefert werden. Also mehr als die Hälfte der Kohlenproduktion von 1913 ging dem deutschen Volke verloren. Dieser Aderlaß mußte auf das deutsche Verkehrswesen (Eisenbahn) und die deutsche Industrie nicht nur lähmend, sondern tödlich wirken. Durch die Streiks, die Arbeitsunlust und die Unruhen wurde der bei Deutschland verbleibende Rest auf nahezu ein Drittel der Vorkriegsproduktion herabgedrückt. – Der Großindustrielle Stinnes gab den Alliierten in Spa ein Bild von der Lage der deutschen Industrie, und sein Bericht gipfelte darin, daß die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stehe und dann die Sieger überhaupt keine Wiedergutmachungen und Entschädigungen zu erwarten hätten. Der Vertreter der Arbeiterschaft, Hue, wies darauf hin, daß auch die Leistungen der Bergarbeiter unter den Folgen der mangelhaften Ernährung und der Streiks zurückgegangen seien und daß die Lage infolge der Geldentwertung immer [34] trostloser würde, für die Unternehmer wie für die Arbeiter. Er folgerte, daß, wenn die Sieger Unmögliches verlangten, die deutschen Arbeiter schließlich überhaupt nichts mehr leisten würden, das aber würde den Bolschewismus bedeuten.

Unter der Wucht dieser Einwände waren die Alliierten bereit, die monatliche Kohlenlieferungen von 3,5 Millionen Tonnen, wie sie vom Versailler Vertrag gefordert wurden, auf 2 Millionen herabzusetzen, für jede Tonne eine Prämie von fünf Goldmark zu gewähren und einen Vorschuß in Höhe des restlichen Unterschiedes zwischen dem deutschen Verbandspreis und dem Weltmarktpreis zu zahlen. Aber die deutschen Vertreter waren auch mit dieser Regelung nicht zufrieden und versuchten, eine weitere Herabsetzung der Monatslieferungen zu bewirken. Doch die Alliierten drohten, im Falle des deutschen Widerspruchs würden sie das Ruhrgebiet vom Reiche abtrennen und allein ausbeuten, außerdem wurde Marschall Foch nach Spa zitiert und ein militärisches Abkommen unter den Ententemächten getroffen betreffend eine etwaige Besetzung des Ruhrgebietes. Stinnes erklärte zwar, er würde in diesem Falle seine gesamten Bergwerke ersaufen und den Franzosen nur eine Wüste überlassen, aber es blieb den Deutschen schließlich doch nichts weiter übrig, als der Gewalt zu weichen und das Kohlenabkommen in der vorliegenden Form zu unterzeichnen.

In der Wiedergutmachungsfrage wurde kein Ergebnis erzielt. Die Deutschen forderten Bekanntgabe der Gesamtsumme, worauf die Alliierten die Antwort schuldig blieben, denn nach dem Vertrage von Versailles hatten sie bis zum 1. Mai 1921 Zeit, die Gesamthöhe der Entschädigungen festzustellen. Die Deutschen, welche den Gesamtbetrag ihrer Wiedergutmachungsverpflichtungen auf dreißig Milliarden schätzten, machten den Vorschlag, deutsche Arbeiter und Erwerbslose zum Wiederaufbau Nordfrankreichs zur Verfügung zu stellen. Dieser Plan war sehr vernünftig, denn er hätte das deutsche Wirtschaftsleben nicht nur vom Alpdruck der Erwerbslosigkeit befreit, sondern hätte auch zu einer wesentlichen Verminderung der Wiedergutmachungsverpflichtungen beigetragen. Die Alliierten lehnten indessen dieses Angebot [35] ab, wohl in der Hauptsache, weil sie dadurch eine "bolschewistische Verseuchung" Westeuropas fürchteten. Schließlich wurde die ganze "Wiedergutmachungsfrage" auf eine später nach Genf einzuberufende Konferenz vertagt, die aber niemals zustande kam.

Auch die "Kriegsverbrecher"-Angelegenheit kam zur Sprache, und man vereinbarte, das deutsche Reichsgericht solle zunächst die in der "Probeliste" vom 7. Mai aufgeführten Fälle klären. Von dem Ergebnis würden die Alliierten ihre weiteren Schritte abhängig machen.

Das Ergebnis von Spa war unbefriedigend in seiner Gesamtheit, und da es den Charakter eines Diktates trug, war es vorauszusehen, daß es bald zu weiteren Komplikationen kommen mußte.

  Das Reichswehrgesetz  

Der Reichstag kam zunächst den französischen Wünschen vom 23. Juni nach und nahm am 30. Juli das Reichswehrgesetz an, welches die allgemeine Wehrpflicht abschaffte und die Heeresstärke auf 100 000 Mann festsetzte. Jeder Soldat hatte sich für zwölf, jeder Offizier für 25 Dienstjahre zu verpflichten. Die Reichsflotte sollte aus sechs Linienschiffen, sechs kleinen Kreuzern, zwölf Zerstörern und zwölf Torpedobooten bestehen. Dieses Gesetz bestätigte nur einen in der Praxis bereits seit langem eingeleiteten Entwicklungsgang und war insofern von einiger Bedeutung, als es in aller Form das einst in Preußens Befreiungskriegen eingeführte Volksheer wieder durch das Berufsheer, das Söldnerheer, ersetzte. Sechs Tage später, am 5. August, wurde ein Gesetz über die Entwaffnung der Bevölkerung angenommen, das zwar auf Drängen Frankreichs gegen die Einwohnerwehren gerichtet war, von der deutschen Regierung jedoch mit dem gleichen Nachdruck gegen die illegal bewaffneten roten Formationen angewandt wurde. Der Erfolg entsprach allerdings nicht den Erwartungen, da es unmöglich war, die vor allem von den bolschewistischen Kreisen verborgenen Waffen aufzufinden und zu zerstören.

Französische
  Militärbündnisse  

Während Deutschland durch diese Gesetze den besten Willen bewies, den Frieden zu halten und den Frieden zu fördern, traf Frankreich neue militärische Sicherungsmaß- [36] nahmen gegen den gehaßten und gefürchteten Feind östlich des Rheins. Im August 1920 schloß Frankreich mit Belgien eine geheime Militärkonvention für die Dauer von 15 Jahren; Belgien verpflichtete sich, sein Heer gegenüber dem Stande von 1913 zu vergrößern und möglichst schnell Antwerpen und die übrigen festen Plätze auszubauen. Frankreich sollte "im Falle eines deutschen Angriffes" sofort den Schutz für einen Teil der belgischen Ostgrenze übernehmen. Das Abkommen wurde bald erweitert: Belgien verpflichtete sich, im besetzten Rheinland eine ständige Truppenmacht von wenigstens zwei Infanteriedivisionen und einer Kavalleriebrigade zu unterhalten. Die Besatzungskontingente und die gesamte belgische Armee sollten im Ernstfalle der einheitlichen französischen Oberleitung unterstellt werden. Frankreich beanspruchte schließlich das Recht, die Gesamtstärke des belgischen Heeres und der belgischen Besatzungstruppen im Rheinland festzusetzen. Und in der Tat wurde die belgische Heeresstärke im Laufe des folgenden Jahres auf das doppelte der Friedensstärke gebracht: das kleine Land, welches einen Umfang von 30 400 Quadratkilometern und 7,7 Millionen Einwohner zählt, stellte ein größeres Heer als Deutschland auf, es hatte 105 000 Mann unter Waffen! Gleichzeitig wurde die Dauer der Dienstpflicht von 13 auf 25 Jahre erhöht.

Frankreich versuchte auch Holland für eine ähnliche Militärkonvention zu gewinnen, doch erzielte es hier keinen Erfolg. Dagegen wurde mit Gewalt und Drohung das kleine Luxemburg gezwungen, mit Frankreich und Belgien ein Abkommen zu treffen. Die beiden Bundesgenossen teilten sich in die Beherrschung und Ausbeutung des kleinen Landes. Frankreich beanspruchte die Kontrolle über die Eisenbahn Esch – Luxemburg – Wasserbillig – Trier und behauptete, diese Linie strategisch auszubeuten und auszubauen. Belgien wurde die Kontrolle zugeteilt über die Bahnlinie Arlon – Kleinbettingen – Luxemburg – Ufflingen – Lüttich. Außerdem mußte sich Luxemburg, das vor dem Kriege nur zwei Schutzkompanien unterhielt, verpflichten, eine Heeresmacht von 6000 Mann aufzustellen! Die politische Selbständigkeit des Ländchens war seitdem nur noch eine Kuriosität ohne praktische Bedeutung.

[37] Was bedeutete Deutschlands lächerliche Militärmacht noch im Vergleich zu der seiner Nachbarn! Da war der Westen bis an die Zähne bewaffnet: rund 900 000 Franzosen, Belgier und Luxemburger standen unter den Waffen, von denen Frankreich allein über 809 652 verfügte. Die feindselige Tschechoslowakei unterhielt eine Armee von 147 000 Mann, Italien hatte 300 000 Soldaten und Polen das Doppelte, 600 000. Welcher wahnsinnige deutsche Staatsmann hätte wohl den verruchten Plan fassen dürfen, mit der deutschen Reichswehr Frankreich zu überfallen, mit einem Heereskörper, der, es ist lächerlich zu sagen, nur halb so stark war wie das Schweizerische Bundesheer! Und dennoch fand Frankreich keine Ruhe: das revanchelüsterne, das gefährliche, das drohende, das furchtbare und gewaltige Deutschland mußte bis zum äußersten entwaffnet werden! Und wenn dieses grauenhafte Volk entwaffnet war, hatte Frankreich immer noch keine Ruhe, denn es wußte sehr wohl, daß die Kraft des Riesen nur gefesselt, nicht gebrochen war!

Genfer
  Sozialistenkongreß  
und andere

Während Frankreich auf diese Weise die Schritte zur endgültigen militärischen Erdrosselung Deutschlands unternahm, tagte in Genf der Sozialistenkongreß. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands schloß sich der II. Internationale an, wobei sie das Bekenntnis der deutschen Kriegsschuld abgeben mußte. Sie tat diesen Judasschritt mit einer gewissen Schadenfreude, vielleicht auch in dem beklemmenden Bewußtsein ihrer Verluste bei der Juniwahl. Die Sozialdemokratie war nicht in der derzeitigen bürgerlichen

  Deutsche Kriegsschuld  

Reichsregierung Fehrenbachs vertreten, und so überwog ihr oppositionelles Parteiinteresse das Volks- und Staatsinteresse. Die Sozialisten waren überzeugt, daß ihnen und ihrer Partei nichts mehr nützen könnte, als wenn sie der bürgerlichen Regierung möglichst viel Hindernisse in den Weg legten. Der fanatische Oppositionsdrang gegen die Regierung fragte nicht danach, ob die angewandten Mittel der Gesamtheit des Volkes schweren Schaden zufügten. Man erklärte also in Genf: "Ein solcher dolus eventualis (den Krieg herbeizuführen) war auf seiten der deutschen Machthaber vorhanden, als sie ihre österreichischen Bundesgenossen zum schärfsten Vorgehen gegen [38] Serbien ermutigten, auch auf die Gefahr hin, daß daraus ein Weltkrieg entstehen könnte... Als jedoch Rußland gleichfalls zur Politik der Einschüchterung überging und die Mobilmachung seiner gesamten Streitkräfte ins Werk setzte, fanden oder glaubten die deutschen Machthaber jeden Rückweg versperrt. Manche von ihnen mögen ihn nicht einmal ernstlich gesucht haben." Deutschland war also schuld am Weltkrieg. "Die Gefahr, die in der Führung der auswärtigen Politik ohne Kontrolle des Reichstages und damit auch der Sozialdemokratie lag, nicht rechtzeitig und energisch genug bekämpft zu haben, ist die Schuld, zu der wir uns vor aller Welt freimütig bekennen." Die deutsche Sozialdemokratie nahm somit die Kriegsschuld auf sich, um dadurch im Ausland Sympathien für sich zu erwecken und ihrer versteckten Agitation gegen die derzeitige Regierung mehr Kraft zu geben. Ja, man beklagte sich sogar, der deutschen Revolution nicht eher den Weg geebnet zu haben: die deutsche Revolution sei zum Unglück der Welt und des deutschen Volkes fünf Jahre zu spät gekommen!

Dies deutliche Hinüberschwenken der deutschen Sozialisten auf die Seite der Internationale mußte das deutsche Volk und seine Regierung als einen schweren Schlag empfinden. Wäre es doch eine der Hauptaufgaben der Regierung Fehrenbach geworden, nach Veröffentlichung aller Vorkriegsdokumente den fundamentalen Hauptsatz des Versailler Vertrages von der deutschen Schuld zu erschüttern, vielleicht zu beseitigen! Denn das wäre ja das Ziel gewesen, in dem die Politik dieser Regierung, nicht unbedingt zu erfüllen, sondern die Regelung der Wiedergutmachungsfrage in einem gerechten und für Deutschland günstigen Sinne zu beeinflussen, gegipfelt hätte. Eine große Aufgabe von weltgeschichtlicher Bedeutung: die moralische Verurteilung und wirtschaftliche Erdrosselung des deutschen Volkes durch den Versailler Vertrag abzuwenden! Nun beging die Sozialdemokratie den Verrat, den Feinden Deutschlands durch ein freiwilliges Schuldbekenntnis ein neues Machtmittel gegen die Bestrebungen der deutschen Regierung in die Hand zu geben! Nach dem Auftakt von Spa war es vorauszusehen, daß eines Tages die deutsche Regierung [39] über die Lösung der Wiedergutmachungsfrage als physisch Schwächere stürzen müsse – oder aber als moralisch Stärkere die Feinde besiegen würde. Die zweite Möglichkeit auszuschließen und die erste zu beschleunigen, das war der taktische Zweck des Genfer Schuldbekenntnisses. –

Der Herbst des Jahres [1920] verlief ohne große und besondere Ereignisse auf dem Gebiete der Wiedergutmachungsfrage. Es gelang den Engländern und Franzosen, auch Italien für ihre Politik gegen Deutschland zu gewinnen. Eine internationale Finanzkonferenz in Brüssel verlief ergebnislos (24. September bis 8. Oktober). Auch die Entwaffnungsfrage machte insofern Fortschritte, als am 1. Oktober die neutrale Zone von den Reichswehrtruppen geräumt und das Heer auf 150 000 Mann herabgemindert war. Der Argwohn der Interalliierten Militärkontrollkommission war jedoch noch nicht gewichen, und sie forderte sofortige Auflösung und Entwaffnung der Selbstschutzorganisationen, Einwohnerwehren usw. Diese Verbände waren die Quelle steten Mißtrauens der Franzosen, vor allem, weil sie in bezug auf ihre Stärke nicht zu übersehen waren. Und gerade aus diesem Grunde blieb das französische Mißtrauen wach und ließ sich durch die Bemühungen der deutschen Regierung nicht beschwichtigen (25. Oktober). Der Wiedergutmachungsausschuß teilte am 16. Oktober mit, daß Deutschland die nach dem Friedensvertrage auszustellenden Schuldverschreibungen in Höhe von 20 und 40 Milliarden Goldmark überreicht habe, und zehn Tage später verzichtete die englische Regierung auf das ihr nach dem Versailler Vertrage zustehende Recht, deutsches Nachkriegseigentum in England zu beschlagnahmen. Zwar verlangte England die Zerstörung der gefährlichen deutschen Dieselmotoren, jedoch zog die Botschafterkonferenz diese Forderung für die in der Industrie verwendeten Motoren zurück (10. November).

Am 11. November trat die Wiedergutmachungsfrage in ein neues Stadium. England und Frankreich einigten sich dahin, daß in Brüssel eine Sachverständigenkonferenz stattfinden solle, an der sich Deutschland beteiligen würde; es sei darüber ein Bericht an die Regierung und den Wiedergutmachungsausschuß zu erstatten. Nach der Lösung der oberschlesischen [40] Frage sollte in Genf eine Konferenz der Alliiertenminister stattfinden, wozu Deutschland zu beratender Teilnahme "wie in Spa" einzuladen sei. Hierüber sei ein Bericht an die Regierungen zu machen, die ihrerseits ihre Delegierten in der Wiedergutmachungskommission zu unterrichten hätten. Ferner habe der Wiedergutmachungsausschuß den Gesamtbetrag und die Zahlungsweise festzusetzen und über Deutschlands Zahlungsunfähigkeit zu berichten. Die Sicherungen und Strafmaßnahmen habe der Oberste Rat der Alliierten zu prüfen. Bis hierhin war Frankreich den Engländern entgegengekommen, und die englische Regierung erwies sich erkenntlich, indem sie das formelle Versprechen abgab, eine Aufhebung des Verbotes vom 16. Juni 1919, Deutschland in den Völkerbund aufzunehmen, zur Zeit nicht zu begünstigen. Daraufhin gab die französische Regierung ihren Delegierten den Rat, sich sofort von den Völkerbundsverhandlungen zurückzuziehen, falls von der Aufnahme Deutschlands gesprochen würde. Noch fürchtete Frankreich Deutschlands Widerstandskraft, hoffte aber anderseits auf seine Auflösung, so daß ihm jetzt ein Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als vollkommen absurd und verfrüht erschien. Auch wären dadurch die französischen Pläne der Ruhrbesetzung vereitelt worden.

Man ging in England und Frankreich mit aller Ruhe und Langsamkeit daran, das Problem der Wiedergutmachungen einer Lösung entgegenzuführen. Es hatte den Anschein, als gefalle den Alliierten der gegenwärtige regel- und gesetzlose Zustand, in welchem sie nach Gutdünken und Willkür neue Verfehlungen Deutschlands feststellen und neue Zwangsmaßregeln durchführen konnten. Aber in Deutschland wuchs die Nervosität über verzögerte und stets verschobene Klärung der bedeutsamen Fragen, und man vernahm Stimmen, welche die endgültige Ordnung der Dinge forderten. Die Reichsregierung sah mit Entsetzen das Milliardendefizit, das sich am Ende des Jahres vor ihr auftürmen würde, und das langsame, aber ständige Sinken der Mark erhöhte die Sorgen der Industrie. Reichsaußenminister Dr. Simons und Reichskanzler Fehrenbach unternahmen eine Rheinlandreise, um sich persönlich von den dort herrschenden Zuständen zu überzeugen. In [41] Düsseldorf und Köln hielt Dr. Simons Reden (14. und 15. November), worin er in ehrlicher Entrüstung über das seelisch und körperlich quälende System der Alliierten erklärte, auch das feindliche Recht auf Gewaltmaßnahmen aus dem Versailler Frieden habe eine Grenze. Auch beschwerte er sich über die unnötig hohe Besatzung von 145 000 Mann, mit der man die Rheinlande bedrücke. Diese Reden wurden von Frankreich, Belgien und England in anmaßendem Stolze am 6. Dezember zum Gegenstande neuer Demütigungen für Deutschland gemacht. Man würde deutschen Ministern in Zukunft nur dann die Einreise ins besetzte Gebiet gestatten, wenn sie während ihres Aufenthaltes alle Angriffe gegen die Behörden, die Regierungen und Maßnahmen der Alliierten sowie gegen den Friedensvertrag unterließen. Behandelten die Franzosen und Belgier nicht schon das Rheinland, als gehöre es ihnen? Wo blieb das Recht der freien Meinungsäußerung? Wo sollte die Hoheit des Reiches, der Glaube an die Regierung bleiben, wenn den höchsten Beamten, den Ministern, derartig entwürdigende Verpflichtungen auferlegt wurden? War der Krieg beendet, oder führten ihn die Alliierten auf eigene Faust gegen das wehrlose Deutschland weiter? Welch ausgeklügelte Demütigungen hatten die Alliierten seit Monaten dieser ersten bürgerlichen Regierung der deutschen Republik bereitet, weil ihnen diese Regierung unbequemer war als die vorhergehenden!

  Zunehmende Spannung  
zwischen Deutschland
und den Alliierten

Deutschland war nicht mehr willens, widerspruchslos die Schikanen der Alliierten hinzunehmen. Es war als eine Repressalie zu betrachten, wenn die Entente nach der Ablieferung des letzten deutschen Kriegsluftschiffes L. Z. 120 an Italien am 28. November bereits am nächsten Tage als Ersatz für sieben im Juni und Juli [1919] zerstörte Luftschiffe die Ablieferung der Verkehrsluftschiffe "Bodensee" und "Nordstern" sowie Neubauten und Geld verlangten. Doch die deutsche Regierung lehnte die Ersatzpflicht ab mit dem Bemerken, daß die Angelegenheit durch das Friedensprotokoll vom 10. Januar 1920 erledigt sei; ein Schiedsgericht wurde vorgeschlagen. Die Interalliierte Luftüberwachungskommission hatte die Absicht, das am 10. Juli abgelaufene Bauverbot für [42] zivile Flugzeuge weiterhin bestehen zu lassen. Auch gegen diesen kleinlich-gehässigen Rechtsbruch erhoben die Deutschen Einspruch. Deutschland verlangte Zurückziehung der in Duisburg, Karlsruhe und Mannheim stationierten Militärkommandos, doch die Botschafterkonferenz schlug das deutsche Ersuchen ab. In einer Note vom 9. Dezember erklärte die deutsche Regierung, sie sei keineswegs verpflichtet, die Einwohnerwehren aufzulösen, da sie keinen militärischen Charakter trügen. Die Waffen wolle man bis Januar 1921 einziehen, doch für Bayern und Ostpreußen seien Vorbehalte zu machen. Drei Tage später wiederholte die Interalliierte Kontrollkommission ihre Forderung nach sofortiger Entwaffnung und Auflösung aller Selbstschutzorganisationen.

  Viehlieferungen  

Die diplomatische Atmosphäre war voller Spannungen. Das Hin und Her inhaltsschwerer und grollschwangerer Noten bildete die Begleitmusik zu den Disputen über das eigentliche Kernproblem, die Wiedergutmachungslieferungen. Am 3. Dezember hatte Deutschland mit der Entente ein Abkommen über Viehlieferungen getroffen. Es sollten in den nächsten sechs Monaten 60 000 Stiere, Zugochsen und junge Rinder und 30 000 tragende Kühe und Färsen geliefert werden, außerdem 125 000 Schafe und 30 000 Pferde. Dazu kamen Lieferungen von Geflügel, Ziegen und Schweinen. Es wurde vereinbart, daß das im Versailler Vertrage geforderte Geflügel in vier bis acht Jahren, die Ziegen und Schweine in drei Jahren geliefert werden sollten. Dieses Abkommen bedeutete jedoch nur eine Ergänzung zu den Ausführungsbestimmungen des Friedensvertrages und umfaßte nur einen kleinen Teil der zu lösenden großen wirtschaftlichen Probleme. Mit großen Erwartungen sah man der Brüsseler Sachverständigenkonferenz entgegen, welche die Wiedergutmachungsfragen behandeln sollte und zu der eine deutsche Abordnung unter Staatssekretär Bergmann entsandt wurde. Jedoch nach Verhandlungen, welche eine Woche gedauert hatten, ging man am 22. Dezember auseinander, ohne ein Ergebnis erreicht zu haben. Die Alliierten schoben die Schuld am Scheitern auf die vorsichtige, ja ablehnende Haltung der Deutschen den maßlosen französisch-englischen Ansprüchen [43] gegenüber, jedoch machte die deutsche Delegation lediglich von ihrem Rechte Gebrauch, die Interessen des deutschen Volkes zu vertreten. Am letzten Tage des Jahres stellte Frankreich fest, daß Deutschland wesentliche Bestimmungen des Versailler Friedens noch nicht und die Bestimmungen des Abkommens von Spa nicht genau erfüllt habe. Dennoch war an diesem Tage die Herabsetzung des Heeres auf 100 000 Mann vollzogen. –

  Wirtschaftliche Zerrüttung  

Mit Entsetzen sah Deutschland die wirtschaftliche Verheerung, welche die Drangsalierungen Englands und Frankreichs im verflossenen Jahre hervorgerufen hatten. Der zielbewußten, sachkundigen und festen Reichsleitung war es sicherlich zu danken, daß die Mark nur um 3½ Pfennige gesunken war (1. Januar: 9,7 Pfennige, 31. Dezember: 6,2 Pfennige). Optimisten erblickten in diesem Valutasturz von nur etwa 35 Prozent ein Anzeichen beginnender wirtschaftlicher Festigung, da ja im vorhergegangenen Jahre die Mark 80 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hatte und auch das Jahr 1918 mit 37½ Prozent Verlust nicht erreicht worden war. Jedoch das war nicht der Fall. Der verminderte Kursrückgang konnte lediglich als ein Symptom für die Stabilisierung des wirtschaftlichen Auslandvertrauens zur deutschen Reichsregierung betrachtet werden, das mit dem Augenblicke wieder erschüttert wurde, sobald eine sozialistische Regierung ans Ruder kam.

Dennoch war die Wirtschaftslage Deutschlands nichts weniger als rosig. Das Reich hatte Gesamtausgaben in Höhe von 121 Milliarden Papiermark gehabt (1920), von denen 83,2 Milliarden, also fast 70 Prozent, ungedeckt blieben! Die Gesamtsteuerlast pro Kopf der Bevölkerung betrug bereits 765 Mark gegenüber 67,80 Mark im Jahre 1913. Die deutsche Zahlungsbilanz, die sich 1913 im Gleichgewicht befand, wies 1920 ein Defizit von 4 Milliarden Goldmark auf! Der Verlust an Kohle und Erzen hatte die deutschen Ausfuhrmöglichkeiten verringert, dagegen hatte sich durch den Verlust landwirtschaftlicher Überschußgebiete der Einfuhrbedarf um 2½ Milliarden erhöht. Dazu kamen andere Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 1½ Milliarden Goldmark. Der Versailler Vertrag hatte die deutschen Auslandsguthaben geraubt, die deutsche Handelsflotte genommen, die deutschen Außen- [44] handelsbeziehungen zerstört. Statt am Ausland Geld zu verdienen, mußte Deutschland noch sehr hohe Frachten für die Benutzung ausländischer Handelsschiffe zahlen. Dazu waren an die Alliierten etwa 4 Goldmilliarden gezahlt und geleistet worden, von denen jedoch nur der vierte Teil zum Wiederaufbau Frankreichs verwandt wurde, während den Rest die Besatzungsheere verschlangen! 8 Milliarden Goldmark hatte das deutsche Volk 1920 verloren, und das war etwa ein Drittel seines damaligen Nationaleinkommens. Fast drei Stunden des Tages leistete also jeder deutsche Mann und jede deutsche Frau den Feinden Frondienste! –

Der Wiedergutmachungsausschuß kam am 6. Januar 1921 mit einem neuen Entwurf eines Abkommens über Nachlieferung und Kontingenterhöhung der deutschen Spakohle heraus. Die deutsche Regierung erklärte von vornherein, daß derartige Vorschläge unausführbar seien, und den Alliierten schien es nunmehr an der Zeit, die Wiedergutmachungsfrage in geordnete Formen zu bringen.

  Der Oberste Rat  
in Paris

Sechs Tage, vom 24.–29. Januar 1921, tagte der Oberste Rat der Alliierten in Paris und faßte folgende Beschlüsse:

Deutschland müsse eine halbe Million Tonnen Spakohle nachliefern. Vom 1. Februar ab werde die Lieferung auf monatlich 2,2 Millionen Tonnen erhöht, Vorschüsse seien abzulehnen.

An Wiedergutmachungen habe Deutschland zu zahlen 42 Jahre lang, vom 1. Mai 1921 bis zum 1. Mai 1963, insgesamt 226 Milliarden Goldmark. Die Jahresraten (Annuitäten) sollten je zur Hälfte am Ende jedes Halbjahrs zahlbar sein, und zwar nach folgender Staffel:

1. Mai 1921 1. Mai 1923: 2 Annuitäten je  2  Milliarden Goldmark
1. " 1923 1. " 1926: 3 " " 3 " "
1. " 1926 1. " 1929: 3 " " 4 " "
1. " 1929 1. " 1932: 3 " " 5 " "
1. " 1932 1. " 1963:  31 " " 6 " "

Ferner sollte 42 Jahre lang von der gesamten deutschen Ausfuhr in Höhe von je 12 Prozent ihres Wertes eine Abgabe in Gold erhoben werden, die auf 1–2 Goldmilliarden jährlich geschätzt wurde und nicht auf die Wiedergutmachung anzurechnen sei.

[45] Schließlich wurde der Reichsregierung, den Landesregierungen, den Provinzial- und Gemeindebehörden sowie sämtlichen Gesellschaften und Unternehmungen, die von diesen Stellen überwacht wurden, verboten, ohne Zustimmung der Reparationskommission im Ausland direkte oder indirekte Kreditoperationen vorzunehmen, d. h. Anleihen aufzunehmen. –

Das war ein phantastisch-ungeheuerlicher Plan! Er überstieg die kühnsten Erwartungen. Er bedeutete nichts anderes, als die Auslieferung des gesamten deutschen Nationalvermögens im Laufe weniger Jahrzehnte, eine restlose und vollständige Verproletarisierung des gesamten deutschen Volkes. Es bedeutete Enteignung der Wirtschaft, des Besitzes und des Handels, Aufsicht und Bevormundung durch grausame Kerkermeister, Hinabtreten eines hohen Kulturvolkes in das Schicksal chinesischer Kulis. Kinder und Kindeskinder wurden verurteilt, bis zum Zusammenbrechen Frondienste für die englischen und französischen Herrscher zu leisten. Die Gesamthöhe der beim Wiedergutmachungsausschuß angemeldeten Kriegsschäden belief sich auf 186 Milliarden. Diese Summe wurde vom Ausschuß auf 132 herabgesetzt. Aber auch das war noch viel zuviel. Waren doch hierin die kapitalisierten Beträge der Renten und Pensionen enthalten, welche die Alliierten ihren Kriegsopfern zu zahlen hatten. Nach deutscher Auffassung reichten 30 Milliarden vollkommen aus, um die durch den Krieg verursachten Schäden zu ersetzen. Das deutsche Volk war ohnehin arm genug geworden, daß es seinen Feinden nicht noch Renten und Pensionen ersetzen konnte, zudem ja seine Unschuld am Kriege feststand. Es war schon 1920 schwierig gewesen, die Forderungen der Gegner zu erfüllen, wie sollten aber nun erst diese maßlos überspannten Ansprüche befriedigt werden? Nun, Deutschland war entwaffnet, an einen Widerstand war nicht zu denken, und die Alliierten durften unbedenklich wagen, das wahre Gesicht zu zeigen und ihren Willen kundzutun: Deutschland auszulöschen aus dem Reiche der Kulturvölker und der Wirtschaftsmächte. –

Ein Entrüstungssturm erhob sich in Deutschland. Die deutsche Regierung lehnte zunächst diese Forderungen ab, suchte aber [46] eine annehmbare Basis für die Kohlenlieferungen aus dem Spaabkommen zu schaffen. Dazu hatte Deutschland alle Ursache, denn Frankreich trieb mit der deutschen Tributkohle einen schwunghaften Handel. Da nämlich Frankreich und Belgien nicht imstande waren, die von Deutschland gelieferten Kohlenmengen zu verdauen, konnten sie einen großen Teil der Reparationskohle an andere Länder verkaufen. Da der dem deutschen Reparationskonto gutzuschreibende Preis sehr gering war, verdiente der französische Staat Milliarden, und de Lasteyrie, der Berichterstatter der Finanzkommission in der Französischen Deputiertenkammer und nachmalige Finanzminister, erklärte späterhin, daß Frankreich für die deutschen Kohlenlieferungen vom September 1920 bis zum September 1921 dem Deutschen Reiche nur hätte 960 Millionen Franken gutzuschreiben brauchen, während es selbst dafür einen Kaufpreis von 2572 Millionen erzielt hätte, also einen Reingewinn von 1,612 Milliarden Franken verbuchen konnte!

Für die deutsche Regierung waren diese Verhältnisse unbillig, ja unwürdig. Wie sollte sie es stillschweigend hinnehmen, daß aus deutscher Fronarbeit sich der französische Rentnerstaat bereicherte? Waren die Tage Karthagos wiedergekehrt, da diese blühende Stadt von den siegreichen Römern im grenzenlosen Überschwange geschleift worden war und ihre Bewohner, solange sie noch lebten, den Römern Knechts- und Sklavendienste zu leisten hatten. Hatten zweitausend Jahre Kultur nicht ausgereicht, um die barbarischen Gepflogenheiten übermütiger Sieger auszurotten? Deutschland wies also darauf hin, daß durch die Lieferungen der Spakohle Frankreich in Kohlen ersticke und daher mehr erhalte, als es billigerweise brauchen und beanspruchen könne. Es widerstrebe dem Sinne der Wiedergutmachungen aber, wenn mit diesen Reparationsgütern Handel getrieben werde, und es müsse verboten werden, daß Frankreich und Belgien die gelieferten deutschen Kohlen weiterverkaufen. Andererseits befinde sich die deutsche Wirtschaft in einer solchen Notlage, daß eine Herabsetzung der Tribute gefordert werden müsse, eine Erhöhung aber unbedingt abzulehnen sei. Unter diesen Umständen sollten die Alliierten auf Nachlieferungen verzichten, die monatlichen [47] Raten auf 1,8 Millionen Tonnen festsetzen und die Prämie von fünf Goldmark auch weiterhin zahlen. – Diese deutschen Vorschläge wurden den Alliierten am 4. Februar übermittelt, und am folgenden Tage wurde die Regierung Fehrenbach zur Londoner Konferenz in der Wiedergutmachungsfrage eingeladen.

  Vereinigte Staaten von Amerika  

Die Vereinigten Staaten von Amerika waren nicht einverstanden gewesen mit den Verhandlungen der Friedenskonferenz. Wir sahen, wie sehr und mit wie wenig Erfolg sich Wilson den Forderungen Frankreichs widersetzte. Hieraus ergab sich, daß sich die Vereinigten Staaten nicht an der Ratifikation des Friedens am 10. Januar 1920 beteiligten. Sie erkannten nicht den Völkerbund an, da er nur eine Vereinigung der Sieger, nicht aber einen Bund des Friedens darstelle, und sie blieben dem Völkerbund fern. Amerika erklärte, es wolle sich nicht weiter in die europäischen Angelegenheiten einmischen und protestierte weiterhin gegen die Auslieferung Schantungs an Japan. Vier Monate später, Mitte Mai, nahmen Senat und Parlament die Resolution Knox an, welche die einfache Herstellung des Friedenszustandes mit Deutschland verlangte, trotzdem Wilson dagegen Einspruch erhob. Am 2. November wurde der Republikaner Harding als Nachfolger Wilsons zum Präsidenten gewählt, und die Kriegspsychose jenseits des Ozeans schwand mehr und mehr. Vor allem waren die Vereinigten Staaten als Gläubiger Europas keineswegs willens, sich in das Feilschen um die Wiedergutmachungen einzumischen, ein zwingender, direkter Grund hierfür kam ja bei Amerika auch nicht in Frage. So kam es, daß die Union am 18. Februar 1921 ihren Vertreter aus dem Wiedergutmachungsausschuß der Alliierten abberief. Europa wurde sich selbst überlassen. Der kaufmännischen Vernunft der Vereinigten Staaten war das offensichtliche Bestreben Frankreichs und Englands, sich auf Kosten des besiegten Deutschlands nicht nur zu entschädigen, sondern zu bereichern, zuwider, und es erschien von vornherein aussichtslos, über die Pariser Beschlüsse des Obersten Rates zu diskutieren, da die englisch-französischen Vertreter des Wiedergutmachungsausschusses sich diese zu eigen gemacht hatten.

Frankreich, England
  und die "Sanktionen"  

Man erkannte in Frankreich, daß das Ausscheiden Amerikas [48] aus den Wiedergutmachungsverhandlungen auch für die Ententestaaten keine günstigen Folgen haben würde. Waren doch England und Frankreich in großem Umfange an die Vereinigten Staaten verschuldet. Um so mehr schien es Frankreich für nötig zu halten, aus Deutschland herauszupressen, was nur irgend ging; es nahm jetzt seine Zuflucht zu den im Versailler Vertrage vorgesehenen "Sanktionen", d. h. Zwangsmaßnahmen gegen Deutschland für den Fall, daß es seinen Verpflichtungen nicht nachkam. Briand teilte daher am 19. Februar der deutschen Regierung mit, daß die "Sanktionen" in Kraft treten würden, wenn Deutschland die Pariser Forderungen ablehnen würde. In diesem Falle würde die Besetzungsfrist im Rheinlande, die noch nicht zu laufen begonnen habe, verlängert, die Rheinlande würden wirtschaftlich vom Reiche getrennt durch Errichtung einer Zollschranke, die Besetzung würde auf rechtsrheinisches Gebiet ausgedehnt werden, und Deutschland würde niemals Aussicht haben, in den Völkerbund aufgenommen zu werden.

Der englische Bundesgenosse war zwar nicht in allen Stücken mit den Ankündigungen Frankreichs einverstanden, und die britische Regierung erklärte schon zwei Tage später im Unterhause, daß die Artikel 428–431 des Versailler Vertrages über die Dauer der Besetzung nicht geändert seien. Danach haben die Fristen für die Rheinlandbesetzung am Tage der Friedensratifikation, dem 10. Januar 1920, begonnen, und davon sei man nicht abgewichen.

  Londoner Konferenz  

Am selben Tage, dem 21. Februar, eröffnete der Oberste Rat der Alliierten die Londoner Konferenz über die Wiedergutmachungsfrage, wozu auch Deutschland eingeladen worden war. Man wollte hören, wie sich Deutschland zu den Pariser Tributforderungen stellte, und von der deutschen Regierung deren Annahme erzwingen. Die deutsche Delegation wurde vom Außenminister Dr. Simons geführt, und dieser legte der Konferenz am 1. März die deutschen Vorschläge vor. Deutschland, so hieß es darin, kann höchstens 50 Milliarden Goldmark zahlen, die zum Teil durch eine Anleihe aufgebracht, zum Teil durch Waren und Sachlieferungen abgetragen werden sollten. Voraussetzung für dieses Angebot sei jedoch, [49] daß Deutschland Oberschlesien behalte und die Freiheit der internationalen Handelsbeziehungen wiederhergestellt würden.

Der Oberste Rat beschäftigte sich in seiner Sondersitzung mit den deutschen Vorschlägen und erklärte sie für undiskutabel. Lloyd George hielt es für nötig, die Wiedergutmachungspflicht Deutschlands zu begründen, da die deutschen Vertreter aufs nachdrücklichste die Alleinschuld Deutschlands am Weltkriege ablehnten und aus diesem Grunde auch eine ungerechtfertigte Wiedergutmachungslast zu übernehmen sich weigerten, es sei jeder Staat an seinem Teile am Kriege schuld gewesen und habe deswegen auch seinen Teil an den Wiedergutmachungen zu tragen. Die Alliierten wußten wohl, daß jedes Zugeständnis in der Schuldfrage ihre schrankenlose Macht in der Wiedergutmachungsfrage verkürzen konnte, und deswegen erklärte Lloyd George am 3. März vor der Konferenz folgendes:

      "Für die Alliierten ist die deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg grundlegend. Sie ist die Basis, auf der das Gebäude des Vertrages errichtet worden ist, und wenn das Anerkenntnis verweigert oder aufgegeben wird, ist der Vertrag hinfällig. Die Alliierten fühlen daher, daß sie die Tatsache in Rechnung ziehen müssen, daß die deutsche Regierung mit offenbarer Unterstützung der deutschen öffentlichen Meinung die eigentliche Grundlage des Vertrages von Versailles anficht. Vorschläge wie die von Dr. Simons gemachten sind einfach die notwendige Folgerung aus dieser neuen Haltung. Wenn Deutschland in dieser Gemütsverfassung an seine Verpflichtungen herangeht, sind solche Vorschläge unvermeidlich. Wir wünschen deshalb ein für allemal es ganz klar auszusprechen, daß die deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg als cause jugée behandelt wird."

Infolgedessen erklärte man also, die deutschen Vorschläge seien völlig ungeeignet als Grundlage für Besprechungen, und den Deutschen wurde in ultimativer Form aufgegeben, bis zum 7. März befriedigende Vorschläge zu machen oder die Pariser Beschlüsse anzunehmen. Am 6. März fand eine Sonderbesprechung zwischen Simons, Lloyd George, Briand, Bergmann, Curzon und Loucheur statt. Die Deutschen machten [50] neue Vorschläge: fünfjährige Regelung durch feste Annuitäten und ein Äquivalent für die Ausfuhrabgabe, allerdings auch unter der Voraussetzung der vollen Handelsfreiheit und des Verbleibens Oberschlesiens beim Reiche. Man kam aber zu keinem Ergebnis, und am folgenden Tage wurden die Verhandlungen abgebrochen, nachdem der Oberste Rat in seiner Gesamtheit die deutschen Vorschläge abgelehnt hatte.

Sanktionen und
  drohende Rheinbesetzung  

Gleichzeitig traten jetzt die "Sanktionen" in Kraft: Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort wurden am 8. März durch Ententetruppen besetzt, nach einigen Tagen zog das feindliche Militär in Walsum, Ratingen, Welbeck und Marxloh ein und okkupierte die Bahnhöfe Mülheim-Speldorf und Oberhausen-West. So standen die feindlichen Heere an der Schwelle des Ruhrgebietes, und es bedurfte nur noch eines Schrittes, um die von Frankreich schon längst angedrohte Ruhrbesetzung zu vollenden. Eine Zollgrenze wurde um das Rheinland gelegt und alle deutschen Waren, die in das besetzte Gebiet und die Länder der Alliierten eingeführt werden sollten, wurden mit einem "Wiedergutmachungszoll" von 50 Prozent belegt, den, wie man erwartete, die deutsche Regierung den Exporteuren ersetzen mußte. Vergeblich erklärte Deutschland, daß die Sanktionen einen Bruch des Versailler Verlages darstellten, vergeblich war die Beschwerde beim Völkerbund.

Franzosen besetzen Bahnhof Düsseldorf.
[Bd. 1 S. 240a]      Franzosen besetzen
Bahnhof Düsseldorf.
      Photo Scherl.
März 1921: Belgische Panzerautos in den Straßen Düsseldorfs.
[Bd. 2 S. 224b]      März 1921: Belgische
Panzerautos in den Straßen Düsseldorfs.

Photo Sennecke.

Nun wurde die Wiedergutmachungskommission beauftragt, die von Deutschland zu zahlende Entschädigungssumme offiziell festzusetzen und die von Deutschland bis zum 1. Mai 1921 gezahlten Beträge zu schätzen. Zunächst war es das Bestreben der Kommission, von der deutschen Regierung die Durchführung des Artikels 235 zu erreichen. Deutschland berechnete den Wert seiner Lieferungen bis Anfang Mai 1921 auf 21 Milliarden Goldmark, doch die Wiedergutmachungskommission erkannte diese Summe nicht an und forderte, daß gemäß Artikel 235 des Versailler Vertrages bis zum 1. Mai die Summe von 20 Milliarden Goldmark zu zahlen sei. Da von ihr die bisherigen Leistungen Deutschlands nur auf acht Milliarden geschätzt wurden, mußten also innerhalb der nächsten sechs Wochen noch 12 Milliarden abgeliefert werden. Bis zum 1. Mai sollte dann auch die Gesamt- [51] summe für die Wiedergutmachungen mitgeteilt werden. Als Abschlagszahlung auf die am 1. Mai fälligen Summen sollte Deutschland bis zum 23. März eine Milliarde Goldmark zahlen.

  Zuspitzung der Lage  

Die Verhandlungen nahmen immer schärfere Formen an. Die Alliierten wollten Deutschland unter allen Umständen zur Erfüllung zwingen, während die deutsche Regierung im Bewußtsein ihrer Verantwortung nicht mehr Zugeständnisse machen wollte, als es ihr nach Recht und Billigkeit notwendig erschien. Die Alliierten gingen bei ihren Forderungen von Artikel 231 des Versailler Vertrages aus, welcher Deutschlands Alleinschuld am Weltkriege dekretierte, während die deutsche Regierung diese Behauptung anfocht und verlangte, daß die Wiedergutmachung von allen Völkern gemeinsam nach dem Anteil ihrer Schuld am Weltkrieg ausgeführt werde. Allerdings mußte sich nach den Ereignissen der Jahre 1918 und 1919 erweisen, daß die Bestrebungen der deutschen Regierung wenig Aussicht auf Erfolg haben mußten.

Entgegen der englischen Erklärung im Unterhause verkündete Briand am 24. März vor dem vereinigten Finanz- und Auswärtigen Ausschuß, daß England und Frankreich den Beginn der 15jährigen Besetzungsfrist des Rheinlandes abhängig machen vom Beginn befriedigender Vertragserfüllung durch Deutschland. Es war dies einer der bekannten französischen Einschüchterungsversuche, welche Deutschland den Forderungen der Alliierten gefügig machen sollten. Es war ja leicht, den Deutschen stets Erfüllungsverzug vorzuwerfen, und wie hätten die Franzosen die günstige Gelegenheit, ihre Rheinlandpläne zu verwirklichen, nicht beim Schopfe fassen sollen? Trotzdem verkauften Frankreich und Belgien die mit deutschem Schweiße geschürfte Tributkohle weiter, so daß die deutsche Regierung fünf Tage später wiederum Einspruch hiergegen erhob. Von Tag zu Tag stieg die Erregung über die vermeintliche deutsche Hartnäckigkeit in Frankreich, und Anfang April drohte Briand in einer Senatsrede, wenn Deutschland am 1. Mai versuche, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, so werde eine feste Hand es am Kragen packen, und eine Woche später variierte er das Thema, indem er in einer [52] Kammerrede bemerkte, wenn der deutsche Schuldner sich widerspenstig zeige, dann müsse den Gerichtsvollzieher ein Gendarm begleiten. Auch die Wiedergutmachungskommission setzte den Deutschen zu und forderte die Überführung der Goldbestände der Deutschen Reichsbank und der übrigen deutschen Notenbanken als Pfand nach dem besetzten Gebiet (17. April). Deutschland wies darauf hin, daß die Durchführung dieser Forderung rechtlich unmöglich sei, da die Reichsbank ein Privatinstitut sei, und schlug eine Verlängerung des Goldausfuhrverbotes vor. –

Am 20. April war auch die Rheinlandgrenze in Kraft getreten. Sie bedeutete einen herben Schlag für das deutsche Wirtschaftsleben, denn es wurde etwa der achte Teil der deutschen Bevölkerung gewissermaßen vom Reiche abgeriegelt. Auch der Wiedergutmachungszoll von 50 Prozent, ein "Kampfzoll" von ganz unerhörter Schärfe, begann sich unheilvoll bemerkbar zu machen. In Lympne bei Hythe trafen am 24. April Lloyd George und Curzon mit Briand und Berthelot zusammen, und in der Sorge um das "widerspenstige" Deutschland wurde die vollkommene Einmütigkeit Frankreichs und Englands über die volle Erfüllung der deutschen Verpflichtungen festgestellt. Die Lage war ernst, denn die bürgerliche Regierung Deutschlands war mutig und standhaft, und sie stellte die Alliierten vor Entschlüsse, die von weittragender Bedeutung sein konnten. Eine Vollkonferenz des Obersten Rates sollte zum 30. April einberufen werden.

So anerkennenswert das Verhalten der deutschen Regierung vom politisch-moralischen Standpunkte aus war, so hoffnungslos war es doch andererseits! Wie wollte das gänzlich seiner Macht entkleidete und entwaffnete Deutschland seine Forderungen des Rechtes durchsetzen, während doch seine Gegner bis an die Zähne bewaffnet waren. Ja, jede deutsche Weigerung war Wasser auf Frankreichs Mühlen! Wie frohlockte die Pariser Presse, wie fleißig und unentwegt zeigte sie den Engländern, daß ihr Schwachwerden einem Verrat am Siege der Alliierten gleichkomme! Nein, jetzt gelte es, fest zusammenzustehen wie in den schönen Augusttagen 1914 glorreichen Angedenkens! Die mit der Härte der siegreichen Helden gepanzerten Herzen der Fran- [53] zosen wurden weich vor Rührung, denn es stand unerschütterlich fest vor der Welt, daß die verdammten Deutschen wahrhaft schlechte Menschen waren, die sich weigerten, ihre gerechten Verpflichtungen zu erfüllen.

  Stimmung in London  
und Paris

Es herrschte in Paris und London eine Stimmung, die man etwa als nachgeahmte Kriegsstimmung vom August 1914 bezeichnen könnte: Westeuropa war sich vollkommen einig, das unbequeme Deutschland zu Boden zu zwingen. So konnte Lloyd George am Tage nach Lympne im Unterhause erklären: "Falls die zu erwartenden deutschen Vorschläge nicht genügen, wird die englische Regierung bei dieser (in Lympne beschlossenen) Konferenz die französischen Vorschläge wegen der Okkupation der westfälischen Kohlengebiete unterstützen; wenn weitere Zwangsmaßnahmen geplant werden, werden sie vor ihrer Durchführung dem Hause unterbreitet werden." Auch England war demnach entschlossen, den Einmarsch ins Ruhrgebiet durchzuführen. Briand aber, voller Genugtuung über die englische Zustimmung, frohlockte vor der Französischen Kammer: Frankreich verzichte auf alle weiteren Worte, seine Dispositionen für den Verfalltag (1. Mai) seien getroffen; es sei bereit, die Geste auszuführen, die das Mittel zur Sicherung seiner Rechte in seine Hand bringen werde.

Die Alliierten gingen zur letzten entscheidenden Offensive über: das Ruhrgebiet sollte besetzt werden, dadurch würde die bürgerliche Regierung in Deutschland gestürzt werden und eine "Erfüllungsregierung" von Zentrum und Sozialisten würde ihr folgen, eine Regierung, von der man nicht so viel Widerstände zu erwarten habe wie von der gegenwärtigen. Auch lagen die allgemeinen Verhältnisse im deutschen Volke noch so, daß die Alliierten auf ein Gelingen ihres Planes hoffen durften. Die Besetzung des Ruhrgebietes würde in der Tat eine innere Opposition hervorgerufen haben, die den Sturz der ersten bürgerlichen Regierung und ihre Ersetzung durch eine sozialistische Erfüllungsregierung nach sich gezogen hätte.

Die Wiedergutmachungskommission handelte selbstverständlich in voller Übereinstimmung mit den alliierten Regierungen. Zunächst ward der alte Streit weitergeführt, der sich [54] aus der deutschen und alliierten Berechnung der bereits von Deutschland geleisteten Zahlung ergab. Die Kommission hielt hartnäckig an ihrer Behauptung fest, daß Deutschland erst acht Milliarden entrichtet habe, während Dr. Simons seinen Standpunkt über bereits gezahlte 20 Milliarden aufrechterhielt. Der Ausschuß verlangte nach wie vor, daß bis zum 30. April eine Milliarde Goldmark in die Keller der Bank von Frankreich zu liefern sei, was ja von deutscher Seite konsequent abgelehnt werden mußte. Am 27. April ging der deutschen Regierung die Note des Ausschusses zu, in welcher gemäß Artikel 232 und Anhang A zum Teil 8 des Versailler Vertrages die deutsche Gesamtschuld auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt wurde. Nicht eingerechnet waren hierin die deutschen Zurückerstattungen nach Artikel 238 und 232 Absatz 3. Die deutsche Reichsregierung sollte bis zum 1. Mai, an welchem Tage nach Artikel 233 Absatz 3 die deutschen Zahlungsverpflichtungen zu laufen beginnen sollten, die Schuld anerkennen.

  Wiedergutmachungsartikel  
des Versailler Vertrages

Der Wortlaut des Artikels 232 Absatz 1 und 2 ist folgender: "Die verbündeten und assoziierten Regierungen erkennen an, daß die Hilfsquellen Deutschlands nicht ausreichen, um die vollständige Wiedergutmachung aller dieser Verluste und aller dieser Schäden sicherzustellen, indem sie der ständigen Verminderung dieser Hilfsquellen Rechnung tragen, die sich aus den anderen Bestimmungen dieses Vertrages ergibt. – (Abs. 2) Die verbündeten und assoziierten Regierungen verlangen indessen und Deutschland übernimmt die Verpflichtung, daß alle Schäden wieder gutgemacht werden, die der Zivilbevölkerung der alliierten und assoziierten Regierungen und ihrem Vermögen durch den erwähnten Angriff zu Lande, zur See und aus der Luft zugefügt sind, und überhaupt alle Schäden, wie sie in der Anlage I näher bestimmt sind."

Anlage I spezifiziert die Schäden nun folgendermaßen:

      "Gemäß Artikel 232 kann von Deutschland Ersatz für die Gesamtheit der Schäden verlangt werden, die unter die nachstehenden Kategorien fallen:

  1. Schäden, die Zivilpersonen an Leib oder Leben oder die Hinterbliebenen erlitten haben, die von diesen Zivilper- [55] sonen versorgt wurden, gleichviel in welchem Orte, sofern die Schäden durch irgendwelche Kriegshandlungen einschließlich der Beschießungen oder anderer Angriffe zu Lande, zur See oder aus der Luft oder durch irgendeine ihrer unmittelbaren Wirkungen oder durch irgendwelche Kriegsmaßnahmen der beiden Gruppen der Kriegführenden verursacht worden sind.
  2. Schäden, die von Deutschland oder seinen Verbündeten, gleichgültig an welchem Orte, Zivilpersonen dadurch zugefügt worden sind, daß sie Opfer von Akten der Grausamkeit, Gewalttätigkeit oder schlechter Behandlung wurden (einschließlich der Angriffe auf Leben und Gesundheit infolge von Gefangensetzung, Deportation, Internierung oder Evakuierung, Aussetzung auf hoher See oder Zwangsarbeit) oder die den Hinterbliebenen zugefügt worden sind, die von diesen Opfern versorgt wurden.
  3. Schäden, die von Deutschland oder seinen Verbündeten in ihrem Gebiete oder im besetzten oder Kriegsgebiet Zivilpersonen dadurch zugefügt worden sind, daß sie Opfer irgendeiner gegen ihre Gesundheit, ihre Arbeitsfähigkeit oder ihre Ehre gerichteten Handlung wurden, oder die den Hinterbliebenen zugefügt worden sind, die von diesen Opfern versorgt wurden.
  4. Schäden, die durch irgendeine Art von schlechter Behandlung den Kriegsgefangenen zugefügt worden sind.
  5. Als Schäden, die den Völkern der alliierten und assoziierten Mächten zugefügt worden sind, gelten auch alle Pensionen und gleichartigen Entschädigungsleistungen an militärische Opfer des Krieges (Heer oder Flotte oder Luftstreitkräfte), die verstümmelt, verwundet, krank oder invalide geworden sind, und an Personen, denen diese Opfer Unterhalt gewährten. Die Höhe der Summen, die den alliierten und assoziierten Regierungen geschuldet werden, soll für jede dieser Regierungen zu dem Kapitalwerte berechnet werden, den die bezeichneten Pensionen oder Entschädigungsleistungen am Tage des Inkrafttretens dieses Vertrages bei Zugrundelegung der in Frankreich zu diesem Zeitpunkte geltenden Tarife hatten. [56]
  6. Die Kosten der Unterstützung, die den Kriegsgefangenen, ihren Familien oder den Personen, denen sie Unterhalt gewährten, durch die Regierungen der alliierten und assoziierten Mächte geleistet worden ist.
  7. Unterstützungen, die von den Regierungen der alliierten und assoziierten Mächte den Familien von mobilen oder sonstigen Heeresangehörigen oder anderen oder von mobilen oder sonstigen Heeresangehörigen versorgten Personen gegeben worden sind. Die Höhe der Summen, die den genannten Regierungen für jedes Kriegsjahr geschuldet wurden, wird für jede dieser Regierungen auf der Grundlage des Durchschnittstarifs berechnet, der in Frankreich während des bezeichneten Jahres für Zahlungen dieser Art in Geltung war.
  8. Schäden, die Zivilpersonen infolge der ihnen von Deutschland oder seinen Verbündeten auferlegten Verpflichtung erwachsen sind, ohne angemessene Vergütung zu arbeiten.
  9. Schäden an allem Eigentum, gleichviel wo es belegen ist, das einer der alliierten und assoziierten Mächte oder ihren Angehörigen gehört (mit Ausnahme der Anlagen oder Materialien von Heer und Marine) und das durch die Handlungen Deutschlands oder seiner Verbündeten zu Lande, auf der See oder in der Luft fortgenommen, beschlagnahmt, beschädigt oder zerstört worden ist, oder Schäden, die als unmittelbare Folgen der Feindseligkeiten oder irgendwelcher Kriegshandlungen verursacht worden sind.
  10. Schäden, die in Form von Gelderhebungen, Strafen oder ähnlichen Anforderungen (Beitreibungen) von Deutschland oder seinen Verbündeten zum Nachteile der Zivilbevölkerung verursacht worden sind."

Für dieses Schuldkonto hatte also das deutsche Volk 132 Milliarden Goldmark zu zahlen. Es hatte für die Schäden, die seine Bundesgenossen angerichtet hatten, mit aufzukommen. Seine Verpflichtung war nichts mehr und nicht weniger, als Europa wieder aufzubauen.

  Die Wiedergutmachungslast  

Aber es waren dies nur die unmittelbaren Wiedergutmachungen für Kriegsschäden, und dazu kamen nun noch [57] besondere Verpflichtungen Belgien gegenüber. Absatz 3 des Artikels 232 sagt darüber:

      "In Erfüllung der Verpflichtungen, die Deutschland früher bezüglich der Belgien geschuldeten völligen Wiederherstellung und Rückerstattung übernommen hat, verpflichtet sich Deutschland, außer dem anderweitig vorgesehenen Schadenersatz wegen Verletzung des Vertrages von 1839 die Rückzahlung aller Summen zu bewirken, welche Belgien von den alliierten und assoziierten Regierungen bis zum 11. November 1918 geliehen hat, einschließlich 5 Prozent Zinsen. Die Höhe dieser Summen wird von der Wiedergutmachungskommission festgesetzt werden. Die deutsche Regierung verpflichtet sich, unverzüglich zu einem entsprechenden Betrage besondere Schuldverschreibungen auf den Inhaber auszugeben, die in Goldmark am 1. Mai 1926 oder nach Wahl der deutschen Regierung am 1. Mai irgendeines früheren Jahres zahlbar sein sollen. Vorbehaltlich der vorstehenden Bestimmungen wird die Form dieser Schuldverschreibungen von der Wiedergutmachungskommission festgestellt werden. Diese Schuldverschreibungen werden der Wiedergutmachungskommission übergeben, die ermächtigt sein soll, sie in Empfang zu nehmen und namens der belgischen Regierung darüber Quittung zu erteilen."

Das waren noch einmal sechs Milliarden Goldmark.

Und schließlich waren die im Artikel 238 aufgeführten Leistungen nicht in der Grundsumme enthalten. Dieser Artikel verfügt:

      "Außer den oben vorgesehenen Tilgungsleistungen wird Deutschland, indem es sich dem durch die Wiedergutmachungskommission geschaffenen Verfahren unterwirft, die Zurückgabe des fortgenommenen, beschlagnahmten oder sequestrierten Geldes in bar bewirken, ebenso die Zurückgabe der fortgenommenen, beschlagnahmten oder sequestrierten Tiere, Gegenstände aller Art und Wertpapiere, sofern es möglich ist, sie im Gebiete Deutschlands oder seiner Bundesgenossen festzustellen. – Bis zur Schaffung dieses Verfahrens soll die Rückerstattung nach den Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrages vom 11. November 1918, der Erweiterungsverträge und der inzwischen getroffenen Vereinbarungen fortgesetzt werden." –

Alles in allem genommen, Zins und Zinseszins [58] eingerechnet, belief sich Deutschlands "Reparationsschuld" auf etwa 200 Milliarden, und die Ende April 1921 der deutschen Regierung von der Wiedergutmachungskommission übergebene Denkschrift war nichts anderes als eine Variation des Themas von Paris und London; man kam zu demselben Endergebnis: Deutschland Verpflichtungen aufzuerlegen, die es auf Jahrzehnte zu physischer und wirtschaftlicher Ohnmacht verurteilten. –

Mit derartigen Plänen und Anschlägen war die deutsche Regierung ganz und gar nicht einverstanden. Sie beharrte unerschütterlich auf ihrem stets zum Ausdruck gebrachten Standpunkt, daß Deutschland nicht die Alleinschuld und die alleinige Verantwortung für den Krieg trage, wie es durch die Veröffentlichung der Dokumente erwiesen sei, und deshalb nicht mit Recht und Billigkeit durch seine Wirtschaftskraft ganz allein Europa wieder aufzubauen verpflichtet sei. Natürlich sei Deutschland bereit, seinen Anteil am Wiederaufbau zu tragen, aber es käme hierfür kein größerer Betrag in Frage als höchstens der dritte bis vierte Teil der von der Wiedergutmachungskommission festgesetzten Summe, allerhöchstens insgesamt 85 Milliarden. Voraussetzungen für Deutschlands Zahlungsfähigkeit seien jedoch Aufhebung der Sanktionen, Herstellung der überseeischen Handelsfreiheit und Verbleiben Oberschlesiens beim Reiche. Die deutsche Regierung sei überdies viel zu ehrlich, als daß sie nach genauer Kenntnis des deutschen Wirtschaftslebens Verpflichtungen eingehe, von deren Unerfüllbarkeit sie von vornherein überzeugt sei. Man wies auch auf die sündhafte Vergeudung des Geldes im besetzten Gebiet hin, des Geldes, das mühsam die Deutschen im Schweiße ihres Angesichts erarbeiteten, um es sich von den Besatzungstruppen abpressen zu lassen. Wie war es möglich, daß vom 11. November 1918 bis zum 30. April 1921 fast 3⅔ Milliarden Goldmark für Besatzungskräfte in Stärke von rund 150 000 Mann gezahlt werden konnten! Und hierin waren nicht eingerechnet die Kontributionen an deutschem Land-, Sach-, Natural- und Hauseigentum! Das war fürwahr eine kostspielige Armee! Und dann die vielen Überwachungsausschüsse! Erhielt doch ein [59] Kommissar ein Jahresgehalt von über 30 000 Goldmark, ein General hierbei 12 500, ein Maschinenschreiber 5 700 Goldmark, ein Chauffeur 3 800! Die Kommissionen waren wirklich nicht kleinlich, wenn es galt, sich Gehälter auf Deutschlands Kosten zu bewilligen! Es waren seit 1918 rund neun Milliarden in Gold an barem Gelde aus dem deutschen Volke herausgepreßt worden, und nur der vierte Teil ist den Wiedergutmachungen, dem Aufbau Nordfrankreichs, wirklich zugute gekommen! Mußte nicht eine deutsche Regierung, die diesen Mißbrauch tagtäglich erlebte, mit vollem Rechte gegen die unerhörten Forderungen der Alliierten Einspruch erheben? Es ward ein Raubbau mit deutscher Kraft getrieben, der nicht nur schwere Folgen für das Wirtschaftsleben, sondern auch für die Gesundheit und die Kultur des deutschen Volkes nach sich ziehen mußte. –

Es blieb den Deutschen nicht verborgen, daß der Gang der Wiedergutmachungsverhandlungen seit dem Scheitern der Londoner Konferenz eine drohende Wendung genommen hatte, und sie erkannten, daß man durch unmittelbare Verhandlungen mit den Gegnern zu keinem Ergebnis kommen werde. Deshalb rief Deutschland die Vermittlung einer unparteiischen Macht an: der Vereinigten Staaten von Amerika. Der neue Präsident Harding hatte am 12. April seine Antrittsbotschaft verkündet; er lehnte darin den Völkerbund als Zwangsmittel der Sieger ab und forderte die Herstellung des technischen Friedenszustandes mit Deutschland, wobei die Rechte Amerikas aus dem Waffenstillstande zu berücksichtigen seien. Es sei unbedingt notwendig, Europa wiederherstellen zu lassen und den Kriegsschuldigen gerechte Wiedergutmachungsbedingungen aufzuerlegen. Schließlich kündigte Harding Maßnahmen an, um einen Bund der Nationen zu errichten.

Abgelehnte Vermittlung
  der Vereinigten Staaten  

Aus den Äußerungen des neuen Präsidenten zog die deutsche Regierung den Schluß, Amerika werde sich ihrer annehmen, und richtete am 21. April an Harding das formelle Ersuchen, in der Wiedergutmachungsfrage zu vermitteln und für Deutschland unbedingt bindend die Wiedergutmachungssumme [60] festzusetzen. Das Angebot war verfrüht. Noch stand Amerika und das amerikanische Volk dem Kriege, in dem es selbst Partei gewesen war, zu nahe, um die Rolle des unparteiischen Vermittlers zu übernehmen. Das Scheitern der Wilsonschen Bestrebungen in Versailles trug außerdem seinen Teil dazu bei, daß sich Amerika enttäuscht von Europa abgewendet hatte. Schon am folgenden Tage, dem 22. April, lehnte die amerikanische Regierung das von Deutschland angebotene Schiedsamt in der Wiedergutmachungsangelegenheit ab. Präsident Harding erklärte sich außerstande, zwischen Deutschland und der Entente zu vermitteln, da ja Deutschland allein die Verantwortung für den Krieg trage. Nichtsdestoweniger übersandte die Regierung am 24. April dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ihre Vorschläge, wie sie ihrer allgemeinen Einstellung zur Kriegsschuldfrage entsprachen. Amerika unterbreitete diese unverbindlich und ohne eine Vermittlungsverpflichtung zu übernehmen, den Ententeregierungen, und am 29. April teilten der britische, der französische und der belgische Botschafter dem amerikanischen Staatssekretär Hughes mit, daß die deutschen Wiedergutmachungsvorschläge unannehmbar seien. Am folgenden Tage trat der Oberste Rat der Alliierten zusammen und zog, mit Ausnahme Italiens, auch die militärischen Sachverständigen hinzu. Es stand außer jedem Zweifel: Frankreich und England wollten marschieren. Da die Verhältnisse sich bereits soweit entwickelt hatten, kam auch Amerika zu der Erkenntnis, daß die Gegensätze nicht mehr überbrückt werden könnten und jede Vermittlungsaktion schon aussichtslos sein müsse, ehe sie eingeleitet wurde. Gegenüber dem starren Festhalten der Entente an ihren Grundsätzen von Paris war auch Amerika machtlos, und am 1. Mai lehnte Amerika es in aller Form ab, die deutschen Vorschläge offiziell an die Alliierten weiterzugeben. –

Rücktritt der
  Regierung Fehrenbach  

Damit war das Schicksal der Regierung Fehrenbach besiegelt. Ihr letzter Ausweg war verschüttet, ihre letzte Hoffnung, die drohende Gefahr abzuwenden, war vernichtet. "Mit Rücksicht auf die durch die Antwortnote der Vereinigten Staaten geschaffene politischen Lage", d. h. mit Rücksicht auf [61] den unvermeidbaren Bruch mit der Entente, trat am 4. Mai 1921 das erste bürgerliche Reichskabinett der deutschen Republik zurück. Es wich der letzten Konsequenz, die es nicht verantworten zu können glaubte, der Ruhrbesetzung, aus. Standhaft und unerschütterlich hatte diese Regierung fast ein Jahr lang für das Recht und die Ehre Deutschlands gekämpft, aber sie hatte einen aussichtslosen Kampf geführt, denn ihr Arm war gelähmt. Sie hatte keine gefürchtete militärische Macht hinter sich, Deutschland war entwaffnet. Und weil sie keine militärische Macht besaß, besaß sie auch kein moralisches Gewicht in der Welt: Amerika zog sich zurück. So scheiterte der letzte Versuch, von Deutschland die schwere Gefahr der ungerechten Wiedergutmachungsforderungen abzuwenden.

Es war ein gewaltiges Ringen der beiden welthistorischen Prinzipien Macht und Recht gewesen, welches vier Monate lang Europa in Atem gehalten hatte. Paris, London und zu guter Letzt die Forderungen der Reparationskommission waren die Etappen dieses Kampfes, der ein Leidensweg für Deutschland wurde. Die Regierung Fehrenbach, beseelt von den besten Vorsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit, mußte Schritt für Schritt vor der Macht der Gegner weichen. Das ist das Tragische im Schicksal der Fehrenbach-Regierung: sie fiel im Kampfe für ihr Volk, auf dessen Gesamtheit sie sich nicht stützen konnte bei der Verteidigung gegen brutale Gewalt. Und dennoch siegte sie moralisch durch ihren Sturz: Die Faust Frankreichs, die bereits zum Schlage gegen das Ruhrgebiet ausgeholt hatte, sank zurück. Das war nämlich das große Problem jener Tage, welches schicksalsschwer auf dem Reiche lastete: Konnte das deutsche Volk, das sich noch in starker revolutionärer Gärung befand, eine Ruhrbesetzung ertragen, ohne Schaden zu nehmen an seinem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, ja an seiner politischen Einheit? Den Verlust des Ruhrgebietes konnte das deutsche Volk um so weniger ertragen, als infolge eines blutigen Polenaufstandes auch Oberschlesien für das deutsche Wirtschaftsleben ausfiel. Das politische und wirtschaftliche Chaos wäre unvermeidbar gewesen. Auch mußte der einmütige Wille Frankreichs und Englands, das Ruhrgebiet zu besetzen, von vornherein für [62] Deutschland außenpolitisch hoffnungslos wirken. Das Ruhrgebiet durfte nicht besetzt werden, anderseits durften auch die unmäßigen Forderungen der Feinde nicht angenommen werden. Das waren die beiden Thesen, auf welche die Reichsregierung sich stützte. Diese beiden Thesen, erwachsen auf dem Boden des Rechtes, vertrugen sich nicht mit dem Machtwillen der Gegner. So blieb der Regierung Fehrenbach nur ein Ausweg: abzutreten, nachdem auch der Versuch einer Vermittlung gescheitert war. –

Als die Regierung Fehrenbach gestürzt war, war die Entwaffnung Deutschlands endgültig durchgeführt. Die Sicherheitspolizei ("Sipo"), jene "gefährliche" Einrichtung, war aufgelöst worden, nachdem die Interalliierte Militärkontrollkommission noch am 23. Dezember 1920 ihre sofortige Auflösung verlangt hatte. Und doch war gerade die Sipo nach langen, schwierigen Verhandlungen mit den Alliierten errichtet worden, zu dem Zwecke, Deutschland vor inneren Erschütterungen zu schützen. Sie verschwand – und den Schutz der Einwohnerschaft übernahm nur noch die dezentralisierte Schutzpolizei, die aus der blauen Polizei der Vorkriegszeit hervorgegangen war. Auch die Luftpolizei mußte aufgelöst werden. Die Befestigungen an der Nordseeküste wurden geschleift, und ein Gesetz vom 12. März 1921 verfügte die Auflösung der Selbstschutzorganisationen, trotz des bayerischen Widerspruchs mußte sich auch die Selbstschutzorganisation des Forstrats Escherich, die Orgesch, in den nächsten Monaten auflösen lassen. Trotz all dieser Beweise des guten Willens fürchtete die Entente dennoch, Deutschland umgehe die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrages. Mitte März verlangte die Interalliierte Militärkommission, daß die Hälfte aller auslaufenden deutschen Schiffsladungen auf Waffen untersucht werden sollte!

  Deutschlands Entwaffnung  

Bis Anfang Mai 1921 wurde an deutschen Waffen und anderem Kriegsmaterial zerstört: 940 320 Geschütze und Rohre, 26 350 Lafetten, 22 037 Minenwerfer, 87 000 Maschinengewehre, 183 494 [63] Maschinengewehrläufe, 4¾ Millionen Handwaffen, Gewehre und Karabiner, eine Viertelmillion Infanteriegewehre, 28 Millionen geladene Artilleriegeschosse, 300 000 Tonnen ungeladene Artilleriegeschosse, 53 Millionen Scharfzünder, 15 700 Tonnen Patronenhülsen, 345 Millionen Handwaffenmunition und 18 000 Tonnen Pulver. Die Festungen an den Grenzen waren geschleift, und Deutschland besaß noch 1000 Kanonen. Die deutsche Rüstungsindustrie hatte aufgehört zu bestehen, und ihre Maschinen waren verschrottet oder abgeliefert. Das Zeitalter wohlorganisierter Wehrkraft war versunken, inmitten waffenstarrender Nachbarn stand Deutschland bis aufs Hemd entwaffnet, willenlos preisgegeben jeglicher Willkür von draußen, ohne Macht und Kraft, sein gutes Recht zu verteidigen.

  Französisch-polnisches  
Militärbündnis

Frankreich war jedoch nicht müßig gewesen. Auch das entwaffnete Deutschland war ihm noch ein furchtbarer Gegner. Mit England, mit dem kein Militärbündnis zustande gekommen war, war man durch gemeinsame Wiedergutmachungsinteressen verbunden. Mit Belgien war im August 1920 ein Militärbündnis abgeschlossen worden, und mit dem beginnenden Jahre 1921, im Januar, kam auf unbegrenzte Dauer zum Zwecke engen Zusammenwirkens der französischen und der polnischen Armee gegen Deutschland auch eine französisch-polnische Militärkonvention zustande. Frankreich versprach Polen seine volle Unterstützung in der oberschlesischen Frage und verpflichtete sich, mit allen Mitteln für die Zuteilung des gesamten Industriegebietes an Polen einzutreten und den Polen in einem etwaigen Kriege gegen Deutschland, der kein Angriffskrieg sei, volle militärische Unterstützung zuteil werden zu lassen. Frankreich übernahm die Organisation und die Ausbildung des polnischen Heeres, die Lieferung der Bewaffnung und Ausrüstung und verpflichtete sich, jährlich eine bestimmte Summe für den Ausbau des polnischen Heeres zur Verfügung zu stellen. Demgegenüber verpflichtete sich Polen, ein stehendes Heer von 600 000 Mann unter Waffen zu halten, und zwar die Hauptmacht dauernd an den deutschen [64] Grenzgebieten zu stationieren, ferner das gesamte Eisenbahnsystem den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechend auszubauen und die Grenzfestungen so schnell wie möglich in einen verteidigungsfähigen Zustand zu setzen. Dem Chef der französischen Militärmission räumte Polen vollkommene Freiheit des Handelns und völlig unmittelbare Kommandogewalt über alle Teile der polnischen Armee ein.

  Französisch-polnisch-tschechische  
Militärkonvention

Als Ergänzung zu diesem Bündnis wurde in der ersten Hälfte des März 1921 noch eine französisch-polnisch-tschechische Militärkonvention abgeschlossen, worin die Operationspläne für ein enges Zusammengehen der Tschechoslowakei mit den Polen und den in Oberschlesien stehenden französischen Truppen im Falle eines bewaffneten Vorgehens gegen Deutschland festgelegt wurden. Die Polen sollten in Oberschlesien einfallen und dies gemeinsam mit den Franzosen fest in der Hand behalten, die Tschechen dagegen sollten mit geringen Kräften zunächst nur das ihnen von Frankreich in Aussicht gestellte deutsche Gebiet, den südlichen Teil des Kreises Leobschütz, besetzen, das Gros ihrer Armee jedoch im Raume Prag – Leitmeritz – Königgrätz versammeln und für andere Operationen bereit halten. Der Befehl über die schlesischen Truppen sollte einem französischen General übertragen werden, damit ein enges Zusammenwirken mit den polnischen und französischen Truppen gesichert sei. – So traf Frankreich umfangreiche Vorkehrungen, dem deutschen Volke auch in Oberschlesien einen schweren Schlag zu versetzen. Auch dies Gebiet rückte im Frühjahr 1921 in den politischen Brennpunkt. Hier fand am 20. März die geplante Volksabstimmung statt, über die weiter unten zu sprechen sein wird und die den Franzosen nicht das gewünschte Ergebnis brachte. Anfang Mai war Frankreich entschlossen, der deutschen Industrie und damit dem deutschen Volke den Todesstoß zu versetzen, indem es das Ruhrgebiet und, durch die Polen, Oberschlesien, die beiden Kohlenreservoire, welche dem deutschen Wirtschaftsleben noch geblieben waren, von Deutschland reißen wollte. Das war der letzte Sinn der Wiedergutmachungsforderungen, der deutschen Entwaffnung und der französischen Militärbündnisse vom Sommer 1920 bis zum Frühjahr 1921. Und [65] diese Tendenz der französischen Politik schlug die Brücke vom drohenden Ruhreinfall zum gleichzeitig ausbrechenden Polenaufstand in Oberschlesien: Deutschland sollte im Chaos untergehen. Die Situation vom Frühjahr 1921 glich stark jener späteren vom Herbst 1923, wie wir sehen werden.



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra