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Der Zusammenbruch 1945-1948
Anm. d. Scriptorium
Wir vermuten, daß dieses Kapitel der Grund ist,
weswegen das Buch Politische Justiz, die Krankheit unserer Zeit
seit 1998 in Deutschland VERBOTEN ist:

Dann kam der Zusammenbruch, die totale Niederlage und damit die totale Entrechtung, Nürnberg und die Nachfolgeprozesse in Deutschland und den anderen Ländern, das Kontrollratgesetz Nr. 10 und die internen Kriegsverbrecherprozesse, die deutsche Gerichte gegen Deutsche wegen Handlungen durchführen, die mit dem Kriege zusammenhängen, schließlich die Entnazifizierung und Internierung, die Fragebogen und der automatische Arrest sowie die Direktive Nr. 38. Man nannte das "Befreiungsgesetze" und bestritt, daß es sich dabei um "Bestrafung" handle. Dabei hieß es z. B. in Artikel l der für Baden geltenden Landesverordnung über die Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 29. März 1947: "Der Zweck des vorliegenden Gesetzes ist: die Nationalsozialisten, Militaristen und Industriellen, die das nationalsozialistische Regime gefördert und unterstützt haben, zu bestrafen; sowie die nationalsozialistischen und militaristischen Organisationen dadurch völlig und dauernd zu vernichten, daß die maßgebenden Mitglieder der nationalsozialistischen Partei und die Anhänger ihrer Lehre in ihrer persönlichen Freiheit oder Handlungsfreiheit beschränkt werden." Das ging in dieser generellen Form an Unrechtsgehalt weit über alles hinaus, was wir bei den früheren Umwälzungen und Krisen an politischer Justiz erlebt hatten. Das war nur noch Politik, Politik, die sich zwar der Rechtsform bediente, aber mit Recht nichts mehr zu tun hatte, und um so weniger zu entschuldigen war, als sie nicht mehr mit Kriegsnotwendigkeiten begründet werden konnte, sondern das Gegenteil von dem war, wofür man diesen Kreuzzug geführt haben wollte.

Professor Geiler, der erste hessische Ministerpräsident, hat die Entnazifizierung, wie sie angelegt wurde, als das schwerste Unglück bezeichnet, das die deutsche Demokratie treffen konnte. Dombois (Anm. 2, S. 13) bemerkt hierzu: "Wenn die eine Hälfte des Volkes die andere zu richten und damit zugleich die eine Hälfte der geistigen und politischen Tradition auszutilgen versucht, muß politische Gerichtsbarkeit notwendig ihren berechtigten Zweck verfehlen; ein solches Unternehmen ist ein Zeichen der politischen Schizophrenie. Parteipolitische Verblendung der Deutschen und machtpolitisches Interesse der Besatzungsmächte haben dabei verhängnisvoll zusammengewirkt."

Der Zusammenbruch überraschte mich in Tiengen, einem kleinen Städtchen am Oberrhein, in der Nähe der Schweizer Grenze, wohin ich nach Zerstörung meiner Arbeitsstätte in Berlin mit meiner großen Akten- und Dokumentensammlung von Reichs wegen verlagert worden war. Als mich dort in den ersten Tagen des Mai 1945 französische Truppen überrannten, fanden sie auf meinem Schreibtisch eine Denkschrift vor, die ich noch im letzten Augenblick der Reichsregierung in Berlin zuzustellen versucht hatte. Darin hatte ich alle Argumente für die deutsche Verteidigung in den uns angedrohten Kriegsverbrecherprozessen, deren Ziele ich nach der Auslandspresse seit Monaten studiert hatte, zusammengefaßt. Sie fanden aber auf meinem Schreibtisch auch noch ein anderes Dokument, das letzte Schreiben, das mir aus Berlin zugegangen war, ein Schreiben des Reichsjustizministers Thierack, durch das dieser ein neues Disziplinarverfahren gegen mich einleitete. Vorher schon hatte der Generalstaatsanwalt Berlin ein gleiches von Thierack verfügtes Verfahren gegen mich eingestellt, nachdem noch früher die Anwaltskammer Berlin ein Einschreiten gegen mich als unbegründet abgelehnt hatte.

Wir standen zwischen zwei Welten: Hier Thierack und seine politische Justiz, dort die uns angekündigte Sühne und Vergeltung der Gegner. Welch verworrene Lage! Welche Zwiespältigkeit der Empfindungen! Die Sühne und Säuberung nahm dann ein Ausmaß an, das alles übertraf, was man hatte voraussehen können. Der Staatsanwalt Dombois schildert (Anm. 2, S. 3) die dadurch seit 1945 geschaffenen Rechtszustände wie folgt: "Die politische Gerichtsbarkeit hat in der Gegenwart eine in der Geschichte noch nicht bekannte, fast unübersehbare Ausdehnung gewonnen. In einem großen Lokal Wiens wurde kürzlich eine Rundfrage veranstaltet, wer von den anwesenden Männern sich noch nicht in Haft befunden habe. Hierbei ergab sich, daß fast alle Anwesenden in den letzten Jahren mehr oder minder lange Zeit ihrer Freiheit beraubt gewesen waren. Neben politischen Häftlingen aller Systeme und wenigen kriminell Bestraften stellten naturgemäß die Kriegsgefangenen das Hauptkontingent. Jedoch auch sie waren fast alle in nicht formellen Verfahren politisch überprüft und aus solchen Gründen oft lange Zeit zurückgehalten worden. Sie waren also in politische Ermittlungsverfahren verwickelt und befanden sich zeitweilig in Untersuchungshaft."

Diese politische Justiz erfaßte alle deutschen Menschen, besonders die geistige Oberschicht. Herbert Grabert34 hat für die Hochschullehrer diese Zustände in erschütternder Weise geschildert. Er erhebt namens der verdrängten deutschen Hochschullehrer "Anklage gegen eine Zeit, die über Millionen zu Gericht gesessen und damit Unrecht getan hat. Sie hat Sühnemaßnahmen verhängt und damit ein Vernichtungswerk begonnen, das aus dem Geiste der Rache kam und zur Rechtsvernichtung führen mußte. Niemand kann", so fügt er hinzu, "bezweifeln, daß wir uns in einer Epoche der permanenten Freiheitsberaubung und Lebensstörung befinden. Man verheißt Freiheit und nimmt sie. Man spricht Recht und tut Unrecht." Welch erschütternde Feststellung!

Eine unübersehbare Zahl der Deutschen geriet so irgendwie in die infernale Maschinerie dieser politischen Vergeltungsjustiz. Sie fragten sich: "Warum?" Sie versuchten sich zu verteidigen. Aber da war ein Vakuum. Eine Verteidigung gab es nicht. Die meisten wurden nicht einmal gehört. Die Gefängnisse und Lager, die man nicht mehr KZ. nennen durfte, und die es doch waren, waren überfüllt. Es war wie eine Inflation der staatlichen Freiheitsentziehung. Die Strafanstalten, die als Mittel des Staates gegen das Verbrechertum gedacht waren, verloren ihren Wert als Abschreckungsmittel. Der Kriminelle, der in den Haftanstalten in der Minderheit war, bekam Seltenheitswert und erlangte dadurch eine privilegierte Position. In den Lagern aber kursierte das Wort von einem neuen Fragebogen, der in 10 Jahren den Deutschen vorgelegt würde: Wo waren Sie in den Jahren 1945 bis 1948? Wenn nicht im Gefängnis oder einem Lager, warum nicht?

Hohe Juristen, Landgerichtsdirektoren, Präsidenten, Rechtsanwälte und Staatsanwälte wurden nun im Zuge des automatischen Arrestes in Lagern von Menschen bewacht, die zum großen Teil ehemalige Strafgefangene mit langen Strafregistern waren.

Die Frage des politischen Häftlings bekam dadurch eine Bedeutung, wie sie sie noch nie in der Geschichte gehabt haben dürfte. Die beiden Weltkriege hatten die Zahl der Getöteten, Verwundeten und Kriegsgefangenen ins ungemessene gesteigert. Nun gab es neue Kategorien von Kriegsopfern: Kriegsverdrängte, Bombengeschädigte und Vertriebene, Massen von Kriegsopfern aller Art, darunter Millionen von politischen Häftlingen.

Man hat nach dem ersten Weltkrieg die namenlosen Gefallenen durch Denkmäler für den unbekannten Soldaten geehrt. In England ist man jetzt auf den Gedanken gekommen, auch den unbekannten politischen Gefangenen ein Denkmal zu errichten. Aus London meldet AP35 unter dem 13. März 1953: "Im Internationalen Bildhauer-Wettbewerb für ein Denkmal für den unbekannten politischen Gefangenen ist dem britischen Bildhauer Reg Buttler für seine halb abstrakte Darstellung eines eisernen Käfigs, eines stilisierten Galgens, Hinrichtungsblocks und einer Guillotine der erste Preis von 4525 Pfund Sterling (53.214 DM) verliehen worden. In den zweiten Preis von 3000 Pfund (35.280 DM) teilen sich der Italiener Mirko Basaldella, die Engländerin Barbara Hepworth, der in Frankreich lebende russische Emigrant Antoine Pevsner und der Amerikaner Naum Woodbury. Der dritte Preis wurde Henri-Georges Adam (Paris), Max Bill (Zürich), Lynn Chadwick (England), Marcel Hinder (Australien), Luciano Minguzzi (Bologna) und den beiden Amerikanern Alexander Calder und Richard Lippold gemeinsam zuerkannt.

Unter den Trägern der Trostpreise von je 25 Pfund (294 DM) befinden sich die Deutschen Bernhard Heiliger, Fritz Heiliger, Fritz König, Franklin Puhn, Erich Reuter, Louise Stomps, Zoltan Szekessy, Hans Uhlmann und die Österreicher Rudolf Hoflehner, Emil Gehrer und Heinz Lienfeller. Unter den 3500 Einsendungen herrschten abstrakte oder halbabstrakte Werke vor."

Der unbekannte politische Gefangene, Massenopfer der politischen Justiz! Was hat das noch mit Recht und Rechtspflege zu tun, wo es doch um individuelle Schuld und konkrete, gesetzlich festgestellte Tatbestände geht?

Eine umfangreiche Literatur gibt es über diese erschrecklichen Zustände. Nicht nur Juristen und Politiker beschäftigen sich damit, sondern auch Romanschriftsteller, Dichter und Journalisten. Bezeichnend ist der Roman von Gheorgiu,36 der diesen Gipfelpunkt der Erkrankung des europäischen Rechtswesens an dem Beispiel eines Rumänen schildert, der, ohne zu wissen, warum, 13 Jahre lang von Lager zu Lager der verschiedensten Nationen geschleppt wird und über 100 Lager kennenlernt. Die Rechtlosigkeit war überall die gleiche. Als ich selbst in ein Internierungslager eingeliefert wurde und den Kommandanten des Lagers fragte, an wen ich eine Haftbeschwerde richten könnte, erhielt ich zur Antwort: "Sie können eine Eingabe machen. Wir werden sie nicht lesen. Sie werden auch keine Antwort darauf bekommen." Seitdem sind die Internierungslager aufgehoben worden, aber das Grundübel, die politische Justiz, gibt es auch heute noch. Täglich noch ist die Presse angefüllt mit Berichten über Kriegsverbrecherprozesse im In- und Ausland. Die politische Justiz ist damit ein Bazillus geworden, der zu unserer Zeit mit einer Virulenz wirksam geworden ist, die aller bisherigen Heilmethoden spottet.37

Wir stehen vor einem Trümmerfeld. Man kann die Lage nicht ernst genug auffassen. Sollen wir uns damit abfinden, daß politische Prozesse weiterhin die Atmosphäre vergiften und die Menschen nicht zur Ruhe kommen lassen? Das hängt von uns ab, von uns allen, welchem Lager wir auch angehören mögen, von den Energien, die wir noch aufbringen, unser Schicksal zu meistern. Man hat seitdem viel von Schuld und Verantwortung gesprochen, von Kollektivschuld und Individualverantwortung. Die Frage von Schuld und Verantwortung ist diesmal so schwer, daß sie die Menschen von heute bis an ihr Lebensende belasten wird. Die Politisierung der Justiz ist dabei nur eine Seite des Phänomens, vielleicht nur eine Begleiterscheinung. Sie wird aber von den Menschen am stärksten empfunden, weil das Recht so sehr in das Leben jedes einzelnen eingreift und das Unrecht nicht nur den trifft, der es unmittelbar erleidet. Die Kriegsschuldfrage ist nicht gleich der Frage der Kriegsverbrechen, und die moralische, politische und historische Schuld mag anders liegen als die rein juristische, völkerrechtliche oder kriminelle. In diesem Gewirr von Fragen finden wir uns nicht mehr zurecht. Cela nous dépasse! - Das wächst über uns hinaus! - sagt der Franzose. Das müssen wir schon dem Urteil der Geschichte überlassen.

Dazukommt in unserer Zeit die verheerende Einwirkung der Propaganda, die es den Menschen so schwer macht, auch den Gutgesinnten, die wirklichen Vorgänge des Zeitgeschehens zu erkennen und zu beurteilen. Sie hat uns schon in den letzten Jahren des ersten Weltkrieges und danach zu schaffen gemacht. Hat man nicht von Lloyd George, der am Schluß des ersten Krieges die Wahlpropaganda in England mit dem Ruf: "Hängt den Kaiser!" betrieb, gesagt, daß er 1919 in Paris und Versailles und später, als er das Unrecht von Versailles wiedergutmachen wollte, das Opfer seiner eigenen Propaganda geworden sei? Nach dem zweiten deutschen Zusammenbruch war es nicht anders. Jetzt war es schlimmer, weil es nun eine einseitige Propaganda der Gegner war, der deutscherseits nichts mehr entgegengesetzt werden konnte.

Ich hatte im Mai 1945, wenige Tage nach dem Zusammenbruch, eine denkwürdige Aussprache mit einem bedeutenden Vertreter der Gegenseite. [Anm. d. Scriptorium: es handelt sich hier um Sefton Delmer.] Er stellte sich mir als Universitätsprofessor seines Landes vor, der sich mit mir über die historischen Grundlagen des Krieges unterhalten wollte. Es war ein Gespräch von hohem Niveau, das wir führten. Plötzlich brach er ab, zeigte auf die Flugblätter, die vor mir auf dem Tisch lagen, mit denen wir in den ersten Tagen nach der Kapitulation überschwemmt wurden und die sich hauptsächlich mit den KZ-Greueln beschäftigten. "Was sagen Sie dazu?", so fragte er mich. Ich erwiderte: "Oradour und Buchenwald? Bei mir rennen Sie da offene Türen ein. Ich bin Rechtsanwalt und verurteile das Unrecht, wo ich ihm begegne, am meisten aber, wenn es auf unserer Seite geschieht. Ich weiß jedoch einen Unterschied zu machen zwischen den Tatsachen und dem politischen Gebrauch, den man davon macht. Ich weiß, was Greuelpropaganda ist. Ich habe nach dem ersten Weltkriege alle Veröffentlichungen Ihrer Fachleute über diese Frage gelesen, die Schriften des Northcliffbüros, das Buch des französischen Finanzministers Klotz Vom Krieg zum Frieden,38 in dem er schildert, wie man das Märchen von den abgehackten Kinderhänden erfand, und welchen Nutzen man daraus zog, die Aufklärungsschriften der Zeitschrift Crapouillot, die die Greuelpropaganda von 1870 mit der von 1914/1918 vergleicht, und schließlich das klassische Buch von Ponsonby: 'Die Lüge im Kriege'. Darin wird offenbart, daß man schon im vorigen Kriege Magazine hatte, in denen man künstliche Leichenberge durch Fotomontage mit Puppen zusammenstellte. Diese Bilder wurden verteilt. Dabei war die Unterschrift frei gelassen. Sie wurde später je nach Bedarf durch die Propagandazentrale telefonisch aufgegeben."

Damit zog ich eines der Flugblätter heraus, das angeblich Leichenberge aus den KZ's darstellte, und zeigte es meinem Besucher, der mich verdutzt ansah. Ich fuhr fort: "Ich kann mir nicht denken, daß in diesem Kriege, in dem alle Waffen so vervollkommnet wurden, diese geistige Giftwaffe, die den ersten Krieg entschied, vernachlässigt worden sein sollte. Mehr noch, ich weiß es! Ich habe die letzten Monate vor dem Zusammenbruch täglich die Auslandspresse gelesen. Da wurde von einer Zentralstelle aus über die deutschen Greuel berichtet. Das ging nach einem gewissen Turnus. Da kam ein besetztes Gebiet nach dem anderen dran, heute Frankreich, morgen Norwegen, dann Belgien, Dänemark, Holland, Griechenland, Jugoslawien und die Tschechoslowakei. Zunächst waren es Hunderte von Toten in den Konzentrationslagern, dann, wenn 6 Wochen später dasselbe Land wieder dran war, Tausende, dann Zehn-, dann Hunderttausende. Da dachte ich mir: In die Million kann diese Zahleninflation doch nicht gehen!"

Nun griff ich zu einem anderen Flugblatt: "Hier haben Sie die Million!" Da platzte mein Besucher los: "Ich sehe, ich bin an einen Sachkundigen geraten. Nun will ich auch sagen, wer ich bin. Ich bin kein Universitätsprofessor. Ich bin von der Zentrale, von der Sie gesprochen haben. Seit Monaten betreibe ich das, was Sie richtig geschildert haben: Greuelpropaganda - und damit haben wir den totalen Sieg gewonnen." Ich erwiderte: "Ich weiß, und nun müssen Sie aufhören!" Er entgegnete: "Nein, nun fangen wir erst richtig an! Wir werden diese Greuelpropaganda fortsetzen, wir werden sie steigern, bis niemand mehr ein gutes Wort von den Deutschen annehmen wird, bis alles zerstört sein wird, was Sie in anderen Ländern an Sympathien gehabt haben, und bis die Deutschen selbst so durcheinander geraten sein werden, daß sie nicht mehr wissen, was sie tun!" Ich schloß das Gespräch: "Dann werden Sie eine große Verantwortung auf sich laden!"

Was dieser Mann uns angedroht hatte, kam. Das Schlimmste aber war die Verwirrung, die dadurch unter den Deutschen angerichtet wurde. Greuelpropaganda und politische Justiz! Diese Begriffe gehören zusammen. Damit soll aber natürlich nicht alles entschuldigt werden, was Schlimmes vorgekommen ist. Es sind Dinge geschehen, auch auf deutscher Seite, für die es keine Entschuldigung gibt, und wenn auch nur ein Hundertstel von dem wahr wäre, was uns heute vorgeworfen wird. Wir entschuldigen die schlimmen Vorgänge nicht! Wir schämen uns ihrer! Aber wir weisen auch die Übertreibungen zurück und bemühen uns um Gerechtigkeit, auch für unser Volk! Der Haß darf darum nicht verewigt werden, und wir müssen trotzdem mit dem Problem der politischen Prozesse fertig werden.

Es hat in Deutschland einmal eine Zeit gegeben, die man die "kaiserlose, die schreckliche Zeit" genannt hat. Die Menschen sehnten sich nach Frieden, Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Recht. Damals war der Kaiser der Inbegriff des Rechts. Wir leben auch heute wieder in einem Interregnum. Die Menschen sehnen sich nach der Wiederherstellung des Rechts. Wir haben zwar wieder eine Verfassung mit vortrefflich formulierten Grundrechten. Auch die Siegermächte haben sich wieder zu den Menschenrechten bekannt, die sie neu formuliert haben. Am 10. Dezember 1948 ist eine internationale Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten abgeschlossen worden. Sie ist von der Bundesrepublik und einigen anderen Mächten, darunter auch England und Frankreich, ratifiziert und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Aber die zehn Ratifikationen, die zu ihrem Inkrafttreten erforderlich sind, sind noch nicht zusammengekommen. Die Konvention ist also noch nicht verbindlich, auch nicht für die Länder, die sie bereits ratifiziert haben. Die Folge ist, daß uns die Grundrechte immer noch vorenthalten bleiben.

Die Engländer sind stolz auf ihre Magna Charta von 1215, ihre Petition of rights von 1627 und ihre Habeaskorpusakte von 1679 zum Schutze der persönlichen Freiheit. Aber wir haben gesehen, daß sie diese Grundsätze den Deutschen gegenüber nach Besatzungsrecht nicht anwenden. Als die Könige von Frankreich ihre berüchtigten Verhaftbefehle - die "lettres de cachet" - ausstellten, durch die sie mißliebige Personen entfernten, wurden sie vom Volk gestürzt, das die Menschenrechte verkündigte.

Und dennoch fragt man sich heute noch mit Sorge, ob bei uns auf dem Gebiet der politischen Justiz die Rechtssicherheit wiederhergestellt ist, wie wir sie vor 1918 gekannt haben. Aus dieser Rechtsnot müssen wir wieder herauskommen. Diesen Zustand müssen wir überwinden! Die Völker wollen frei sein, frei von Angst. Sie wollen auch ihre Meinung wieder frei und ehrlich äußern dürfen, ohne darum Verhaftung und Verurteilung befürchten zu müssen.

Am 24. Januar 1953 brachte die Frankfurter Allgemeine einen bezeichnenden Artikel aus dem Sonntagsblatt mit der Überschrift: "Das Türklopfen": "In dieser Woche geschah es wieder, daß es nachts an die Türe klopfte. Es klopfte in Moskau an die Türen der russischen Ärzte. Und diese Ärzte nahmen ihren kleinen Koffer mit Nachtzeug und Waschzeug und gingen fort. Es klopfte in Ost-Berlin an die Tür des ostzonalen Ministers Dertinger. Und Herr Minister Dertinger nahm seinen kleinen Koffer mit Nachtzeug und Waschzeug und ging fort. Es klopfte in Westdeutschland an die Türen ehemaliger Nationalsozialisten. Und die ehemaligen Nationalsozialisten nahmen ihre kleinen Koffer mit Nachtzeug und Waschzeug und gingen fort. Es klopfte auch in Ägypten an die Türen von 25 höheren Offizieren. Und diese Offiziere.... Es wird wieder nachts an die Türen geklopft!"

Wie soll das alles enden? Heute wissen wir, wie es anfing. Ich entsinne mich noch des Wortes eines älteren Kollegen. Er sagte mit trauriger Stimme, als wir in Essen im Jahre 1933 im Wege der Gleichschaltung den Juristenverein in den nationalsozialistischen Juristenbund überführen mußten: "Jetzt haben wir unsere Freiheit verloren!" Wir wollten das damals nicht glauben. Die Erkenntnis kam erst allmählich. Aber wir müssen doch einmal den Weg zurück finden, zurück zur Freiheit und zurück zum Recht! Gibt es einen Ausweg aus dieser Wirrnis? Diesen Ausweg müssen wir suchen! Denn wir müssen doch weiterleben! Wir müssen wieder zusammenfinden, die Deutschen untereinander und die Deutschen mit ihren Gegnern von gestern. Es ist nicht länger tragbar, daß das deutsche Volk in zwei Gruppen zerfällt, von denen jede sich als Verfolgte eines Systems oder Regimes betrachtet. Es muß auch zu der Gemeinschaft der europäischen Völker kommen in dem Sinne, wie es Victor Hugo vor über hundert Jahren schon gefordert hat. Das Vergangene läßt sich nicht wiedergutmachen. Die volle Gerechtigkeit läßt sich nicht wiederherstellen. Denn es gibt keine Gerechtigkeit ohne Gleichheit. Die Gleichheit aber, die vor und nach 1945 so gründlich zerstört wurde, kann nicht wieder herbeigeführt werden. Wir müssen dennoch zum Recht zurückfinden, zu dem Recht, das Goethe meinte, wenn er von dem Recht sprach, das "mit uns geboren" ist, oder wenn er sagte: "Der gute Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges stets bewußt." Die Idee des Rechts ist noch nicht tot in den Herzen der Menschen.


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Anmerkungen

34Hochschullehrer klagen an, Göttingen 2. Auflage 1952, S. 10 ff. ...zurück...

35Die Neue Zeitung vom 14./15. März Nr. 62, S. 4. ...zurück...

36Gheorgiu, Constantin Virgil, 25 Uhr, Stuttgart 1951. ...zurück...

37Dombois (Anm. 2), S. 4. ...zurück...

38Klotz, De la Guerre à la Paix, Paris 1923. ...zurück...


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