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Deutschland und der Korridor

[247]
Der deutsche Durchgangsverkehr
durch den Korridor

Herbert Franze

In der Preußischen Zeitung erschien am 27. April 1939 folgende Meldung: "Ein einundzwanzigjähriger Berliner namens W. war zur Ableistung seiner Arbeitsdienstpflicht nach Ostpreußen einberufen worden. Am 2. April trat er die Fahrt nach Ostpreußen an. Während eines Aufenthaltes des visumfreien D-Zuges im Korridor entspann sich von einem Zugfenster aus eine Auseinandersetzung zwischen einem Fahrgast und dem Wagenmeister Kempinski aus Konitz, an der W. vollkommen unbeteiligt war, weil er in seinem Abteil saß und schlief. Ein Fahrgast, der nicht ermittelt werden konnte, hatte nach Aussagen einwandfreier Zeugen eine wirklich harmlose und eher als Anerkennung denn als Beleidigung aufzufassende Bemerkung über die Mütze des gerade mit seinem Hammer hantierenden Wagenmeisters K. gemacht. Da die Fahrgäste des Abteils den angeblichen 'Übeltäter' nicht gesehen hatten, konnten sie dem Verlangen der polnischen Beamten, ihn zur Festnahme zu bezeichnen, nicht nachkommen. Daraufhin nahmen die polnischen Beamten W. als Geisel mit. Das Tollste ist jedoch, daß sich ein polnisches Gericht gefunden hat, das diesem Willkürakt die Krone aufsetzte und W. zu acht Monaten Gefängnis verurteilte. W. büßt jetzt für die Provozierung des Wagenmeisters K. aus Konitz und seine Auseinandersetzung mit einem unbekannten Dritten in einem polnischen Gefängnis." Der Inhalt dieser Meldung wird durch eine Notiz der Gazeta Pomorska vom 21. April 1939 ergänzt, wonach W. wegen "Beleidigung des polnischen Staates" zu acht Monaten Gefängnis ohne Bewährungsfrist verurteilt wurde. Wie ist es möglich, daß im Korridor aus einem deutschen Zug heraus ein Arbeitsdienstpflichtiger, der sich zu einem Lager begibt, verhaftet werden kann?

Der Vorfall, der nicht einzig dasteht, zeigt, was die Zerreißung des Reiches in zwei Teile bedeutet. Gewiß weiß jeder Deutsche, daß die Schaffung des Korridors ein bitteres Unrecht war. Um einem 30-Millionen-Staat einen Zugang zum Meer zu geben, wurde die Lebenseinheit eines 65-Millionen-Volkes im damaligen Reich zerschnitten. Diese allgemeine Betrachtung, die jedem Deutschen geläufig ist, wird erst in ihrer ganzen Tragweite lebendig, wenn man einmal selbst durch den Korridor gefahren ist, wenn also plötzlich im deutschen Zug ein Beamter in fremder Uniform ins Abteil tritt und in fremder Sprache das Vorzeigen der Fahrkarten verlangt. Diesen ersten Eindruck müßte man jeden Deutschen und jedem Ausländer, der über diese Fragen mitreden will, einmal vermittelt haben, dann würde er auch Verständnis für die Fülle des Unmöglichen gewinnen, das die Regelung der Korridorfrage mit sich gebracht hat.

Als sich Deutschland in Versailles gegen das Unrecht des Korridors wandte, wurde ihm in der Note vom 16. Juni 1919 entgegengehalten, "daß sich der Verkehr Ostpreußens immer überwiegend auf dem Seeweg abgewickelt habe". Diese Begründung ist ebenso falsch wie die Auslegung der Wilsonschen vierzehn Punkte dahin, daß Polen seinen freien Zugang zum Meer über einen breiten Streifen eigenstaatlichen Gebietes, den Korridor, erhalten sollte. Im Personenverkehr ist zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet als ordentliches Verkehrsmittel nie der Seeweg benutzt worden, ebensowenig wie an anderen Teilen der deutschen Ostseeküste ein überlokaler Seeverkehr besteht.

[248] Im Frachtverkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reich wurden 1913 befördert:

mit der Eisenbahn   2 377 534 Tonnen
über See 632 116 Tonnen

Vier Fünftel des Verkehrs mit Ostpreußen beförderte also die Eisenbahn.

Die Zerschneidung des Reiches bedeutete eine so schwere Gefährdung des Wirtschaftslebens Ostpreußens, daß man sich sogar in Versailles dazu bequemte, besondere Bestimmungen über eine Erleichterung des Verkehrs zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet vorzusehen. Diese Bestimmungen sollten ihre Ausführung durch einen deutsch-polnischen Vertrag finden, der binnen Jahresfrist abzuschließen war. Die Verhandlungen über diesen Vertrag begannen am 23. Februar 1920. Da sie ergebnislos blieben, wurden sie vom August 1920 an unter Vermittlung des Botschaftsrates fortgeführt, der zu den Verhandlungen einen französischen Eisenbahnfachmann abordnete. Am 16. Februar 1921 wurden sie durch das "Abkommen zwischen Deutschland, Polen und der Freien Stadt Danzig über den freien Durchgangsverkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Deutschland" abgeschlossen. Das Abkommen wurde am 21. April 1921 in Paris unterzeichnet. Der Abschluß kam auch in diesem Zeitpunkt nicht zustande, weil nun die einfachsten deutschen Forderungen anerkannt wurden sondern weil für das Reich die unbedingte Notwendigkeit bestand, endlich zu geregelten Verhältnissen zu kommen. In Kraft trat diese Regelung erst am 1. Juli 1922.

Bis zum Inkrafttreten des Abkommens herrschten im Eisenbahnverkehr völlig unhaltbare Zustände. Anfangs war er fast gänzlich unterbrochen. Auf der nördlichsten Durchgangsstrecke Lauenburg (Pom.) - Danzig - Marienburg konnte allmählich ein Personenverkehr stattfinden, aber unter Paßzwang und Zollrevisionen. Auf Grund einer vorläufigen Vereinbarung vom 1. Dezember 1920 wurde der Verkehr auf der Strecke Konitz - Marienburg freigegeben. Die Anzahl der Züge war völlig unzureichend, und der Fahrkartenverkauf mußte rationiert werden. Reichsdeutsche Reisende brauchten überdies ein polnisches Visum, dessen Beschaffung zunächst eine Reise zum nächsten polnischen Konsulat erforderte und auch sonst auf zahlreiche Schwierigkeiten stieß.

Der Güterverkehr wickelte sich noch unregelmäßiger ab. Ein bestimmter Fahrplan oder eine Vereinbarung über Zugfolgen konnte nicht getroffen werden. Grundsätzlich wurden für den Güterverkehr nur Nebenstrecken freigegeben. Tausende von beladenen Güterzugwagen mußten auf beiden Seiten des Korridors wochenlang abgestellt werden, da die polnischen Bahnen den Verkehr nicht bewältigten. Im August 1921, also schon nach Abschluß des Übereinkommens, wurde der Eisenbahnverkehr für acht Tage durch einen Streik der polnischen Eisenbahnangestellten fast völlig lahmgelegt. Es würde zu weit führen, alle die Schwierigkeiten dieser ersten Jahre aufzuzählen.

Die vielen Hemmnisse und Zwischenfälle legten es nahe, den unbeliebten Weg durch den Korridor über See zu umgehen. Zwischen Pillau und Swinemünde wurde ein ständiger Passagierdampferverkehr, der vor dem Kriege nie bestanden hatte, eingerichtet. Er brachte es bereits im ersten Jahre (1920) auf eine Rekordzahl, nämlich 183.021 Fahrgäste gegen 146.599 Fahrgäste beim Seedienst Ostpreußen im Jahre 1938. Auch im Güterverkehr wurde, besonders nach dem völligen Ausfall des Binnenschiffahrtsweges über Warthe, Netze, Weichsel, Nogat, der Seeweg unter erheblichen Kosten und Zeitverlusten aufgebaut.

Das Pariser Abkommen vom April 1921 regelte in erster Linie den Eisenbahnverkehr durch den Korridor. Einmal wurde der gewöhnliche Durchreiseverkehr, auf den die allgemeinen [249] Regeln des zwischenstaatlichen Eisenbahnverkehrs - Paßzwang und Zollrevision - Anwendung finden, vorgesehen. Er gewann aber neben dem sogenannten privilegierten Durchgangsverkehr keine besondere Bedeutung. Auf bestimmten - zunächst sieben - Strecken wurde die Durchführung von geschlossenen Zügen oder Zugteilen ohne Paßzwang und Zollrevision vorgesehen. Die Züge bestehen aus deutschen Wagen, werden aber von polnischen Beamten mit polnischen Maschinen als polnische Züge durch den Korridor geleitet. Die Reisenden sind den Gesetzen des Durchgangslandes unterworfen. Die Zahl der Züge ist begrenzt, der Fahrplan wird in gemeinsamen Fahrplankonferenzen festgelegt. Polen kann den völligen Wegfall von Zugverbindungen beantragen, wenn die privilegierten Züge im Durchschnitt zu weniger als 60 v.H. der vorhandenen Plätze besetzt sind. Im August, dem stärksten Reisemonat, beträgt die Durchschnittsbesetzung im reichsdeutschen Schnellzugverkehr nur 50 v.H., im Korridor wird die täglich angebotene Platzzahl im Jahresdurchschnitt nur zu 30 v.H. ausgenützt, wobei zu beachten ist, daß eine Mindestzahl von 28 Achsen je Zug vertraglich vorgeschrieben ist. In den Verhandlungen, die auf dem Pariser Abkommen fußen, hat Polen es verstanden, die Zahl der benutzten Strecken von sieben über fünf auf zwei Durchgangsstrecken herabzudrücken, von denen die Strecke Lauenburg - Danzig - Marienburg fast keine Bedeutung hat. Auf der Strecke Konitz - Marienburg verkehren jetzt täglich zwölf Zugpaare, davon zehn regelmäßig, das heißt ebensoviel wie vor dem Kriege allein auf dieser Strecke Züge den Verkehr zwischen Ostpreußen und dem Reich vermittelten, ohne daß die beförderte Personenzahl seither etwa geringer geworden wäre.

Bezeichnend für den Vertrag sind aber die kleinen Verkehrserschwerungen, die jeder einzelne Reisende als Schikane empfinden muß. Auf den Transitstrecken dürfen nur Wagen mit innerem Durchgang verkehren. Die Fenster durften während des Aufenthaltes auf Stationen im Korridor überhaupt nicht geöffnet werden, während der Fahrt nur auf der Gangseite. Was das an warmen Sommertagen bei den langen Aufenthalten in den Übergangsstationen bedeutet, weiß nur derjenige, der diese Strecke einmal gefahren ist. Erst 1933 wurde diese Bestimmung durch ein besonderes Abkommen fallengelassen. Angehörige der Wehrmacht dürfen nur die blanken Waffen (Säbel, Seitengewehr), aber keine Schußwaffen mitführen. Auch diese mußten anfangs im Gepäckwagen abgegeben werden. Das Herausreichen oder Hereinnehmen von Gegenständen und das Aussteigen ist den Reisenden untersagt. Dies hindert nicht, daß auf diesen Stationen alle Emigrantenzeitungen angeboten werden.

Besondere Erschwerungen treffen den Reiseverkehr nach Danzig. Der Reisende, der ohne polnische Zollkontrolle und polnisches Visum nach Danzig will, muß, wenn er den Weg über Konitz wählt, die gesamte Korridorstrecke nach Marienburg fahren, von dort auf der gleichen Linie bis Dirschau zurückfahren, nur deshalb, weil Polen die Möglichkeit des Umsteigens aus dem Transitzug in einen Zug nach Danzig auf der polnischen Station Dirschau ohne polnisches Visum nicht freigibt. Überdies gibt es nur zwei visumfreie Personenzüge von Marienburg nach Danzig, so
Eisgang auf der Weichsel bei Thorn
Eisgang auf der Weichsel bei Thorn.
daß Reisende, die diese Anschlußzüge nicht benutzen können, auf den Danziger Postomnibusverkehr angewiesen sind, der zwar in der Hauptreisezeit einen guten Ersatz bietet, im Winter und im Frühjahr durch den Weichseleisgang oft tagelang unterbrochen ist. Die Dirschauer Eisenbahn- und Straßenbrücken reichen nicht ohne Grund als polnische Brückenköpfe auf Danziger Gebiet hinüber, so daß es keine Brückenverbindung über die Weichsel im Danziger Gebiet gibt. Der Reisende, der von Ostpommern über Lauenburg visumfrei nach Danzig fahren will, stößt auf noch größere Schwierigkeiten. Er darf aus dem Transitzug in Danzig oder Zoppot nicht aussteigen sondern muß zunächst nach Marienburg fahren [250] und von dort auf der gleichen Strecke nach Danzig oder Zoppot. Das bedeutet einen Umweg von 124 Kilometern bei achtmaliger Überschreitung einer Staatsgrenze.

Im Güterverkehr müssen für die der polnischen Eisenbahn zu übergebenden Ladungen auf den Grenzbahnhöfen elf Zug- und sieben Ladelisten ausgestellt und abgestempelt werden, obgleich Polen schon von jeder Frachtkarte ein Duplikat erhält. Die geschlossen durchfahrenden Güterzüge müssen eine Mindeststärke von 100 Achsen haben. Die Festsetzung einer derart hohen Achsenzahl ist ganz ungewöhnlich und machte bei der allgemeinen Verkehrsschrumpfung in den Krisenjahren ein Sammeln von Ladungen notwendig, was eine Verlängerung der Beförderungsdauer zur Folge hatte. Bei dem heutigen gesteigerten Güter- und Personenverkehr lassen sich deshalb Güteranstauungen nicht vermeiden, weil die Güterzüge auf polnischer Seite mit sehr geringen Geschwindigkeiten fahren. Polen bemüht sich auch nicht, die Zahl der Güterzüge zu erhöhen.

Dabei ist der Korridorverkehr für Polen ein glänzendes Geschäft. Auf wenigen, sehr gut befahrenen Strecken werden Züge aus deutschen Wagen, die die Maschinenkraft durch hohe Auslastung voll ausnutzen, ohne Abfertigungsaufwand, Rangierleistungen oder Leerfahrten, durchgeführt. Die Beförderungsanteile, die Polen dafür erhält, stellen eine starke Überbezahlung dar. Allein die Tatsache, daß sogar Militärzüge ohne Ermäßigung nach den Sätzen des allgemeinen öffentlichen Verkehrs zu vergütern sind, zeigt, welche Einnahmen der polnischen Bahn hier zufließen. Für die Reichsbahn bedeutet dagegen der Korridorverkehr ein erhebliches Verlustgeschäft, da die Mehrkosten des Transitverkehrs nicht aufgeschlagen werden können. Darüber hinaus hat das Reich für Ostpreußen besondere Aufwendungen zu machen, damit die durch den Verlust Westpreußens und Posens als Absatzgebiete Ostpreußens entstandene Wegverlängerung vom Erzeuger zum Abnehmer (300 bis 400 Kilometer) ausgeglichen wird. Die Frachtvermehrung beträgt zur Zeit jährlich etwa 25 Millionen Reichsmark. Das Reich muß zum Ausgleich der ungünstigen Frachtlage jährlich 10 Millionen Reichsmark als Ostpreußenhilfe aufwenden.

Wenn sich schon in geregelten Zeiten erhebliche Schwierigkeiten herausstellen, so wirkt sich der Korridor in Krisenzeiten noch viel gefährlicher aus. Bereits im Jahre 1921 hat ein Streik polnischer Eisenbahner die gesamte Verbindung zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet gefährdet. Polen hat sogar das vertragliche Recht, im Falle eines Krieges in Europa, selbst wenn beide Staaten völlig unbeteiligt sind, 48 Stunden nach Ankündigung den Durchgangsverkehr einzuschränken, bei Verhängung des Belagerungszustandes kann es im Korridorverkehr Paßzwang anordnen. Aber schon bei besonderen Notständen, die in einem Teile Ostpreußens auftreten können, besteht bei den vielen einschränkenden Bestimmungen keine Möglichkeit, Ostpreußen durch die Eisenbahn aus dem Reich unverzüglich Hilfe zu leisten. Was das bedeutet, hat in der besten Zeit der deutsch-polnischen Beziehungen der Jahreswechsel 1935/36 gezeigt. Die polnischen Beförderungsanteile im Jahre 1935 betrugen rund 76 Millionen Zloty. Als die Reichsbahn infolge der kritischen Devisenlage des Reiches mit den Zahlungen im Rückstand blieb, schränkte Polen nach kurzfristiger Bekanntgabe zu Beginn des Jahres 1936 die Anzahl der Züge in einem solchen Umfang ein, daß ein großer Teil des Verkehrs zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reich einfach abgeriegelt wurde. Trotz der für den Seeverkehr klimatisch ungünstigen Zeit konnte unter größten Anstrengungen über See ein ordnungsmäßiger Verkehr mit Ostpreußen aufrechterhalten bleiben. Die Umleitung über See brachte jedoch eine erhebliche Kostensteigerung. Um die Wirtschaft vor Verlusten zu schützen und eine Verteuerung der Lebenshaltung in Ostpreußen zu vermeiden, mußte das Reich die Ausfälle und Mehrkosten tragen.

Der Umfang der Umstellung läßt sich am besten an den Beförderungszahlen des Seedienstes Ostpreußen ablesen. 1935 wurden 104.333 Fahrgäste, 1936 aber 315.582 befördert. Der Per- [251] sonenverkehr über See nach Ostpreußen entstand als ausgesprochene Notmaßnahme. Auch als der Eisenbahnverkehr durch den Korridor nach 1922 annähernd geordnete Formen annahm, wurde trotzdem der Seeweg als sichere Verbindungsmöglichkeit aufrechterhalten. Es bedeutet für die Bevölkerung Ostpreußens eine erhebliche Beruhigung zu wissen, daß notfalls immer noch durch den Seeweg eine Verbindung mit dem Reich hergestellt ist.

Das besondere Verdienst des Seedienstes Ostpreußen besteht darin, durch seine Verkehrswerbung für den deutschen Osten zusätzlichen Reiseverkehr nach Ostpreußen angeregt zu haben. Jugend- und Gesellschaftsfahrten auf den eigenen Motorschnellschiffen schufen eine gesicherte Verbindung mit Ostpreußen. Die Fahrgastzahlen des Seedienstes Ostpreußen betrugen:

1920   183 021             1930   68 151
1921 38 368 1931 60 115
1922 15 415 1932 56 380
1923 68 705 1933 71 365
1924 35 126 1934 108 704
1925 27 940 1935 104 333
1926 15 624 1936 315 582
1927 40 678 1937 163 874
1928 49 033 1938 146 599
1929 63 677

Trotz dieser günstigen Entwicklung wird der Seeverkehr nie einen ausreichenden Ersatz für die Eisenbahnverbindung (weder für den Personen- noch für den Frachttransport) darstellen können. Für die Binnenschiffahrt und den Kraftwagenverkehr ist die Regelung des Pariser Abkommens noch unbefriedigender. Der Kraftwagenverkehr unterliegt dem Paß- und Sichtvermerkszwang und der Zollrevision im vollen Umfang. Trotzdem ist die Durchfahrt an bestimmte Transitstraßen gebunden. Abweichungen von den Straßen werden mit Polizeistrafen belegt. Schäden an Fahrzeugen oder Unfälle bei der Durchfahrt haben schon mit Rücksicht auf die Devisenbestimmungen die unangenehmsten Folgen. Auch der Binnenschiffahrtsverkehr, der nach dem Kriege völlig unterbrochen war, konnte sich trotz der deutschen Propaganda nicht recht erholen, da sich hier die unvollständigen Bestimmungen des Pariser Abkommens noch schädlicher auswirken. Der Flugverkehr, der im Pariser Abkommen überhaupt nicht geregelt werden konnte, ist erst nach langwierigen Verhandlungen im Jahre 1929 aufgenommen worden. Es wurden bestimmte Überflugwege festgelegt, die aber nur von regelmäßigen Verkehrsflugzeugen auf den Strecken Berlin - Königsberg und Berlin - Danzig benutzt werden können. Einzelne Maschinen brauchen eine für jeden Einzelfall auf diplomatischem Wege einzuholende Fluggenehmigung oder müssen den Korridor über See umfliegen.

Alle Schwierigkeiten im Verkehr mit Ostpreußen lassen sich solange nicht beheben, solange Polen Hoheitsrechte über die deutschen Verkehrsverbindungen nach Ostpreußen besitzt. Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß auf deutsche Eisenbahnverbindungen polnisches Polizei- und Strafrecht Anwendung finden, daß also polnische Polizei aus deutschen Zügen harmlose Reisende verhaften kann. Die deutsche Gerichtsbarkeit hätte stets ausreichende Gewähr dafür geboten, daß bei Fahrten durch den Korridor Angriffe auf Ehre und Ansehen des Durchgangsstaates gesühnt werden, ganz abgesehen von der Verhinderung und Verfolgung sonstiger Vergehen und Verbrechen während der Bahnfahrt. Wozu die Anwendung polnischer Strafvorschriften führt, zeigt das vorsorglich von der Reichsbahn erlassene Photographierverbot für die Korridordurchfahrt. Weil nämlich in einigen Gebieten längs der Transitstrecke das Photographieren verboten ist, mußte zum Schutz der deutschen Durchreisenden diese Anordnung für die ganze Strecke getroffen werden.

Auf der anderen Seite muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß Polen einfach nicht in der Lage ist, den deutschen Durchgangsverkehr vor Überfällen und Attentaten zu schützen. Jahrelang wurden regelmäßig Kohlenzüge von Oberschlesien nach Ostpreußen von polnischen Banden überfallen. Allein im Januar 1933 wurden 374 Sendungen beraubt. Der [252] Gewichtsverlust betrug 246.878 Kilogramm. Die Kohlenzüge konnten auf Grund der Begleitpapiere von der deutschen Verwaltung in Ostpreußen deshalb nicht mehr übernommen werden sondern mußten Wagen für Wagen geprüft und nachgewogen werden. Allein durch diese Erschwerung bei der Übernahme erwuchsen der Reichsbahn durch Zeitverlust und erhöhte Personalleistungen erhebliche Mehrkosten. Wenn von der polnischen Verwaltung die Haftpflicht für diese Kohlenverluste überhaupt anerkannt wurde, erfolgte die Auszahlung des Entschädigungsbetrages erst nach längerer Zeit.

In letzter Zeit haben diese Bandendiebstähle eine andere Form angenommen. Kraftwagen, die wegen der Schwierigkeiten der Korridordurchfahrt mit der Reichsbahn befördert werden, werden erbrochen, Musterkoffer und Gepäckstücke werden geraubt. Neuerdings wurde sogar ein ganzer Transitzug im Korridor zum Halten gebracht und beraubt, wobei die Räuber erst durch das Eingreifen der Dirschauer Eisenbahnpolizei vertrieben werden konnten. Ist es bei solchen Zuständen zumutbar, deutsche Reisende und deutsche Transporte der polnischen Polizei- und Gerichtshoheit zu unterstellen? Das gleiche gilt für die Anwendung polnischen Verkehrsrechts auf diese Züge. Bei Unfällen im Korridor gelten polnische Haftungsbestimmungen. Als am 1. Mai 1925 bei dem schweren Eisenbahnunglück bei Preußisch-Stargard 29 Reisende getötet und 17 verletzt wurden, lehnte Polen eine Haftpflicht ab, weil der Unfall nach polnischer Darstellung auf ein Attentat zurückzuführen war und nach polnischem Recht im Gegensatz zum deutschen eine Haftung der Bahn für solche Unfälle entfällt.

Für den Güter- und Tierverkehr gilt noch immer das längst überholte Frachtrecht des internationalen Übereinkommens vom Jahre 1890, im Personenverkehr gilt ein eigenes Verkehrsrecht, das ein wenig befriedigendes Kompromiß zwischen der polnischen und der deutschen Eisenbahnverkehrsordnung darstellt. Welche Folgen die Anwendung polnischen Eisenbahntarifrechts nach sich zieht, wurde bereits bei der Aufstellung der erhöhten Kosten des Ostpreußenverkehrs angedeutet. Die Polen erkennen zwar an, daß es unzweckmäßig ist, auf die in geschlossenen deutschen Wagen und Zügen beförderten Reisenden und Güter das Recht des Durchgangslandes anzuwenden, obwohl Reisende und Güter unter normalen Umständen in keinerlei Berührung mit der Umwelt des Durchgangslandes kommen, sie sind aber grundsätzlich nicht bereit, durch Anwendung deutscher Gesetze und Vorschriften eine Einschränkung der polnischen Hoheitsrechte hinzunehmen. Dieses Festhalten an ihren Hoheitsrechten wird besonders im Militärverkehr, für den im Pariser Abkommen und in den späteren Vereinbarungen besondere Regelungen getroffen sind, fast unerträglich. Selbst bei Manövern dürfen nach 14tägiger Vorankündigung täglich nicht mehr als drei Militärzüge den Korridor durchfahren. Es dürfen sich ferner nicht zwei Militärzüge gleichzeitig im Korridorgebiet befinden. Die Fahrten müssen bei Tageslicht erfolgen, und die Waffen müssen in besonders bewachten Wagen befördert werden. Die deutschen Soldaten unterstehen während der Fahrt durch den Korridor den polnischen Strafgesetzen!

Die Fülle der Schwierigkeiten und Schikanen des Korridorverkehrs macht diesen zu einem Problem, das allein schon genügt, um eine radikale Lösung zu verlangen, auch wenn man von allen sonstigen geschichtlichen, wirtschaftlichen oder moralischen Rechtstiteln absieht. Es heißt das Recht eines 80-Millionen-Volkes mit Füßen treten, wenn man ihm den Zugang zu seinen drei Millionen Volksgenossen in Ostpreußen und Danzig zu einer Quelle ständiger Bedrohung, Unruhe und Sorge macht. Der "geschichtliche Anspruch" Polens auf den freien Zugang zum Meer ist, wie allgemein bekannt ist, sehr zweifelhafter Natur. Unzweifelhaft hat aber Deutschland ein Recht darauf, daß seine Verbindung nach Ostpreußen und Danzig seinen eigenen und keinen fremden Hoheitsrechten untersteht.


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