SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor

[Bd. 4 S. 39]
Friedrich Nietzsche, 1844-1900, von Hans Freyer

Friedrich Nietzsche.
Friedrich Nietzsche.
Photographie von F. Hartmann, ca. 1875.
[Nach wikipedia.org.]
Das Leben eines Philosophen schildern ist etwas anderes als seine Philosophie darlegen. Trotzdem wird die Philosophie den hauptsächlichen Inhalt einer solchen Lebensbeschreibung zu bilden haben – vorausgesetzt, daß es sich um einen wirklichen Philosophen handelt. Denn das Leben eines wirklichen Philosophen geht in seine Philosophie völlig ein. Im äußersten Falle geht es sogar in ihr auf, und dieser äußerste Fall ist bei Nietzsche erreicht. "Ich habe meine Schriften jederzeit mit meinem ganzen Leib und Leben geschrieben; ich weiß nicht, was rein geistige Probleme sind." Eine Philosophie, die derart mit Leib und Leben geschrieben ist, darf, ja sie muß auch biographisch betrachtet werden, abgesehen davon, daß sie außerdem als Philosophie, als Gedankengefüge und, falls sie es ist, als System betrachtet werden muß. Die biographische Sicht bedeutet dann etwas grundsätzlich anderes, als daß die Philosophie oder einzelne ihrer Thesen aus subjektiven Erlebnissen des Philosophen hergeleitet, auf menschliche Eigenschaften seines Wesens zurückgeführt, aus dem Gang seines Lebens erklärt würden. Sie bedeutet viel eher das Gegenteil: daß nämlich die Erlebnisse, Erfahrungen, Freundschaften und Trennungen, die Zufälle und Schicksale, ja selbst die Krankheiten und Genesungen dieses Lebens als die Mittel erkannt werden, mit deren Hilfe die Philosophie aufgebaut wurde, als die geheimnisvollen Wege, auf denen sie gesucht und gefunden wurde, oder als die Mächte, denen sie abgerungen worden ist. Die Frage "wie man wird, was man ist" bedeutet dann: wie man Philosoph wird – Philosoph in dem neuen, verwegenen und verhängnishaften Sinne des Worts, in dem Nietzsche es wurde, Philosoph als Befehlender und Werteschaffender. Und sachlich gewendet bedeutet sie: wie diese Philosophie wurde – die Philosophie des Willens zur Macht.

Wie man wird, was man ist – diese jasagende Formel, die Nietzsche zum Thema seines "Ecce homo" gemacht hat, enthält in sich zugleich die Antwort auf die Frage nach den Wandlungen seines philosophischen Systems. Es gibt in der Geschichte der Philosophie zweifellos Denker, die im Laufe ihres Lebens mehrmals neu angesetzt, mehrmals neu gebaut, sogar mehrmals neu vollendet haben. Die Philosophie selbst entwickelte sich gleichsam in ihrem Geist, wie ein eigenes Wesen. Sie wandelte sich von einem ersten zu einem zweiten, zu einem dritten System, oder sie wurde umgebrochen und wuchs aus zweiter Wurzel noch einmal. Nietzsches Fall ist das keineswegs, so sehr gerade er der Wandlungsreiche zu sein scheint und tatsächlich ist.

[40] Wohl hat die Nietzschedeutung bis vor kurzem das Schema eines Denkers, der mehrere Philosophien durchläuft, auch auf Nietzsche angewandt. Anders schien es kaum möglich, der Vielfältigkeit seiner Gedankenwelt und der Widersprüche in ihr Herr zu werden. Auf den romantischen Philosophen, der sich im wesentlichen in Schopenhauerschen Ideen bewegt, folgte der Positivist, dann wohl der Skeptiker, schließlich der selbstbauende Metaphysiker – alle diese Begriffe als Kennzeichnungen grundsätzlicher philosophischer Standpunkte verstanden, die Nietzsche eingenommen und dann wieder überwunden haben soll. Daß jede dieser "Perioden" ihre eigenen Fragestellungen und Themenkreise, auch ihren eigenen Denkstil und ihre eigene Sprache, schließlich ihre eigenen Fronten, Gegner und Bundesgenossenschaften mit sich brachte, verstand sich am Ende von selbst. Als das Wesentliche aber galt der Wechsel der philosophischen Standpunkte, der die Zurechnung jedes Werkes, sogar jedes charakteristischen Gedankens zu einer der Perioden ermöglichte.

Diese Deutung ist heute nicht mehr haltbar. Schon Nietzsches Nachlaß beweist unwiderleglich die Einheit des philosophischen Willens, der in diesem Geist lebt. Von den unveröffentlichten Griechenschriften der ersten Basler Jahre gehen stetige Linien bis zum Willen zur Macht. Die entscheidenden Begriffe und Gedanken der endgültigen Philosophie sind längst fertig und werden einsam weitergehegt, während Nietzsche noch die Maske des freien Geistes trägt. Langsam wächst der "zusammenhängende Bau von Gedanken", jener "Hauptbau" zur "Vorhalle" des Zarathustra, von dem Nietzsche in seinen Briefen an die Schwester und an die Freunde spricht. Diese Philosophie aber wird in den veröffentlichten Schriften nicht verkündet, sie schimmert in ihnen nur durch, und höchstens wird sie angekündigt: selbst im Zarathustra geschieht nicht mehr als dies. Gleichsam als sollte diese Philosophie, fremd und einsam, wie sich's gebührt, nur in einem einzigen Geiste gewußt, dem Jahrhundert entgegengestellt werden, das in ihr zugleich begriffen und vernichtet, zugleich beendet und überwunden wurde – und nicht nur dem Jahrhundert: denn was da umgewertet wird, sind nicht die Werte des neunzehnten Jahrhunderts, sondern die Werte von Jahrtausenden.

Alles das geht bereits aus den Dokumenten des Nachlasses hervor. Aber es bedürfte des dokumentarischen Nachweises gar nicht, um die Einheit der Nietzscheschen Philosophie zu erhellen. Sie ergibt sich vielmehr, ohne alle Zwischenschaltungen, aus den Werken selbst, trotz ihres Masken- und Tonwechsels, ja gerade aus diesem – sobald man nämlich den philosophischen Willen, der in ihnen lebt, in Betracht zieht, sobald man also die Philosophie nicht als theoretische Angelegenheit, sondern als Tat, als Sendung, als Schicksal begreift. Das aber ist sowohl Nietzsches Überzeugung wie seiner Leistung allein gemäß. Und hier entspringt auch das Recht und die innere Notwendigkeit, gerade seine Philosophie biographisch, das heißt als sich wandelndes, sich erfüllendes, im Siege scheiterndes und im Scheitern siegendes Menschenleben zu sehen.

[41] Nietzsche hat sehr klar um die höhere Vernunft und Vorsicht unserer zukünftigen Aufgabe gewußt, um jene "ferne einstige Bestimmung", die über uns verfügt, während alles zufällig zu sein scheint. Sie sei es, sagt er, die die Auswahl der Ereignisse, das Zugreifen und plötzliche Begehren, das Wegstoßen des Angenehmsten, sogar des Verehrtesten bewirke. Im "Ecce homo" wird dieser Gedanke maßlos übersteigert; auch das Banale wird da existenziell genommen, angesichts der Aufgabe, eine zweitausendjährige Dekadenz auf Sieg umzumünzen. Aber den geheimen Plan spürt Nietzsche mit Recht in sich, in seinem Leben und in den Wandlungen seines Denkens. Und der Einheit seines philosophischen Willens ist er sich mit Recht bewußt.

Die Philosophie war lange, nämlich von Sokrates bis auf Schopenhauer, die Domäne und das Privileg des zuschauenden, des theoretischen Geistes. Aber ihrer Bestimmung nach ist sie das keineswegs. Sie soll vielmehr Welt gestalten, Menschen erziehen, Völker regieren, Staaten begründen, wie sie bei Pythagoras, Heraklit, Empedokles tat, deren Philosophie eine Philosophie von Staatsmännern war.

Wenn nun das Zeitalter aus den Fugen ist und seinen Zusammenbruch nur noch durch Selbstbetrug notdürftig verhüllt, wenn der Gott, auf den sich alles bezieht, in Wahrheit tot ist, dann wird diese Bestimmung der Philosophie zu einer unendlich schweren und furchtbaren Aufgabe. Sie heißt dann: unbedingter Kampf gegen die Zeit, nicht nur gegen das, was offensichtlich falsch und faul an ihr ist, sondern auch gegen ihre Wurzeln und Heiligtümer und gerade gegen diese – Umsturz nicht nur dessen, was schon fällt, sondern gerade dessen, was noch steht und Halt gibt – Absage an alles Zeitgemäße und Zeitgültige bis zur völligen Einsamkeit – Wegstoßen sogar des Verehrtesten. Diese Aufgabe der Philosophie hat Nietzsche von Anfang an geahnt, dann mit steigender Klarheit begriffen; unter sie hat er sich gestellt, und an ihr ist er zerbrochen. Daß er sie begreift, daß er sich unter sie stellt und an ihr zerbricht, ist sein Leben. Eben darum ist in Nietzsches Fall die Philosophie durchaus Schicksal und das Leben durchaus Philosophie.

Alle Werke Nietzsches sind Kampfschriften, oder sie sind Weck- und Sammelrufe, jedenfalls wollen sie alle etwas, und meistens wollen sie angreifen, treffen, vernichten, erledigen. Nietzsche ist ein Angreifer von Natur und Instinkt: dazu gehört, daß man nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen sich selbst und das Seine rücksichtslos und unerbittlich ist. Schon daraus erklärt sich, daß der philosophische Inhalt der Werke nicht widerspruchslos zu einem System zusammengeht, wie es sein müßte, wenn es sich um theoretische Schriften handelte. Nicht nur der Stil, der Ton, das Tempo, sondern auch die Lehre selbst wechselt. Erst im Angriff formieren sich die Thesen, die Werturteile, die Bejahungen und Verneinungen, denn sie sind nicht "Wahrheiten", sondern Stoß, Strahl und Waffe. Daher die Buntfarbigkeit und scheinbare Treulosigkeit des Nietzscheschen Denkens, daher seine schwer zu durchdringende Vordergründigkeit. Vordergrund heißt beim Kämpfer Front, und eine Front soll undurchdringlich sein.

[42] Dieser Kampfwille ist es, der Nietzsches Werken ihre Einheit gibt. Nicht ein immanenter Fortschritt des philosophischen Gedankens, sondern die Logik des immer radikaler werdenden Kampfes gegen die Zeit erklärt den Wechsel der "Standpunkte", die also in Wahrheit nicht philosophische Standpunkte sind, sondern Stellungen, Operationsbasen, zum Teil Tarnungen. Nietzsche beginnt mit dem Kampf gegen einzelne Exponenten und Symptome des Zeitgeistes von 1870: gegen den Bildungsbegriff des deutschen Bürgertums, gegen die verlogenen Synthesen von Christentum und Antike, gegen den Fortschrittsglauben, gegen den Historismus. In dem Maße, wie er den Gegner größer und totaler sehen lernt, wird auch die Front breiter und der Angriff wuchtiger. Die Figur des Freigeistes wird erfunden, als Gegenbild gegen alle geistigen Mächte der alten gebundenen Welt. Schon im Menschlichen, Allzumenschlichen werden ganz andere Dinge auf Eis gelegt und zum Erfrieren gebracht als der Bildungsphilister. Aber die Radikalisierung des Kampfes geht weiter. Das neunzehnte Jahrhundert wird zum Endglied einer mehrtausendjährigen Epoche, deren Ursprung das geschwächte, romanisierte Griechentum, deren Substanz das Christentum war, und über die mit der historischen Feststellung, daß Gott tot ist, das endgültige Urteil gesprochen ist. Nun ist tatsächlich "alles Schwergewicht aus den Dingen weg". Der Rest heißt europäischer Nihilismus. Wer jetzt noch glaubt oder Trost predigt oder Heilswahrheiten verkündet, sei es durch idealistische Philosophie, sei es durch romantische Musik, sei es durch christliche Politik, ist feige oder ein Betrüger. Nur aus dem Willen kann das große neue Ja kommen, das die Zukunft eröffnet, aber erst wenn das große Nein aus ihm gekommen ist, das das christliche Weltalter beendet.

Indem Nietzsches Kampf diese weltgeschichtliche Dimension annimmt, wird die aktive und heroische Aufgabe der Philosophie, die seit Heraklit nicht mehr erfüllt worden ist, in ihm gleichsam wiedergeboren. Wer vermag, wenn der Mythus stirbt, die Welt neu zu ordnen? Wer vermag die Werte, wenn sie gestürzt oder sturzreif sind, umzuwerten und neu aufzurichten? Die Vorsokratiker lehren es: der Philosoph. Nietzsche beginnt seinen Kampf gegen die Zeit als Schriftsteller, aber er wird zum Philosophen, indem sich dieser Kampf zum Kampf gegen das Weltalter weitet. Philosophie in einem wahrhaft verwegenen, Philosophie zugleich im ursprünglichen und in einem völlig neuen Sinn wird nun Wirklichkeit im Willen zur Macht. In den gotteslästerlich übersteigerten Sätzen des "Ecce homo" zittert das Bewußtsein der ungeheuren Aufgabe nach, die die Krise des christlichen Abendlandes – "eine Krise, wie es keine auf Erden gab" – der Philosophie gestellt hat. Denn auch seine endgültige Philosophie – man darf sie sein System nennen, obwohl er sie nicht zur systematischen Form vollendet, sondern als Torso hinterlassen hat –, auch sie hat Nietzsche nicht als theoretisches Gedankengebilde gedacht, sondern als Angriff auf die Zeit. Auch sie will nicht abstrakte Wahrheit sein, sondern Kampf und Sieg, Macht und Wirkung, Überwindung und Rettung in einer konkreten Situation, das heißt in diesem Fall in einem konkreten Zusammenbruch.

[43] Bis in seine erkenntnistheoretischen und werttheoretischen Grundlagen hinein ist Nietzsches endgültiges System vom Tatwillen beseelt und auf die weltgeschichtliche Wirklichkeit der europäischen Krisis bezogen. Werte gelten nicht, sie werden gültig gemacht vom Willen. Die Welt hat keinen Sinn, sie ist sinnlos, unschuldiges, heraklitisches Werden, aber der Starke hält es aus, in einer sinnlosen Welt zu leben, weil er ein Stück von ihr selbst organisiert. Die Wahrheit ist nicht etwas, was da wäre und gefunden oder entdeckt werden könnte, sondern etwas, was geschaffen wird: ein Festmachen, ein aktives Bestimmen. Diese Philosophie des Willens zur Macht ist also selbst Wille zur Macht: Aufgang des Willens im Untergang des Abendlandes. Die Weltsituation, der sie entgegengeworfen wird, ist die der absoluten Heimatlosigkeit. Diese Situation verlangt, daß der Philosoph ein Befehlender und Gesetzgeber sei, daß er das Wohin und Wozu des Menschen neu bestimme. "Wir Heimatlosen von Anbeginn – wir haben gar keine Wahl, wir müssen Eroberer und Entdecker sein: vielleicht, daß wir, was wir selbst entbehren, unseren Nachkommen hinterlassen, daß wir ihnen eine Heimat hinterlassen."

Solange Nietzsche einzelne Gegner sah, solange er in der Zeit selbst Bundesgenossen gegen sie zu haben glaubte, z. B. Schopenhauer und Richard Wagner, hat er den philosophischen Gedanken wie einen Degen geführt. Als er den Zusammenbruch als total, als Nihilismus erkannte, mußte der Gedanke wie eine hohe, einsame Kampfburg im Sturz der Zeit aufgerichtet werden: er wurde systematisch, er wurde Philosophie. Daß Nietzsche in seinem Kampf gegen die Zeit zur Philosophie in diesem zukünftigen, "vorausgeworfenen" Sinne aufsteigt, macht sein Leben aus. Nietzsche hat sein Leben selbst so gedeutet: der Philosoph muß vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker, auch Dichter, auch freier Geist und beinah alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werte und Wertgefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen in jede Ferne, in jede Höhe blicken zu können. Aber das alles sind nur Vorbedingungen: dann erst ist er zu seiner eigentlichen Aufgabe aufgestiegen: Werte zu schaffen. Nietzsche hat freilich auch gewußt, was es mit solchen Aufstiegen auf sich hat: "Ein großer Mensch wird gestoßen, gedrückt, gedrängt, hinaufgemartert in seine Höhe." Auch sein eigenes Leben ist ein solches Martyrium des Aufsteigens. Außerdem, daß es unter einem Ziel und einer Bestimmung steht, birgt es Umwege und Irrwege, Niederlagen und Zusammenbrüche in sich, und vom Ende her betrachtet ist es nicht nur ein Sieg ohne Preis, sondern ein Kampf ohne Sieg. Es gibt Ziele, die denjenigen, der sie verfolgt, blenden, wenn er nach ihnen greift. Es gibt Aufgaben, denen verpflichtet zu sein von Anfang an ein tragisches Ende bedeutet. Die Nacht, in die Nietzsches Geist versinkt, ist weder ein Beweis gegen seine Philosophie noch gegen sein Leben, aber sie gehört zu beiden als das tragische Ende eines Willens, der Unmögliches begehrt und der den Fluch beinahe sehenden Auges auf sich zieht, den die Götter auf die Hybris gelegt haben.


[44] Friedrich Wilhelm Nietzsche ist am 15. Oktober 1844 in dem Pfarrhaus des Dorfes Röcken bei Lützen geboren. Seine Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits sind zumeist Pastoren und Gelehrte. Nietzsche, der sich einen Atheisten von Instinkt nennt, hat es sich zur Ehre gerechnet, aus einem Geschlechte zu stammen, das in jedem Sinne Ernst mit seinem Christentum gemacht hat. Die polnischen Edelleute unter seinen Ahnen, von denen Nietzsche mehrmals mit Betonung spricht, sind nicht verbrieft. Worauf es ihm dabei ankommt, ist das Nicht-nur-Deutsche in seiner Erbmasse, die Anlage zum guten Europäer und das liberum veto in seinem Blut und Geist, der Trotz und die Kraft, nein zu sagen, wo alle andern bejahen; das alles wird man ihm, so oder so, zugestehen, sogar mitsamt dem Gegenteil, nämlich der Kraft und dem Trotz, ja zu sagen, wo alle andern nein sagen.

Mit dem Vater, den er in früher Jugend verlor, hat sich Nietzsche in geheimnisvoller Weise verbunden gefühlt, nicht nur geistig, sondern bis in den Gang seines Lebens hinein. Dem liebenswürdigen, hochbegabten Manne bekennt er alle seine Vorrechte zu verdanken, vor allem das Vorrecht, ungewollt und ungesucht in einer Welt hoher und zarter Dinge zu Hause zu sein – nur das große Ja zum Leben nicht eingerechnet; denn der Frühverstorbene stellt sich ihm in der Erinnerung als zart und morbid dar, "wie ein nur zum Vorübergehen bestimmtes Wesen". Die Schwester Elisabeth, später die Gehilfin des jungen Philologen, zuletzt die Pflegerin seiner Krankheit, bis zu ihrem Tode (1935) die Hüterin seines Erbes, war zwei Jahre jünger als er.

Als der Vater sechsunddreißigjährig an den Folgen einer Gehirnerschütterung stirbt, wird Nietzsche zuerst in Naumburg von der Mutter, dann vom vierzehnten Jahre ab auf der altberühmten Gelehrtenschule Pforta, bestem und strengstem Typ des humanistischen

Nietzsches Vertonung seines Jugendgedichtes ‘'Junge Fischerin'‘.
[45]      Nietzsches Vertonung seines Jugendgedichtes "Junge Fischerin",
eigenhändige Niederschrift
der ersten Fassung, 1865.
Weimar, Nietzsche-Archiv.    [Vergrößern]
Gymnasiums, erzogen. Hier schließt er Freundschaft mit Paul Deussen und Carl von Gersdorff. Er ist ein kräftiger und gesunder Junge, doch seelisch und geistig von feinem und besonderm Stoff, wählerisch in seinen Freundschaften, ernst in seinem Streben, nach außen zurückhaltend, mit Zügen knabenhafter Weltfremdheit. Früh zeigt sich seine hohe, auch schöpferische musikalische Begabung. Früh zeigt sich auch die Neigung, das Beste in sich selbst zu suchen und in eigner, langsam wachsender Besinnung selbständige Einsichten und Werturteile zu gewinnen; die Arbeiten über Theognis gehen bis in die Primanerzeit zurück.

Im Herbst 1864 begibt sich Nietzsche nach Bonn, um Philologie und Theologie zu studieren, im Jahr darauf folgt er seinem berühmten Lehrer Ritschl nach Leipzig. Nietzsche ist also einer jener Theol.-et-phil.-Studenten, deren Reihe in der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts zu verfolgen sich lohnen würde. In seinem Fall ist die Theologie wohl wesentlich eine Konzession an die Mutter, und sie wird bereits im zweiten Semester aufgegeben. Was das Studium der klassischen Philologie betrifft, so hat Nietzsche auch in ihm später eine der großen Instinktabirrungen seines Lebens sehen wollen: "Warum zum mindesten nicht Arzt oder [45=Faksimile] [46] sonst irgend etwas Augen-Aufschließendes?" Dieses Urteil des Rückblickenden muß sehr cum grano salis verstanden werden. Ihm steht gegenüber, daß der reife Nietzsche es als einen der drei Glücksfälle seines Lebens preist, einen Beruf gewählt zu haben, der es ihm erlaubte, sich "in der Nähe der Griechen heimisch zu machen". Dieser bescheiden-unbescheidene Ausdruck kennzeichnet treffend, worauf es Nietzsche beim Studium der klassischen Philologie subjektiv ankam und was dieses Studium objektiv für ihn bedeutet: das Hineinwachsen in den Sinn des griechischen Geistes, das Heimischwerden in seiner Weltauffassung und Weltbewertung – wobei alles Philologische für ihn nie etwas anderes als Technik war. Hier, im vorsokratischen Griechentum, lag nicht nur der echte Begriff der Kunst, der Philosophie, der Kultur, hier lag das große Gegenbild gegen die moderne, gegen die christliche, auch gegen die römische Welt, hier lag die gültige Norm für das zukünftige Menschentum bereit. Alle Vorbilder und Bundesgenossen, die Nietzsche unter Lebenden oder in andern Zeitaltern zu finden glaubte, wurden entweder zu bitteren Enttäuschungen oder blieben behelfsmäßig, wurden abgeschworen oder wie einzelne Trümpfe gegen einzelne Gegner verstochen. Heraklit aber bleibt das Urbild der Philosophie, die griechische Tragödie das Urbild der Kunst, der griechische Agon das Urbild des Willens zur Macht. In diesem Sinn bedeutet das Studium der Griechen nicht nur eine echte, sondern eine notwendige Wahl und den entscheidenden Schritt auf dem Weg zu Nietzsches Philosophie.

Nietzsches Leipziger Studentenjahre sind von eifriger, übereifriger Arbeit erfüllt. Mit Erwin Rohde verbindet ihn eine beglückende Freundschaft, die später zur Kampfgenossenschaft wurde, dann freilich, wie fast alle andern, in Enttäuschung zu enden vorherbestimmt war. Die Selbständigkeit des Geistes, mit der Nietzsche seine Studien betreibt, führt schon den Zweiundzwanzigjährigen zu eignen philologischen Arbeiten, die das Staunen, sogar die Bewunderung des Meisters Ritschl erregen, im Rheinischen Museum gedruckt werden und Nietzsches Namen in der Fachwelt bekannt machen. Im Herbst 1867 unterbricht er sein Studium, um in Naumburg bei der Reitenden Artillerie zu dienen. Doch ein Unfall beim Reiten, der ihn wochenlang aufs Krankenlager wirft, beendet sein Dienstjahr vorzeitig und führt ihn wieder seinen Büchern und Arbeiten zu. Pläne zur Promotion und zur späteren Habilitation in Leipzig werden entworfen, zwischendurch soll Italien und Griechenland bereist, auch mit Rohde gemeinsam ein Jahr in Paris verbracht werden. Alles das sieht aus wie eine sehr hoffnungsvolle, aber durchaus normale akademische Laufbahn, veredelt durch eine Weite und Fülle des Geistes, die die Gefahren enger Fachgelehrsamkeit von Anfang an ausschließt. Das Schicksal scheint diesen Gang noch besonders beschleunigen zu wollen. In die goldene Zeit der freien, unumschränkten Tätigkeit platzt überraschend der Ruf nach Basel hinein. Mit vierundzwanzig Jahren wird Nietzsche Professor der klassischen Philologie.

[47] Als die beiden anderen Glücksfälle seines Lebens – außer der vertrauten Nähe zu den Griechen – empfindet Nietzsche seine Begegnung mit der Philosophie Schopenhauers und mit der Musik Richard Wagners. Auch diese beiden Ereignisse fallen in die Leipziger Jahre. Damit treten die beiden Hauptmächte, die in Nietzsches Seele wohnen und um sie ringen, die Philosophie und die Musik, offen hervor, und ihre Kontrapunktik beginnt. Auf Schopenhauers Hauptwerk stößt Nietzsche zufällig in einem Antiquariat; er weiß nicht, welcher Dämon ihm zuflüstert: "Nimm und lies!" Die Wirkung, die Schopenhauers energischer, düsterer Genius auf ihn ausübt, gleicht einer Offenbarung. Ohne der Schopenhauerschen Philosophie dogmatisch zu verfallen, ohne sie auch nur dogmatisch zu nehmen, ohne vor allem, wie die meisten taten, Weltschmerz aus ihr zu saugen, sieht er von Stund an die Welt mit Schopenhauers Augen. Und Schopenhauer wird ihm zum Künder und Vorbild einer heroischen Lebensführung mitten im Sumpf der "modernen Ideen".

Wagners Musik hat den jungen Nietzsche längst gefangengenommen. "Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab... war ich Wagnerianer." Im Herbst 1868 lernt er den Meister in Leipzig kennen; voller Begeisterung berichtet er dem Freund Rohde von dem Glück des Abends und von der Gewalt des Mannes. Dieses erste, noch ganz gesellschaftliche Zusammentreffen bedeutet den Beginn der wichtigsten und schicksalsvollsten Beziehung, in die Nietzsche eintrat, der einzigen, die sein Leben von Grund auf beeinflußt und tragisch mitgestaltet hat. Diese eine Freundschaft-Feindschaft hat Nietzsche durch sein ganzes Leben hindurch mitgenommen, über den Tod Wagners hinaus und bis in seine eigene Nacht hinein. Vom unbedingten Glauben bis zur klaren Absage, vom Treugelöbnis bis zum schneidenden Hohn, vom Hymnus auf den Menschen und sein Werk bis zum Pamphlet gegen beide spielt Nietzsches Liebe, und auch in ihrer tiefsten Negation kommt sie nicht los von der verhängnisvollen Bindung. Über allem steht das Bekenntnis aus dem "Ecce homo": "...und so, wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den größten Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder zusammenbringen."


Das Lehramt in Basel hat Nietzsche, aus Freiheit und Freundschaft herausgerissen, begreiflicherweise mit gemischten Empfindungen, jedenfalls aber mit dem klaren Willen angetreten, über alles bloße Fachprofessorentum hinaus im Geist seiner großen Leitbilder erzieherisch auf die Jugend zu wirken. Mit der Professur ist die Verpflichtung verbunden, in den obersten Klassen des Pädagogiums zu unterrichten, so daß eine Überfülle von Arbeit Nietzsche erwartet und [48] fast verschlingt. Er hat sich später den "sinnlosen Mißbrauch außerordentlicher Kräfte" nicht verziehen. In den ersten Basler Jahren selbst aber ist er hochgemut und schaffensfreudig. Bei Kriegsausbruch geht er als freiwilliger Krankenpfleger nach Frankreich, holt sich bei einem Verwundetentransport eine schwere Krankheit und nimmt, unvollkommen genesen, die Lehrtätigkeit in Basel wieder auf. Die schönste und wertvollste menschliche Beziehung der Basler Zeit, freilich durch den Altersunterschied, die Geistes- und Wesensverschiedenheit stark kompliziert, ist diejenige zu Jakob Burckhardt. Mit dem Kirchenhistoriker Franz Overbeck verbindet ihn eine gute Freundschaft. Später kommt Peter Gast hinzu, der philosophiebeflissene Musiker, der Hilfsbereite und Getreue in Nietzsches einsamer Zeit.

Die Griechenschriften der Basler Jahre bis 1873 müssen zusammen gesehen werden, denn sie sind Teile eines großen Ganzen, eines universalen Griechenbuchs. Diese Schriften bedeuten die philosophische Auswertung der originalen Anschauung vom griechischen Wesen und Staat, von der griechischen Philosophie und Kunst, die Nietzsche gewonnen hat. Und sie bedeuten zugleich, im Gewand altklassischer Studien, den Ursprung seiner eigenen Philosophie. Sie alle sind unveröffentlicht geblieben, bis auf Die Geburt der Tragödie; und sie alle sind Fragmente geblieben, ebenfalls bis auf Die Geburt der Tragödie – diese vieldeutigste der frühen Schriften, die zwar veröffentlicht wurde, aber im Dienst eines heterogenen Zwecks, und die zwar vollendet wurde, aber mit Hilfe einer falschen Gleichung, nämlich derjenigen von Aischylos und Wagner.

Wunderbare, ganz tiefreichende und fernzielende, zugleich ganz Nietzschesche Einsichten stecken in diesen Fragmenten. So in dem kleinen Aufsatz Homers Wettkampf der Gedanke vom Agon als dem Urphänomen der griechischen Sittlichkeit. So in dem Fragment über den griechischen Staat ein Gesamtbild der heroischen Antike vor Sokrates, darüber hinaus eine ganze Philosophie des politischen Triebes, in der die Metaphysik vom Willen zur Macht keimhaft angelegt ist, und eine klare Absage an den politischen Stil der Gegenwart. Gegenüber der herkömmlichen Auffassung, die Nietzsches Kulturbegriff ins Ästhetische verfälscht, ist es wichtig, sich zu besinnen, daß Nietzsche derart das Urbild des Staates gleich zu Anfang beschwört und den geheimen Zusammenhang zwischen dem Staat und dem Genius, zwischen dem politischen Trieb der Griechen und der Sonnenhöhe ihrer Kultur ausspricht.

Die zweite Säule, auf der das Griechenbild des jungen Nietzsche ruht, ist die vorsokratische Philosophie. Jahrelang hat Nietzsche, immer wieder ansetzend, an dem großen Philosophenbuch gearbeitet, dessen Kern in dem Fragment Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen vorliegt. Sein Thema ist das hohe Geistergespräch von Thales bis auf Anaxagoras. Hinter den Lehren erscheinen die großen einsamen Menschen, in deren heroischem Leben die Philosophie entstand; als der größte von ihnen Heraklit, der Philosoph des Krieges und der [49] Gerechtigkeit, der Rechtfertiger des Werdens: bis in die Worte hinein ist diese Wiedergeburt der heraklitischen Philosophie zugleich die Geburt der Nietzscheschen. "Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt an ewig geschaut werden; er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen." Als das hintergründigste Problem aber lebt in diesem Philosophenbuch das Problem der Philosophie selbst. Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben die Philosophie selbst gerechtfertigt. Wie aber, wenn das Volk krank ist? "Es gibt eine stählerne Notwendigkeit, die den Philosophen an eine wahre Kultur fesselt: aber wie, wenn diese Kultur nicht vorhanden ist?"

Alles das blieb also Nietzsches und seiner vertrauten Freunde geheimes Eigentum. Nur das dritte Stück des Griechenbuches, die Philosophie des tragischen Kunstwerkes, trat ans Licht der Öffentlichkeit. Aus ihm wurde das wundersame Jugendwerk voller Jugendmut und ‑melancholie, die "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik".

Drüben am Vierwaldstätter See sitzt Wagner, schafft an der Siegfriedmusik und betreibt mit gewaltiger Energie die Pläne zur Verwirklichung des Festspielhauses, von dem die Erneuerung der deutschen Kultur ausgehen soll. Alle zwei, drei Wochen verlebt Nietzsche ein paar Tage bei ihm und Frau Cosima. Diese Tage in Tribschen vollenden, was die Tristanmusik begonnen hat. "Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben. Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke." Nietzsche gibt sich damals der Größe Wagners freudig hin, ohne freilich je zum Jünger zu werden. Und er glaubt an die Siegfriedmusik, an ihr unbändiges, heidnisches Ja zum Leben. So wenig sein selbständiger Geist dazu angetan ist, sich nach Wagners herrischer Art gleich anderen in den Dienst der Bayreuther Gründung einspannen zu lassen: freiwillig tut er es doch, und all seine Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Griechentums aus dem deutschen Geist verbindet sich mit Richard Wagners Willen zu einer Regeneration der deutschen Kultur vom Theater her. Bis 1876 ist diese Freundschaft, dieser gemeinsame Kampf gegen einen vermeintlichen gemeinsamen Feind bestimmend für alles, was Nietzsche veröffentlicht. Das erste, beinah größte Opfer, das Nietzsche ihm bringt (damals noch kaum als Opfer empfunden), ist die Ineinssetzung des dionysischen Kunstwerks mit der Wagnerschen Musik.

Nietzsche hat fünfzehn Jahre später die Geburt der Tragödie als ein Buch bezeichnet, aus lauter Erlebnissen über ästhetische Lust- und Unlustgefühle aufgebaut, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrund. Das ist in der Tat das unmittelbare Thema: das Gegenspiel des dionysischen und des apollinischen Weltprinzips, seine beständige Erneuerung aus Urtrieben der menschlichen Seele, seine Versöhnung im tragischen Kunstwerk. Auf dem Grunde des griechischen Lebens entdeckt Nietzsche das dionysische Phänomen: als Rausch des Sieges, als Wollust [50] des Werdens und Werdenmachens, des Schaffens und des Vernichtens, und sieht in ihm die eine Wurzel der griechischen Kunst – bis Sokrates, der Ahnherr des theoretischen Menschen und seines Optimismus, die Kunst vernichtet, die Lebensfülle des tragischen Menschen entwurzelt und das Weltalter der Dekadenz beginnt.

Unterhalb dieser metaphysischen Ästhetik aber, die mit Schopenhauerschen Begriffen gegeben und beständig auf Wagners Werk bezogen wird, regt sich, mühsam zurückgedrängt, Nietzsches eigene Philosophie, gleichsam das eigentlich Dionysische unter einer apollinischen Bändigung. Dionysos ist der erste Name für den Antichrist und die erste Formel für den Willen zur Macht. "Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buch, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philolog und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüßte den rechten Namen des Antichrist – auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische." Das welthistorische Problem der Dekadenz taucht auf, Sokrates ist die symbolische Figur dafür. Und das verwegene Buch wagt sich zum erstenmal an die Aufgabe, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der Optik des Lebens.

Daß diese harten Fragen und Entscheidungen idealistisch verhüllt, romantisch verschönert werden, gehört vielleicht zum Stil eines genialischen Jugendwerkes. Daß aber Nietzsche die große Gegenbewegung gegen die sokratische Kultur und das Wiedererwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt durch die sichersten Auspizien verbürgt sieht – verbürgt durch die deutsche Musik, mit einem Wort durch Wagner –, das ist ein verhängnisvoller, beinah schuldhafter Irrtum. Er hat sich damit nicht nur, wie er später empfand, das grandiose griechische Problem durch Einmischung der modernsten Dinge verdorben. Sondern er hat als zukunftsmächtige, lebensteigernde Kunst verkündet, was er binnen kurzem als die ungriechischste aller möglichen Kunstformen, als gefährlichstes Theater und als gefährlichstes neunzehntes Jahrhundert durchschauen mußte.

Im Frühjahr 1872 siedelt Wagner von Tribschen nach Bayreuth über. Die Grundsteinlegung des Festspielhauses findet statt. Nietzsche feiert den hohen Moment verehrungsvoll mit und lernt die Anhänger Wagners kennen, darunter Malvida von Meysenbug, die Idealistin und mütterliche Freundin der folgenden Jahre. Dann aber beginnt unaufhaltsam die Entfremdung zwischen Wagner, der seine Gründung betreibt, und Nietzsche, der zu den Griechen zurückkehrt. Mißverständnisse und Spannungen treten ein, Vermittlungen werden notwendig, die Verehrung bleibt, aber ein krampfhafter Wille wird in ihr merkbar. Bayreuth fordert eine Gefolgschaft, die Nietzsches Selbständigkeit verkennt und bedroht. Unterdes leistet er, wiederum aus freiem Willen, eine Waffenhilfe, die nur er leisten kann: in den Unzeitgemäßen Betrachtungen der Jahre 1872 bis 1876.

[51] Die "Geburt der Tragödie" hat eine Gegenschrift von Wilamowitz und eine Art "Feme" der Zunft hervorgerufen. In dieser Situation bewährt sich Erwin Rohdes Freundschaft als Kampfgenossenschaft. Nietzsches streitbarer Geist aber sucht größere Gegner. Den deutschen Bildungszuständen im neuen Reich erklärt er den Krieg und wagt als erster die These, daß der Waffensieg über Frankreich einen Sieg der deutschen Kultur noch lange nicht beweise, daß sogar die Niederlage des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches eine akute Gefahr sei. Er ist mit Recht stolz darauf, wie er sich seinen ersten Gegner gewählt hat: David Friedrich Strauß, den bewunderten Schriftsteller des liberalen Bürgertums, den ersten deutschen Freigeist, den klassischen Repräsentanten des durch Nietzsche klassisch gewordenen Begriffs "Bildungsphilister". Diese Streitschrift ist wahrhaft schöpferische Polemik: sie prägt einen Typus. Der Kulturbegriff, den sie als Norm aufstellt (Kultur sei die Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes), ist nur scheinbar ästhetisch. Es ist ein tiefer sittlicher Ernst, mit dem Nietzsche hier zwischen lebendig und tot, echt und unecht, Gott und Götze unterscheidet und sein Zeitalter unterscheiden lehrt.

Tiefer noch trifft die zweite "Unzeitgemäße Betrachtung" Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ins Herz des neunzehnten Jahrhunderts. Das, worauf es mit Recht stolz ist, seine historische Wissenschaft und Bildung, wird als verzehrendes Fieber verstanden, das am Mark der Gesundheit frißt, mindestens aber als Gefahr für jede zukünftige Kultur, falls nicht eine erneuerte plastische Kraft das Fremde in Eigenes umzuschaffen vermag. Die Geschichte, überhaupt die Wissenschaft wird unter die höhere Aufsicht und Überwachung einer Gesundheitslehre des Lebens gestellt. Und wie der Gegner totaler begriffen ist, wird auch der Normbegriff der Kultur unzeitgemäßer, zukünftiger, griechischer gefaßt: als Kraft, Chaos zu organisieren, als neue und verbesserte Physis, als Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen.

Noch glaubt Nietzsche, in dem Kampf, den er gegen die Zeit führt, in der Zeit selbst Mitkämpfer und Vorbilder zu haben: große Menschen, die mitten im chaotischen Wirbel der Gegenwart das Bild des Menschen aufrichten, Erzieher zu einem heroischen Leben. Daß das Ziel der Menschheit nicht an ihrem Ende liege, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren, und daß es der Sinn der Kultur sei, den Genius zu erzeugen: dieser Gedanke, der Nietzsche seit langem vertraut ist, wird nun sowohl in den Begriff der Kultur wie in den Begriff der Bildung aufgenommen. Nietzsche hat gewiß recht, wenn er von der dritten und vierten Unzeitgemäßen Betrachtung später sagt, daß sie im Grunde nur von ihm selbst reden, nicht von Schopenhauer, nicht von Wagner. Gleichviel: Schopenhauer wird als Richter und Erzieher der Zeit, Wagner als Gegen-Alexander, der das Gelöste bindet und die Welt vereinfacht, Bayreuth als Ausgangspunkt für die Regeneration des deutschen Wesens verkündet. Bilder der härtesten Selbstzucht zu beschwören, erzieherische Mächte aufzurufen gegen alles, was rundum Reich, [52] Christentum, Kultur heißt, ist das Ziel. Stärker noch als die Lust am Kampf ist im dreißigjährigen Nietzsche der erzieherische Trieb. Eine neue griechische Akademie, eine Schule der Erzieher, eine wirkliche deutsche Bildungsanstalt: in diesen und anderen Formen zieht sich der Plan, die höheren Menschen zu sammeln und dem Leben im Sinne großer Geister mit dem Zweck großer Ziele eine Stätte zu schaffen, durch die ganze Zeit hindurch.

In den Jahren, in denen die Schrift Richard Wagner in Bayreuth entsteht, schreibt Nietzsche zugleich völlig klar und unverhüllt für sich nieder, was ihn von Wagner trennt: daß diese Musik nicht Wiedergeburt der antiken Tragödie, nicht allergrößte Sinfonie, sondern modernes Theater sei. Der Gegensatz ist unüberbrückbar. Die glühende Bekenntnisschrift ist ein Werk des Trotzdem und ein Abschied. Die Erlebnisse bei den ersten Bühnenfestspielen 1876 genügen vollauf, den Bruch auszulösen. Vorzeitig reist Nietzsche ab, sein Auge ist mit Tränen erfüllt. Er scheidet sich nicht nur von den Wagnerianern, nicht einmal nur von Wagner selbst (obwohl das Verhältnis zu diesem noch längere Zeit in der Schwebe bleibt), sondern von allen falschen Hoffnungen und Treuegefühlen seiner Jugend und beginnt eine große Rückkehr zu sich. In Klingenbrunn im Böhmerwald schreibt er die ersten Gedanken zum Menschlichen, Allzumenschlichen nieder.


Die Geschichte von Nietzsches Krankheiten und Genesungen, das Auf und Ab seiner Gesundheit von 1871 an ist – obwohl ursächlich noch nicht vollständig gedeutet – als äußeres Bild klar. Frühzeitig klagt er über die Basler Luft. Alle Orte nördlich der Alpen, an denen er je gelebt hat, hat er später als ebenso viele Unglücksorte für seine Physiologie empfunden. Nietzsches Nervensystem ist nicht schwach, aber in hohem Grade sensitiv. Sein Magenleiden ist nicht organischer Art, sondern eine Teilerscheinung des nervösen Gesamtzustandes. Jede Überarbeitung, aber auch jede äußere und innere Erregung, so vor allem die Katastrophe von 1876, ruft akute Anfälle der Krankheit hervor. Alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen.

Nietzsche lernt also in seinen Mannesjahren die Krankheit gründlich kennen. Und er lernt sie lieben, nicht nur als die Bringerin einer unfreiwilligen Muße, sondern als Verfeinerin aller Organe der Beobachtung, als die große Chance, Perspektiven umzustellen, nämlich von der Krankheit aus nach gesünderen Begriffen und Werten und umgekehrt aus der Fülle des gesunden Lebens in die heimliche Arbeit des Dekadenz-Instinktes hinunterzusehen. Denn zwischen den Attacken der Krankheit ist Nietzsche übermütig gesund, von strahlender Heiterkeit. 1879 ist der Tiefpunkt der Krankheit. Nietzsche gibt sein Lehramt in Basel endgültig auf, nachdem er sich vorher schon ein Jahr hat beurlauben lassen. Er glaubt sich dem Tode nahe. Es ist das gleiche Lebensjahr, das sechsunddreißigste, in dem das Leben seines Vaters abwärts gegangen war.

[53] Das Dokument der großen Loslösung von Wagner und von allem, was an Jugend, Glaube, Bindung, Hoffnung am Namen Wagners hing, sind die Aphorismenbände, die unter dem Titel Menschliches, Allzumenschliches zusammengefaßt wurden. Die freien französischen Moralisten von Montaigne an werden als wahlverwandte Geister (wie früher Schopenhauer) und als Vorbilder des Denkstils gegen alle deutsche Schwere und Metaphysik ausgespielt, und an die Stelle der idealistischen Jugendfreunde ist Paul Rée getreten, der kühle Analytiker der moralischen Empfindungen, mit dem Nietzsche die für das Buch entscheidenden Monate in Sorrent verlebt. Nietzsche, der sich selbst befreiende, nimmt die Maske und Haltung des "freien Geistes" an. Alles, was verehrt worden ist und zur Verehrung verführen könnte, liegt tief unten und wird mit Vogelfreiheit, Vogelüberblick, Vogelübermut betrachtet, voran die romantische Musik, außerdem aber alle Mächte der Moral, der Religion, des Geistes und der Politik, die das Jahrhundert gestalten. Diese Leidenschaft des Betrachtens, die keine Voraussetzungen macht, sondern alle Voraussetzungen bloßlegt, hat zu der Deutung verleitet, Nietzsche sei mit diesem Buch Positivist geworden. In Wahrheit handelt es sich keineswegs um einen philosophischen Standpunktwechsel. Der Kultur- und Zukunftswille Nietzsches, sein Kampf gegen das Jahrhundert bleibt in gleicher Stärke und in unveränderter Richtung. Wohl aber schafft er sich in der Philosophie des freien Geistes neue Mittel des Kampfes, härtere und aggressivere, als sie in den Unzeitgemäßen Betrachtungen zur Verfügung standen. Die neue Kampfweise ist von Nietzsche mit dem Ausdruck "auf Eis legen" unvergleichlich bezeichnet worden: das Ideal wird nicht widerlegt, es erfriert. Der Gedanke einer Kulturchemie taucht auf, die mit untrüglichen Reagentien feststellt, was Leben stärkt und was Leben untergräbt. Die Psychologie der Moral, der Religion, der Kunst, der Metaphysik wird Stück um Stück aufgebaut, jene unbarmherzige Psychologie, die alle Schlupfwinkel kennt, wo das Ideal heimisch ist.

Ein souveränes Buch, hat Jakob Burckhardt gesagt. Diese Souveränität darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es dem Schmerz abgerungen ist – das Denkmal einer Krisis, die Nietzsche nahe an den Abgrund gebracht hat. Gewiß ist es ein Sieg – "ein rätselhafter, fragenreicher, fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg, immerhin." Die Analysen Wagners und die Anspielungen auf ihn sind zahlreich. Sie sind durchgängig anonym, aber natürlich werden sie in Bayreuth wohl verstanden. "Verrat" oder "krankhaft" nennt man dort, was Nietzsche Befreiung nennt. In Nietzsches Erinnerung hat es sich so dargestellt, als ob sich die beiden Exemplare des Menschlichen, Allzumenschlichen, die er nach Bayreuth sandte, mit dem Parzivaltext gekreuzt hätten. "Diese Kreuzung zweier Bücher – mir war's, als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich Degen kreuzten?"

Auch in der Morgenröte spricht Nietzsche noch als freier Geist; sogar noch in der Fröhlichen Wissenschaft, obwohl inzwischen die neue Gestalt aufgegangen [54] ist, in der er das Bewußtsein seiner Bestimmung wiederfindet. Noch bohrt die Krankheit, noch ist die lebensgefährliche Trennung von Wagner keineswegs verschmerzt, und die eigene Aufgabe dämmert zwar, aber sie gibt noch kein Licht. Dennoch klingt deutlich ein neuer Ton in der Morgenröte, die 1881 in Genua vollendet wird. Es ist ein jasagendes Buch, so sehr es zunächst nein sagt, und selbst eine Morgenröte: sehr kühl, aber der Tag bricht an, und der Weg zum großen Mittag zeichnet sich vor. Der Zusammenhang zwischen Priestertum und moralischen Wertbegriffen, zwischen Moral und niedergehendem Leben, also auch zwischen aufgehendem Leben und Überwindung der Moral steht klar in den Zeilen; zwischen ihnen aber steht schon das neue Ja, die Philosophie des Willens zur Macht. Noch mehr gilt das von der Fröhlichen Wissenschaft, dem tiefsinnig- mutwilligen Buch, in dem die höchste Hoffnung zum Greifen in die Nähe gerückt ist, in dem Nietzsche sein Schicksal wieder liebt und in dem er seine Freigeisterei mit der Verkündigung Zarathustras auch äußerlich verzahnt: der Schlußaphorismus des vierten Buchs (das fünfte ist erst später hinzugekommen), ist mit dem Anfang des Zarathustra identisch... Incipit tragoedia.

Oberengadiner Landschaft.
[48b]      Die Oberengadiner Landschaft,
in der Nietzsche 1881–88
den Sommer verbrachte.

Blick auf Silvaplaner und Silser See
(zwischen den Seen links liegt Sils Maria).

[Bildquelle: Albert Steiner, St. Moritz.]

Das Haus in Sils Maria, in dem Nietzsche wohnte.
[48b]      Das Haus in Sils Maria,
in dem Nietzsche wohnte.

[Bildquelle: Albert Steiner, St. Moritz.]
In Sils Maria, dem heroischen Idyll, das er kurz zuvor entdeckt hat, hat Nietzsche das ekstatische Erlebnis, das den Höhepunkt seines Lebens bildet: der Gedanke der ewigen Wiederkunft leuchtet ihm auf, und die Gestalt Zarathustras überfällt ihn. Das ist im August 1881 – "sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit". Anderthalb Jahre lang werden die Gedanken und Melodien, die in der Zarathustra-Vision zusammengeballt sind, einsam ausgetragen. Dann geht die Niederschrift in einer ungeheuren zeitlichen Zusammendrängung, nicht nur in einem Schwung, sondern in einem Rausch vor sich. Die wunderbare Stelle über die Inspiration in "Ecce homo" spiegelt sieghaft und selig wider, was Nietzsche bei der Niederschrift der ersten drei Teile des Zarathustra erfuhr. Der erste Teil ist in zehn Februartagen des Jahres 1883 in Rapallo geschrieben, die Schlußpartie "genau in der heiligen Stunde, in der Richard Wagner in Venedig starb"; der zweite Teil in zehn Sommertagen des gleichen Jahres in Sils Maria, "heimgekehrt zur heiligen Stätte, wo der erste Blitz des Zarathustra-Gedankens mir geleuchtet hatte"; der dritte Teil in zehn Januartagen des Jahres 1884 in Nizza. Dann ist der schöpferische Rausch verklungen. Der vierte Teil, ins Allegorische absinkend, im Winter danach entstanden, erscheint nur für die Freunde und ist erst nach Nietzsches Zusammenbruch den ersten drei Teilen hinzugefügt worden.

[p56a-h]
Brief Nietzsches
an seinen Freund Carl Freiherrn von Gersdorff

(Weimar, Nietzsche-Archiv)

  [Abschrift folgt dem Faksimile.]

Briefseite 1

Briefseite 2

Briefseite 3

Briefseite 4

Briefseite 5

Briefseite 6
[56a-f]      Brief Nietzsches an seinen Freund Carl Freiherrn von Gersdorff.
(Weimar, Nietzsche-Archiv.)

[56g-h] Abschrift:

Mein lieber alter Freund Gersdorff,

inzwischen habe ich erfahren, daß Dir etwas sehr Schmerzliches widerfahren ist – der Verlust Deiner Mutter. Als ich dies hörte war es mir ein rechter Trost, Dich nicht allein im Leben zu wissen, und ich gedachte der herzlichen und dankbaren Worte, mit denen Du in Deinem letzten Briefe an mich Deine Lebens-Gefährtin erwähntest. Wir haben es in unserer Jugend schwer gehabt, Du und ich – aus verschiedenen Gründen; aber es wäre eine schöne Billigkeit darin, wenn unserem Mannes-Alter einiges Milde und Tröstliche und Herzstärkende begegnete.
      Was mich betrifft, so habe ich eine lange schwere Askese des Geistes hinter mir, die ich freiwillig auf mich nahm und die nicht Jedermann sich hätte zumuthen dürfen. Die letzten sechs Jahre waren in diesem Betracht die Jahre meiner größten Selbstüberwindung: wobei ich noch absehe von dem, was mich Gesundheit, Einsamkeit, Verkennung und Verketzerung überwinden ließ. Genug, ich habe auch diese Stufe meines Lebens überwunden – und was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!) soll nun ganz und voll das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist vorbei: mein Zarathustra, der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verrathen, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben – nicht mehr! – Ich weiß ganz gut, daß Niemand lebt der so Etwas machen könnte, wie dieser Zarathustra ist. –
      Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Ober-Engadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, daß hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist. Ach, was liegt noch Alles verborgen in mir und will Wort und Form werden! Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein, daß ich meine innersten Stimmen vernehmen kann.
      Ich möchte Geld genug haben, um mir hier eine Art ideale Hundehütte zu bauen; ich meine, ein Holzhaus mit 2 Räumen; und zwar auf einer Halbinsel, die in den Silser See hineingeht und auf der einst ein römisches Castell gestanden hat. Es ist mir nämlich auf die Dauer unmöglich, in diesen Bauernhäusern zu wohnen, wie ich bisher gethan habe: die Zimmer sind niedrig und gedrückt, und immer giebt es mancherlei Unruhe. Sonst sind mir die Einwohner von Sils-Maria sehr gewogen; und ich schätze sie. Im Hôtel Edelweiss, einem ganz vorzüglichen Gasthofe, esse ich: allein natürlich, und zu einem Preise, der nicht gänzlich im Mißverhältniß zu meinen kleinen Mitteln steht. Ich habe einen großen Korb Bücher mit herauf gebracht; und auf drei Monate ist es wieder abgesehn. Hier wohnen meine Musen: schon im Wanderer und sein Schatten habe ich gesagt, diese Gegend sei mir "blutsverwandt, ja noch mehr". –
      Nun habe ich Dir Etwas von Deinem alten Freunde und Einsiedler Nietzsche erzählt – ein Traum von dieser Nacht brachte mich dazu.
      Bleib mir gut und treu! – wir sind alte Kameraden und haben Manches gemeinsam gehabt!

Dein            
Friedrich Nietzsche.
Sils-Maria, Oberengadin (Schweiz)
      Ende Juni 1883.
 
Gedanklich, als Philosophie also, ist der Zarathustra gewiß nicht Nietzsches bedeutsamstes Werk und jedenfalls nicht das endgültige. Er verkündet nicht die Philosophie des Willens zur Macht, er kündigt nur an, daß sie da ist oder daß sie kommen wird. Gleichsam stellvertretend für das Ganze der Lehre, die im Zarathustra mehr verschwiegen als offenbart wird, tritt der Gedanke der ewigen Wiederkunft ein. Als Verkünder des großen Mittags der Menschheit steigt Zarathustra hinab, zuerst zum Volk, dann zu den berufenen Gefährten, schließlich zu [55] den höheren Menschen, schenkt ihnen seine Lehre und schenkt ihnen das Vorbild seines Lebens, das alles Menschliche tief unter sich hat. Er redet vom Menschen und seinem Ziel, dem Übermenschen, von der Kraft des Willens, Werte zu schaffen, von den Versuchungen des höheren Menschentums, von den Gefahren des Guten und von der Güte des Bösen. Als Kernstück aber der Lehre, ja als das neue Schwergewicht der Dinge erscheint der Gedanke der ewigen Wiederkunft. Die ganze Komposition des Zarathustra beruht darauf, daß diese Lehre geahnt, angedeutet, mit Entsetzen zurückgedrängt, endlich gewagt und den Menschen verkündet wird.

Man kann fragen, ob der Gedanke der ewigen Wiederkunft die gewaltige Bedeutung, die der Zarathustra ihm zumißt, tatsächlich in sich trägt. Dabei ist verhältnismäßig gleichgültig, ob Nietzsche ihn für eine wissenschaftlich beweisbare Erkenntnis gehalten hat oder ob er in ihm ein Symbol sieht, die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann, und den Prüfstein für die große Gesundheit des Willens. Daß der Mensch der Zukunft, aller Tiefen und Leiden kundig, trotzdem zu sagen vermag: "War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!" ist die eine Bedeutung der Wiederkunftslehre, aber es ist nicht ihre einzige. Sie bedeutet vielmehr zugleich das denkerische Symbol für die Überwindung der christlichen wie jeder religiösen Weltansicht, die positive Gegenthese zu dem Satz, daß Gott tot ist. Solange Gott lebt, ist die Geschichte der Welt zwischen Ereignissen eingespannt, die unwiederholbar, einmalig, absolut sind: zwischen Schöpfung, Sündenfall, Erlösung, Jüngstem Gericht. Und der Fortschrittsglaube des bürgerlichen Zeitalters ist nur die Verfallsform des religiösen Einmaligkeits- und Erlösungsglaubens. Durch die Lehre von der ewigen Wiederkunft rückt das Gewicht und das Gesetz der Ordnung aus dem Jenseits in das diesseitige Leben selbst hinein, jeder Augenblick ist seiner Ewigkeit versichert, es gibt keine Erlösung, ewig treu bleibt sich der Ring des Seins. Das ist für Nietzsche–Zarathustra die Bedeutung der Wiederkunftslehre: sie ist das Siegel auf das Ja zur Erde.

So wenig also der Zarathustra Nietzsches Philosophie in ihrem vollen Gehalt enthüllt, er bedeutet trotzdem den Höhepunkt seiner Existenz. Nietzsche selbst wertet ihn so: "Mein Begriff dionysisch wurde hier höchste Tat." Nietzsche hat den Zarathustra unter die Symphonien gerechnet, immerfort redet er von ihm wie von einer Musik, musikalische Erlebnisse, vor allem Bizets "Carmen", rechnet er unter die Vorzeichen der großen Wiedergeburt, deren Werk der Zarathustra ist. Alles das weist deutlich darauf hin, was dieses Werk für Nietzsche bedeutet, bedeuten soll: den Sieg in dem Wettkampf mit Wagner, den Triumph über Bayreuth und Parzival, den Antritt des Erbes, das – eben in diesem Moment – durch Wagners Tod frei wird.

Über dem Zarathustra liegt eine absolute Einsamkeit. Auch das "Halkyonische" (gleichsam das musikalische Ideal, dem er nachstrebt) ist vor allem eine Form der Einsamkeit. Aus dieser Einsamkeit heraus klingt der Ruf nach Gefährten, nach Mitkämpfern oder wenigstens nach bildsamen Schülern. Nie ist [56] Nietzsches pädagogischer Wille leidenschaftlicher gewesen als im Zarathustra. Die Gewißheit, sich selbst und seine Aufgabe wiedergewonnen zu haben, setzt sich unmittelbar in den Machtwillen des Erziehers um. "Zum Menschen treibt er mich stets von neuem, mein inbrünstiger Schaffenswille; so treibt's den Hammer hin zum Stein."

Wiederum zieht sich Nietzsches pädagogischer Kampf- und Machtwille auf einen Menschen zusammen, mit jener gefährlichen Ausschließlichkeit, die beinahe notwendig zum Scheitern verurteilt ist. Unmittelbar vor dem Zarathustra, in media vita, lernt er die junge Russin Lou Salomé kennen, "scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe", eine außerordentliche Intelligenz, die für seine Philosophie auf die erstaunlichste Weise vorbereitet scheint. Auf sie wirft er alle seine Hoffnungen. Die Beziehung dauert fünf Monate. Ihr Bruch stürzt Nietzsche in schlimmste Qualen. Der Bruch mit Rée ist unheilvoll damit verschlungen. Eine Enttäuschung von milderer Art, aber auch eine, bedeutet die Begegnung mit Heinrich von Stein. Es dauert kein Jahr, so muß Nietzsche erkennen, daß dieser edle und gläubige Geist, mit dem er sich inter pares gefühlt hat, nicht zu ihm, sondern zu Bayreuth gehört. Die alten Freunde rücken mehr und mehr ab. Nur Peter Gast, der treue, bleibt. Was in der persönlichen Sphäre geschieht, wiederholt sich in der öffentlichen: der Ruf des Zarathustra nach Menschen verhallt ungehört, und jedenfalls sind es nicht die Berufenen, die da kommen. Eine tiefe und strenge Einsamkeit umgibt Nietzsche von nun an, tiefer und strenger als je, denn es ist nicht mehr jene Einsamkeit, die als Bedingung des Schaffens gesucht oder ertragen wird, sondern es ist die schauerliche Stille, die man um sich hört, wenn man ruft und niemand antwortet.


Friedrich Nietzsche.
Friedrich Nietzsche.
Holzschnitt von Moritz Klinkicht, ca. 1900.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Der neuen Einsamkeit ist schon der vierte Zarathustra abgerungen. Für zwei weitere Teile, die folgen sollten, sind nur unvollständige Aufzeichnungen erhalten. Krampfhafte Phantasien des Sieges leuchten aus ihnen auf: Kämpfe um die Durchsetzung der Lehre und um die Bewährung der Jünger, Kämpfe um die Weltherrschaft, dionysische Feste in der Stunde des Sieges, als neue Formel aber für den Sinn des Übermenschen Cäsar mit der Seele Christi. 1885 legt Nietzsche alle diese Pläne beiseite. "Entschluß: Ich will reden und nicht mehr Zarathustra." Seitdem bewegt sich sein Denken und Wollen auf zwei verschiedenen Linien, die sich aber mannigfach verschlingen. Die erste dieser Linien heißt Philosophie, nunmehr in aller Strenge. Die zweite heißt Angriff, nunmehr ohne Visier und Maske, Angriff auf alles, was außer ihm ist, und sogar auf vieles, was in ihm ist, zum Beispiel auf das "Deutsche".

Es wurde schon gesagt, daß der Zarathustra den Gehalt der Nietzscheschen Philosophie nicht darlegt, eher verrätselt. Die Philosophie vom Willen zur Macht und von der Unschuld des Werdens, die in allem Wesentlichen fertig ist, läßt [57] sich aus diesem Sentenzenbuch und dieser spröden Dichtung kaum erahnen. Schaudernd und Schauer erregend verkündet Zarathustra die ewige Wiederkehr des Gleichen; aber was da wiederkehrt, wird nicht verraten. Herrisch und inbrünstig wirbt er um Gläubige, aber der Gedankengrund, auf dem der Glaube ruht, wird nicht kundgetan. Nachdem Nietzsche so überweit vorgegriffen hat, holt er nun gleichsam nach. Und nachdem er Jasager war, wird er Neinsager, Neintuer – indem er den neuen Kampf, die Umwertung der bisherigen Werte, eröffnet.

Jenseits von Gut und Böse und die Genealogie der Moral ziehen den Schleier von der Philosophie des Willens zur Macht wenigstens teilweise weg; sie sind eine Art Glossarien zum Zarathustra und bereiten nachträglich auf diesen vor. Beide Schriften zeigen den Stil Nietzsches in höchster Vollendung. Äußerste Schärfe der Gedanken verbindet sich in ihnen mit reichster Nuancierung des Ausdrucks, härtestes Urteil mit der Süßigkeit der vollen Reife. Jenseits von Gut und Böse ist in der Tat eine "universelle Kritik der Modernität" (so hat Nietzsche das Buch selbst genannt). Unter dem Begriff des Vornehmen wird der Moderne das Gegenbild gezeigt zu allem, was sie in ihren Wissenschaften und Künsten, in ihrer Moral, Religion und Politik tut und ist. Die Genealogie der Moral aber bringt, in dem souverän gehandhabten Stil einer systematischen Abhandlung, die Hauptstücke der kämpferischen Psychologie Nietzsches: seine Psychologie des Ressentiments und des Sklavenaufstandes in der Moral – seine Psychologie des Gewissens als der rückwärtig gewandten Grausamkeit – seine Psychologie des asketischen Ideals und des Priestertums.

Die Metaphysik Nietzsches aber bleibt auch jetzt noch im Hintergrund. Sie liegt in dem nachgelassenen, unvollendet gebliebenen Hauptwerk verborgen, und nur wie losgerissene Blöcke gehen Stücke von ihr in die Kampfschriften des letzten Jahres ein. Es ist das Symbol der absoluten Abgeschiedenheit, zu der der Einsiedler von Sils Maria verurteilt ist, daß der Wille zur Macht sein geheimes Eigen bleibt und nicht einmal als Buch, das keiner liest, in die Öffentlichkeit tritt. Aus den Briefen ergibt sich, daß sich etwa seit dem Sommer 1884 ein "ungeheures Ganzes von Philosophie" vor Nietzsches Blicken auseinanderlegt. Die nächsten sechs Jahre sollen der Ausarbeitung des vierbändigen Werkes gelten; sein Titel ist Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung der Werte. Umfassende wissenschaftliche Vorstudien dazu werden geplant, bis zu seinem Ende hält Nietzsche an dem Willen, das Werk zu vollenden, fest. Aus alledem geht hervor, daß seine Absicht diesmal, zum ersten und einzigen Male, auf eine systematische Darlegung seiner Philosophie ausgeht. Aus den Fragmenten des Nachlasses, die Nietzsches Plänen gemäß geordnet und zusammengestellt worden sind, hat sich der systematische Aufbau wenigstens als großartiger Torso herstellen lassen.

Der europäische Nihilismus, aus dessen Krise und als dessen Gegenmacht Nietzsches Philosophie verstanden sein will, wird mit universalgeschichtlichem Blick überschaut und gedeutet. Dann folgt die Kritik der höchsten bisherigen [58] Werte – durch die Einsicht in das, was durch sie ja und nein sagt, durch den Nachweis ihrer Herkunft aus der Dekadenz. Dann wird das Prinzip der neuen Weltdeutung und Wertsetzung allseitig durchgeführt und auf der Grundlage einer Metaphysik, die den Willen zur Macht als Wesen der Welt erkannt hat, eine Erkenntnistheorie, eine Naturphilosophie und Anthropologie, eine Lehre von der Kunst und von der Gesellschaft aufgebaut; schließlich, als Gegenbild gegen alle moderne Demokratie, das Bild der echten Rangordnung und der zukünftigen Herren der Erde gezeichnet. Die Welt als Kampf, der in sich selber das Gesetz der Gerechtigkeit trägt – der Leib als Herrschaftsgebilde – das Bewußtsein als Mittel, als ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens – alle diese Thesen erscheinen hier nicht aphoristisch isoliert, sondern als Ausstrahlungen einer Metaphysik des diesseitigen Lebens, die zweieinhalb Jahrtausenden Theologie und theologiehöriger Philosophie entgegengesetzt wird. Alles aber ist überstrahlt von dem heraklitischen Begriff der "Unschuld des Werdens" und von dem dionysischen Bild der Welt als des sich selbst gebärenden Kunstwerks.

Bronzebüste von Max Klinger.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 425.]
Bronzebüste von Max Klinger.
[48a]      Friedrich Nietzsche.
[Bildquelle: Verlag E. A. Seemann, Leipzig.]
Bronzebüste von Max Klinger, 1904. Weimar, Nietzsche-Archiv.

Während dieser systematische Gedankenbau wächst und wächst, schießt Nietzsches Kampfwille, durch die Einsamkeit explosiv gemacht und seiner selbst nicht mehr ganz Herr, zum letzten Angriff vor, der den Sieg erzwingen soll. Das ist die zweite Linie in seiner letzten Schaffenszeit: die Linie der direkten Aktion. Zum Zweck des Kampfs holt er aus dem Gedankengut des Willens zur Macht vieles heraus und schmiedet es zur Waffe um. Er greift sogar das systematische Hauptwerk selbst an und macht daraus, als erstes Buch der Umwertung aller Werte, den Antichrist. Ein neuer, völlig überraschender Angriff auf Wagner eröffnet den Kampf. Nietzsche hat selbst die Bedingung genannt, die man erfüllen muß, um dem "Fall Wagner" gerecht zu werden: man muß am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde leiden – daran leiden, daß die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist, daß sie Dekadenz-Musik und nicht mehr die Flöte des Dionysos ist. Wagner, der nicht nur mit dem Christentum, sondern auch mit dem neunzehnten Jahrhundert, mit dem Reich seinen Frieden gemacht hat, im Tode noch zu besiegen und ihm die geistige Herrschaft über Deutschland zu entreißen, das schien die rechte Vorbereitung zu der Entscheidungsschlacht gegen das Christentum selbst und gegen den Repräsentanten aller Widersacher, gegen Bismarck. Die Götzendämmerung, voll reifer Gedanken wie ein Herbst, ist außerdem ein Sturmangriff auf alles, was bisher Wahrheit hieß, von der "wahren Welt" der Philosophie bis zu den allerjüngsten Wahrheiten, den "modernen Ideen". Das Letzte an radikalem Zerstörungswillen aber wird im Antichrist aufgeboten: das Christentum als das bisher größte Unglück der Menschheit, als Gegensatz zu aller geistigen Wohlgeratenheit und zu aller leiblichen erst recht, als Instinkt gegen die Gesundheit...

Auch der "Ecce homo" gehört in diese Reihe. Diese Selbstbiographie soll aufreizende Tat sein, feuerspeiende Vorrede zu der Umwertung der Werte selbst. Sie [59] soll, gleichsam in Großaufnahme, zeigen, wer da umwertet, und sie soll Nietzsche von vornherein jenseits aller Moralbegriffe und menschlichen Gesetze stellen. In abrupten Sätzen, Fortissimo, endet sie mit der Verkündigung, daß mit diesem Leben, das ein Verhängnis sei, eine neue Weltepoche anbreche: Dionysos gegen den Gekreuzigten...

Durch alle diese Schriften zieht sich, beinah als beherrschendes Thema, ein wütender Kampf gegen alles Deutsche. "Ich habe in allen meinen Instinkten Deutschland den Krieg erklärt." "Es gehört selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten." Es ist nicht schwer (viel leichter noch als bei den Haßworten gegen Wagner), die tiefe Liebe herauszuhören. Denn um diese Deutschen, die noch nichts sind, aber etwas werden, geht ja der Kampf, auf ihnen steht ja die Hoffnung; vielleicht muß man sie nur "durch Esprit rasend machen".

Die Schriften des letzten Jahres sind alle in wenigen Wochen, zum Teil in Tagen, geschrieben. Eine unheimliche Euphorie, ein Rausch des vorweggenommenen Sieges lebt in ihnen, freilich auch eine Selbsteinschätzung, die alles Maß verliert, ein Missionsbewußtsein, das sich überschreit, und eine manische Hemmungslosigkeit im Angriff. Die brieflichen Äußerungen der letzten Monate übertrumpfen noch, was in den Schriften steht. Mit unscharfer Grenze geht die Selbsterhöhung, die gewissermaßen zum Kriegsplan Nietzsches gehört, in den Größenwahn der Krankheit über. Kein Zweifel, daß Nietzsche mit seinen Kampfschriften zu handeln, nämlich reale Mächte in die Luft zu sprengen und politische Geschichte zu wirken vermeint. Er glaubt sich stark genug, "die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen". Schließlich will er das Reich durch eine antideutsche Koalition in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskrieg provozieren.

Daß der Geist, insonderheit die Philosophie, die Wirklichkeit nicht nur zu betrachten, nicht nur zu schmücken, sondern zu gestalten berufen sei, ist Nietzsches Glaube von Anfang an. Dieser Glaube verbindet ihn mit der gesetzgeberischen Philosophie der Griechen und zugleich mit der Zukunft: Nietzsche vor allem hat diesen Glauben gültig gemacht für uns.

Der Aktionstaumel des letzten Jahres aber ist kein heraklitischer Wirkungswille mehr, sondern flackernder Widerschein einer verbrennenden Seele am Nachthimmel des Jahrhunderts. Nietzsches Philosophie ist wirklich Tat: dem Zeitalter gegenüber richtet sie die Norm, das Gegenbild, die Gegenwelt auf. Wer in einem Zeitalter, das auf seiner abschüssigen Bahn noch nicht zu Ende gelaufen ist, über den Abgrund hinweg in die Zukunft greift, dem ist keine andere Wirkungsform vergönnt als diese. Die Entscheidungen, die er im Geist trifft, reißen ihn, je echter sie sind, um so gründlicher, von der Zeit los. Er ist dazu verdammt, "Vogel zu sein nach fernen Küsten". Direkte Aktionen aber sind dann nicht Verwirklichungen, sondern erst recht Vorgriffe, und nicht einmal das. Sie sind nur wie Protuberanzen, [60] die aus dem Glutball der geistigen Entscheidungen aufschießen und wirkungslos in die Leere des Alls verflackern. Es sei denn, einer erlöse die Welt und zerreiße so den Vorhang. Nietzsche hat durchaus geahnt, daß dem, der das nicht ist, nur übrigbleibt, auf den Blitz zu warten.

In den ersten Januartagen des Jahres 1889 stürzt Nietzsche in Turin auf der Straße zusammen. Strindberg, mit dem ein Briefwechsel spielt, erhält in diesen Tagen einen Brief mit der Unterschrift: Nietzsche Caesar. "Ich habe einen Fürstentag nach Rom zusammengerufen", steht darin, "ich will den jungen Kaiser füsilieren lassen." Der große Literat antwortet griechisch-lateinisch und unterschreibt: Strindberg Deus optimus maximus. An andere schreibt Nietzsche ähnliche Briefe und Zettel, als

Friedrich Nietzsche mit seiner Mutter.
Friedrich Nietzsche mit seiner Mutter.
Photographie, um 1890.
[Nach wikipedia.org.]
"Dionysos" oder als "der Gekreuzigte". Overbeck eilt herbei. Der Kranke wird nach Basel, dann in die Binswangersche Anstalt nach Jena gebracht. Eine "atypische Paralyse": der Ursprung der Gehirnkrankheit ist trotz aller gelehrten Forschungen nicht klar; wie eine antike Götterrache trifft sie den Helden als haarscharfe Antwort auf seine Hybris. Aus der Dumpfheit des kranken Geistes blitzen geistvolle Gedanken und Phantasien am Klavier auf. Aus der Anstalt entlassen, wird Nietzsche von der Mutter, dann von der Schwester gepflegt, erst in Naumburg, dann in dem Haus auf dem Silberblick in Weimar.

Am 25. August 1900 stirbt Nietzsche. Er wird im Erbbegräbnis zu Röcken begraben. Ein kleiner Kreis von Freunden ruft ihm den Dank der Welt für sein Werk und für sein Leben nach. Kaum daß ihre Worte verklungen sind, endet das Jahrhundert, dem er angehörte, indem er es bekämpfte, und das er überwand, indem er eine neue Gestalt des Menschen im Geiste beschwor.




Alphabetische Inhaltsübersicht
Der Dichter des Nibelungenliedes Der Dichter des Nibelungenliedes Der Dichter des Nibelungenliedes alphabetische Inhaltsübersicht der Biographien Bernt Notke Bernt Notke Bernt Notke


Chronologische
Inhaltsübersicht
Friedrich Ratzel Friedrich Ratzel Friedrich Ratzel chronologische Inhaltsübersicht der Biographien Wilhelm Leibl Wilhelm Leibl Wilhelm Leibl


Originalgetreue Inhaltsübersicht
Paul de Lagarde Paul de Lagarde Paul de Lagarde Inhaltsübersicht der Biographien in Reihenfolge des Originals Alfred Brehm Alfred Brehm Alfred Brehm





Die großen Deutschen: Neue Deutsche Biographie.
Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz