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[Bd. 5 S. 153]
Friedrich Wilhelm Schelling, 1775-1854, von Egon Pallon

Friedrich Schelling.
Friedrich Wilhelm Schelling.
Stahlstich, um 1850, nach einem Gemälde
von Joseph Stieler, 1835.
[Bildarchiv Scriptorium.]
Die Geschichte des deutschen Idealismus ist unauflöslich mit den drei großen Namen Fichte – Schelling – Hegel verknüpft. Allen dreien gemeinsam ist der entschlossene Drang zum System: es geht ihnen darum, in ihrer Philosophie ein Abbild der gesamten Wirklichkeit zu schaffen. Auf Kant fußend, suchen sie dessen Transzendentalphilosophie auszuwerten, jedoch wählt jeder von ihnen ein besonderes Gebiet zu seinem Ausgangspunkt. Fichtes Satz: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man sei", bewahrheitet sich an ihnen allen. Fichte ist der große Ethiker, dem Denken ein sittliches Handeln ist und sittliches Handeln Philosophie. Hegel ist strenger Logiker und wirkt durch die Geschlossenheit seines logisch-dialektischen Systems am meisten auf die Nachwelt ein. Schelling, als überwiegend ästhetische Natur, ist nicht nur Denker, sondern auch Künstler. Daher steht er auch der genialen Künstlergeneration seiner Zeit am nächsten. Er erreicht nicht die Tiefe der beiden andern; seine Stärke liegt mehr in der Fähigkeit, neue Ausblicke zu eröffnen, das Denken vor neue Fragen zu stellen und ihm neue Anregungen zu geben. Wenn auch seine Lehre nicht in dem Maße wie die Hegelsche auf die Nachwelt eingewirkt hat, so bedeutet sie doch den Durchbruch einer neuen philosophischen Welterkenntnis.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ist ein Sproß des schwäbischen Volksstammes, der am deutschen Geistesleben aller Zeiten so hervorragenden Anteil hat. Geboren am 27. Januar 1775 in Leonberg in Württemberg, ist ihm als Sohn eines evangelischen Geistlichen sein Bildungsgang vorgezeichnet: auch er soll Theologe werden.

Den Jüngling kennzeichnet eine erstaunliche Frühreife: schon im Jahre 1790 bezieht er die Universität Tübingen, wo er als Schüler des berühmten Stiftes mit Hölderlin und dem um fünf Jahre älteren Hegel Freundschaft schließt. Bereits mit siebzehn Jahren wird er Magister der Philosophie; seine Dissertation behandelt das Problem des Sündenfalls, auf das er in späteren Jahren wieder zurückkommt. Er eignet sich in Tübingen die Gedankenwelt des klassischen Altertums, die die Grundlage des theologisch-philosophischen Studiums jener Zeit bildet, vollkommen an. Fast ohne jegliche Anleitung beginnt er sich mit philosophischen Studien zu beschäftigen und lernt als Neunzehnjähriger die Wissenschaftslehre Fichtes kennen. Dadurch gerät er in den Bannkreis der idealistischen Philosophie, in deren Entwicklung er später mitbestimmend eingreift.

[154] Die Gedankenwelt des deutschen Idealismus ist nur aus der eigentümlichen Geisteshaltung jener Zeit zu verstehen. Der Mensch entdeckt sich gleichsam aufs neue, er fühlt sich frei von allen Hemmungen und schätzt sein Vermögen aufs höchste ein. In dieser Lage hat die Kantische Philosophie die Geister mächtig erregt. Kants "kopernikanische Wendung" besteht im Nachweis, daß es grundsätzlich keine Erkenntnis vom Bewußtsein völlig unabhängiger Dinge geben könne. Diese wird nur dadurch ermöglicht, daß sich die Gesetzmäßigkeit des erkennenden Subjekts auch auf seine Gegenstände erstreckt. Dadurch schränkt Kant die Möglichkeit des Erkennens auf bestimmte Gebiete ein: sein Kritizismus gipfelt im Satze, daß nicht die ganze Wirklichkeit "intelligibel", d. h. erkennbar, sei. Neben Kant liegt die andere philosophische Wurzel des Idealismus in einem wiederauflebenden Spinozismus. Hier wird der Versuch gemacht, alle Erkenntnis aus einem einzigen Grundsatz abzuleiten; diese Tendenz kommt der Zeitströmung entgegen, die auf Zusammenfassung, auf durchgängige Einheit drängt. Die Welt wird als Ganzes aufgefaßt: Geist wie Stoff müssen ihrer letzten Wesenheit nach ein und dasselbe sein. Setzt man den Hebel an der rechten Stelle an, so müßte es möglich sein, die Welt aus den Angeln zu heben – so etwa könnte man die damalige Stimmung umschreiben. Das gleiche gilt von der Erkenntnis: man meint, es müsse möglich sein, die ganze Wirklichkeit in ihrer Totalität restlos zu erfassen, wenn man bloß vom richtigen Grundsatz ausgehen würde. Aus dieser geistigen Situation heraus wirft nun Fichte als erster die Frage auf, ob es nicht möglich wäre, die nach Kantischer Ansicht bestehenden Schranken des Denkens niederzureißen. Er bejaht die Frage und wird dadurch zum Begründer des Idealismus.

Dem deutschen Idealismus liegt als Voraussetzung die Annahme eines Absoluten zugrunde, das wir als ein geistiges Reich bezeichnen können, welches völlig unabhängig vom Menschen für sich besteht und seinen eigenen Gesetzen folgt. Auch die individuelle Vernunft ist in dieses Reich des Geistes eingebaut. Fichte geht vom Ich aus und folgert: weil mein Geist, eben weil er Geist ist, dem allumfassenden und das All durchdringenden absoluten Geist verwandt ist, muß ich mir nur meiner selbst bewußt werden, um die ganze Wirklichkeit erfassen zu können. Um ein Bild zu brauchen: wie an einem einzigen Teilchen eines bestimmten Stoffes alle seine Eigenschaften aufzuzeigen sind, so spiegelt sich in meinem endlichen geistigen Ich das ganze All wieder. Daher nennt Fichte das Absolute das "Ich".

Diese Gedankengänge macht sich auch der junge Schelling zu eigen. Im Jahre 1795 legt er die theologische Prüfung ab, erwählt aber nicht die Laufbahn eines Theologen, sondern geht als Erzieher zweier junger Edelleute nach Leipzig. Schelling verläßt seine Heimat nicht ungern, da ihn angeblich die geistige Enge Württembergs bedrückt. Das Ziel seiner Sehnsucht ist Paris – er ist bekanntlich nicht der einzige junge Deutsche, der sich für die Ideen der Französischen Revolution begeisterte. Die Reise nach Leipzig führt ihn durch Jena, die Stätte seiner [155] späteren Wirksamkeit. Hier lernt er Schiller kennen, zwei Jahre später auch Goethe. In Leipzig treibt er vornehmlich naturwissenschaftliche Studien und gewinnt damit Interesse für das Problem der Natur, dessen Lösung später seinen Ruf begründet. Das Gebiet des Objektiven, d. h. der Natur, kommt in Fichtes System entschieden zu kurz; ihm ist die Natur nicht mehr als das dem Menschen gegebene Feld seiner Tätigkeit, daher geht sein Denken auf das Subjekt, den Menschen selbst. Dieser Lücke im System seines Lehrers wendet Schelling sein Interesse zu; es geht ihm nicht um die äußeren Erscheinungen im Naturgeschehen – diese Frage überläßt er den Naturforschern. Er will das Wesen der Natur ergründen; auch er fühlt in sich den faustischen Drang zur Erkenntnis des innersten Zusammenhanges der Welt.


Friedrich Wilhelm Schelling.
Friedrich Wilhelm Schelling.
Porträt nach einem Ölgemälde
von Christian Friedrich Tieck, um 1800.
[Nach wikipedia.org.]
Die ersten schriftstellerischen Versuche des jungen Schelling wollen nichts anderes sein, als nur Erläuterungen der Wissenschaftslehre seines Meisters. Diesem verdankt er, wie er sich ausdrückt, "den Durchbruch in das freie offene Feld objektiver Wissenschaft". Er hat sich in einem Maße in die Gedankenwelt Fichtes hineingearbeitet, daß es ihm gelingt, die Grundgedanken der Wissenschaftslehre klarer und prägnanter wiederzugeben, als es Fichte selbst vermochte; dadurch wird Fichte auf den jungen Schwaben aufmerksam. Bald danach tritt Schelling bereits als selbständiger Denker auf den Plan. Im Jahre 1797 erscheint die erste Schrift, die nur diesem Problem gewidmet ist, die Ideen zu einer Philosophie der Natur; ein Jahr darauf folgt als zweite Von der Weltseele. Nun lenkt auch Goethe seine Blicke auf ihn und bewirkt im Einverständnis mit Fichte die Berufung Schellings nach Jena. Doch bevor der dreiundzwanzigjährige Professor in Jena eintrifft, findet in Dresden eine Begegnung statt, die für sein ganzes Leben bedeutsam wird. Im Spätsommer 1798 lernt er in der sächsischen Hauptstadt neben andern Romantikern die Brüder Schlegel, später auch Fichte kennen. Dieser hat ein Jahr nachher seinen jungen Kollegen mit sicherem Blick gekennzeichnet: "Er selbst sei systematischer, Schelling genialischer." Das Genialische in Schelling ist es auch, was ihn unauflöslich an die Romantik bindet und ihm die Möglichkeit nimmt, die weitere Entwicklung Fichtes und Hegels mitzumachen.

Schelling stellt an die Natur die Frage, wie sie es möglich mache, den Menschen hervorzubringen? Diese Fragestellung zeigt, daß er auch als Naturphilosoph der typische Vertreter des Idealismus bleibt. Sein ursprüngliches und eigentliches Interesse gehört dem Menschen, nur mittelbar der Natur. Um das Grundproblem zu lösen, muß vorher die Frage beantwortet werden: Gibt es überhaupt eine Zweckmäßigkeit der Natur? Ist diese Frage zu bejahen, so wäre damit auch die weitere gelöst, ob es eine Möglichkeit gibt, das Naturganze zu erkennen. Dahinter steht endlich das große Problem aller Philosophie: Können wir die gesamte, natürliche wie geistige, Wirklichkeit erfassen?

[156] Kant mußte von seinem Kritizismus aus auf die Erkenntnis des Naturganzen verzichten. Er beantwortet die Frage nach dem Wesen der (organischen) Natur dahin, daß wir sie nur zu erkennen vermögen, wenn wir sie als Produkt einer inneren Zweckmäßigkeit betrachten. Wir vermögen aber nichts darüber auszusagen, ob diese Annahme zu Recht besteht. Fichte geht einen Schritt weiter und stellt die Behauptung auf, daß die Natur nicht nur unserer Erkenntnis als zweckmäßig erscheine, sondern tatsächlich auch ein zweckmäßiges Ganzes sei. Hier setzt nun Schelling ein und sucht den Nachweis dieser Behauptung, den Fichte schuldig bleibt, zu führen. Fichte ist es auch, der ihm mit seiner Lehre von der unbewußten Intelligenz das Werkzeug in die Hand gibt, mit dem allein das Problem zu lösen ist.

Schellings Lehre stellt sich uns nun so dar: Geist und Natur sind nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden. Die Natur ist – ebenso wie das geistige Sein des Menschen – Vernunft. Schelling drückt das mit dem Satz aus: Natur ist sichtbar gewordener Geist. Freilich – was in der Natur bewußtlos vor sich geht, geschieht im menschlichen Geist bewußt. In späteren Jahren sagt Schelling, Natur sei gar nicht Objekt, sondern selbst Subjekt. Der Philosoph müsse auch das scheinbar Objektive nicht als Objekt, sondern als werdendes Subjekt ansehen. Allenfalls ließe sich von einem Subjekt-Objekt sprechen.

Hiermit ist schon der Gedanke angedeutet, den Schelling der Naturphilosophie Leibniz' entnimmt: den der Lebendigkeit allen Seins. Es gibt kein absolut Totes, sondern das Leben ist allgegenwärtig. Daher spricht Schelling von der "Odyssee des Geistes", der sich in der Natur offenbart. Natur ist immerwährende Bewegung, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nämlich das Bewußtwerden des bewußtlosen Geistes. Weil dieser einem Riesen gleicht, der vom Schlafe erwachend sich streckt und regt, muß die Natur notwendig Leben, Organisation sein. Hier wendet sich Schelling gegen Kant und wirft ihm vor, er komme nicht davon los, eine allem Seienden zugrunde liegende Materie zu denken. Nur von der Erkenntnis eines urlebendigen, in der Natur materialisierten Geistes aus könne man zur Erkenntnis dessen, was Materie sei, vorstoßen, niemals umgekehrt. Denn das, war wir Stoff nennen, ist nichts anderes als ein Zweckprodukt geistiger Kräfte.

Schelling macht den Versuch, die Natur von innen heraus zu erfassen. Das bedeutet aber keineswegs, daß er seiner spekulativen Phantasie freien Spielraum gäbe, sondern er stellt den Grundsatz auf, daß alle Ergebnisse der Naturphilosophie an der Natur nachgeprüft werden müssen: die Natur müsse befragt werden.Wenn der spätere Schelling gleichwohl in heillose Phantastik verfällt, so daß gerade durch ihn jede Naturphilosophie auf lange hinaus in Mißachtung gerät, so hat das mehrere Ursachen. Vor allem darf er für die lächerlichen Übertreibungen seiner Nachbeter nicht verantwortlich gemacht werden. Soweit sich ferner Schelling selbst an seinen Grundsatz hält – er tut es nicht immer –, rächt sich des öfteren seine mangelnde naturwissenschaftliche Vorbildung. Endlich vermag ihm die [157] Naturwissenschaft seiner Zeit die nötigen, genügend gesicherten empirischen Erkenntnisse gar nicht zur Verfügung zu stellen.

Für das Verständnis der Naturphilosophie Schellings ist vor allem ihre Grundkonzeption von Wichtigkeit. Was die Einzelheiten anbetrifft, so möge hier der Hinweis darauf genügen, daß nach seiner Meinung sich die Natur in einer stufenweisen Entwicklung befindet. Es geht ihm nicht darum, eine Entwicklungstheorie aufzustellen, sondern um den Nachweis, daß jeder einzelne Teil der Natur in einem bestimmten sinnvollen Zusammenhang des Naturganzen steht. Die niederste Stufe ist der scheinbar tote Stoff, welchen man – je nachdem – als erstarrtes oder noch nicht vollkommenes Leben bezeichnen kann. Die nächsthöhere Stufe bilden die Elektrizität bzw. der Magnetismus, beides Erscheinungen, auf die man damals gerade aufmerksam wird. Man glaubt, in der galvanischen Elektrizität das Geheimnis des Lebens gefunden zu haben. Die höchste Stufe ist der Organismus, der zugleich organisch und anorganisch ist. Auch das organische Leben, auf dessen Hervorbringung die unter ihm stehende Natur abzielt, kann nur von seinem Zweck aus verstanden werden: dieser besteht in der Realisation des Bewußtseins. Die ganze Natur ist ein sich selbst organisierendes Ganzes.

Schellings Deutung der Natur hat außerordentlich anregend gewirkt. Als besonders fruchtbar erwies sich der Gedanke, daß die Natur ein lebendiges, immer neuwerdendes Ganzes ist. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die Linie bis zur modernen Entwicklungslehre weiterzuführen. Es ist Schellings Verdienst, der Naturwissenschaft neue Wege gewiesen zu haben. Der gleichbleibende Wert seiner Naturphilosophie besteht darin, daß er die Forschung vor neue Aufgaben stellte und noch stellt. Die Art und Weise, wie er die Probleme löste, ist mehr als anfechtbar. Aber gerade durch die Irrwege, die er ging, zwang er die Naturwissenschaft, die Lösung der von ihm aufgeworfenen Fragen in Angriff zu nehmen. Es liegt eine unumstößliche Wahrheit in dem Satze Schellings, daß es nicht von Wichtigkeit sei, was für eine Naturphilosophie man habe, sondern daß man überhaupt eine habe. Abgesehen davon besteht die Bedeutung der Naturphilosophie Schellings ganz allgemein darin, daß er seinen Zeitgenossen die Natur nähergebracht hat und Künstler wie Gelehrte veranlaßte, sich mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt zu befassen. Endlich wies er die philosophische Ethik auf das Naturgemäße auch im Sittlichen hin.


In der Naturphilosophie suchte Schelling den Nachweis zu führen, daß der Zweck der realen Natur die Hervorbringung des idealen Menschen sei. Dieses tat er in der Weise, daß er die Natur als sichtbar in Erscheinung getretenen, unbewußten Geist, der seiner im Menschen bewußt wird, hinstellte. Die Philosophie der Natur bedarf aber notwendig einer Ergänzung durch eine solche des Geistes. Dieser Aufgabe unterzieht sich Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800), dem Gegenstück zum "Realismus" der Naturphilosophie.

[158] Wir haben das Werden des menschlichen Ich verfolgt; es ist nun unsere Aufgabe, das Wesen des Ich festzustellen. Zu diesem Zweck muß zwischen theoretischer und praktischer Intelligenz unterschieden werden. Die theoretische Intelligenz erkennt die Welt; die Stufen ihrer Entwicklung sind: Empfindung – Anschauung – Reflexion – Selbstbewußtsein. Die praktische Intelligenz ordnet die Welt; dadurch wirkt sie Geschichte. Ihre Aufgabe ist im Gegensatz zur theoretischen Intelligenz nicht Wissen, sondern Handeln. Im Wissen richtet sich das Ich nach den Dingen, im Handeln richten sich die Dinge nach dem Ich. In Anlehnung an Kant führt Schelling aus, daß diejenige Funktion des Ich, welche theoretische und praktische Intelligenz in sich verbindet, die ästhetische ist. Daher ist das künstlerische Schaffen das höchste Vermögen des Menschen. In dieser Bewertung des Ästhetischen kündet sich bereits die weitere Entwicklung der Philosophie Schellings an.

Die Transzendentalphilosophie will nichts anderes sein als ein Teil des Gesamtsystems. Jetzt glaubt Schelling aber auch das Prinzip gefunden zu haben, von dem aus sich alle philosophischen Wahrheiten mit absoluter Notwendigkeit ergeben, ähnlich wie sich die Lehrsätze der Geometrie vom Begriff des Raumes ableiten lassen. Ihm schwebt nach seinen eigenen Worten etwas Ähnliches vor wie der Versuch Spinozas, dessen Hauptwerk den bezeichnenden Namen trägt: Ethik, demonstriert nach dem Vorbild der Geometrie. Diese seine neue Philosophie, ausgeführt in der Darstellung meines Systems (1801) und dem meisterhaft geschriebenen Dialog Bruno (1802), soll Natur- wie Transzendentalphilosophie zusammenfassen und die Krönung des Systems bilden. Die Naturphilosophie hatte den Nachweis erbracht, daß die Natur ein Ganzes sei, die Transzendentalphilosophie hatte dasselbe für das Reich des Geistes getan; jetzt gilt es, die übergeordnete höhere Einheit aufzuzeigen. Erinnern wir uns, daß Schelling die zwei Seinsweisen des Geistes einander gegenüberstellt und ihre höhere, innere Einheit darin sieht, daß beide Geist sind. Hier baut Schelling weiter – das Neue besteht dabei in der Art und Weise, wie er seine Lehre ausführt.

Das Absolute, welches Schelling bisher in Anlehnung an Fichte als "Ich" bezeichnet hat, nennt er von nun an, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, "absolute Vernunft", später immer öfter auch – Gott. Allem Seienden liegt die absolute Vernunft zugrunde. Man darf diesen Satz aber nicht so verstehen, als hätte ein Gott sein "es werde" gesprochen und damit die zwei Reihen Reales und Ideales hervorgebracht. Der Philosoph meint etwas anderes: das Absolute tritt gar nicht aus sich heraus, sondern es ist selbst Natur wie Geist und vereint beide in sich. Ins Zeitliche übertragen, läßt sich das Grundprinzip der Identitätsphilosophie etwa so wiedergeben: das überzeitliche Absolute, die ewige Vernunft, ist die völlige "Identität" oder "Indifferenz" von Natur und Geist, d. h. es enthält diese noch vollkommen indifferenziert in sich. Durch die Differenzierung der absoluten Indifferenz entsteht die Welt; das Absolute geht in eine andere Gestalt [159] über. Materie und Geist sind, existieren überhaupt nur, weil und sofern sie einen Modus des Absoluten bilden. Alle Differenziertheit, also alles Einzelne, beruht auf einer Abstufung des an sich indifferenten Absoluten. Darum ist kein Ding für sich da, sondern immer nur als Glied einer Reihe. Wir irren daher, wenn es uns als ein Einzelnes oder von anderen Dingen Verschiedenes erscheint, denn wir können es gar nicht isoliert und für sich dastehend betrachten, sondern immer nur soweit es mit zur Totalität des Seins gehört. Die absolute Identität kann überhaupt nicht aufgehoben oder fortgedacht werden, weil sie die Basis aller Einzeldinge ist und diese ihre verschiedenen Modifikationen sind. Allerdings ist der menschlichen Erkenntnis immer nur die differenzierte Erscheinung des Absoluten zugänglich. Könnten wir die Totalität des Universums erkennen, so würden wir des absoluten Gleichgewichts gewahr werden, d. h. der Indifferenz oder Identität, in der nichts mehr zu unterscheiden wäre. Die absolute Identität wird also mit dem Weltall gleichgesetzt. Das Absolute oder Gott ist also dasselbe wie das Universum, und ein Unterschied besteht nur im Namen. Von hier aus wird uns verständlich, daß Schelling den Begriff eines persönlichen Gottes bekämpft – sein Gottesbegriff ist der des Pantheismus.

Stellt man an das Denken die Frage, woher es das alles wisse, so lautet die Antwort: wenn das endliche Ich es unternähme, das Absolute zu erkennen, so wäre dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es ist aber die unendliche Vernunft, d. h. das Absolute selbst, das in mir im Erkenntnisprozeß schöpferisch wirkt: es schaut sich selbst an und stellt sich im philosophischen System dar. Schelling wirft Fichte vor, daß dieser durch die Reflexion allein ein System zu bilden suche. Sein Ausgangspunkt dagegen sei ein besonderes Vermögen der Vernunft, das er "intellektuelle Anschauung" nennt. Dieses Vermögen sei weder ein praktisches, also der Wille, noch ein theoretisches, also der Verstand, sondern eine ästhetische schöpferische Kraft. Diese Lösung war, wie wir sahen, in der Transzendentalphilosophie bereits angedeutet.

Die innere Kraft, die sich als schöpferisches Erkennen auf die absolute Identität richtet, äußert sich auch als künstlerisches Schaffen. Im Kunstwerk – und nur in diesem – erscheinen die sonst einander gegenüberstehenden Reiche der Natur und des Geistes harmonisch miteinander vereint. Alle übrigen Erscheinungsformen des Absoluten enthalten überwiegend entweder das natürliche oder das geistige Element. Gewiß – auch das Kunstwerk vermag nur annähernd das Absolute darzustellen, jedoch ist es die einzige Form, in der die Verschmelzung des Geistigen mit dem Sinnlichen etwas von der Herrlichkeit des Alls ahnen läßt. Vollkommen ist nur ein einziges Kunstwerk: das Universum selbst. Wir sehen hier, daß die Philosophie Schellings sich mit dem romantischen Weltgefühl aufs engste berührt. Weil er sich hierin im Einklang wähnte mit Giordano Bruno, dem großen Naturphilosophen der Renaissance, legt er dessen Namen dem 1802 erschienenen Dialog bei.

[160] Mit der Identitätsphilosophie wird das Ästhetische zum beherrschenden Prinzip der Lehre Schellings. Rechtes Philosophieren und künstlerisches Schaffen sind dasselbe, genau ebenso, wie ein vollendetes Kunstwerk letztlich ein philosophisches System ist und umgekehrt. Auch das Religiöse wird mit dem Künstlerischen gleichgesetzt. Heiliges, Wahres und Schönes sind miteinander identisch. Der Philosophie Fichtes entspricht das Menschheitsideal des sittlichen Heros. Schelling steht nicht nur äußerlich den Romantikern nahe: sein Ideal ist das des schöpferischen Genies.

Schelling hat jahrzehntelang auf die Entwicklung der ästhetischen Theorien starken Einfluß ausgeübt. Seine Ästhetik läßt sich als kosmologische bezeichnen, weil das Ästhetische bei ihm auf dasselbe Prinzip zurückgeführt wird wie das ganze All. Mit dem Zurücktreten der Romantik schwindet auch Schellings Einfluß immer mehr. In der Gegenwart scheint sich eine Renaissance seines ästhetischen Idealismus anzubahnen. Von Interesse ist die Tatsache, daß das Weltbild Bergsons, wohl des bedeutendsten französischen Philosophen unserer Zeit, unzweideutige Spuren der Philosophie Schellings trägt.


Die Jahre, in welche die Vollendung seines Systems fällt, verbringt Schelling in Jena. Jedoch neigt sich sein dortiger Aufenthalt seinem Ende zu: es ist zum allergrößten Teil Schellings eigene Schuld, daß er Jena verlassen muß. Die so früh errungenen Erfolge und die ihm allenthalben zuteil gewordene Bewunderung haben ihn verwöhnt. Sein Selbstgefühl steigert sich bis zur Überheblichkeit, in späteren Jahren bis zu maßloser Eitelkeit. Das tritt in den vielen Streitigkeiten, die in Jena beginnen und bis zu seinem Tode andauern, deutlich zutage. Auch Fichte hatte in Jena keinen leichten Stand. Jedoch wußte er die Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern immer auf einer höheren Ebene auszutragen; dagegen werden Schellings Streitigkeiten immer durch persönliche Gehässigkeit verschärft. In Jena macht er sich neben vielen anderen Persönlichkeiten fast alle seine Kollegen zu Feinden. Das unbestimmte Verhältnis zu der damals noch nicht geschiedenen Frau des älteren Schlegel macht seine Stellung völlig unhaltbar. So folgt er einem Rufe als Professor der Naturphilosophie an die Universität Würzburg.

Das Jahr 1803 kann als der Höhepunkt in Schellings Leben bezeichnet werden. Wohl muß er die Stätte seiner bisherigen Wirksamkeit verlassen, doch steht er auf der Höhe seines Ruhmes. Seit 1802 schmückt ihn der Doktorhut der medizinischen Fakultät der Universität Landshut. Der Besuch seiner Vorlesungen hat in Jena von Jahr zu Jahr zugenommen – der achtundzwanzigjährige Denker zählt unbestritten zu den Großen der Nation. Als Abschiedsgabe an die Universität Jena erscheint die geradezu formvollendete Schrift Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, sprachlich und inhaltlich ein klassisches [161] Werk der

Caroline Schelling.
Caroline Schelling.
Gemälde, 1798, von
Johann Friedrich August Tischbein d. J.
[Nach wikipedia.org.]
deutschen philosophischen Literatur. In wunderbar klaren und einfachen Linien wird das Idealbild einer wahrhaften "universitas litterarum" entworfen. Es wird eine Hochschule dargestellt, in der sich alle Wissenschaften zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfügen. In demselben Jahre heiratet er die um zwölf Jahre ältere Caroline Schlegel; dieser geistig hervorragenden Frau verdankt er reiche Anregungen für sein philosophisches Denken, und man hat den Eindruck, daß mit ihrem Tode (1809) seine Schaffenskraft gebrochen ist.

Und doch kündet sich bereits jetzt ein Absinken der Lebenslinie Schellings an. Die Zeit um 1803 bringt die Entfremdung von Fichte und Hegel – jener sein Lehrer, dieser sein Jugendfreund. Bis zum Jahre 1801 war Schelling der Meinung, daß er sich mit Fichte im Einklang befinde. Nachdem dieser Jena verlassen hatte, stand er mit ihm im Briefwechsel. Die Identitätsphilosophie wird der Anlaß zum Bruch. Die letzten Briefe, die sie miteinander wechseln, geben beiderseits der Überzeugung Ausdruck, daß sie sich nie verstanden hätten. Seit 1806 wird die Auseinandersetzung auch in der Öffentlichkeit geführt und nimmt von Schellings Seite immer schärfere Formen an. In uns wunderlich anmutender Umkehrung ihres tatsächlichen Verhältnisses wirft er Fichte vor, dieser habe sich an seinem, Schellings, Gedankengut bereichert: ein mehr als sonderbarer Vorwurf dem Manne gegenüber, dem er die Prinzipien seiner Philosophie verdankt. Nicht viel später kommt es auch zum offenen Bruch mit Hegel. Dieser hatte 1801 eine kritische Beurteilung der Systeme Fichtes und Schellings veröffentlicht und damit den Konflikt zwischen ihnen mit verursacht. Sechs Jahre später ist auch der Bruch zwischen den beiden Jugendfreunden da: in der Vorrede zu seiner Phänomenologie des Geistes – dem einzigen Teil des Werkes, das Schelling gelesen hat – tritt Hegel, wenn auch ohne Namensnennung, gegen das "geniale" Philosophieren auf. Damit ist der Bruch vollzogen – die Erwiderung auf die Zusendung des erwähnten Werkes ist der letzte Brief Schellings an seinen schwäbischen Landsmann. Im Jahre 1829 – zwei Jahre vor seinem Tode – besuchte Hegel den früheren Jugendfreund noch einmal in München. Schellings Haß gegen Hegel reicht aber bis über dessen Grab hinaus.

Bei der Beurteilung der Konflikte zwischen den Denkern des deutschen Idealismus darf allerdings nicht vergessen werden, daß jeder einzelne von ihnen für seine Überzeugung mit geradezu religiöser Inbrunst eintritt; nur diese Tatsache macht uns die Schärfe des zwischen ihnen aufgebrochenen Gegensatzes einigermaßen verständlich.

Wie in Jena so gestalten sich für Schelling auch in Würzburg die Verhältnisse bald unerquicklich. Gewiß ist er ein berühmter Mann – im Jahre 1808 wird er geadelt. Aber in einem Streit mit seinen Gegnern unterliegt er und zieht sich einen demütigenden Verweis seitens seiner vorgesetzten Behörde zu. Als Würzburg 1806 unter die Herrschaft des Großherzogs von Toskana kommt, siedelt Schelling nach München über. Volle fünfunddreißig Jahre verbringt er in der bayrischen [162] Hauptstadt – anfangs als Mitglied, dann als Generalsekretär, endlich als Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften, später zugleich als Universitätsprofessor. Vorübergehend lebt er einige Jahre als Professor in Erlangen. 1812 heiratet er zum zweiten Male: seine Frau ist Pauline Gotter, die Tochter des Jugendfreundes Goethes. In langer glücklicher Ehe schenkt sie ihm sechs Kinder. Man hat den Eindruck, daß Schelling in der Ehe immer mehr in den Bann einer behaglichen Häuslichkeit gerät. Das Kämpferische ist von ihm gewichen: während Fichte sich in den Dienst der nationalen Erhebung stellt und sich dabei vor der Zeit aufreibt, geht die große Zeit an Schelling scheinbar spurlos vorüber. Nach 1809 greift er nur noch gelegentlich in den Kampf der Meinungen ein; leider läßt er sich dabei immer mehr von einer geradezu krankhaften Eitelkeit leiten. Es wundert uns nicht, daß sein Einfluß auf die Entwicklung der Geistesgeschichte seiner Zeit immer mehr zurückgeht.

Auch seine Philosophie wird immer wirklichkeitsfremder. Uns mutet das um so sonderbarer an, als gerade Schelling es war, der im Idealismus mit dem Allerwirklichsten – der sinnlichen Welt – den Anfang machte. Bereits in der von ihm in Jena ins Leben gerufenen Zeitschrift für spekulative Physik kündet sich dieser Prozeß an. Die in Würzburg in den Jahren 1805 bis 1808 erschienenen Jahrbücher der Medizin als Wissenschaft verblüffen geradezu durch ihre Phantastik – soweit die Veröffentlichungen von Schelling stammen; sie stehen in schreiendem Gegensatz zum Titel. Schließlich wird Schellings Lehre zur Theosophie, deren Geheimlehren an die Mystik und Gnosis des Altertums erinnern. Man darf diese Entwicklung vielleicht auch als eine Flucht aus der harten geschichtlichen Wirklichkeit in das Reich der Phantasie deuten.

In München gerät Schelling durch Franz von Baader unter den Einfluß Jakob Böhmes, des dunkelsten und tiefsten deutschen Mystikers, auf den er bei der Lösung der noch ungelösten Probleme der Identitätsphilosophie schließlich zurückgreift. Auch nähert sich Schellings Idealismus in dieser Zeit immer mehr dem platonischen, wie er ihn auffaßte. Diese Annäherung spiegelt sich in der Anwendung platonischer Begriffe wider: das Absolute heißt nun fast stets "Gott", aus dem die "Ideen" – die Urbilder der Einzelwesen – hervorgehen. Schellings Pantheismus geht immer mehr in einen Theismus über. Er hat sich früher nicht genugtun können im Schelten über die Verwirrung des philosophischen Denkens durch die Vorstellung einer der Welt gegenüberstehenden Gottheit. Nun ist es umgekehrt: er betont nachdrücklich die volle Wirklichkeit eines persönlichen Gottes und bekämpft den unbestimmten idealistischen Gottesbegriff. Damit nähert er sich wohl dem Christentum, jedoch verquickt er dieses mit mystischen und gnostischen Gedanken. Wie läßt sich diese Entwicklung im Denken des Philosophen erklären?

Die ungelöste Frage der Identitätsphilosophie lautete: Wie wird aus dem Absoluten die Welt? Schelling hatte gelehrt, das Absolute sei das Universum. [163] Besteht aber der Unterschied wirklich nur dem Namen nach? Gilt auch die Umkehrung der Gleichung, also: Universum = Absolutes? Wenn dem so wäre, so wären überhaupt keine Gegensätze möglich, weder zwischen Gott und Mensch, noch zwischen Gutem und Bösem, sondern alles müßte eine harmonische Einheit bilden. Schellings ursprünglich optimistische Grundstimmung verdüstert sich immer mehr: die Widersprüche und Gegensätzlichkeiten des Geschichtsablaufs lassen sich mit der Annahme einer Harmonie des Alls nicht in Einklang bringen. Wie kommt es nun zur Störung des Gleichgewichts? Die Lösung dieses Problemes kann nur dann gelingen, wenn wir die Möglichkeit der Umkehrung jener Gleichung verneinen: das Universum ist nicht das Absolute, sondern es ist im Absoluten.

Als letzte große Schrift, die Schelling veröffentlicht, erscheinen 1809 die Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. Der Titel dieses Werkes deutet darauf hin, daß er bereits den Boden seiner Identitätsphilosophie verlassen hat, denn in ihr ist kein Raum für Freiheit. Das Freiheitsproblem hängt aufs engste zusammen mit dem des Bösen, dessen Entstehung ohne die Annahme einer Willensfreiheit nicht zu erklären ist. Nach Schellings Meinung geht aber jede Philosophie fehl, wenn sie mit dem Problem des Bösen nicht Ernst macht. Nur von diesem Problem aus erschließt sich das Verständnis für die Philosophie des späteren Schelling. Auch das Problem der Freiheit wird erst durch das des Bösen aktuell. Das Böse wird nicht in seiner vollen Realität erfaßt, wenn man es – etwa wie Augustin – nur als eine Privation, d. h. als Mangel oder Schranke des Guten, nicht aber als reale Macht auffaßt. Es wäre eine Erweichung des Begriffs, wenn man das Böse darin sähe, daß der Mensch sich selbst absolut setzt, also sich von Gott löst und für sich selbst sein will. Das Böse ist eine "positive Verkehrtheit der Prinzipien", die sich darin äußert, daß sich der Mensch gegen Gott wendet.

Schellings Beweisführung ist folgende: Gott ist die absolute Identität, daher liegt in ihm Freiheit und Notwendigkeit zugleich. Da die Idee aber Erscheinung des Absoluten ist, muß auch sie beides, frei und ungebunden, sein: sie ist also eine selbständige Größe neben dem Absoluten. Dahinter taucht das Problem auf, das seiner Dissertation zugrunde lag – das des Sündenfalls. Schöpfung und Sündenfall werden hier nun in engste Beziehung zueinander gebracht. Durch den Fall treten die Einzelwesen aus Gott heraus und wenden sich damit gegen Gott. Sagen wir Einzelwesen, so meinen wir den Menschen, weil im Naturwesen der Wille des Absoluten uneingeschränkt herrscht: nur der Mensch kann sich als Einzelwesen gegen Gott empören. Schelling selbst behauptet, er führe sein System darauf hinaus, wohin es von vornherein hinaus sollte. Vergegenwärtigt man sich, was die Identitätsphilosophie darüber aussagte, so wird das Problem besonders brennend: wie kann es überhaupt zu dieser Selbständigkeit kommen? Schellings Antwort ist ebenso tiefsinnig wie dunkel und geht auf Böhme zurück: die Entstehung des Bösen sei nur deshalb möglich, weil es auf einen dunklen Urgrund [164] in Gott selbst zurückgehe, auf etwas, was in Gott nicht er selbst ist. Die Lösung ist nur eine scheinbare; im Grunde erweist sich das Problem als unlöslich.

Dem späteren Schelling stellt sich die Geschichte als eine Art Heilsgeschichte dar. Auch hier wird die Dreiteilung der idealistischen Dialektik beibehalten: Schöpfung – Sündenfall, Läuterung, Erlösung sind die drei Glieder des Prozesses. Der Gott der Philosophie ist der Gott, der im Schöpfungsakt der Welt gegenübertritt, derjenige der Religion dagegen ist der Gott-Erlöser. Diesen Gott kann Schelling nicht persönlich genug darstellen, denn nur der lebendige, handelnde Gott könne uns erlösen. Den Unterschied zwischen Heidentum und Christentum sieht Schelling darin, daß der Kampf gegen das Böse in jenem nicht in Freiheit vor sich geht: selbst die Götter handeln nur ihrer Natur entsprechend, weil sie nicht anders können. Erst im Christentum tritt die Freiheit in Erscheinung. Christus ist der Offenbarer des idealen Prinzips, mit ihm beginnt eigentlich erst Geschichte, weil diese nur auf Freiheit beruhen kann. Freilich sieht Schelling das historisch gewordene Christentum nur als ein Übergangsstadium an: was ihm als Idealbild vorschwebt, ist eine gnostisch-christliche Mystik, die er als johanneisches Christentum bezeichnet. Am Ende aller Zeiten steht die Rückkehr aller Dinge zu Gott – auch das ist ein Gedanke, der das Zurückgreifen Schellings auf die Gnosis des Altertums verrät.

Alle rationalen Systeme bezeichnet Schelling von nun ab als "negative Philosophie" – dazu gehörten auch die Systeme Fichtes und Hegels. Sie ist keineswegs überflüssig, doch bedarf sie ihrer Ergänzung durch die "positive Philosophie". Nur diese ist imstande, die wahre Wirklichkeit zu erfassen, weil sie das Übervernünftige zu erkennen vermag.


Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling.
[160a]      Friedrich Wilhelm Joseph
von Schelling.

Daguerreotypie von Hermann Biow, 1848.
Der ältere Schelling spielt eine eigentümliche Rolle in der Geistesgeschichte seiner Zeit. Er gilt immer noch als der große Denker: in München und Erlangen, später auch in Berlin, schart er eine große Zuhörerschaft um sich. Er muß ein hervorragender Redner gewesen sein; einer seiner Bewunderer vergleicht ihn als Redner mit einem Löwen, der seine Mähne schüttelt. Schelling arbeitet seine Vorlesungen meist wörtlich aus, jedoch weiß sein Vortrag immer den Eindruck der freien Rede zu erwecken. Die formvollendete Sprache, die Plastik der Bilder, sein mitreißendes Temperament, der feurige Blick seiner blauen Augen – das alles zieht die Zuhörer in seinen Bann. Und doch hält die Wirkung nicht lange vor. Der preußische Kultusminister äußert sich vor Schellings Berufung nach Berlin über ihn: sein Einfluß sei eher aufregend als belehrend. Diese Charakteristik trifft genau zu: bis zu einem gewissen Zeitpunkt vermag Schelling seine Hörer in Spannung zu erhalten, dann aber ergeht er sich in dunklen Andeutungen über die letzten Geheimnisse seiner Philosophie, ohne jedoch diese Zusagen jemals zu erfüllen. Man erwartete von ihm trotz alledem ein befreiendes Wort zu den Fragen der Zeit. Immer wieder enttäuscht er diese Erwartungen. 1811 kündigt er eine [165] Zusammenfassung seiner gesamten Philosophie mit dem anspruchsvollen Titel Die Weltalter an – erst in seinen nachgelassenen Werken werden sie als Fragment erscheinen. Dasselbe tut er fünfzehn Jahre später und wiederum ein Jahrzehnt darauf – die nunmehr mit Spannung erwartete Philosophie der Mythologie erscheint nur in einigen Exemplaren und wird vom Verfasser zurückgezogen. Etwas Ähnliches spielt sich bei seiner Übersiedlung nach Berlin ab, wohin er von Friedrich Wilhelm IV. zur Bekämpfung der "Drachensaat des Hegelschen Pantheismus" berufen wird. Die Antrittsvorlesung ist ein voller Erfolg. Schelling verspricht, eine Philosophie zu geben, die alles Bisherige in den Schatten stellen würde; bei diesem Versprechen hat es sein Bewenden. Nicht ganz unzutreffend verspottet Feuerbach Schellings geheimnisvolle Lehre als "Philosophie des bösen Gewissens, welche seit Jahren lichtscheu im Dunkeln schleicht". Der Besuch der Berliner Vorlesungen läßt bald nach. Schellings alter Widersacher, der Heidelberger Rationalist Paulus, veröffentlicht – selbst schon zweiundachtzig Jahre alt – im Jahre 1843 die Nachschriften der Vorlesungen seines Gegners unter dem ironischen Titel: Die endlich offenbar gewordene positive Philosophie der Offenbarung. Der gegen Paulus angestrengte Prozeß führt zu keinem Resultat. In seinem Selbstvertrauen schwer erschüttert, verzichtet Schelling auf seine akademische Lehrtätigkeit. Am 20. August 1854 stirbt er in Bad Ragaz im achtzigsten Lebensjahr.

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling.
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling.
Gipsbüste von Johann von Halbig, 1852.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 266.]
Eine tiefe Tragik, von Schelling selbst vielleicht kaum empfunden, überschattet die vier letzten Jahrzehnte seines Lebens – die Tragik des alternden Mannes, dem der Zusammenhang mit der lebendigen Gegenwart immer mehr verlorengeht. Nicht viel mehr als nur ein Jahrzehnt lang hat er im höchsten Maße mitbestimmend in das Kulturleben seiner Zeit eingegriffen. Wie kaum ein anderer jeder neuen Regung jenes geistig so reichen Zeitalters aufgeschlossen, versteht er es, wie ein Prisma die Lichtstrahlen, alle Einflüsse auf sich einwirken zu lassen und sie als neue fruchtbare Anregungen seinen Zeitgenossen zu vermitteln. Jedoch hat Schellings Aufgeschlossenheit gegenüber fremden Einflüssen ihre Grenzen in seinem Charakter. Der ästhetisch-kontemplative Grundzug seines Wesens brachte es mit sich, daß Schelling der Romantiker der Jahrhundertwende bleibt. Ein Fortschreiten darüber hinaus findet nur in der Hinsicht statt, daß er immer mehr ins Mystische gerät. Der alte Schelling spürt sehr wohl den Abstand von seiner Zeit. Darauf ist wohl auch die Weigerung zurückzuführen, seine positive Philosophie zu veröffentlichen. In den Kreisen der Leser seiner früheren Werke hätte diese vielleicht begeisterte Zustimmung gefunden – dem deutschen Menschen nach 1812–1815 hat er kaum etwas zu sagen. Über vier Jahrzehnte zehrt er von seinem früheren Ruhm. Seine Schicksalslinie führt steil hinan, um dann langsam abzusinken. Als er zu Grabe getragen wird, ist er der Letzte seiner philosophischen Generation, fast vergessen von seinen Feinden. Seine Freunde vergessen ihn nicht: sein Bildnis in der Walhalla zu Regensburg, sein Denkmal in München künden von der Treue Maximilians II. von Bayern, seines Schülers und größten Bewunderers.




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz