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[Bd. 2 S. 620]
Hermann von Boyen, 1771 - 1848, von Hermann Foertsch

Hermann von Boyen.
Hermann von Boyen.
Gemälde von François Gérard.
[Die Großen Deutschen im Bild, S. 233.]
Es muß eine freudlose Kindheit gewesen sein, die Hermann von Boyen durchlebte. Der Vater war Oberstleutnant in einem friderizianischen Garnison-Regiment, kränklich und ohne Soldatenglück. Die Mutter hatte vier Kinder geboren, die alle wieder der Tod nahm, ehe Hermann von Boyen am 23. Juni 1771 zur Welt kam. Das Glück des Elternhauses blieb ihm versagt. Eine gütige Tante zog den Jungen auf, der Vater und Mutter nur einmal noch in frühester Kindheit gesehen hatte, ehe sie ihm im gleichen Jahre 1777 durch den Tod entrissen wurden.

Im vierten Lebensjahre begann sein Unterricht, unregelmäßig, wenig nachhaltig; aber der wißbegierige Junge legte bald kein Buch mehr ungelesen aus der Hand. Mit zwölf Jahren war er bei einem Königsberger Regiment "eingeschrieben", und drei Jahre später schon tat er Dienst im ältesten Regiment des Königs von Preußen im kleinen Bartenstein. Man kommandierte ihn zur Militärschule nach Königsberg, wo er in freien Stunden als Siebzehnjähriger den großen Philosophen Kant hörte. Der junge Boyen mag ihn nicht verstanden haben und hat zeit seines Lebens nicht viel von seinen Lehren gewußt; aber gelebt hat er sie wie kaum einer seiner Zeit. Ein fröhlicher Kamerad, oft zu Scherz und Spott aufgelegt, mit gesundem Ehrgeiz, ein wenig eitel, aber in seinem Denken den Altersgenossen bald überlegen. Schon 1788 verfaßte er einen Schriftsatz über den Vorzug der Stände. Er wollte den Offizierstand geistig und sittlich gehoben sehen und war dabei doch aller Überheblichkeit gegen andere Berufe fern. "Ich will bei Gott keine Ständezertrümmerung nach unseren Modegrundsätzen", schrieb er in jungen Jahren, "aber etwas mehr Verschmelzung und Annäherung scheint mir für unser Zeitalter in moralischer und politischer Hinsicht Pflicht." Die Achtung vor jeder ehrlichen Arbeit, auch der "niederen" Stände, der Glaube an das Gute im Menschen förderten seine Beschäftigung mit den seelischen Grundlagen des menschlichen und soldatischen Lebens. Tüchtigkeit wollte er gelten lassen schon im Frieden, und daß der Offizierstand dem Adel vorbehalten sein soll, schien ihm gegen den Sinn der Zeit.

Unauslöschlich wirkten auf ihn die Erfahrungen, die ein verständiger Vorgesetzter aus der Weckung des Ehrgefühls bei seinen Soldaten zog. "Je mehr der Offizier sich mit dem Soldaten beschäftigt" – das blieb seine Ansicht – "je mehr er die Eigentümlichkeiten desselben erforscht, je sicherer wird er in der Behandlung desselben und lernt zuletzt erkennen, was nicht allein zur Disziplinierung desselben notwendig ist, sondern auch um ihn mit Erfolg vor den [621] Feind zu führen". Etwas vorauseilend nannte er als junger Soldat schon allgemein den Grundsatz, "den Rekruten ohne Schläge seine Pflicht zu lehren". Das Tirailleur-Gefecht erschien ihm 1794 als die Gefechtsform der Zukunft, aber er wagte noch nicht den Bruch mit der Linear-Taktik. Die Zukunftsbedeutung des Schützenkampfes war ihm klar, aber auf die Schlachten-Infanterie alter Art wollte er noch nicht verzichten. Umwälzend dagegen waren seine frühen Gedanken über die Bildung besonderer Jägerkompanien, in denen junge Bürger ihre Ausbildung erfahren sollten, um später auch im Frieden schon Offizier werden zu können. Früh schon grübelte er über die Verbindung zwischen militärischem und bürgerlichem Leben und ließ damit zum erstenmal das Leitmotiv seines Lebens anklingen. Die Französische Revolution erlebte er in den eindrucksfähigsten Jahren und fand hier manchen seiner Gedanken wieder. Aber "was wir mit so viel Pomp in neueren Zeiten Menschenrechte nannten, sind nichts mehr und nichts weniger als die Pflichten gegen unseren Nächsten in politischer Hinsicht".

1796 wurde Boyen Kompaniechef in Gumbinnen. Hier ging er ganz auf in der Ausbildung seiner Kompanie und in der Sorge um seine Leute. Hier fand er schon den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und sah darin die höchste Pflicht des Bürgers, die er nicht der Hefe des Volkes übertragen wissen wollte. Standesrücksichten und Reichtum wollte er als Ausnahme vom Waffendienst nicht gelten lassen. Nur die Verdienste bewährter Männer sollten vielleicht die Nachkommen vom Wehrdienst befreien können. In freien Stunden vertiefte er sich in historische und politische Schriften, wo er nach den tragenden Gedanken und den großen Zusammenhängen suchte. Im Kameradenkreis wirkte er anregend und treibend. Lesezirkel für die Offiziere, Schreibschulen für Unteroffiziere und Soldaten wurden nach seinen Plänen eingerichtet. Zu hohe Phantasie und Empfindsamkeit erschien ihm falsch, und doch dichtete er zuweilen selbst holprige, aber tiefgefühlte Verse. "Unsere Entschlüsse müssen nicht durch die begeisterte Einbildungskraft, sondern durch die ruhige Vernunft hervorgebracht werden", schrieb der Mann, der selbst für seine Ideen leidenschaftlich kämpfte. "Die Stimme der Empfindung muß schweigen, wenn es auf die Erfüllung der Pflicht ankommt." "Wer es so weit gebracht hat, bei einer Pflichtverletzung vor sich selbst zu erröten, kann dem Donner der Schlacht ruhig entgegensehen." "Rastlos Fortschreiten, das ist das erste, das heiligste Gesetz des menschlichen Geistes." So arbeitete er an sich selbst, prüfte in Tagebüchern seine eigene charakterliche Entwicklung und stellte für sich die Grundsätze auf, nach denen er den neuen Menschen erzogen sehen wollte.

Das für Preußen unglückliche Jahr 1806 traf ihn hart. Er war im Stabe des Herzogs von Braunschweig ins Feld gerückt, wo er mit Sorge den Mangel an Führung und den Zerfall des friderizianischen Heeres sah. In der Schlacht bei Jena wurde er an der Hüfte verwundet und gefangengenommen. Mit Mühe nur konnte er sich in Weimar den Franzosen entziehen. Hier lernte er Goethe kennen, [622] den er innerlich ablehnte, weil er ihm zu stolz und zu wenig deutschgesinnt erschien. Wieland riet ihm, den Offiziersrock auszuziehen und ganz den Wissenschaften zu leben. Boyen aber widerstand der Lockung. 1807 war er wieder Stabskapitän im Preußischen Generalstab, wo ihn sein Meister Scharnhorst entdeckte. "Einen einsichtsvollen Mann, dem die inneren Verhältnisse in der Armee bekannt waren und der mit großer Geschicklichkeit und Pünktlichkeit seine Geschäfte verrichtete", so hatte ihn Scharnhorst beurteilt. Das war kein überschwengliches Lob, aber aus diesem Munde wertvolle Anerkennung.

So wurde Boyen zu Beginn des folgenden Jahres zum Mitglied der Reorganisationskommission ernannt. "Tätige, lebhafte, ambitiöse Männer, deren Geist den Körper bald verzehrt", wollte Scharnhorst jetzt in leitende Stellen bringen. Zu ihnen war Boyen wie kaum ein anderer zu rechnen. Zu seinem Arbeitsgebiet gehörte die Neuregelung der Offiziersbeförderungen, die Beeinflussung des Schulwesens, die Schaffung der neuen Etats, die Änderung der ganzen Truppenverwaltung und die Abschaffung der Kompaniewirtschaft mit ihren sittlichen Mängeln. Aus ganzer Überzeugung konnte er jetzt auch für die Einführung des Schützengefechtes wirken. Entscheidend aber war seine Mitwirkung an der Durchführung des Krümpersystems, mit dem die zahlenmäßigen Fesseln des Tilsiter Friedens allmählich abgestreift werden sollten. Boyen legte damit den Grund zu seinem Lebenswerk, aus dem stehenden Heer das "Volk in Waffen" auch für den Frieden zu schaffen. Sein politisches Denken und Wirken war gegen die Verständigung mit Napoleon gerichtet, und als das Bündnis mit dem Kaiser der Franzosen doch zustande kam, reichte er ein zweites Abschiedsgesuch ein. Erst 1812 entschloß sich der König, ihn zu entlassen. Sein Drängen war zu stark geworden. Boyen ging nach Rußland, wo er dem Vaterland auf andere Art zu dienen gedachte. Der Zar sandte ihn zum König von Preußen als Übermittler eines Bündnisangebots zurück. Einen freudigeren Boten konnte er nicht finden. So stand Boyen im Frühjahr 1813 als Oberst wieder in preußischen Diensten.

Seine erste Verwendung im Befreiungskampf hat ihn nicht befriedigt. Er war im Hauptquartier des russischen Armeeführers Kutusoff, wo seine Tätigkeit lahm lag. Als der König ihn dann aber dazu ausersah, im Militärgouvernement Berlin die Aufstellung der Landwehr zu betreiben, war ihm ein Herzenswunsch erfüllt. Mit väterlicher Liebe und unübertrefflichem Eifer stellte er eine Landwehrbrigade auf, der die Deckung von Berlin übertragen wurde. Sein Streben war, die Landwehr zu einer kriegstüchtigen Truppe zu machen. Gewiß ging er in vaterländischem Überschwang mit seinen Forderungen über die Leistungsmöglichkeiten hinaus; aber ihm lag vor allem daran, den Wehrgeist zu wecken und anzuspornen. Als ein hartes Geschick dem preußischen Heere seinen Scharnhorst entriß, schlug Hardenberg den Obersten von Boyen als Nachfolger vor. Der König lehnte diesen Vorschlag ab, und Boyen wurde Generalstabschef beim Korps Bülow. Seine Verdienste in dieser Stellung sind schwer zu nennen. Es lag nicht in seinem Amt, in das Licht [623] der Öffentlichkeit zu treten. Daß aber bei Großbeeren der Stoß gegen die Flanke des Feindes geführt wurde, bleibt sein Verdienst; daß zur Entscheidung von Dennewitz durch Boyen die Reserven und Artillerie herangeholt wurden, ist geschichtliche Wahrheit; daß die Nordarmee über die Elbe zum Marsch auf Leipzig gezogen wurde, hat Boyen in Übereinstimmung mit Gneisenaus Plänen herbeigesehnt und durchgesetzt. Dann galt es, in Westfalen und am Rhein die Wehrkraft dieser Provinzen für Preußens Freiheit zu wecken. Auch dies war eine Verwendung ganz nach Boyens Wunsch.

Ein gewaltiges Erlebnis nahm Boyen aus diesem Feldzug mit: den Opferwillen eines ganzen Volkes und die große Entwicklung der preußischen Wehrkraft, die sich für ihn vor allem in der Einrichtung der Landwehr verkörperte. Er sah zum erstenmal in seinem Preußenvolk ein Staatsbewußtsein geweckt, oft noch unklar in den Äußerungen, aber stark im Wesen. Der Rock des Soldaten war ein Ehrenkleid geworden. In ihm hatte der Adlige zusammen mit dem Bürger, der Arbeiter zusammen mit dem Besitzer um die Freiheit der Heimat gekämpft. In ihm gewann der Gedanke des gleichen Rechts und des gleichen Opfers bildliche Gestalt. Im Zeichen dieser Gleichheit war Preußen durch Waffen wieder frei geworden. Diese Freiheit und politische Macht zu erhalten, wurde Boyens Lebensziel.

Scharnhorst, der Schöpfer dieser Macht, war nicht mehr; Gneisenau lehnte seine Nachfolge ab. Da traf Hardenbergs Wahl wieder auf Boyen, und jetzt stimmte der König zu. Am 3. Juni 1814 wurde der General von Boyen zum Staats- und Kriegsminister ernannt; er war der erste Minister mit diesem Titel. Ein einfacher und besonnener Mann von dreiundvierzig Jahren, kein Meister des Wortes, aber ein klarer Geist; ohne den hohen Gedankenflug eines Gneisenau, ohne die tiefe Selbstlosigkeit des stillen Scharnhorst, aber mit unermüdlicher Arbeitskraft und zähem Willen, mit Glauben und Freude ging Boyen an sein Werk.

Seine erste Tat war die Neugliederung des Kriegsministeriums, in dem er mit straffer Leitung alle militärischen Geschäfte zusammenfaßte. Der General von Grolman baute unter ihm zum erstenmal den preußischen Generalstab auf. Auch die obersten militärischen Behörden im Lande wurden neu gegliedert. An die Stelle der Militär-Gouverneure traten Kommandierende Generale, die allen militärischen Behörden der Provinz übergeordnet wurden und ihre Hauptaufgabe in der Hebung aller Kampfmittel ihres Bereichs zu sehen hatten.

Das Wichtigste und Schwierigste aber blieb die Neuordnung der gesamten Wehrverfassung. Die allgemeine Wehrpflicht war ja nur für die Dauer des Krieges eingeführt. Sie hatte sich unvergleichlich bewährt. Jetzt galt es, diese Wehrverfassung, der Preußen den Sieg verdankte, für die Friedenszeit zu erhalten. Boyen stand vor der Frage, ob er zum Kantonsystem Friedrichs des Großen mit seinen vielfachen Befreiungen vom Waffendienst zurückkehren oder auf dem Weg der Wehrpflicht ohne Ausnahme fortschreiten sollte. Seine Verehrung für den großen König war unverändert, aber für den Scharnhorst-Schüler, für den [624] gläubigen Bewunderer der Landwehr, für den mitleitenden Erzieher zu Staats- und Bürgerpflichten war kein Zweifel möglich. Ihm schien die allgemeine Wehrpflicht höchster Ausdruck des endlich geborenen Staatsbewußtseins. Der General von Boyen erhielt die allgemeine Wehrpflicht dem Preußischen Staat und hat durch diese Tat dem Leben seines Volkes für ein Jahrhundert den Stempel gegeben. "Derweilen in Wien", sagt Treitschke, "der große Friedenskongreß zusammentrat, erhob sich in Preußen eine neue Größe der deutschen Geschichte: das Volk in Waffen."

"Folgendes sind", schrieb Boyen am 31. Juli 1814 an Gneisenau, "die auch von den Ministern zugestandenen Hauptziele: Alles ist wehrpflichtig. Die stehende Armee nicht groß; etwa zehntausend auf die Million, mit drei Jahren Dienstzeit. Die Landwehr fällt in zwei Aufgebote, jedes mit sechsjähriger Dienstzeit. Mit dem fünfunddreißigsten oder sechsunddreißigsten Jahr hört also der Dienstzyklus auf. Das erste Aufgebot, etwa zwanzigtausend auf die Million, wird so disponibel gemacht, daß es jeden Augenblick das stehende Heer verstärken kann. Das zweite Aufgebot wird in der Regel zu Besetzungen bestimmt. Der Landsturm bleibt eine gesetzliche Landeseinrichtung." Boyen dachte sich also das stehende Heer als die große Schule des wehrhaften Volkes. Die Landwehr, die 1813 aus Unausgebildeten zusammengestellt war, sollte nunmehr einen Stamm erhalten und in der Masse durch die Schule des stehenden Heeres gegangen sein. Sie war als Rückhalt der Wehrmacht, als Ausgleich für alle Lagen gedacht, ein Sinnbild des wehrhaften Bürgers. Mit dieser preußischen Landwehr ist Boyens Name unlöslich verbunden.

Am 24. August 1814 legte der Kriegsminister einen Bericht "über einige Gegenstände der künftigen Armeeverfassung" vor, der ohne Rücksicht auf den künftigen Gebietsumfang des Landes verfaßt war. Dem General von Boyen kam es vor allem darauf an, den Grundgedanken der allgemeinen Wehrpflicht unverzüglich zu verankern, ehe der Durchführung Gefahren entstehen konnten. So nennt er es "heiligste Pflicht, durch eine zweckmäßige Anordnung der Verteidigungsmaßregeln die Selbständigkeit der Nation zu sichern". Die Grenzen steckt er sich selbst in der Bevölkerungszahl und den Finanzen des Staates und in der Notwendigkeit, Gewerbe und Wissenschaft zu erhalten. In festem Glauben an den Sieg seiner Gedanken sagt er zum Schluß in dieser Denkschrift, daß die Aufgabe eigentlich schon gelöst sei durch die Verfassung der siegreichen bewaffneten Macht, "die nicht allein den Staat und Deutschland befreit hat, sondern alle die Keime und Grundlagen enthält, von deren zweckmäßiger Erweiterung mit Zuversicht die Erhaltung der preußischen Monarchie zu erwarten ist". Schließlich empfahl Boyen noch vor Antritt des Wiener Kongresses, "diese Einrichtungen als ein Vorbild für die übrigen fürstlichen Länder fest zu bestimmen". Diese Hoffnung trog. Kein anderer deutscher Staat ist damals Preußen auf diesem Wege gefolgt. Deutschlands Größe wurde einsam geboren.

[625] Das Wehrgesetz vom 3. September 1814, das "herrliche", wie es in diesen Jahren der Volksmund nannte, enthielt folgende Bestimmungen: Jeder Eingeborene, sobald er das zwanzigste Jahr vollendet hat, ist zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet. Um aber die Fortschritte der Wissenschaften und Gewerbe nicht zu stören, sollen für Dienstleistung und Dienstzeit folgende Abstufungen stattfinden: Die bewaffnete Macht soll bestehen

  1. aus dem stehenden Heere,
  2. der Landwehr ersten Aufgebots,
  3. der Landwehr zweiten Aufgebots,
  4. dem Landsturm.
Die Stärke des stehenden Heeres und der Landwehr wird nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen bestimmt. Die stehende Armee ist ständig bereit, ins Feld zu rücken, sie ist die Hauptbildungsschule der ganzen Nation für den Krieg und umfaßt alle wissenschaftlichen Abteilungen des Heeres. Die stehende Armee besteht neben denen, die auf weitere Beförderungen dienen wollen, und Freiwilligen, die solche Prüfung nicht bestehen können, aus einem Teil der jungen Mannschaft vom zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Jahr. Die drei ersten Jahre sind Dienst bei der Fahne, die zwei folgenden Dienst als Reserve des stehenden Heeres. Junge Leute aus gebildeten Ständen, die sich selbst kleiden und bewaffnen können, brauchen nur ein Jahr zu dienen, können zwei Jahre beurlaubt werden und treten dann in die Landwehr ersten Aufgebots, wo sie nach Fähigkeiten und Verhältnissen die ersten Ansprüche auf die Offiziersstellen haben sollen. Die Landwehr ersten Aufgebots ist im Kriege zur Unterstützung des stehenden Heeres bestimmt, im Frieden aber mit Ausnahme der Übungszeit in die Heimat beurlaubt. Sie wird ausgewählt
  1. aus allen Männern vom zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Lebensjahre, die nicht in der stehenden Armee dienen;
  2. aus denen, die als einjährig dienende ausgebildet sind;
  3. aus den Ausgebildeten vom sechsundzwanzigsten bis zweiunddreißigsten Lebensjahr.
Die Landwehr zweiten Aufgebots ist im Kriege zu Verstärkungen der Garnisonen, zu Besatzungen und Verstärkungen des Heeres bestimmt. Sie wird aus allen Männern gebildet, die sowohl aus der stehenden Armee wie aus der Landwehr ersten Aufgebots austreten, und aus den Waffenfähigen bis zum neununddreißigsten Jahr. Der Landsturm tritt nur auf besonderen Befehl zusammen; er wird aus allen Männern bis zum fünfzigsten Jahr gebildet, die nicht in das stehende Heer und die Landwehr eingeteilt sind, und aus allen rüstigen Jünglingen vom siebzehnten Jahr an. Wer im stehenden Heere länger dienen will, muß sich auf sechs Jahre verpflichten; er erhält eine besondere Auszeichnung und bei der [626] zweiten Verlängerung eine Zulage und bei Dienstunfähigkeit Versorgungsanspruch. Für die Leitung des gesamten Ersatz- und Auswahlgeschäftes soll in jedem Kreise eine besondere Behörde gebildet werden.

Auf der Grundlage des stehenden Heeres also mit seinen Berufsoffizieren und Berufsunteroffizieren stand die Landwehr mit ihren eigenen Dienstgraden. Beide zusammen bildeten trotz der Trennung ihrer inneren Einrichtungen das Volk in Waffen. Boyen selbst hat später einmal stehendes Heer und Landwehr "zwei treue Söhne eines Vaters und einer Mutter, des Königs und des Vaterlandes", genannt; "darum können sie nicht allein stehen und müssen als Brüder einander unterstützen". Sein Lieblingswunsch aus der Jugendzeit, den Zusammenhang zwischen bürgerlichem und militärischem Leben ganz eng zu gestalten, war in diesem Wehrgesetz Wirklichkeit geworden.

Kritiken blieben natürlich nicht aus. Manchem alten Soldaten schien die neue Wehrverfassung zu wenig offensiv für eine Großmacht wie Preußen. Aber die Finanzen des Staates reichten nicht aus, das stehende Heer stärker zu gestalten. Andere sahen die allgemeine Wehrpflicht nicht durchgeführt, solange das stehende Heer nur aus einem Teil der Mannschaft vom zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Lebensjahr bestehe. Dieser Vorwurf trifft zu, und die Folge dieser Bestimmung machte sich bald unangenehm bemerkbar. Andere wieder bemängelten die Fassung der Bestimmung, nach der die Stärke des stehenden Heeres sich nach den jeweiligen Staatsverhältnissen richten sollte. Boyen wollte jetzt jeden Streit um die Heeresstärke zurückstellen, weil er die Festlegung des Grundgedankens der Wehrpflicht gefährdet hätte. Es ist kein Zweifel, daß aus dieser Bestimmung mancher Mangel in der Durchführung erwuchs; aber gerade diese lose Fassung hat es auch ermöglicht, alle späteren Reformen durchzuführen, ohne das Wehrgesetz an sich ändern zu müssen.

Als die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes erlassen werden sollten, kam die Nachricht, Napoleon sei von Elba in Frankreich gelandet. Ein neuer Feldzug begann. Die Mobilmachung hierzu war schwierig. Sie traf das Heer im ungünstigsten Zeitpunkt. Die Truppenteile waren zum Teil in der Umbildung, die alte Landwehr vielfach noch nicht entlassen. Die neue Aushebung umfaßte etwa fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung und streifte hart die Grenze des überhaupt Möglichen. Deshalb ließ Boyen in der Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht Milde walten. Ihm schien es nur wichtig, daß der Grundsatz an sich gewahrt blieb und man gesetzliche Ausnahmen nicht mehr zuließ.

Einen Einfluß auf den Gang der Operationen des Feldzuges von 1814/1815 hat General von Boyen nicht genommen; das war auch nicht seines Amtes. Aber zum Friedensschluß erhob auch der Kriegsminister wieder seine Stimme für Preußens und Deutschlands Größe. Frankreich hat sich durch weite und planmäßige Eroberungen ein Übergewicht an Menschenzahl geschaffen, so führte er aus, also muß seine Volkszahl zurückgedrängt werden. Er wollte sein Vaterland, [627] das die größten Opfer für Deutschlands Befreiung gebracht hatte, auch groß und mächtig sehen.

Nach Beendigung des Feldzuges war endlich an eine ruhige Arbeit zu denken. Jetzt waren die großen Gedanken des neuen Wehrgesetzes in die Tat umzusetzen. Es hat an Schwierigkeiten und Hemmungen, an Widerständen böswilliger und unerfahrener Gegner nicht gefehlt. Aber Boyen blieb unbeirrt. Die große nationale Volkserziehung war das Ziel seiner Arbeit. Ihm zuliebe gab er nach, wo ein Kampf nicht lohnte. Ihm zuliebe aber blieb er fest, wo es sich um die große Sache handelte.

Um das stehende Heer so schlagfertig wie möglich zu machen, regte er vermehrten Bau von Kasernen an und war darauf bedacht, jede "Einbürgerung" der stehenden Truppenteile zu verhindern. Der junge Soldat sollte im stehenden Heere ganz dem Dienst am Preußischen Staat zufallen. Als Landwehrmann konnte er sich dann als Kämpfer für seine engere Heimat fühlen. Die Ausbildung der Truppe so neuzeitlich wie möglich zu gestalten, war Boyens ständiges Streben. Er forderte das Schießen nach der Scheibe, den Schützenkampf und Übungen im größeren Verband. Er forderte die Kenntnis der Dienstvorschriften aller Waffen durch die höheren Offiziere. Er plante, um die Leistungen des Offizierkorps zu heben, eine besondere Regelung der Beförderungsverhältnisse. Sein Hauptaugenmerk aber galt der Vertiefung der militärischen und allgemeinen Bildung des neuen Offiziers. Aus dem alten Drillmeister sollte der Erzieher der Jugend werden. Für die Durchführung dieser Gedanken hat er bis an die Grenze des überhaupt Möglichen sich immer wieder eingesetzt.

Bald zeigten sich Schwierigkeiten. Die Stärke des stehenden Heeres reichte nicht entfernt aus, die allgemeine Wehrpflicht wirklich durchzuführen. Das wirkte sich auf die Zusammensetzung der Landwehr noch schlimmer aus. Die Folge davon war, daß auch die Auswahl aus der großen Zahl der Wehrpflichtigen für die tatsächliche Dienstleistung mit der Waffe besonders schwierig wurde. Gesetzliche Befreiungen ließ der Grundgedanke des Wehrgesetzes nicht zu. Die Aushilfsmittel waren unzureichend. Auch die Wiedereinführung des Loses behob die Schwierigkeiten nicht. Ein weiterer Gefahrenpunkt war die Einrichtung der einjährig Dienenden. In ihnen sah der Kriegsminister den künftigen Landwehroffizier. Sie sollten deshalb nicht, wie 1813, eigene Verbände bilden, sondern in allen Truppenteilen des stehenden Heeres dienen. Nicht Reichtum und Besitz galt, sondern nur der Wunsch, den gebildeten jungen Leuten Gelegenheit zu geben, ihre Bildung ohne allzu langen Heeresdienst fortsetzen zu können. Gewiß ist dadurch manche Halbbildung hochgekommen, aber ein gut Teil neuen Strebens wurde auch in die Schichten des Volkes getragen, die bisher nicht daran gedacht hatten, den Jungen etwas lernen zu lassen. Auch andere Widerstände tauchten auf. Alte Familien brachten ständische Bedenken vor, Stadtverwaltungen hatten Sorgen um den ruhigen Fortgang von Handel und Gewerbe, und Wünsche nach dem alten [628] Ausnahme- und Beurlaubtensystem vereinigten sich mit Gedanken an eine reine Miliz. Boyen blieb fest. Er kannte wohl die Schwächen seiner neuen Wehrordnung, nahm sie aber in schöpferischer Freude nicht zu ernst. Die Erziehung des Volkes durch das Heer erschien ihm mit Recht höchster Gewinn.

An die Schule des stehenden Heeres schloß sich der Dienst des Landwehrmannes an. Das Wehrgesetz hatte die Einrichtung der Landwehr in großen Zügen festgelegt, aber ihr Verhältnis zum stehenden Heer und ihre Stärke offen gelassen. Die Landwehr von 1813 war eine Schöpfung für den Kriegsfall gewesen und bestand zum weitaus größten Teil aus Unausgebildeten. Diese Regelung hatte in der damaligen Notlage genügt, wenn die Landwehr auch, wo sie wirklich hart in den Kampf gekommen war und scharf marschieren mußte, alle Mängel einer Nottruppe gezeigt hatte. Jetzt mußte etwas Neues geschaffen werden, ein zweites Heer, das auf den Schultern des ersten stand und seine eigene Gliederung hatte, eine Landwehr von ausgebildeten Soldaten. Die im November 1815 erlassene "Landwehrordnung" stellte als Hauptgrundsatz die Wahrung des engen Zusammenhanges mit dem bürgerlichen Leben in Gemeinde, Kreis und Provinz heraus. "An den mäßigen Umfang des stehenden Heeres", hieß es in der Einleitung zur Landwehrordnung, "schließt sich künftig die Landwehr, zwar immer zur Verteidigung des Vaterlandes bereit, doch nur dann versammelt, wenn ein feindlicher Einfall oder die eigene Ausbildung es notwendig macht." Die Landwehrtruppenteile erhielten eigene Ergänzungsbezirke. Knappe Stäbe bildeten die Stämme für diese Truppenteile. Alles andere war Landwehr, das heißt nicht ständig unter den Fahnen befindlich. Der Offiziersersatz erfolgte durch Wahl des Regiments-Offizierkorps. Die Wehrmänner wurden aus den gedienten Soldaten und aus nicht ausgebildeten Landwehrpflichtigen ergänzt. In jedem Regierungsbezirk wurde ein höherer Offizier als Inspekteur für beide Landwehraufgebote angestellt. Er hatte die Ausbildung der Landwehr zu leiten und alle Ergänzungs- und Mobilmachungsangelegenheiten – auch für das stehende Heer – mit den Zivilbehörden nach den Weisungen des Kommandierenden Generals zu regeln. Die Anweisung für diese Landwehrinspekteure war ganz im Boyenschen Geiste gehalten. Ihm lag daran, gerade in diese Stellungen Männer zu bringen, die höchste volkserzieherische Eigenschaften hatten.

Über die Errichtung des Landsturms ergingen keine Ausführungsbestimmungen. Das war eine weise Beschränkung, denn ein Kampf um den Landsturm hätte vielleicht das ganze Gesetz gefährdet.

Die Landwehrordnung war bald starken Angriffen ausgesetzt. Daß zwei so verschiedene Elemente wie das stehende Heer und die Landwehr ersten Aufgebots zu gleicher Verwendung vor dem Feind vorgesehen seien, wollte den alten Soldaten nicht in den Sinn. Sie meinten, wenn die Landwehr wirklich offensivfähig sei, dann sei das stehende Heer ja nicht nötig; dann genüge ja eine Miliz. Eine Miliz aber reiche militärisch nicht aus, darum solle man die Landwehr wieder [629] abschaffen. Diese Kritik übersah, daß Boyen finanziell eng gebunden war und eine starke Armee ohne große Kosten schaffen mußte. Die Landwehr aber war eine sehr billige Einrichtung und schien militärisch durchaus brauchbar, wenn sie aus dem stehenden Heer hervorging. Weiter wurde, nicht zu Unrecht, von vielen Seiten die scharfe Trennung von stehendem Heer und Landwehr verurteilt, weil bei einer engeren Verschmelzung dieser beiden Teile der Ausbildungswert der Landwehr sich steigern ließe. Der Kriegsminister übersah diese Schwächen nicht. Aber ihm lag daran, den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht, dieser "Blutsteuer", wie sie Treitschke einmal genannt hat, möglichst schnell volkstümlich zu machen. Dazu schien ihm die Landwehr, vor allem in selbständiger Gliederung und mit eigenem Offizierkorps, besonders geeignet.

Trotz aller Vorwürfe lebte sich die neue Landwehrordnung schnell ein, und selbst die Gegner der Landwehr mußten ihre Leistungen anerkennen. Die Kriegserfahrung der meisten Offiziere und Landwehrmänner ließ zunächst auch gewisse Schwächen nicht so stark in Erscheinung treten. Und Boyen selbst versuchte immer wieder mit Geduld und Strenge, seine idealen und romantischen Auffassungen über die Landwehr in alle Stellen hineinzutragen. Bald jedoch stellten sich ernste Mängel heraus, die der ganzen Einrichtung Gefahr brachten. Die Leistungen der Landwehroffiziere ließen nach wenigen Jahren nach; die militärische Ausbildung der Einjährigen, die ja den Hauptersatz für die Landwehr-Offizierkorps bildeten, war bei vielen Truppenteilen nicht ernsthaft genug betrieben worden. Die sicherste Abhilfe wäre zweifellos eine stärkere Mischung der Landwehr- und Linienoffiziere gewesen. Boyen aber wollte im Frieden die Trennung aufrechterhalten, weil er alle Stände zum Offizierdienst heranziehen und nicht gern den älteren Landwehrmann dem jungen Linienoffizier unterstellen wollte. Dieser Wunsch kam aus einem gewissen Mißtrauen Boyens gegen die Offiziere des stehenden Heeres, das wohl keine allgemeine Berechtigung hatte, aber verstanden werden muß aus seinen Erfahrungen von 1806 und seinem Abscheu gegen jeden Standesdünkel.

Ein weiterer wichtigerer Nachteil lag darin, daß zuviel Unausgebildete in die Landwehr eingestellt werden mußten, weil das stehende Heer schon nicht mehr ausreichte, die allgemeine Wehrpflicht wirklich durchzuführen. Hier drohte ein Grundpfeiler der ganzen Heeresgliederung zu stürzen. Denn nur wenn die Landwehr genügend ausgebildete Leute besaß, war ihre beabsichtigte Verwendung, die Eingliederung des ersten Aufgebots in das stehende Heer, gerechtfertigt. Da die Landwehr aber aus zeitlichen und anderen Gründen gar nicht in der Lage war, die unausgebildet Eingestellten auf die gleiche Höhe mit den gedienten Leuten zu bringen, drohte das ganze Boyensche Gedankengebäude zu wanken. So griff man zu Aushilfen, kommandierte Linienoffiziere zur Landwehr und stellte Landwehr-Rekruten zu einer kurzen Ausbildung in die Landwehr ein. Das war ein wenig schöner Notbehelf. Aber eine frühzeitige Änderung der eben gesetzlich festgelegten [630] Bestimmungen verwarf der General von Boyen aus guten politischen und volkserzieherischen Gründen.

Boyens starker Glaube, daß die Macht des Staates oberstes Gebot, daß die Wehrpflicht höchste Ehrenpflicht sei, stand weit über allen Klagen. Die Mängel und Schwierigkeiten sah auch er. Aber er schrieb sie zum guten Teil den sozialen und wirtschaftlichen Zuständen der Zeit zu, die nicht immer Schritt gehalten hatten mit den fortschrittlichen Gedanken seiner neuen Wehrordnung.

Im engsten Zusammenhang mit der beabsichtigten Verwendung der Landwehr, besonders des zweiten Aufgebots, standen Boyens Pläne für die Landesbefestigung. Er wollte zahlreiche Stützpunkte im ganzen Land verteidigungsfähig machen, von alten Schlössern und Burgen bis zu neuen befestigten Zeughäusern. Sein treuer Gehilfe Grolman hat, durch Boyen immer wieder angetrieben, die Landesbefestigung sehr gefördert. Boyens großer Wunsch, im Osten des Preußischen Staates starke Festungsanlagen zu schaffen, ging noch zu seinen Lebzeiten in Erfüllung. Noch heute heißt das befestigte Lötzen "Feste Boyen".

Ein Blick auf Wehrsystem und Landesbefestigung im deutschen Land gibt überall das gleiche Bild: Preußen weit voran zur Sicherung seiner neugegründeten Macht und zum Schutze der deutschen Grenzen gegen Frankreich; im Süden und Südwesten Deutschlands unverantwortlicher Stillstand oder gar Verfall und schutzlose Grenzen. Daran änderte auch Preußens Kampf im Deutschen Bunde nichts. Daß hier keine Erfolge errungen wurden, ist nicht Schuld der preußischen Generale. Politische Zurückhaltung, engstirnige Sonderwünsche kleiner Machthaber und manche Unaufrichtigkeit blieben stärker als preußischer Soldatenwille. Preußen fühlte seinen deutschen Beruf und konnte nur sich ganz bescheiden oder die Machtstellung in Norddeutschland anstreben. Dies hatte niemand besser erkannt als Boyen. Der klare Blick des Schöpfers der neuen preußischen Wehrmacht hat die Zusammenhänge von Wehr- und Außenpolitik nie aus den Augen verloren. Preußen hatte im Befreiungskampf die größten Opfer gebracht. Es hatte den größten Anteil am Siege und hatte zu diesem Sieg innere Kräfte zu wecken gewußt, die nicht mehr einzuschläfern waren, die in feste Bahnen zu leiten Boyen nötig schien.

Auch Boyens innenpolitische Anschauungen entsprachen seinem wehrpolitischen Denken. "Steckt jedem Staatsbürger für sein ganzes Leben ehrenvolle, aber stufenweise geordnete Ziele vor, die er mit seinen Kräften auch wirklich erreichen kann, und ihr werdet in kurzer Zeit einen National-Charakter bilden, der eine mächtige Stütze der Regierung wird." Für den Vater der Landwehr war die Entwicklung eines starken Bauerntums und Mittelstandes selbstverständliches Gebot. Er forderte hohe Opfer für den Staat. So sah er auch hohe Pflichten dieses Staates dem einzelnen gegenüber. Aus diesem Gedankengang heraus sind seine Wünsche und zahlreichen Vorschläge einer Verfassung zu verstehen. Die Preußen hatten nach seiner Ansicht durch ihre Leistungen im Krieg einen hohen Anteil an der [631] Gestaltung des politischen Lebens verdient. So wird auch sein bewundernswerter Weitblick verständlich, mit dem er Maßnahmen des Staates im Hinblick auf die zunehmende Industrialisierung und stärkere Beachtung der Siedlungsfrage forderte. Den Strom der Zeit zu leiten, nicht ihn einzudämmen, erschien ihm not. Das hat ihm viel Gegnerschaft eingetragen und hat ihn Vorwürfe hören lassen, er und seine Landwehr hätten revolutionäre Absichten. Boyen hat oft schwer unter solchen Anwürfen gelitten, aber seine Ideale von der Wehrpflicht als dem starken Volkserziehungsmittel haben sie nicht erschüttern können.

Boyens Wehrgesetz war eine gewaltige Leistung, geschaffen mit schnellem Entschluß und weitem staatsmännischem Blick, geboren aus einer tiefen Liebe zu seinem Volk und Vaterland.

Nun galt es, das Geschaffene zu erhalten. In den Dienst dieser großen Aufgabe hat Boyen den Rest seines Lebens gestellt. Er hatte viel Widerstände zu überwinden. Die Finanzlage des Staates war schlecht. Die Kriegsentschädigungen reichten zur Deckung der Kriegsschulden nicht aus. Preußens Kredit war nicht gestiegen. So griff der Finanzminister auch die Höhe des Heereshaushalts an. Dahinter steckten die alten politischen Gegnerschaften. Boyen schrieb eine Abwehrschrift "Darstellung der Grundsätze der alten und der gegenwärtigen Preußischen Kriegsverfassung", in der er seine Schöpfung verteidigte. "Möge diese Entwicklung den Grundsatz bestätigen", so schloß er seine Ausführungen, "daß die Stärke eines Heeres nicht willkürlich von Finanzgesetzen abhängig gemacht werden darf, wenn sie der Erhaltung des Vaterlandes genügend entsprechen soll." Trotz alledem stand er bald vor der Frage, ob er durch starres Festhalten an seinen geldlichen Forderungen den Fortbestand seiner Wehrordnung in Frage stellen sollte. Er entschloß sich zu Zugeständnissen, setzte Friedensstärken herab und kürzte Landwehrübungen. Aber an den Grundlagen des Wehrgesetzes ließ er nicht rütteln. Viele Helfer hat Boyen in dieser Zeit nicht gehabt. Nur Grolman stand ihm zur Seite, und in Wilhelm von Humboldt erhielt er bald einen Bundesgenossen, der den tiefen Sinn der Boyenschen Schöpfung und die Einstellung seiner Gegner ganz erkannte. "Wenn der Militäraufwand allerdings sehr bedeutend ist", schrieb Humboldt 1817, "so muß man bedenken, daß die Sicherheit nach außen hin die Bedingung des Daseins des Staates ist, daß der Nutzen eines kraftvollen, schlagfertigen Heeres nicht erst mit dem Tage der Kriegserklärung beginnt, sondern sich die ganze Zeit des Friedens hindurch bewährt durch die Sicherheit, welche dasselbe dem Frieden selbst verleiht, durch das Gewicht, das der Staat dadurch in allen politischen Beziehungen mit fremden Mächten erhält, durch den Einfluß auf den Charakter der Nation." Hier war Boyen ganz verstanden worden.

Der König blieb schwankend in diesen Kämpfen. Er tat für das Heer, was er konnte, doch gegen den viel bekämpften Kriegsminister blieb sein Argwohn immer wach. So kam es 1819 zu einer Spannung zwischen ihm und Boyen. Ein Befehl in Mobilmachungsangelegenheiten der Landwehr führte zu Boyens Abschiedsgesuch [632] und Entlassung. Der Kriegsminister sah seine Grundsätze gefährdet, die von ihm mit besonderer Sorgfalt gepflegten Verbindungen zwischen militärischem und bürgerlichem Leben bedroht. In drei langen Denkschriften versuchte er, den König umzustimmen. Das war vergeblich.

Boyens Abschied war ein Verlust für die Armee, wenn auch mancher Offizier mit Freuden die Nachricht von dem Scheiden dieses Mannes hörte, dem man nur zu gern revolutionäre Bestrebungen nachgewiesen hätte. Ihm folgten eifrige Männer. Aber der Schwung Boyenschen Geistes war ihnen fremd, und ein zäher kämpferischer Wille war mit Boyen aus dem Kriegsministerium gezogen. Die vom König geforderten Reformen in der Landwehrordnung wurden durchgeführt, eine nützliche engere Verbindung beider Heeresteile geschaffen, die Mobilmachung erleichtert. Aber die Kriegsstärke des Gesamtheeres wurde tatsächlich vermindert und die der Landwehr anhaftende innere Schwäche nicht beseitigt.

So schritt man schließlich zur Kürzung der Dienstzeit im stehenden Heere auf zwei Jahre, verringerte die Zahl der Offiziere, ließ die Beförderung stocken und die Ausbildung in Friedensformen erstarren. Zu durchgreifenden Änderungen, die nötig waren, fehlte Geld und Mut. Auch scheute sich der König, die Landwehr in ganz neue Bahnen zu leiten. Er mochte nicht gegen das Volksempfinden handeln und aus politischen Gründen Schwächen nicht eingestehen. So blieb äußerlich alles, wie es war, aber die Zeit schritt voran.

Da wollte es das Schicksal, daß Preußens neuer König, Friedrich Wilhelm IV., 1841 den siebzigjährigen General von Boyen noch einmal an die Spitze des Kriegsministeriums berief. Seine alte schöpferische Kraft war nicht mehr in ihm; das liegt in der menschlichen Natur. Auch die Widerstände waren stärker geworden und die geldliche Lage des Heeres nicht besser. Doch der alte Boyen wußte noch, was er wollte. Die Bedingungen, an die er die Übernahme des Amtes knüpfte, sind bezeichnend für ihn: Abschaffung der Parade-Taktik und Wechsel des vortragenden Generaladjutanten.

An seinem Lebenswerk, der allgemeinen Wehrpflicht, wagte niemand mehr zu rütteln; sie war im Preußenvolk verankert. Aber seinem Lieblingswerk, der Landwehr, hafteten immer noch die gleichen Mängel an. Boyen selbst bekannte sich zu dem Grundsatz, daß mit der Zunahme der Bevölkerung und des Wohlstandes auch die Rüstungsmaßnahmen steigen müßten. Die Bevölkerung Preußens hatte sich seit 1817 bis 1841 um ein Drittel etwa vermehrt; der Wohlstand war gestiegen. Aber die Friedensstärke des Heeres war nur unwesentlich vermehrt. Trotzdem forderte der neue alte Kriegsminister keine Erhöhung der Friedensstärken, und trotzdem verschloß er sich immer noch der notwendigen Neuordnung der Landwehr. Es kam zu ernsten Auseinandersetzungen mit dem jungen Prinzen Wilhelm, in denen Boyen scharf gegen alle "Friedensdressur der Landwehr" anging, in denen er seinen alten Argwohn gegen das Offizierkorps des stehenden Heeres wieder belebte. Für Boyen stand der bürgerliche Wert seiner Landwehr im Vordergrund, [633] für den Prinzen der militärische. Boyens Grundsätze waren starr geworden. Die Wendigkeit seines Geistes fand nicht mehr die zeitgemäßen Formen einer notwendigen Wandlung. Schon warf die große Auseinandersetzung mit Österreich ihre ersten Schatten voraus, und die von Boyen immer noch befürwortete scharfe Trennung von stehendem Heer und Landwehr, die dem militärischen Gesamtwert der Wehrmacht abträglich war, konnte nicht mehr ohne Gefahr in Kauf genommen werden.

So blieb die zweite Amtszeit Boyens für die organisatorische Weiterentwicklung wenig ergiebig. Um so größer aber waren seine Bemühungen um die höhere Leistungsfähigkeit des Heeres selbst. Seine Neuordnung der Ehrengerichte des Offizierkorps, denen auch die Landwehroffiziere unterworfen wurden, atmete neuzeitlichen Geist und war von hoher Sittlichkeit getragen. Kaum ein anderer Gedanke ist für Boyen so bezeichnend wie sein Wunsch, daß die Ehrengerichte der Offiziere die Keime bilden sollten zu einer vollständig neuen Gesetzgebung über Standes- und bürgerliche Ehre für alle Kreise des Volkes. Die von ihm erlassenen Bestimmungen über die Disziplinarbestrafung, die neu geformten Kriegsartikel und das neue militärische Strafgesetzbuch sind weitere Beweise dafür, daß auch der alte Boyen der Heereserzieher geblieben war, der sich in jungen Jahren geprüft und in der Vollkraft seines Lebens bewährt hatte. Auch die wissenschaftlichen Anforderungen an den Offiziersersatz wurden erhöht.

Auf die taktische Ausbildung des Heeres hatte Boyen in seiner ersten Amtszeit nur wenig Einfluß geübt. Andere Aufgaben waren damals wichtiger. Erst in den Jahren der Ruhe von 1820 bis 1840 nahm er Gelegenheit, seine Gedanken über dieses militärische Gebiet niederzuschreiben. Boyen war nie Stratege, aber er war Menschenkenner und hat den Krieg und die Kriegführung immer in Beziehung zum Menschen gebracht. Der Krieg ist ihm eine Kulturerscheinung, die dem Wandel der Zeiten unterworfen ist und deren Einrichtungen "unter mächtigen, aus dem Staats- und Volksleben hervorgehenden Gesetzen" stehen. Er will Selbständigkeit des Menschen und des Führers. Der "kleine Krieg" erscheint ihm als die eigentliche Schule des Soldaten. Das Zusammenwirken der Waffen und die Fähigkeit, gemischte Verbände zu führen, sind wichtige Forderungen seiner Gedankenarbeit. So übte Boyen in seiner zweiten Amtszeit auf das neu eingeführte Exerzierreglement für die Infanterie starken Einfluß aus. Die zerstreute Fechtart und der Gebrauch der Kompaniekolonnen wurde von ihm gefördert. Im Sinne dieser Kampfmethoden lag auch die von Boyen stets gewollte Ausbildung im Bajonettkampf, im Turnen und im Schwimmen. Auch in Bewaffnungsfragen gab Boyens Wort den Ausschlag, denn er führte die Entscheidung für das neue Dreysesche Zündnadelgewehr herbei. Damit hat er der preußischen Infanterie die Waffe geschenkt, die die kommenden Siege mit erringen half. Mit allen diesen Maßnahmen wurde der Grund zu den Erfolgen der deutschen Einigungskriege gelegt, an denen der alternde Boyen ein großes Verdienst hat.

Hermann von Boyen.
Hermann von Boyen.
Gemälde von Joseph Karl Stieler, ca. 1847.
[Bildarchiv Scriptorium.]

Hermann von Boyen.
[624a]      Hermann von Boyen.
Bronzebüste von E. A. Hopfgarten, 1847.
Berlin, Hohenzollernmuseum.

[Bildquelle: Johannes Schulz, Berlin.]
[634] Am 22. August 1847 schied General von Boyen mit sechsundsiebzig Jahren aus dem Amt. Das Heer wies zwar noch manche Mängel auf, aber Boyen konnte zufrieden sein mit dem Geist, der es beseelte. In den inneren Stürmen des Jahres 1848 hat sein Werk festgestanden. Prinz Wilhelm, sein sachlicher, nie sein persönlicher Gegner, hat ihm ein bleibendes Denkmal gesetzt mit den Worten: "Inmitten einer Krisis, wie sie so leicht kein Staat zu bestehen gehabt hat gegenüber den Wühlereien, die kein Mittel unversucht ließen, um das Volk zum Abfall von seinem rechtmäßigen Monarchen zu verleiten, konnte der König von Preußen der Landwehr vertrauen. Er ruft fünfzig Bataillone Landwehr aus dem Herzen seines Volkes zusammen, und wie mit einem Zauberschlage stehen diese fünfzigtausend Mann unter dem Gewehr! Wahrlich, ein gleich ehrendes Zeichen für die Gesinnung des Volkes als für die wahre Soldatenehre!"

Am 15. Februar 1848 schloß der Generalfeldmarschall Hermann von Boyen die Augen. Zu Scharnhorsts Füßen wurde er auf dem Invaliden-Friedhof in Berlin zur letzten Ruhe gebettet. Preußens Heer trug den letzten seiner Großen aus den Befreiungskriegen zu Grabe, den Schöpfer des Wehrgesetzes von 1814. Aus dem Heere Friedrichs des Großen in die Notzeit Deutschlands hineingewachsen, in den kleinen Pflichten eines harten Soldatendienstes geschult, durch den Geist Scharnhorsts und den hohen Gedankenflug Gneisenaus mitgerissen, nur dem Ziel lebend, das Vaterland groß und stark zu machen, seiner Zeit den Stempel des Edlen zu geben, wurde Hermann von Boyen zum Hüter des volksverbundenen Heeres. Was er schuf und erhielt, blieb trotz aller Wandlungen die Grundlage für die Siege, die das deutsche Kaiserreich neu erstehen ließen, bis ein schmählicher Friede und ein schändliches Diktat dem deutschen Volk nach einem heldenhaften Ringen die Wehrpflicht raubten. "Durch ihr Heer gewannen die Preußen wieder, was keine große Nation auf die Dauer entbehren kann, den nationalen Stil, die stolze Sicherheit des Auftretens." Mit diesen Worten hat Treitschke Boyens Lebenswerk gekennzeichnet.

Deutschland baut heute wieder auf. Es kann dabei der Stärke nicht entraten, wie sie ein Boyen in der Vereinigung von staatbildender und geistbildender Kraft zum Nutzen der Nation entfaltete. Es kann aber auch das Mittel nicht entbehren, das Boyen in einem langen segensreichen Leben schuf: den Wehrdienst des ganzen Volkes für das ganze Volk!




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Hg. von Willy Andreas & Wilhelm von Scholz